Wahnsinn, der das Herz zerfrisst - Tanja Kinkel - E-Book
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Wahnsinn, der das Herz zerfrisst E-Book

Tanja Kinkel

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Beschreibung

Wenn Gefühle zum Skandal werden: Tanja Kinkels meisterhafter Roman »Wahnsinn, der das Herz zerfrisst« über Lord Byron jetzt als eBook bei dotbooks. Mit der Poesie seiner Worte, aber auch seinem scharfen Verstand und der Lust nach der Provokation raubt er seinen Bewunderern den Atem: Der Dichter George Gordon, besser bekannt als Lord Byron, ist ein begehrter Gast auf den Festen der Londoner Gesellschaft. Die schönsten Töchter der angesehenen Familien liegen ihm zu Füßen – und oftmals auch in seinem Bett. Daher ist das Erstaunen groß, als Byron die unscheinbare Anna Isabella Milbank heiratet … und das Interesse umso größer, warum die Ehe schon nach kurzer Zeit scheitert. Plötzlich macht ein hässliches Gerücht die Runde, das immer weitere Kreise sieht: Byrons Herz soll insgeheim der einen Frau gehören, die er niemals lieben darf, Augusta – seiner Halbschwester. Aber wer ist diese Frau, wegen der Byron alles zu verlieren droht, was ihm wichtig ist? »Tanja Kinkel zeichnet einfühlsam den widrigen Weg einer Frau im puritanischen England zwischen familiärer Anpassung und verbotener Liebe.« Harper’s Bazaar Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Wahnsinn, der das Herz zerfrisst« ist der Debütroman der Bestsellerautorin Tanja Kinkel über einen Skandal, der das England der Regency-Epoche in Atem hielt. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Mit der Poesie seiner Worte, aber auch seinem scharfen Verstand und der Lust nach der Provokation raubt er seinen Bewunderern den Atem: Der Dichter George Gordon, besser bekannt als Lord Byron, ist ein begehrter Gast auf den Festen der Londoner Gesellschaft. Die schönsten Töchter der angesehenen Familien liegen ihm zu Füßen – und oftmals auch in seinem Bett. Daher ist das Erstaunen groß, als Byron die unscheinbare Anna Isabella Milbank heiratet … und das Interesse umso größer, warum die Ehe schon nach kurzer Zeit scheitert. Plötzlich macht ein hässliches Gerücht die Runde, das immer weitere Kreise sieht: Byrons Herz soll insgeheim der einen Frau gehören, die er niemals lieben darf, Augusta – seiner Halbschwester. Aber wer ist diese Frau, wegen der Byron alles zu verlieren droht, was ihm wichtig ist?

»Tanja Kinkel zeichnet einfühlsam den widrigen Weg einer Frau im puritanischen England zwischen familiärer Anpassung und verbotener Liebe.« Harper’s Bazaar

Mit einem exklusiven Nachwort zur Neuausgabe des Romans: Wie sieht Tanja Kinkel ihren Debütroman mit über 30 Jahren Abstand?

Über die Autorin:

Tanja Kinkel, geboren 1969 in Bamberg, studierte und promovierte in Germanistik, Theater- und Kommunikationswissenschaft. Sie erhielt acht Kultur- und Literaturpreise, Stipendien in Rom, Los Angeles und an der Drehbuchwerkstatt der HFF München, wurde Gastdozentin an Hochschulen und Universitäten im In- und Ausland sowie Präsidentin der Internationalen Feuchtwanger Gesellschaft. 1992 gründete sie die Kinderhilfsorganisation Brot und Bücher e. V, um sich so aktiv für eine humanere Welt einzusetzen (mehr Informationen finden Sie auf der Website brotundbuecher.de). Tanja Kinkels Romane, die allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über sieben Millionen erzielten, wurden in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt und spannen den Bogen von der Gründung Roms bis zum Amerika des 21. Jahrhunderts.

Bei dotbooks veröffentlichte Tanja Kinkel ihre großen Romane »Die Puppenspieler«, »Die Löwin von Aquitanien«, »Mondlaub«, »Die Söhne der Wölfin«, »Die Schatten von La Rochelle« und »Unter dem Zwillingsstern«, die Novelle »Ein freier Mann« sowie ihre Erzählungen »Der Meister aus Caravaggio«, »Reise für Zwei« und »Feueratem«, die auch in gesammelter Form vorliegen in »Gestern, heute, morgen«.

Die Autorin im Internet: tanja-kinkel.de

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eBook-Neuausgabe August 2021

Copyright © der Originalausgabe 1990 Wilhelm Goldmann Verlag in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH, München

Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, Memmingen, unter Verwendung von eines Bildmotivs von Shutterstock/Kathy SG und des Gemäldes »Easby Hall« von George Quitt

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-96655-899-0

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Tanja Kinkel

Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Roman

dotbooks.

