Der König der Narren - Tanja Kinkel - E-Book

Der König der Narren E-Book

Tanja Kinkel

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Beschreibung

Phantásien, die Welt aus der Unendlichen Geschichte, wird vom Nichts bedroht. In Siridom rebelliert die junge Weberin Res gegen ihr vorbestimmtes Schicksal, Nachfolgerin ihrer Mutter zu werden, denn hier wurden schon immer die schönsten Teppiche gewebt, die geheime Geschichten von Phantásien erzählen. Auf einem alten Teppich entdeckt Res Hinweise auf den legendären Verlorenen Kaiser, der einst Phantásien vor einer großen Bedrohung bewahrte. Res beschließt, das Geheimnis zu entschlüsseln, und macht sich mutig auf die Suche. Begleitet wird sie von einer listig-schlauen Katze, die Gedanken hören kann, und einem nur scheinbaren Narren. Beide nicht immer zuverlässig und hilfreich. Auf ihrer abenteuerlichen Reise kreuz und quer durch Phantásien begegnen ihnen Gefahren, die noch bedrohlicher sind als das Nichts. Doch Aufgeben kommt für Res nicht infrage … »… aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.« Sechs deutsche Autoren haben sich diesem bekannten Satz aus Michael Endes Die unendliche Geschichte angenommen. In der Tradition von Michael Ende unternehmen sie in der Reihe Die Legenden von Phantásien spannende Entdeckungsreisen in die Welt der Phantasie: Ralf Isau, Ulrike Schweikert, Wolfram Fleischhauer, Peter Freund, Peter Dempf und Tanja Kinkel erzählen die aufregenden Geschichten eines grenzenlosen Reiches.

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Seitenzahl: 446

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Tanja Kinkel

Der König der Narren

Die Legenden von Phantásien

Roman

Kapitel 1

Die Luft war noch feucht und lag schwer über der Ebene von Kenfra, als Res aus dem Haus schlüpfte. Sie fröstelte in dem milchigen, wabernden Nebel, durch den erst wenige Sonnenstrahlen tanzten, aber wenn sie länger wartete, würde ihre Mutter sie heute nicht mehr fortlassen, und es kam ihr vor, als wäre sie die ganzen letzten Tage eingesperrt gewesen.

Ihre Mutter gehörte zu den Weberinnen von Siridom und war entschlossen, dafür zu sorgen, dass Res in ihre Fußstapfen trat. Daran war an und für sich nichts Schlechtes; die Weberinnen von Siridom wurden in ganz Phantásien hochgeachtet, und die Teppiche, Vorhänge und Gewänder, die von Kenfra aus ihren langen Weg in die verschiedenen Reiche antraten, galten als die schönsten der Welt. Zu den Weberinnen von Siridom zu zählen war eine große Ehre; nur selten, vielleicht einmal in drei Generationen, gelang es einer Frau, die nicht in der Ebene geboren worden war, von ihnen aufgenommen zu werden, und selbst für die Töchter von Weberinnen war es nicht leicht. Res sollte daheimbleiben und sich auf ihre Prüfung vorbereiten, statt durch die Gegend zu streunen, pflegte ihre Mutter zu sagen.

Aber Res konnte die Zukunft so deutlich vor sich sehen wie das Webschiffchen, das hin- und hereilte, hin und her, mit einem Faden an das Gewebe gefesselt wie die Weberinnen an ihre Webstühle, und die Aussicht würgte sie bisweilen in der Kehle. Es gab noch anderes, als eine Weberin von Siridom zu sein. Es musste etwas anderes geben.

Sie lief zur Hauptstraße, zu dem Meilenstein, der selbst noch nicht lange wach und daher schlechter Laune war.

»Noch keine Wagen von der Händlergilde heute Morgen«, beschwerte er sich, »und kein Öl. Ich bin doch kein Kiesel mehr, und ich trockne aus!«

Es war Sitte, dass ihn jeder Reisende, der Siridom im Herz der Ebene betrat, mit ein wenig Öl übergoss, aber der Grund, warum Res und ihr bester Freund Kunla sich so häufig beim Meilenstein trafen, war ein anderer; viele Reisende warfen just an dieser Stelle auch ihre Abfälle hinaus. Auf diese Weise hatte Res schon einmal einen Zauberspiegel gefunden. Gut, es war ein leicht beschädigter Spiegel gewesen, der einem immer nur nutzlose Sachen wie alte, längst ausgewaschene Soßenflecken auf den Kleidern zeigte oder die Falten, die man einmal als alte Frau haben würde, aber es war ein echter Zauberspiegel aus einem Land, das weit von der Ebene von Kenfra entfernt war, und Res war immer noch gekränkt, dass ihre Mutter den Spiegel einfach wieder fortgeworfen hatte.

Während der Meilenstein noch weiter über zu wenig Öl dieser Tage grummelte, sah sie Kunlas stachligen Grünschopf im Nebel auftauchen und winkte ihm.

»Es ist heute noch niemand gekommen«, sagte sie, als er sich neben ihr in den Straßengraben fallen ließ.

»Das ist seltsam«, meinte Kunla. »Wir haben schon seit drei Tagen keinen Tross mehr gehabt. Mein Vater schimpft ständig über die Verspätungen.«

Kunlas Vater gehörte zur Kaufmannsgilde, die zwischen den Weberinnen und dem Rest von Phantásien vermittelte. Er besorgte ihnen die Aufträge und organisierte die Trosse, die ihre Stoffe in die verschiedenen Reiche brachten. Das bedeutete, dass Kunla mit einigen der Trosse würde reisen dürfen, wenn er die Welt der Kinder verließ, was schon bald der Fall sein würde, und Res beneidete ihn glühend darum.

»Ich hoffe, heute kommt einer«, sagte Res und zog eine Grimasse. »Morgen muss ich wirklich mit meinem Gesellenstück anfangen.«

Kunla grinste und zog sie an ihren Zöpfen. »Aber wer will denn einen braunen Teppich haben?«

Sie versetzte ihm einen Ellenbogenstoß. Wie alle zukünftigen Weberinnen besaß Res langes, sehr langes Haar, aber anders als bei den meisten war es von einer langweiligen Farbe. Das Haar ihrer Mutter leuchtete in Purpur. Bei anderen Weberinnen glänzte Gold auf dem Kopf oder auch Himmelblau, aber die drei Zöpfe, die Res über die Schultern hingen, so hastig geflochten, dass sich bereits mehrere Strähnen gelöst hatten, waren langweilig, durchschnittlich braun. Es würde ihre Aufgabe nur erschweren. Für ihr Gesellenstück schnitt sich ein Mädchen, das von den Weberinnen aufgenommen werden wollte, ihr Haar ab und webte es in den Teppich, den sie schuf, so mit ein, dass es wie eine kunstvolle Verzierung wirkte. Res würde viele bunte Fäden kaufen müssen, um das fade Braun wettzumachen.

»Hast du deinen Vater gefragt?«

Kunla biss sich auf die Lippen. »Ja, und er ist immer noch dagegen. Er meint, deine Mutter würde es dir bestimmt nicht erlauben, und Ärger mit den Weberinnen seist du nicht wert.« Res starrte auf die Straße und versuchte sich ihr Verletztsein nicht anmerken zu lassen. Natürlich war ihre Hoffnung, Kunlas Vater würde sich für sie einsetzen und ihr gestatten, mit einem Tross zu reisen, immer sehr klein gewesen.

Kunla, der wusste, wie sehr sie sich danach sehnte, die Welt zu sehen, meinte: »Sicher wirst du dafür mal die beste Weberin von Siridom, und die Kindliche Kaiserin selbst bittet dich, für den Elfenbeinturm zu weben.«

»Die Beste werde ich nie«, stellte Res nüchtern fest, »und selbst wenn, was nützt es mir, wenn ich den Elfenbeinturm doch nie selbst sehe?«

»Nun, zumindest weißt du, wie er aussieht«, sagte Kunla. Jede Weberin wusste, wie der Elfenbeinturm aussah, der Turm Xayídes oder die übrigen berühmten Orte Phantásiens. Sie wussten es, weil ihre Teppiche nichts anderes darstellten als Ereignisse aus der Geschichte Phantásiens, Ereignisse, die manchmal so weit zurücklagen, dass sich selbst die ältesten Weberinnen nicht erinnern konnten, um wen es sich bei den Figuren handelte, die unter ihren Fingern erblühten. All das spielte sich jedenfalls an Orten ab, die keine von ihnen je erblickt hatte und die es vielleicht nicht mehr gab. Aber sie webten, wie ihre Mütter und Großmütter gewebt hatten, erschufen die gleichen Gestalten und Muster stets aufs Neue.