Für meine Eltern,

ohne die nichts möglich gewesen wäre,

und für Klaus, das Computergenie,

für den dasselbe gilt.

»Was du auch seist, Seel oder Leib,

Erbarm dich! geh nicht von mir! bleib!

Oder laß beid uns weiter fliehn

Als Winde wehn und Wolken ziehn!

Es ist zu spät – du warst, du bist

Der teure Wahnsinn, der mein Herz zerfrißt.«

Byron, Der Giaur

1851

»Ich lache dann und wann, um nicht zu weinen,

Und weine, weil der Mensch nicht Tag für Tag

Sich zwingen kann, in Stumpfsinn zu versteinern;

Erst muß in Lethes Strom des Herzens Schlag

Stillstehen, eh der Friede wird erscheinen …«

Don Juan

Zehn Tage vor ihrem Tod reiste Augusta Leigh mit dem Zug nach Brighton, um ihre Schwägerin Annabella zu besuchen. Augustas Tochter Emily, die dieses Zusammentreffen arrangiert hatte, stand dem Unternehmen mit großer Skepsis gegenüber. »Hältst du es wirklich für vernünftig, Mamee?« fragte sie, während sie ihre Mutter zum Bahnhof brachte. »Ich meine, glaubst du nicht, daß sie noch immer … noch immer …« Es war weder Emilys Art, ihre Sätze unvollendet zu lassen, noch hegte sie für gewöhnlich Zweifel an Dingen, die sie selbst eingefädelt hatte, so daß Augusta das Ausmaß ihrer Befürchtungen erkennen konnte. »Aber nein«, erwiderte sie lachend und küßte ihre Tochter auf die Wange. »Wir sind ganz einfach zwei alte Damen, die sich lange nicht gesehen haben. O dear, wir kommen zu spät, Emily. Beeilen wir uns ein bißchen.«

Augusta heuchelte Zuversicht, die sie nicht ganz empfand, doch sie war schon immer der Ansicht gewesen, unausweichliche Probleme sollte man erst dann fürchten, wenn man ihnen direkt gegenüberstand. Wozu sich unnötig den Kopf zerbrechen und das Leben schwermachen? Sie hatte vor, diese Fahrt mit der neumodischen Dampflokomotive – ein Abenteuer, das sie noch nie mitgemacht hatte – zu genießen, auch wenn sie ein wenig Angst davor hatte. Die Eröffnung der ersten Eisenbahnlinie von Liverpool nach Manchester lag zwar nun schon über zwanzig Jahre zurück, das leicht Bedrohliche und Spekulative hing dem neuen Transportmittel jedoch immer noch an. »Wenn die Menschen dazu gemacht wären, durch das Land zu rasen wie wildgewordene Bullen«, hatte Augusta seinerzeit zu ihrem mittleren Sohn Frederick gesagt, als Stevensons Modell zum allgemeinen Gesprächsthema wurde, »dann besäßen sie Flügel.« Nichtsdestoweniger war sie sehr neugierig.

In dem Abteil, in das sie Emily fürsorglich noch begleitete, befand sich zur Zeit kein weiterer Reisender, wie Augusta etwas erleichtert feststellte; denn in den sechsundsechzig Jahren ihres Lebens hatte sie ihre ungewöhnliche Scheu vor Fremden nie ganz verloren. Außerdem konnte sie so ihre erste Fahrt mit dieser seltsamen Maschine erleben, ohne beobachtet zu werden. Sie verabschiedete Emily mit einem Augenzwinkern und dachte dabei liebevoll, daß das arme Kind bisher nicht viel vom Leben gehabt hatte. Emily war – mit Ausnahme ihrer wahnsinnigen Schwester – das einzige von Augustas sieben Kindern, das niemals Geld für Kleider, Würfelspiel oder die wechselnden Modetorheiten beansprucht hatte. Auf diese Art sah man sie als »Stütze der Familie« und den »einzigen Trost der guten Augusta« an und bedachte sie überreichlich mit Mitleid, das eine Spur von Verächtlichkeit in sich trug.

Emilys ein wenig trockene und scharfzüngige Art schreckte Freier immer wieder ab, und die familiären Umstände taten ein übriges. Doch eines Tages würde Emily sicher aus dem Schatten ihrer älteren Schwestern treten, so daß dann ihre wahren Qualitäten zur Geltung kämen, die fröhliche Uneigennützigkeit, die sie nie in Selbstmitleid verfallen ließ. Ihr lag es nicht, sich in Grübeleien zu versenken, selbst jetzt nicht, obwohl sie wußte, daß die gesamten Sorgen der Familie Leigh bald auf ihren Schultern ruhen würden.