»Warum?«, gab Res angriffslustig zurück. »Weil bei uns daheim ein Teppich hängt, der ihn zeigt? Woher soll ich wissen, dass er immer noch so aussieht? Vielleicht hat die Kindliche Kaiserin ihn längst verändern lassen? Hier kümmert das bestimmt keinen. Der Turm sah einmal so aus, vor Urzeiten, und nun wird er bis in alle Ewigkeit so aussehen, weil sich hier nichts verändert!«

Bei den letzten Worten war sie lauter und lauter geworden, und Kunla legte ihr eine Hand auf den Arm.

»Schschsch«, sagte er. »Ich glaube, der Tross kommt endlich.«

Der Nebel der Ebene trug Geräusche besonders gut, und Res hörte das Scharren und Klappern, ehe sie die dunklen Umrisse in der Dämmerung ausmachte. Dieser Tross wurde von Laufvögeln gezogen, denen man die Schwungfedern genommen hatte. Sie waren schneller als die meisten anderen Lasttiere, aber nicht ganz so stark; gewiss nicht stark genug, um all die Ballen zu tragen, die sich inzwischen in den Lagerhäusern aufgestaut hatten. Kunlas Vater würde nicht erfreut sein.

Als die Wagen näher kamen, fiel Res auf, dass etwas fehlte. Neben den Scharrgeräuschen, die von den Klauen der Vögel auf der Straße herrührten, hörte sie nichts. Gar nichts. Keine Töne der Erleichterung, wie Reisende, die in der Nacht unterwegs gewesen waren, sie beim Anblick des Meilensteins üblicherweise ausstießen. Kein Fluchen. Kein Antreiben der Laufvögel. Nichts.

Der Nebel wurde dünner, und die Wagen hoben sich schwarz gegen den rosigen Morgen ab, gezogen von den großen weißen Tupfen, die immer deutlicher die langhalsige Form der Laufvögel annahmen. Aber keine weitere Form, keine andere Farbe zeichnete sich gegen die dunklen Wagenplanen ab.

»Res«, sagte Kunla, »da stimmt etwas nicht.«

Ein Überfall, dachte Res. Vielleicht war der Tross von Räubern überwältigt worden. Das würde die tagelange Verspätung erklären. Sie kniff die Augen zusammen. Die Federn der Laufvögel waren staubbedeckt, aber keines der Tiere schien verwundet zu sein. Auch an den Wagen entdeckte sie kein Zeichen von Kampf oder Zerstörung.

Der Meilenstein war beim Näherkommen des Trosses verstummt, vermutlich weil er sich schon auf sein Öl freute. Nun rief er seinen Gruß, wie er ihn für jeden vortrug, der die Ebene von Kenfra durchquerte: »Willkommen, Fremde! Willkommen in Siridom! Wer seid Ihr, und wer führt Euch her?«

Es kam keine Antwort, und der Meilenstein murrte: »Unhöflich, unhöflich. Gewiss wird ihr Öl ranzig sein.«

»Meilenstein«, murmelte Res und strich ihm beruhigend über die von vielen Händen geglättete graue Kuppe, »ich glaube, es gibt kein Öl für dich von diesem Tross.«

Bisher hatten sie und Kunla hinter dem Stein im Graben gehockt, aber nun erhoben sie sich.

Kunla zögerte. »Was ist, wenn sie krank sind?«, fragte er.

»Wir sollten die Garde holen.«

»Wenn du nicht selbst etwas unternimmst, wirst du nie mit einem Tross reisen dürfen«, gab Res heftig zurück und stellte fest, dass sie ärgerlich war, weil es nicht stimmte. Kunla, der vorsichtige, zurückhaltende Kunla, würde die Ebene von Kenfra in jedem Fall verlassen dürfen, wenn er wollte. Er würde seinen ersten Reisezug begleiten, sobald sein Vater entschied, dass er alt genug war, zumal er sich ohne sie, die ihn hin und wieder zu Widersetzlichkeiten anstiftete, nie eine unüberlegte Handlung zuschulden kommen ließ. Er würde seinen Vater mit Stolz und Zufriedenheit erfüllen. Kunla stand die Welt offen, und das Schlimmste war, dass sie ihn noch nicht einmal darum beneiden konnte, ohne sich zu schämen. Kunla war ihr einziger Freund; die Mädchen, die sie kannte, verstanden nicht, warum sie nicht glücklich und dankbar war, eine Weberin werden zu dürfen, und die anderen Jungen wären nie bereit gewesen, mit einem Mädchen zu spielen. Ohne Kunla und seine verlässliche Freundschaft wäre sie in Siridom völlig allein gewesen, vor allem in den letzten Jahren, seit sie beide begonnen hatten, immer rascher zu wachsen. Sie schämte sich dafür, dass sie manchmal vor Eifersucht fast erstickte, wenn sie daran dachte, dass Kunla fast alles, was ihr verboten war, eines Tages in den Schoß fallen würde.

Damit er nicht merkte, was ihr durch den Kopf ging, rannte sie die paar Schritte zu dem Tross und ergriff die losen Zügel des vordersten Laufvogels. Es war nicht schwer, ihn zum Stehen zu bringen; die Tiere waren erschöpft. Sie schnalzte beruhigend mit der Zunge. Kunla, der ihr langsamer gefolgt war, ging um den ersten Wagen herum.

So nah neben den Vögeln wurde Res bewusst, dass noch etwas fehlte. Die Ankunft des Trosses hatte keine neuen Gerüche mit sich gebracht; sie roch das morgenfeuchte Gras zu beiden Seiten der Straße, und die aufkommende Brise trug etwas von den beißenden Schwaden mit sich, die aus den Farbmischtrögen im Innern des Ortes strömten. Aber die Vögel, die direkt neben ihr standen und leicht zitterten, roch sie nicht. Die Wagen hätten genauso gut nicht da sein können. Sie spürte, wie sich die Haare auf ihrem Arm aufstellten.

Kunlas Stimme klang leicht erstickt. »Sie sind alle leer«, rief er.

Res stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, dem Laufvogel, dessen Zügel sie hielt, in die Augen zu schauen. Laufvögel sprachen normalerweise nicht mit anderen Phantásiern, aber sie verstanden Anweisungen und daher bestimmt auch Fragen. »Was ist geschehen?«

Der Laufvogel senkte den Kopf, und als sein Blick sie traf, trat Res unwillkürlich einen Schritt zurück. Statt in runde, dunkle Augen, wie sie erwartet hatte, schaute sie in zwei blassgraue Löcher.

Verblasst, dachte Res, und ihr wurde kälter und kälter. Das ist das richtige Wort für diesen Tross. Verblasst, nicht ganz hier, wie eine Blume, aus der Duft und Farben herausgepresst worden waren, oder wie eine alte Erinnerung.

Sie konnte den Blick des Vogels nicht länger aushalten, fasste sich ein Herz und kletterte in den Wagen hinein. Wie Kunla gesagt hatte, schien er leer zu sein, aber die Stille und Dunkelheit fühlten sich ähnlich verblasst an. Sie erkannte drei große Weidenkörbe im hinteren Teil des Wagens.

»Komm da raus«, sagte Kunla plötzlich. Er musste erneut um den Wagen herumgegangen sein, denn seine Stimme kam nun von vorne. »Res, wir sollten wirklich die Garde holen.«

Die Weidenkörbe erschienen ihr fester, wirklicher als alles andere in diesem Wagen. Vorsichtig streckte sie eine Hand aus und fühlte die geflochtenen Zweige unter ihren Fingerspitzen. Es war alles ganz gewöhnlich, bis der Korb begann, sich unter ihrer Hand zu bewegen. Unwillkürlich schrie Res auf und zuckte zurück.

»Res?«

Sie hörte, wie Kunla in den Wagen kletterte, aber sie brachte es nicht fertig, die Augen von dem Weidenkorb zu wenden.

»Res, ist dir etwas geschehen?«

Scham und Dankbarkeit erfüllten sie von Neuem. Kunla wollte nichts lieber, als den Tross sich selbst überlassen und die Garde holen, aber wenn er glaubte, dass sie Hilfe brauchte, dann stürzte er sich ins Unbekannte. Er war ein guter Freund, und sie hätte ihn vorhin beinahe einen Feigling genannt. Nun galt es, selbst Mut zu zeigen.

»Der Korb da … hat sich bewegt!«, stieß sie hervor.

Als wären ihre Worte ein Zeichen gewesen, begann das Weidengeflecht erneut zu zittern, ja, hin und her zu rutschen. Außerdem drangen dumpfe Laute aus dem Inneren.