Augusta seufzte. Von Annabella würde sie keine finanzielle Hilfe erwarten können. Ihre Schwägerin hatte in ihrer gebieterischen Art ausdrücklich geschrieben, daß es über eine Unterredung hinaus keine weiteren Hoffnungen für Augusta geben dürfe. Nun, es ging ihr diesmal auch um etwas völlig anderes. Immerhin ließ sich so der jahrzehntelange alberne Streit beilegen, und darauf kam es in der Hauptsache an. Bell…

Sie wandte den Kopf und blickte aus dem Fenster, entschlossen, weitere trübe Gedanken bis nach ihrer Ankunft in Brighton zu verschieben. Es nieselte, und die winzigen silbrigen Tropfen in solcher Geschwindigkeit vorbeifliegen zu sehen, bereitete ihr ein kindliches Vergnügen. Sie wünschte nur, sie wäre noch jung genug, in diesem Herbstwetter ausreifen zu können, um die erlesene prickelnde Feuchtigkeit auf der Haut zu spüren.

Augusta fiel ein, wie ihr Bruder ihr einmal geschrieben hatte: »Du meinst & c., es sei Herbst; ich würde gerne wissen, wie Du die gegenwärtige Jahreszeit nennst, in jedem anderen Land, das ich gesehen habe, wird man Winter dazu sagen.« Und sie mußte lachen. Unversehens begann sie ein Gespräch mit ihm, wie sie es in der letzten Zeit immer öfter tat, da sie wußte, daß sie ihn bald Wiedersehen würde. »Weißt du, es ist wirklich schade, daß du diese Lokomotiven nicht mehr erlebt hast. Sie sind vielleicht etwas laut, aber doch angenehmer als Kutschen für die Überlandfahrt – es holpert nicht so. Wirklich dumm von mir, sich vor so etwas zu fürchten. Du hättest natürlich gleich das erste Modell benutzt.« Sie schwieg eine Weile und versuchte vergeblich sich Byron in einem Zug auszumalen. »Sicher, Kutschen waren romantischer. Und könntest du dir vorstellen, daß sich ein Kutscher so steif und würdig benimmt wie der Herr vom Personal, mit dem Emily vorhin sprach? Er hätte Fletcher Konkurrenz gemacht! O Georgy, wir sind alle etwas unbeweglicher geworden …«

Da fiel ihr wieder ein, daß ihr Bruder, als sie sich seinerzeit zum erstenmal wirklich begegneten, ihr streng verboten hatte, ihn so zu nennen. »Sag Byron.« Sie fühlte sich belustigt und verärgert zugleich und redete ihn von da an ständig mit »Baby Byron« an, worauf er, um sich zu rächen, ihren Spitznamen von Gus zu Gans umformte. Baby Byron!

Bei ihrer Ankunft in Brighton hatte es aufgehört zu regnen, und der Schirm, den ihr Emily vor ihrem Abschied noch einmal ans Herz gelegt hatte, diente ihr nun als Stütze. Der unverbrüchlich freundliche Schaffner half ihr beim Aussteigen und war fast gekränkt über das Trinkgeld, das sie ihm geben wollte. Nachdem sie sich eine Weile vergeblich nach Annabella umgesehen hatte, wurde sie von einem Bediensteten mittleren Alters angesprochen. »Mrs. Leigh?« Sie nickte und fühlte sich plötzlich verängstigt und verloren. Von der fröhlichen Reisestimmung war so gut wie nichts übriggeblieben. Ihre Gelenke schmerzten, und sie wurde sich einmal mehr ihrer Hinfälligkeit bewußt. »Lady Byron hat mich geschickt, um Sie abzuholen. Sie erwartet Sie.«

So – Annabella wollte also nicht persönlich erscheinen, um sie zu empfangen. Das schmerzte, nicht sehr, aber doch wie ein kleiner, feiner Dom, der sich nicht entfernen läßt. Sie tröstete sich damit, daß auch Annabella das Alter zusetzte.

Die Kutsche, die Annabella geschickt hatte, brachte Augusta schließlich zu einem der zahlreichen Seehotels. Als sie vor kurzem wieder begonnen hatten, sich zu schreiben, hatte Annabella nur die hiesige Post als Adresse angegeben, als befürchte sie, Augusta könne unvermutet hier auftauchen. Versuchte Annabella hier wieder einmal, sich mittels präzis durchdachtem Handeln von Ängsten und Gefühlsausbrüchen abzuschirmen? Dabei waren wir einmal Freundinnen, dachte Augusta. Es ist, wie ich zu Emily gesagt habe. Zwei alte Damen, die sich gerne Wiedersehen möchten. Alles andere ist vorbei.