»Oh«, sagte Res erleichtert und schalt sich töricht. »Es ist etwas darin eingesperrt.«

»Ja, aber was?«, gab Kunla zurück.

Diesmal war sie ernsthaft versucht, auf ihn zu hören und die Garde zu holen. Sollten die Wächter doch den Weidenkorb öffnen. Aber sie hatte sich noch etwas zu beweisen. Zögernd rutschte sie wieder an den Korb heran. Er war mit einem landrinischen Knoten geschlossen, doch nach all den Jahren Unterricht von ihrer Mutter gab es wenige verknüpfte Fäden, die sie nicht lösen konnte.

»Du …«, begann Kunla, stockte und seufzte. »Du machst ja doch immer, was du willst.«

In Wahrheit hatte sie Mühe, ihre Hände am Zittern zu hindern, aber sie versuchte, so unbekümmert und mutig wie möglich die Achseln zu zucken. Ihre Finger waren feucht, und ein paarmal glitt ihr der Knoten einfach aus der Hand. Dann löste er sich. Sie schluckte und hob mit der anderen Hand vorsichtig den Deckel auf, Stück für winziges Stück. Im dichten Dunkel des Wagens fiel es ihr schwer, Einzelheiten auszumachen, und durch den schmalen Rand unter dem Deckel zu schielen brachte noch weniger.

Res öffnete den Korb ein wenig weiter. Noch ehe sie Zeit hatte, Luft zu holen, flog ihr etwas entgegen, warm und ungestüm, das sich so heftig in sie verkrallte, dass ihr Ärmel am Oberarm zerriss.

»Eine Katze!«, stieß Kunla hervor und rettete Res so davor, sich durch einen weiteren Schrei zu blamieren. Ihr fehlte noch immer ein wenig die Luft, aber als sie auf das Pelzknäuel niederblickte, das sich an ihr festhielt, war es tatsächlich eine Katze, mit einem Fell so hellgelb wie frisch gemachte Butter und blauen Augen. Ihr kleiner, warmer Körper fühlte sich etwas feucht an; sie roch nach Angst, nach Eingesperrtsein und dem Drang nach Freiheit. Nichts Verblasstes war an ihr.

»Katze, was ist hier geschehen?«, fragte Res und spürte, wie sich die Krallen etwas lockerten. Doch die Katze blieb stumm, bis auf ein Maunzen, das begann, sobald Res Anstalten machte, sich vom Fleck zu rühren.

»Schon gut«, sagte Res hilflos.

»Ich glaube, sie hat einfach Hunger«, meinte Kunla. »Wer weiß, wie lange sie hier eingesperrt war.«

Schließlich wanderten Res und Kunla mit der Katze, den jammernden Meilenstein hinter sich lassend, in den Ort zurück. Das Haus, in dem Res wohnte, lag näher, also schlichen sie so leise wie möglich hinein, um der Katze zu trinken zu geben. Das Tier schleckte bereits eifrig die Milch, die Res ihr hingestellt hatte, als Res’ Mutter die Küche betrat.

»Guten Morgen, Weberin Krin«, sagte Kunla mit verlegener Miene, und Res biss sich auf die Lippen. Ihre Mutter schwieg; sie brauchte nicht zu sprechen, um ihr deutlich zu machen, dass sie enttäuscht war. Mit ihrem kurzen purpurnen Haar und den Schatten unter den Augen sah sie aus wie ein beschwerter Blütenkelch, und ihre Hände, die Wunder erschaffen konnten, hingen wie erschöpfte Blätter an ihrer Seite.

»Morgen«, sagte Res hastig, »fange ich mit den Plänen für mein Gesellenstück an. Aber es ist etwas geschehen …«

»Es wird immer etwas geschehen«, erwiderte ihre Mutter. »Es wird immer etwas geben, das dir wichtiger erscheint, wenn du so weitermachst. Eine Weberin von Siridom kannst du nicht zwischendurch sein, wenn du gerade Lust dazu hast. Es ist eine Ehre, der man sein ganzes Herz schenkt, sonst ist man ihrer nicht wert.«

Kunla hielt es für geraten, sich zu verabschieden. »Ich werde meinem Vater Bescheid wegen des Trosses geben«, sagte er zu Res, verbeugte sich vor Krin und suchte hastig das Weite.

Einen Moment lang wünschte sich Res, sie wären trotz der hungrigen Katze gleich zu Kunlas Vater oder zur Garde gegangen. Dann hätte sie nicht nur die Begegnung mit ihrer Mutter etwas aufschieben, sondern auch als Erste von dem leeren Tross berichten können.

Ihr Blick fiel auf die Katze, die gerade die letzten Reste der Milch aufschleckte. Ohne dich wäre ich jetzt nicht hier, dachte sie. Zu ihrer Überraschung schaute die Katze auf.

Aber du bist hier. Nun bring mir mehr Milch, verlangte sie. Ein Fisch wäre auch recht.

»Das ist doch …«, begann Res, als ihr bewusst wurde, dass ihre Mutter nicht im Geringsten auf die Worte der Katze reagierte. Erst da begriff sie, dass die Katze nicht gesprochen hatte. Jedenfalls nicht laut.

»Hast du dir wenigstens schon Gedanken gemacht, was du auf deinem Teppich darstellen möchtest?«, fragte Krin, während die Katze begann, sich zu putzen.

Es war eine neue Art von Folter, entschied Res. Wenn die Katze sprechen konnte, ganz gleich auf welche Weise, dann war es auch möglich, sie zu befragen, was mit dem Tross geschehen war. Aber nicht, wenn ihre Mutter gleichzeitig eines der Gespräche führen wollte, die Res bei sich »Zukunftsgespräche« nannte. Immerhin konnte sie es sich nicht verkneifen, anklagend zur Katze hinüberzustarren.

Wenn du sprechen kannst, warum hast du dann nicht gleich mit uns geredet?, dachte sie.

Die Katze ignorierte sie und putzte sich weiter.

»Res?«, fragte ihre Mutter und klang mittlerweile nicht nur traurig und enttäuscht, sondern auch scharf, wie die Messer, wenn sie auf dem Wetzstein nachgeschliffen wurden.

»Ich … ich dachte …«

Es ist äußerst unhöflich, jemanden bei seiner Pflege zu unterbrechen. Ich würde nie mit dir reden, wenn du dich wäschst, sagte die Katze, neigte ihren Kopf zur Seite und begann erneut eine ihrer Pfoten zu lecken.

»Du weißt es noch nicht«, stellte ihre Mutter fest. »Dir ist schon das ganze Jahr über bekannt, dass du in einer Woche spätestens mit deinem Teppich begonnen haben musst, und du hast dir noch nicht einmal Gedanken über das Thema gemacht.«

»Tut mir leid«, murmelte Res und wünschte sich, die heutige Lektion wäre endlich vorbei, damit sie die Katze über den Tross ausfragen konnte.

»Nein, es tut dir nicht leid«, sagte Krin grimmig. »Aber das wird es noch.«

Kapitel 2

Das Gebäude, in dem die schönsten und ältesten Teppiche der Weberinnen von Siridom aufbewahrt wurden, war ursprünglich aus Muscheln gebaut worden; da die Ebene von Kenfra einmal von nichts als Meer bedeckt gewesen war, ehe die Feuergeister hier ihren letzten Kampf ausgefochten hatten, gab es davon mehr als genug. In all den Jahren seither, mehr Jahren, als Fäden in einen Teppich passten, waren mehr und mehr Räume nötig geworden, und aus der Urform des Gebäudes, der Legende nach dem Haus der ersten Weberin von Siridom, war der Kelch einer Blüte geworden, um die sich zahllose Blätter rankten. Die Weberinnen nannten das Haus Arachnion.

Das Licht innerhalb des Arachnions war nie sehr hell, denn um die alten Teppiche zu schützen, hatte man die Fenster mit Schleiern verhüllt. Res erinnerte es jedes Mal an das, was man sah, wenn man morgens gerade erst aufgewacht war und sich noch die Augen rieb, und sie bildete sich immer ein, es müsste doch irgendwann heller werden oder sie selbst wacher. Dazu kam, dass es im Arachnion nichts Hartes, Kantiges gab; jedes Stückchen Wand und Boden war mit Teppichen und Schleiern ausgekleidet, und obwohl die Beläge auf dem Boden keine unsterblichen Meisterwerke waren und regelmäßig ausgetauscht wurden, bewegten sich doch alle sehr rücksichtsvoll auf ihnen. Bei jedem Schritt hatte Res, von dem Moment an, da sie ihre Ferse aufsetzte, bis zu dem Moment, an dem sie ihr Gewicht auf die Zehenspitzen verlagerte, das Gefühl, in Gefahr zu sein, etwas Unwiederbringliches zu zerstören.

»Du darfst ins Arachnion? Du Glückliche!«, hatte Kunlas ältere Schwester, die nie eine Weberin werden würde, einmal gesagt. Es war Res unmöglich gewesen zu erklären, warum sie das Arachnion immer mehr mied, je älter sie wurde.

Manchmal träumte sie davon, die Schleier von den Fenstern zu reißen und mit dem Wind, der gegen Mittag durch die Ebene fuhr, jeden einzelnen Teppich davonwehen zu lassen. Dann wieder tat ihr die Vorstellung, das Arachnion bar seiner Schätze zu sehen, weh. Sie war mit sich selbst nie einig, wenn ihre Mutter sie hierherbrachte, und es wurde mit jedem Besuch schlimmer. So schlimm wie an dem Tag, als sie die Katze gefunden hatte, war es allerdings noch nie gewesen.

Es war natürlich undenkbar, die Katze mit ins Arachnion zu nehmen. Nichts mit scharfen Krallen durfte auch nur in die Nähe gelassen werden. Und Krin ließ sich nicht überzeugen, Res auch nur eine weitere Stunde Aufschub zu gewähren.

»Aber Mutter, lass mich doch erst mit der Katze sprechen! Sie hat wichtige Dinge gesehen.«

»Diese Katze redet nicht, das siehst du doch. Hör mit deinen Ausreden auf, Res.«

Natürlich hatte die Katze keine Anstalten gemacht, auch nur ein Wort an ihre Mutter zu richten, um Res zu helfen oder Res das Geheimnis um den leeren Tross einfach mitzuteilen. O nein, die Katze hatte ihre blauen Augen verengt, bis sie nur noch aus Schlitzen bestanden, es sich neben dem Herd in der Küche bequem gemacht und war schließlich eingeschlafen. Kein drängender Gedanke und keines der Worte von Res hatten sie bewegen können, wieder aufzuwachen.

Auf dem Weg ins Arachnion fiel Res auf, dass viel mehr Leute auf den Straßen standen und miteinander schwatzten, als das für gewöhnlich der Fall war. Es war auch kein gemütliches, wohlgefälliges Schwatzen, wie es zwischen den Weberinnen üblich war, wenn mehrere von ihnen zusammenarbeiteten, sondern ein aufgeregtes Gewisper und Gezisch wie von brodelndem Wasser in einem Kochtopf.

»Weberin Krin«, rief die Marktfrau Dazumal, als sie Res und ihre Mutter entdeckte, »Weberin Krin, haben Sie schon das Neueste gehört?«

»Noch nicht, aber bald«, erwiderte Krin. Seit dem Tod von Res’ Vater meinte jede verheiratete Frau des Ortes, bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit ihr »ein ablenkendes Wort« reden zu müssen, wie sie es nannten. Zumindest verzichteten die Damen dieser Tage darauf, ihren Kindern das Gleiche in Bezug auf Res zu befehlen, nachdem sie sich mit einigen der Gleichaltrigen geprügelt und die jüngeren durch ihr abenteuerliches Herumstreunen ebenfalls zahllose blaue Flecken davongetragen hatten.

»Der Tross ist heute Morgen endlich angekommen … aber er war völlig leer. Oh, und mein Otto sagt, die Kaufmannsgilde wüsste schon länger von ähnlichen Vorkommnissen. Nur uns hat man bisher nichts erzählt, aber heute, heute werden sie damit herausrücken müssen. Schließlich kann jeder die leeren Wagen sehen.«

Ich habe sie zuerst gesehen, dachte Res, und wenn ich endlich die Katze dazu bekomme, mir zu verraten, was geschehen ist, dann weiß ich mehr als ihr alle.

Aber ihr Ärger wich mehr und mehr der Neugier. Davon, dass die Kaufmannsgilde längst Bescheid über ähnliche Ereignisse wusste, hatte Kunla nie etwas erwähnt. Entweder er verheimlichte ihr Dinge, oder sein Vater verhielt sich ihm gegenüber in diesem Punkt ungewöhnlich schweigsam.

Sie wäre gern noch etwas länger in den Straßen geblieben, um mehr über diese Vorkommnisse zu erfahren, doch ihre Mutter zog sie weiter zum Arachnion. Von dem aufgeregten Gelärm des hellen Tages, in dem sich jeder Schatten scharf im Sand der Straße abzeichnete, in das ruhige, dämmrige Arachnion zu treten, erinnerte Res daran, wie sie als kleines Kind einmal fast in den Woll- und Seidenknäueln ihrer Mutter versunken war. Das Gefühl weicher Wolle auf ihrer Haut war angenehm, aber gleichzeitig bekam sie keine Luft mehr.

»Die Weberin Krin und ihre Tochter Res«, sagte ihre Mutter zu dem Türpfosten, während sie ihn mit Öl bestrich, »bitten darum, bis ins Innerste vorgelassen zu werden.«

Der Türpfosten, der sehr viel schlanker war als sein Vetter, der Meilenstein am Ortseingang, räusperte sich. »Wenn die Weberin Krin das Wohlverhalten ihrer Tochter versprechen kann.«

»Ich bin kein kleines Kind mehr«, sagte Res gekränkt. »Ich kann für mich selbst sprechen. Im Übrigen habe ich nicht die Absicht, lange hierzubleiben.«

»O doch, das wirst du«, sagte ihre Mutter.

Die Teppichfasern unter ihren bloßen Füßen kitzelten, während Res mit zusammengepressten Lippen weiterging. Im Laufen zogen die Wandbehänge, die sie zum größten Teil schon kannte, an ihr vorüber. Der Bau des Elfenbeinturms wechselte sich mit der Großen Reise des Grasvolks ab, der Tanz der Glücksdrachen mit dem Kampf der Feuergeister, der ein Meer in nichts als Nebel und Dampf auflöste. Früher hatte sie diese Figuren mit Begeisterung betrachtet, doch jetzt schienen sie ihr nur noch Schatten zu sein, und sie wünschte sich nichts mehr, als mit eigenen Augen zu sehen, wer diese Schatten warf.

In den Gängen begegneten sie anderen Weberinnen, aber im Gegensatz zu den Leuten auf der Straße sprach niemand ihre Mutter an; man begrüßte sich nur durch ein respektvolles Nicken und glitt aneinander vorbei. Werde ich in ein paar Jahren auch so sein?, fragte sich Res.

Endlich kamen sie in einen Bereich, in dem sie nie zuvor gewesen war; das Herz des Gebäudes, den Blütenkelch. Hier gab es so gut wie überhaupt kein Licht mehr, doch ihre Mutter bewegte sich so sicher, als stünde man im hellsten Sonnenschein. Res fühlte sich mit einem Mal an das Wageninnere gemahnt. Das half ihr nicht; es erinnerte sie an das lockende Geheimnis, das draußen auf sie wartete.

Da ihre Mutter immer noch ihre Hand festhielt, merkte Res, dass sie niederkniete, und tat das Gleiche. Der Teppich unter ihren Knien fühlte sich dünn und hart an.

»Ehrwürdige Pallas«, sagte ihre Mutter leise, »ich bringe meine Tochter, Res.«

Aus dem Dunkeln drang eine Stimme, und allmählich erkannte Res, dass jemand dort saß, mit milchigen Augen und schlohweißem Haar.

»Was hat sie getan, dass du sie mir bringst, Krin?«

»Sie besitzt das Talent«, erwiderte ihre Mutter, »aber ihr Herz bleibt verstockt, und sie vergeudet lieber ihre Zeit, als es zu nutzen.«

»Ich vergeude nicht meine Zeit«, unterbrach Res sie. »Ich verstehe nur nicht, warum ich mich jetzt schon hinsetzen soll, um genau das Gleiche zu tun, was alle anderen Weberinnen seit der Entstehung der Ebene von Kenfra getan haben. Warum kann ich nicht etwas anderes tun? Warum kann ich die Welt nicht sehen, bevor ich sie darstelle?«

Ihre Mutter seufzte. Die Gestalt im Dunkeln dagegen lachte.

»Ich habe Siridom nie verlassen, Kind«, sagte sie, »und doch weiß ich mehr von Phantásien als alle Angehörigen der Kaufmannsgilde zusammen. Nun gut, Krin, ich werde sehen, was sich mit der Kleinen tun lässt.«

»Die Kleine« genannt zu werden, wo sie doch bereits fast so groß wie ihre Mutter war, fand Res so demütigend wie den gesamten Gang hierher. Die Hand ihrer Mutter öffnete sich, und Res glaubte zu begreifen, worauf das Ganze hinaussollte. Das also würde ihre Strafe sein; hier gelassen zu werden, im Dunkeln mit der unheimlichen Pallas, um sich weitere Reden über die Pflichten einer Weberin von Siridom anzuhören. Oder darüber, was für eine Ehre es war, als künftige Weberin auch nur in Erwägung gezogen zu werden.

Sie hatte heute einen Korb geöffnet, obwohl sie darauf gefasst gewesen war, dass sich darin ein Ungeheuer befinden könnte, keine harmlose Katze. Eine alte Frau und endlose Reden konnten sie gewiss nicht einschüchtern. Sie hoffte nur, dass die Katze nicht auf die Idee kam, vor ihrer Rückkehr zu verschwinden oder einem anderen ihre Geschichte zu erzählen.

»Sei würdig, Res«, sagte ihre Mutter in drängendem Ton, dann entfernten sich ihre Schritte.

»Woran denkst du, Kind?«, fragte Pallas, und Res beschloss, so nahe an der Wahrheit wie möglich zu bleiben.

»An den leeren Tross, der heute ankam. Daran, dass die Marktfrau Dazumal behauptet, Ähnliches sei bereits häufiger geschehen und die Kaufmannsgilde hätte es verheimlicht. Daran, was das alles zu bedeuten hat.«

»Und in keinem Winkel deines Herzens ist ein Gedanke für das Hier und Jetzt?«

»Aber das, was geschieht, das, was verheimlicht wird, das ist das Hier und Jetzt«, entgegnete Res heftig. »Und wenn meine Mutter keine Weberin wäre und nicht wollte, dass ich auch eine werde, dann wüsste ich schon längst mehr.«

»Hm. Weißt du, was ich hier tue, Kind?«

»Nein«, antworte Res ehrlich.

»Dann ist es ein Geheimnis für dich. Sag mir, ist es nicht einfacher, das Geheimnis zu ergründen, das vor dir liegt, als einem hinterherzujagen, an dem du doch nichts ändern kannst?«

»Wer sagt, dass ich nichts ändern kann?«, murmelte Res, dann gab sie sich einen Ruck und fragte: »Was tust du hier?«

»Hättest du mich eher gefragt«, erwiderte Pallas, »hätte ich es dir vielleicht verraten. Da es dir jedoch nicht wichtig erscheint, wirst du es selbst herausfinden müssen durch das, was ich dich tun lasse. Und nun«, endete sie, »gib mir deine Hand.«

Res zuckte zusammen, als sich die weißen Finger über den ihren schlossen. Sie hatte Pallas für eine alte Frau gehalten und eine ausgedörrte, sehnige Hand erwartet. Stattdessen spürte sie glatte, faltenlose Haut und Stärke, die nicht zitterte. Die Finger glitten an ihrer Hand hoch und hinunter, als prüften sie ein neues Webschiffchen oder einen Faden auf seine Stärke.

»Gut«, sagte Pallas sachte. »Nun kenne ich dich.«

Erst in diesem Moment begriff Res, dass Pallas blind war. Sie sog unwillkürlich den Atem ein, und Pallas lachte leise.

»Hat sie es dir nicht gesagt? Ich bin ein Schattenkind. In der Sonne könnte ich nicht leben.«

»Aber«, platzte Res heraus, »dann kannst du keinen einzigen der Teppiche, die im Arachnion hängen, sehen.« Sie biss sich auf die Lippen und wünschte, sie hätte den Mund gehalten. Gleichzeitig schämte sie sich. Sie hatte sich die ganze Zeit bedauert, weil man sie davon abhielt, die Welt zu sehen, und Pallas war es noch nicht einmal möglich, die Schönheit um sich herum zu erkennen. Ganz gleich, wie sehr Res auch wünschte, anderswo zu sein, sie hatte nie daran gezweifelt, dass das Arachnion der schönste Ort von Siridom und der gesamten Ebene war.

»Nein«, bestätigte Pallas ruhig, »das kann ich nicht.« Sie ließ Res los. »Zu deiner Rechten liegen mehrere Spindeln«, fuhr sie fort. »Reiche mir die mit der braunen Radagast-Wolle.«

»Es ist zu dunkel, um die Farbe zu erkennen!«, protestierte Res.

Pallas blieb ungerührt. »Um sie zu sehen, nun, das glaube ich dir gerne. Aber braune Radagast-Wolle fühlt sich auch ganz unverwechselbar an. Wie lange webst du nun schon?«

»Seit ich aufrecht sitzen kann«, gab Res zurück und tastete neben sich. Tatsächlich, dort lagen, säuberlich nebeneinander, mehrere Spindeln und zwischen ihnen auch ein Wollknäuel. »Manchmal denke ich, meine Mutter hat es mir beigebracht, bevor sie mich lehrte zu sprechen.«

»Dann hast du mehr als genug Zeit gehabt, um einzelne Fäden auch mit geschlossenen Augen zu erkennen«, stellte Pallas fest, und die Tortur begann.

*

Ihre Finger waren taub, ihr Kopf schmerzte, und das Licht, das im Haus ihrer Mutter brannte, schmerzte sie, als wäre es so grell wie die Mittagssonne, als Res am Abend in ihr Heim zurückkehrte. Ihre Mutter, die noch an ihrem Webstuhl saß, warf einen Blick auf sie und sagte mit einer deutlichen Spur von Belustigung:

»Dein Essen steht in der Küche, falls Kunla es nicht aufgezehrt hat. Er wollte auf dich warten.«

»Die Katze auch?«, fragte Res hoffnungsvoll.

»Die Katze habe ich nicht mehr gesehen, seit ich zurückgekommen bin«, sagte ihre Mutter, »und ganz ehrlich, Res, das ist auch besser so. Eine Katze in einem Haus voller Webstücke? Das kann nicht gut gehen.«

Res sackte in sich zusammen und ging schleppenden Schrittes in die Küche. Sie fühlte sich wie eine Neunzigjährige.

Der sonst so ruhige Kunla sprang dagegen von der Küchenbank auf, sowie er sie sah, fasste ihre Schultern und überschüttete sie mit einem Wortschwall, der länger war als alles, was er bisher je an einem Stück gesagt hatte. »Res, du kannst dir nicht vorstellen«, begann er, »was heute alles passiert ist!«

Nein, das konnte sie wirklich nicht. Sie hatte gelernt, Fäden nur dem Gespür nach zu unterscheiden, obwohl ihre Augen ganz ausgezeichnet sahen. Sie hatte stundenlang im Dunkeln gesessen, so lange, bis sie daran zweifelte, je wieder ans Licht zu gelangen, und bis sie plötzlich befürchtete, dass Pallas ein Beispiel dafür war, was mit Mädchen geschah, die keine Weberinnen werden wollten – man blendete sie, sodass ihnen keine andere Wahl mehr blieb. In ihrem Kopf wusste sie, dass dergleichen Befürchtungen töricht waren, aber in ihrem Herzen stimmte sie das nicht ruhiger.

Und die Katze, das einzige bisschen Neuigkeit, das sie Kunla hätte präsentieren können, war auch fort.

»Es ist unglaublich! Die letzten paar Trosse, die hier ankamen, haben bereits davon erzählt, aber die Kaufmannsgilde hat es der Garde und allen anderen, die davon hörten, bei Todesstrafe verboten, darüber zu sprechen. Erst heute, wo jeder den leeren Tross gesehen hat, wurde das Verbot aufgehoben. Res, erinnerst du dich an die Eierwagen vor vier Wochen, die sonst immer zu dritt kommen, nicht zu zweit? Nun, der dritte hatte keinen Unfall, oder besser gesagt, es war kein gewöhnlicher Unfall. Er besteht nicht mehr.«

»Jemand hat ihn zerstört?«

»Nein. Er geriet zu nahe an etwas, das kein Phantásier bisher beschreiben konnte. Es ist einfach … nichts. Und nun ist der dritte Eierwagen auch nichts. Außerhalb der Ebene gibt es offenbar noch andere Stellen, die nichts sind, aber die Kaufmannsgilde wollte nicht, dass irgendjemand davon erfährt, damit der Handel nicht aufhört.«

Ihre Erschöpfung verflog in der Empörung, die sie erfasste.

»Die Gilde wusste Bescheid und hat trotzdem nichts dagegen getan?«

»Ob sie etwas getan haben, konnte ich nicht herausfinden«, räumte Kunla ein, »aber Bescheid wussten sie und wollten, dass es ein Geheimnis bleibt.«

Res setzte sich auf die Küchenbank und begann grimmig, die Honigbeerensuppe in sich hineinzulöffeln, die ihre Mutter ihr aufbewahrt hatte. Sie dachte an die vielen Reisenden, die Kunla und sie schon am Meilenstein beobachtet hatten: Geschöpfe aus allen Teilen Phantásiens und die Bewohner Siridoms, die für sie so alltäglich waren wie der Staub unter ihren Füßen und die sie darum beneidet hatte, die Ebene von Kenfra verlassen zu können. Die Vorstellung, dass dort draußen etwas Gefährliches auf sie wartete, kein Ungeheuer, keine Aufgabe, die man bestehen konnte, sondern einfach das Nichts, und dass die Gilde davon gewusst und es absichtlich verschwiegen hatte, erweckte in ihr den Wunsch, lauthals zu schreien.

»Bei dem Tross mit Gewändern für die Weidenleute«, stieß sie hervor und umklammerte den Löffel so fest, dass die Knöchel ihrer Hand weiß wurden, »der vor vier Wochen abfuhr, da war Lesterfeld mit dabei.«

»Ich weiß«, murmelte Kunla.

Lesterfeld gehörte zu den ältesten Mitgliedern der Gilde und hatte immer Zeit für sie beide gehabt, um ihnen von seinen Reisen zu erzählen oder ihre Fragen zu beantworten. Der Tross zu den Weidenleuten hatte sein letzter sein sollen; eigentlich war er schon viel zu alt, um noch als Begleiter infrage zu kommen, aber die Weidenleute gehörten zu seinen liebsten Handelspartnern, und jeder glaubte, dass es ein schöner, friedlicher Abschluss seiner Gildentätigkeit werden würde. Wenn Lesterfeld etwas geschehen war, dann wünschte sich Res die gesamte Gilde ins Nichts, aber sie brachte es nicht über sich, das zu Kunla zu sagen. Er würde sich verpflichtet fühlen, seinen Vater zu verteidigen, sie würden miteinander streiten, und der Tag war schon schlimm genug gewesen.

»Was will die Gilde jetzt unternehmen?«, fragte Res schließlich, nachdem sie ihren Wunsch zu schreien niedergerungen hatte.

»Sie beraten noch«, erwiderte Kunla. »Vater meint, das Beste wäre, ein paar wirklich kostbare Teppiche gegen Schutzzauber einzutauschen, damit die Wege wieder sicher sind.«

Das hielt sie für keinen guten Plan; wenn etwas Gefährliches jenseits der Ebene lauerte, sollte man losziehen und es bekämpfen, dachte Res, nicht nur versuchen, sich davor zu schützen. Außerdem konnte in der gesamten Ebene von Kenfra niemand Schutzzauber verhängen, und ganz gleich, ob man sie nun von den Dschinn oder Feen, den Feuergeistern oder Rabenschwätzern erwerben wollte, eine Reise durch die Glasberge würde doch nötig sein. Aber als sie diese Gedanken laut aussprach, entgegnete Kunla nur, die Gilde wisse sicher mehr als sie und der rechte Weg werde bestimmt gefunden werden. Erst als er wieder verschwunden war, bemerkte Res, dass er sie überhaupt nicht gefragt hatte, was mit ihr geschehen war, seit sie sich getrennt hatten.

Obwohl sie nach der stundenlangen Arbeit müde war, hielten die Entdeckungen des heutigen Tages sie wach. Alles kam ihr vor wie ein verfilztes Wollknäuel, das man neu wickeln musste. Es gab dort draußen etwas, das Dinge und Leute verschwinden ließ. Die Gilde, die doch die Aufgabe hatte, Siridom zu beschützen, wusste davon und hatte es verschwiegen. Und niemand ahnte, was als Nächstes zu tun war. Nein, das stimmte nicht; sie wusste nur zu genau, was sie als Nächstes tun würde. Sie würde im Arachnion mit Pallas Fäden ertasten und ihr Gesellenstück planen.

Hör auf zu jammern, sagte in ihrem Kopf eine Stimme, die seltsam vertraut klang. Res schaute auf und erkannte auf dem Fenstersims ihres Zimmers, vom Mondlicht ganz in Weiß getaucht, die Katze. Ihre blauen Augen wirkten sehr dunkel in der Nacht. Sie neigte den Kopf zur Seite, dann machte sie einen Satz und sprang zu Res auf das Bett. Kraul mich lieber. Du weißt, dass du es möchtest.

»Wo warst du?«, fragte Res, während sie ihre Finger in dem weichen Fell der Katze vergrub und begann, sie zu streicheln. Das Tier fing an zu schnurren und sie spürte den warmen Körper unter ihren Fingern vibrieren.

Ich komme und gehe, wie es mir gefällt. Ich bin eine Katze, erwiderte die Katze, als sei nichts selbstverständlicher.

»Kannst du mir verraten, was genau mit dem Tross geschehen ist? Hast du es miterlebt, das Nichts? Was ist es?«

Fragen, Fragen. Du weißt, was du weißt.

Res hörte mit dem Kraulen auf, und die Schwanzspitze der Katze zuckte unwillig.

Mach weiter.

»Das Nichts«, beharrte Res.

Wenn ich es wirklich erlebt hätte, sagte die Katze, dann wäre ich jetzt nicht hier. Es ist eine ganz und gar unkätzische Angelegenheit und fühlt sich an, als sei man ein blindes Neugeborenes. Früher oder später kommt es auch zu euch. Bring mich weg von hier. Ich brauche jemanden, der für meine Weiterreise sorgt, und du scheinst nicht ganz so hundedumm zu sein wie der Rest in diesem Ort.

»Du machst dir wohl nur um dich selbst Sorgen?«, fragte Res anklagend.

Die Katze drehte ihr den Kopf zu und musterte sie aus inzwischen halb geschlossenen Augen. Natürlich. Ich bin eine Katze.

Kapitel 3

Res spürte die dünnen Seidenfäden unter ihren Fingerspitzen und erinnerte sich gerade daran, dass Seide bei Teppichen für gewöhnlich nur zur Darstellung von Wundern verwendet wurde, als ihr klar wurde, mit welcher Aufgabe Pallas im Arachnion betraut war. Ihre Augen hatten sich zwar ein wenig an das Dunkel gewöhnt, doch noch immer konnte sie kaum mehr als das schlohweiße Haar von Pallas’ vorgebeugtem Kopf erkennen.

Sie räusperte sich. »Du betreust die ältesten Teppiche, nicht wahr? Diejenigen, die so alt sind, dass sie im Licht zu Staub zerfallen würden. Du findest heraus, welche Art von Fäden bei ihrer Erschaffung benutzt wurde, und besserst sie aus, damit sie weiterleben können.«

Das unsichtbare Lächeln drang durch Pallas’ Stimme wie eine dunkle Glocke. »Und ich dachte, du schmollst zu sehr, um deinen Verstand zu gebrauchen. Ja, das stimmt, Res.« Ihr weißes Haupt hob sich. »Niemand sonst darf die ältesten Gewebe berühren. Sie sind unser Erbe. Wenn ich einen Fehler beginge, auch nur einen, würde sich das nie mehr gutmachen lassen.«

Das Vertrauen, das die Weberinnen in Pallas haben mussten, die Ehre, die ihr zuteilwurde, all das breitete sich vor Res aus wie ein prächtiger Teppich, der entrollt wurde. Doch ihr Widerspruchsgeist trieb sie dazu, Pallas herauszufordern.

»Aber hast du dir nie gewünscht, etwas zu verändern?«, fragte sie in die Dunkelheit hinein. »Wenn du spürst, dass ein Baum ursprünglich braun dargestellt wurde, aber dir denkst, dass er in Purpur interessanter wäre? Oder wenn du Ygramul, die Viele, zum zwölften Mal durch schwarze Seidenknöpfchen gezeichnet findest, hast du dir nie überlegt, dass graues Taugespinst viel unheimlicher wirken würde? Und wer könnte dich daran hindern, etwas zu verändern, wenn du es willst?«

Noch ehe das letzte Wort ihrem Mund entflohen war, wurde Res bewusst, dass ihre Beispiele an Pallas abperlen würden. Was konnten Pallas einzelne Farben bedeuten? Nur ein etwas anderes Gefühl unter ihren Fingern. Trotzdem, auf das Prinzip kam es ihr an, und sie wartete gespannt, ob Pallas wütend werden und sie hinauswerfen würde.

»Mein eigenes Gewissen würde mich daran hindern«, gab Pallas ruhig zurück.

Res war enttäuscht. Sie wusste nicht, warum, aber es war ihr mit einem Mal wichtig zu beweisen, dass Pallas die Geduld verlieren und aufbrausen konnte wie jeder andere Phantásier auch. »Aber hast du dir nie, wirklich nie gewünscht, etwas zu verändern?«, beharrte sie.

Eine weitere Frage kam ihr in den Sinn, die Pallas gewiss ihre Beherrschung kosten würde, die Frage, ob Pallas sich nie danach gesehnt hatte, sehen zu können. Aber diese Frage zu stellen wäre grausam gewesen, und Res wollte Pallas nicht verletzen. Sie wollte nur diese überlegene, eherne Ruhe durchbrechen. Ihre eigenen Gedanken liefen hierhin und dahin, von der geheimnisvollen Bedrohung durch das Nichts zu der Furcht, die Gilde könnte Lesterfeld und eine Menge anderer gleich ihm in ihr Verderben geschickt haben, bis zu dem alltäglichen Gefühl, von den Plänen ihrer Mutter aufgesaugt und zu einer neuen Res, mit der die alte nichts zu tun hatte, umgeformt zu werden. Es gab keine Ruhe in ihrem Herzen, nicht das geringste bisschen, und deswegen nahm sie es übel, dass Pallas so gelassen blieb. »Eines«, erwiderte Pallas langsam und so nachdenklich, dass Res sich schämte. »Ich habe mich immer danach gesehnt, das Wandgehänge vom Verlorenen Kaiser vollenden zu können. Es ist ein Kunstwerk, das mein Herz stocken lässt, jedes Mal, wenn ich es berühre, doch die Weberin, die diesen Teppich schuf, hat ihn nie vollendet. Sie starb vorher, und in ihrer Generation gab es niemanden, der ihr ebenbürtig war, also ließ man den Teppich unvollendet. Weil er unvollendet war, wurde er auch nie kopiert und erzählte seine Geschichte nur ein einziges Mal. Das«, schloss Pallas, »ist die einzige Veränderung, die ich mir wünsche. Den Teppich des Verlorenen Kaisers zu vollenden.«

Res hatte noch nie von diesem Wandteppich gehört, aber da er nie nachgeahmt und wiederholt worden war, wunderte sie das nicht. Ihre Neugier erwachte. »Warum vollendest du ihn nicht?«, fragte sie und setzte hastig hinzu: »Ich meine, warum webst du ihn nicht noch einmal, als ein zweites Stück, und bringst ihn zu einem Ende? Dann könnte dir niemand vorwerfen, etwas verfälscht zu haben, und gleichzeitig hättest du etwas Neues geschaffen.«

»Das würde ich gerne«, seufzte Pallas, »doch niemand weiß, was mit dem Verlorenen Kaiser geschah. Ich kenne alle Webstücke, die sich mit der Geschichte Phantásiens beschäftigen, und kein anderes stellt ihn dar. Und solange ich nicht weiß, was geschah, kann ich den Teppich auch nicht zu einem Ende bringen.«

Ein Ziehen um ihren Ringfinger machte Res darauf aufmerksam, dass sie begonnen hatte, sich die Seidenfäden um die Hände zu wickeln, hin und her, quer und lang, in Häkchen und Knoten. Ein Glück, dass Pallas nicht sehen konnte; Seide war kostbar und nicht für dergleichen Spielereien gedacht.

»Mir hat nie jemand vom Verlorenen Kaiser erzählt«, sagte sie halblaut. »Ich dachte, die Kindliche Kaiserin habe uns immer regiert. Gab es denn vor ihr einen anderen im Elfenbeinturm?«

»Nein«, entgegnete Pallas, und ihre weiße, feste Hand legte sich auf Res’ unruhige Finger, die versuchten, die Seide wieder zu entwirren. Schuldbewusst hielt Res inne, aber sagte nichts. Stattdessen löste sie die Knoten Stückchen für Stückchen auf. »Die Kindliche Kaiserin erscheint ebenfalls auf jenem Teppich. Der Verlorene Kaiser kam zu ihr aus einem anderen Reich, zu einer Zeit, als sich Phantásien in großer Gefahr befand. Er rettete Phantásien und dann verschwand er.«

»Vielleicht ist er in seine Heimat zurückgekehrt?«, schlug Res vor.

Pallas schüttelte den Kopf. »Nein. Er kam als Flüchtling nach Phantásien. Die Weberin, die seinen Teppich geschaffen hat, benutzte Tränenblau, um ihn darzustellen, und du weißt, was das bedeutet.«

Tränenblau war so selten, dass es nur verwendet wurde, um die Last einer fürchterlichen Schuld zu beschreiben. Die Irrlichter, die das verschwundene Volk der Habubi in den Sumpf der Traurigkeit geführt hatten, die drei Brüder, die den Allerhöchsten Schwur geleistet und dann gebrochen hatten – das waren die einzigen Res bekannten Wesen, die auf Teppichen mit Tränenblau gewebt, gestickt oder geknüpft worden waren. Sie nickte, bis ihr einfiel, dass Pallas eine andere Bestätigung brauchte.

»Das weiß ich. Aber wenn er so etwas Fürchterliches getan hat, wie konnte er dann ein Held sein und Phantásien retten?«

»Vor der Kindlichen Kaiserin gelten alle gleich«, entgegnete Pallas in sachlichem Tonfall. »Was dir und mir abscheulich erscheint, ist für sie nicht anders als die rühmenswerteste Lebensweise. Mich wundert es nicht, dass sie einen Retter nach Phantásien rief, der in seinem Reich anscheinend verhasst war.«

Res dachte an die Sorgen, die sie sich um Lesterfeld und die übrigen Trossreisenden machte, und an den Zorn, den sie auf die Gilde empfand. Sie konnte sich nicht vorstellen, jemanden wie Lesterfeld, der sein Leben lang gewiss nur Gutes getan hatte, auf eine Stufe mit den Gildemitgliedern zu stellen, die bereit gewesen waren, ihn und die anderen in den Tod ziehen zu lassen, um ihre Handelsgewinne nicht zu verlieren. Das erschien ihr als höchst ungerecht.

»Wenn ich Kaiserin wäre, würde ich nur Gute belohnen und die Bösen bestrafen.«

»Nun, dann ist es ein Glück, dass du nicht Kaiserin bist. Sonst wäre Phantásien gewiss schon ein Dutzend Mal vernichtet worden, während du noch auf einen Retter wartetest, der nichts als ein Held sein dürfte.«

»Ich würde nicht auf einen Retter warten«, erwiderte Res energisch, »ich würde Phantásien selbst retten.«

Pallas lachte. »Dann hältst du dich also für gut? Würde deine Mutter das auch von dir behaupten?«

Da sie ihre Arme immer noch um Res gelegt hatte, um ihr beim Entwirren der Seidenfäden zu helfen, musste sie die Hitze spüren, die Res in die Wangen stieg. Verlegen sagte das Mädchen, um abzulenken und den Treffer nicht eingestehen zu müssen:

»Aber wie hat der Verlorene Kaiser Phantásien denn gerettet? Was für eine Gefahr war das, und wie hat er sie besiegt?«

»Wie er sie besiegt hat, das ist eine der Ungelösten Fragen, genau wie ›Wie alt müssen Alte Weise Männer mindestens sein, um junge Helden zu betreuen?‹ und ›Welches Geschlecht haben Irrlichter?‹. Was die Gefahr betrifft, nun, da bin ich mir auch nicht ganz sicher, aber immerhin wissen wir in diesem Punkt etwas mehr. Ich denke, es muss eine Seuche gewesen sein, die alle Phantásier, ganz gleich, aus welchem Reich sie stammten, angriff, eine Art Gliederfraß. Auf dem Teppich gibt es Steinbeißer, denen die Beine fehlen, und Grauhuster ohne Brustkorb.«

Etwas in Res’ Verstand machte »Klack«, wie ein Webschiffchen, das so schnell durchgezogen wurde, dass es mit dem Rahmen des Webstuhls zusammenstieß. Wenn sie nicht fast die ganze Nacht darüber gegrübelt hätte und wenn ihre Gedanken nicht ständig Kobolz gelaufen und immer wieder zu den Ereignissen des Vortags zurückgekehrt wären, dann wäre ihr die Vermutung, die sie jetzt packte, vielleicht nie gekommen. Sie war so aufgeregt, dass sie aufsprang und Pallas dabei fast umstieß.

»Tut mir leid«, sagte Res, »aber weißt du, Pallas, das klingt wie … sag mal, der Gliederfraß, wie ist der dargestellt? Was für ein Material hat die Weberin genommen, um die fehlenden Stellen anzuzeigen?«

»Gar keines«, erwiderte Pallas, und Res konnte erkennen, wie sie sich das Kinn rieb. »Das liegt wohl daran, dass sie nie fertig geworden ist, aber an diesen Stellen besteht der Teppich nur aus den Grundfäden.«

»Und wenn Steinbeißern Glieder fehlen«, fuhr Res fort, und jedes Wort quoll so schnell aus ihr hervor, dass sie es kaum zu Ende sprechen konnte, ehe sie das nächste begann, »kann es sein, dass auch Gegenstände auf dem Teppich nicht vollständig sind?«

Nun erhob Pallas sich ebenfalls. Es war das erste Mal, seit Res sie kennengelernt hatte, dass sie stand, und Res war überrascht zu entdecken, dass Pallas nicht viel größer als sie selbst war.

»Woher weißt du das?«, fragte sie. Unruhe lag in ihrer Stimme und beschwerte sie mit einem rauen Tonfall, der ihr die gewohnte Harmonie nahm. Doch Res war zu gefangen von der Bedeutung ihrer Entdeckung, um darauf zu achten, dass sie nun tatsächlich Pallas’ Ausgeglichenheit durchbrochen hatte.

»Weil es wieder geschieht«, antwortete sie und griff nach den Händen der anderen, die bei ihren Worten zu zittern begannen. »Weil es wieder geschieht, genau jetzt!«

*

Das Gildehaus in Siridom bestand im Gegensatz zum Arachnion nur aus geraden Wänden und rechtwinkligen Ecken. Das alte Gildehaus, so erzählten es die Leute, war wie das Arachnion aus Muscheln erbaut gewesen, doch die Oberhäupter der Gilde, die gewählt worden waren, als Res’ Großmutter jung gewesen war, hatten angeordnet, es niederzureißen und einen neuen Bau zu errichten. Das neue Gildehaus, dessen Vorläufer bereits Res’ Mutter Krin nicht mehr gekannt hatte, bestand aus Material von allen Ecken und Enden Phantásiens, um die weitgespannten Handelsbeziehungen der Gilde zu verdeutlichen. Schwarze und goldene Palisaden aus dem Reich der Bibla-Schmiede ragten in die Höhe, mit blassbraunen Gittern wetteifernd, die von den Weidenleuten gefertigt worden waren. Es war das höchste Gebäude von Siridom; erst vor Kurzem war der Antrag gestellt worden, ein weiteres Stockwerk zu bauen, doch inzwischen hatte die Gilde andere Sorgen.

Res kannte im Gildehaus vor allem die Ställe und den Raum, in dem Kunlas Vater für gewöhnlich residierte. Aber sie wusste aus Kunlas und Lesterfelds Erzählungen, wo sich das große Beratungszimmer befand, und lief, nachdem sie sich erst einmal durch die Ställe ins Haus geschmuggelt hatte, geradewegs dorthin. Noch während des Laufens zerbrach sie sich den Kopf, wie sie die Flügeltür zum Beratungszimmer dazu bringen könnte, sie einzulassen. Die Tür stammte aus dem Unteren Sumeria, und die Gilde hatte teuer für ihre Sicherheitszauber bezahlt.

»Versuche es erst gar nicht«, brummte die Tür, als Res den Mund öffnete. »Du stehst nicht auf der Liste, genauso wenig wie die zwölf anderen Tunichtgute, die heute schon hier eindringen wollten. Dem nächsten, der mir mit einem ›Sesam öffne dich‹ kommt, schleudere ich einen Knauf ins Gesicht.«

»Dazu müsstest du dich aber öffnen«, sagte Res.

»Ich bin eine Tür aus dem Geschlecht der Unterweltschwellen«, entgegnete die Tür erhaben. »Für uns gelten Regeln der Logik nicht. Versuch nur, die Beratung zwischen den Gildemeistern und den Weberinnen zu stören, und du wirst meinen Knauf kennenlernen, ohne je das Innere des Beratungszimmers zu sehen.«

Res spitzte die Ohren. Davon, dass die Weberinnen sich mit den Häuptern der Gilde berieten, hatte sie nichts gewusst, aber es passte ihr hervorragend. Sie holte tief Luft und warf sich in Positur. »Meine Mutter, die Weberin Krin, ist dort drinnen«, verkündete sie, »und ich bringe ihr eine Botschaft aus dem Arachnion, von Pallas, der Hüterin des Ältesten, auf die sie dringend wartet. Wenn du mich noch lange hier draußen stehen lässt, Tür, dann prophezeie ich dir, dass du die nächsten vier Wochen nicht mehr geölt werden wirst.«

»Glaubst du, ich sei eine Zwergenpforte, dass ich mich von derlei Ausreden überlisten lasse?«, fragte die Tür und knarrte im Vollgefühl ihrer Überlegenheit. »Ich werde die Weberin Krin bitten, zu dir hinauszugehen, und wenn sie dich nicht kennt, wirst du dir noch wünschen, nur mit meinem Türpfosten Bekanntschaft geschlossen zu haben.«

Die Vorstellung, vor den Gilderat zu treten und von ihrer Entdeckung zu berichten, verlor mit einem Mal einiges von ihrem bunten Glanz und nahm die blasse, öde Farbe einer mütterlichen Abkanzlung an. Statt einer Heldin, die mit den wichtigsten Personen der Stadt sprach, würde sie ein Mädchen sein, dessen Gedanken von seiner Mutter am Ende nicht ernst genommen und als Träumereien abgetan würden. Res presste die Lippen zusammen. Nicht so. Sie konnte sich nur zu gut ausmalen, wie ihre Mutter ihr Vorwürfe machte, statt ihren Erklärungen zuzuhören.

Als die Tür überrascht brummte: »Sie kommt« und sich langsam öffnete, rannte Res los. Sie stieß ihre Mutter beinahe um, aber es gelang ihr, in das Beratungszimmer einzudringen, ehe sich die beiden Flügel der Tür wieder geschlossen hatten.

»Res!«, rief ihre Mutter verdutzt und vorwurfsvoll in das tiefe, ächzende Schimpfen der Tür hinein. Die Leute dagegen, die eben noch miteinander geredet hatten, verstummten plötzlich. Die Gildemitglieder mit ihren zugeknöpften Wämsern standen so steif da, als habe man ihnen ihre Lederhosen nass angepasst und auf dem Leib trocknen lassen. Die bauschigen Röcke der Weberinnen, die neben ihnen wie bunte Vögel zwischen Käuzen aussahen, knisterten, als die Frauen zur Tür blickten und unwillkürlich näher zusammentraten.

Aller Augen auf sich gerichtet zu sehen, war bei Weitem kein so aufregendes Gefühl, wie Res geglaubt hatte. Es glich mehr dem Gestochenwerden mit Nadeln, wenn man beim Weben und Sticken etwas verpatzt hatte. Doch was sie zu sagen hatte, war zu wichtig, um sich einschüchtern zu lassen.

»Es ist alles schon einmal geschehen«, stieß sie hervor, und ihre Stimme kam ihr hoch und dünn vor. Rasch schöpfte sie Atem und bemühte sich, in gedämpftem Ton zu sprechen, um erwachsener zu wirken. »Das Nichts. Es hat sich schon einmal ereignet, und wir haben den Beweis dafür.«

Kunlas Vater räusperte sich und warf Res’ Mutter einen missbilligenden Blick zu. »Weberin Krin, ich hätte nicht gedacht, dass Sie und die anderen Weberinnen Ihre Beschwerden mit Ihren Kindern besprechen, ehe Sie zum Rat damit gehen.«

Angesichts der Tatsache, dass er selbst Kunla einiges verraten haben musste, war dieser Vorwurf im höchsten Maß heuchlerisch, doch Res hatte nicht die Zeit, um sich darüber zu empören. Erfreut nahm sie jedoch wahr, dass ihre Mutter und die anderen Weberinnen mit dem Vorgehen der Gilde, die ihnen die nahende Gefahr verschwiegen hatte, offenbar genauso wenig glücklich waren wie sie selbst.

»Meine Mutter hat mir gar nichts erzählt«, gab sie erregt zurück. »Ich habe mit Pallas im Arachnion gesprochen. Dort gibt es einen uralten Wandteppich, der eine Zeit darstellt, in der eine solche Gefahr schon einmal über Phantásien gekommen ist. Wir brauchen keine Schutzzauber, um die Straßen zu sichern, wir brauchen den Verlorenen Kaiser, damit er uns verrät, wie er Phantásien damals gerettet hat!«