Es genügte allerdings, beim Betreten von Annabellas Hotelsuite den trockenen Kuß ihrer Schwägerin auf der Wange zu spüren und in ihre Augen zu blicken, um zu wissen, daß nichts vorbei war, daß Annabella sich immer noch von der Vergangenheit gefangennehmen ließ, einer Vergangenheit, die über dreißig Jahre zurücklag. »Meine liebe Augusta!«

Die Suite entsprach Annabella aufs Haar: geschmackvoll eingerichtet, jeder Gegenstand passend und an seinem richtigen Platz, nichts Überflüssiges. Alles, wie es sich gehörte.

Beim Eintreten traf Augusta auf einen ihr unbekannten jungen Mann. Annabella stellte ihn als Reverend Robertson vor, »meine geistliche Stütze in der letzten Zeit«. Reverend Robertson hatte das gesunde gute Aussehen eines Vollblutpferdes, allerdings gepaart mit einem eisigen, abweisenden Blick.

In seine Stirn gruben sich zwei mißbilligende Falten, während er die gebrechliche alte Dame mit unübersehbarer Distanz betrachtete. Augusta lächelte: »Reverend, ich nehme an, wir sehen uns spätestens dann wieder, wenn Sie zum Erzbischof von Canterbury befördert werden.« Eine dritte ablehnende Linie trat auf seiner Stirn hervor, während er kühl antwortete: »Ich strebe nicht das Bischofsamt an.« Augustas Mund wölbte sich mit Erstaunen. »Welch ein Versäumnis für die Christenheit!« rief sie.

»Setze dich doch, Augusta«, forderte Annabella ihre Schwägerin kühl auf, um dem peinlichen Verhalten gegenüber dem Reverend ein Ende zu bereiten – es bewies einmal mehr die Oberflächlichkeit ihres Glaubens. Annabella war entsetzt über Augustas Aussehen: Sie war sehr gealtert und wirkte wie ein Gebilde aus brüchigem Pergament, das ein einziger Hauch umstoßen könnte. Sie stirbt, dachte Annabella, und fühlte Betroffenheit in sich aufsteigen. Ursprünglich hatte sie vorgehabt, gleich mit dem Verhör zu beginnen, aber so ließ sie Augusta noch einige Zeit ihr seichtes Geplaudere fortführen. Eine todgeweihte Frau würde ihr ohnehin nicht mehr die Unwahrheit sagen. Annabella nahm den Zettel mit den Fragen, die sie sich aufgeschrieben hatte, aus ihrem Pompadour und begann unbewußt ihn immer kleiner zusammenzufalten.

Augusta erzählte von London, von der Weltausstellung, die dort zum erstenmal stattfand, von der Mode, die sich unter Königin Viktoria so sehr verändert hatte. »Im Moment reden alle davon, in der nächsten Saison nur noch in bis zum Kopf hochgeschlossenen Kleidern zu erscheinen – bis zum Kopf! Für unsereins ist das ja gleichgültig, aber die jungen Mädchen tun mir leid. Sie müssen sich mit diesen Kragen ja wie Giraffen Vorkommen!« Sie wandte sich Robertson zu. »Sicher langweilt Sie solches Frauengeschwätz, Reverend.« Sie war nicht hierhergekommen, um über die Londoner Mode zu sprechen, sondern um sich mit Annabella zu versöhnen, und wartete darauf, daß deren geistliche Stütze endlich verschwand, damit sie mit dem ernsthaften Teil ihres Gesprächs beginnen konnten.

Annabella begriff, worauf ihre Schwägerin hinauswollte, und ließ ein winziges Lächeln über ihre fest zusammengepreßten Lippen gleiten – das erste seit langer, seit sehr langer Zeit. »Reverend Robertson wird während der gesamten Dauer unserer Unterredung anwesend sein«, sagte sie und sah Augusta dabei direkt in die Augen. »Schließlich brauche ich einen Zeugen, der der Nachwelt berichtet, was du zu sagen hast.«

Augusta traf es wie ein Schlag ins Gesicht. Also das sollte es sein. Keine Versöhnung, natürlich nicht. Ein Geständnis. Seit dreißig Jahren nur das eine – ein Geständnis. Ein Geständnis, damit Annabella sich endlich in ihren jahrzehntelangen Bemühungen der Selbstrechtfertigung bestätigt sah – eine ebenso absurde wie unnötige Rechtfertigung, da nur Annabella selbst sich anklagte. Die Öffentlichkeit betrachtete sie als den Inbegriff von Tugend. Arme Annabella. »Ich verstehe dich nicht«, sagte sie traurig. Hatte sie Annabella nicht längst schon alles gestanden, was es zu gestehen gab? Sie erinnerte sich an das letzte gequälte Zusammentreffen mit ihrer Schwägerin, das keiner von beiden auch nur ein wenig geholfen hatte. Was gab es also noch zu gestehen?

Annabellas schneidende Stimme riß sie aus ihren Gedanken. »Dann muß ich dein Gedächtnis etwas auffrischen, Augusta.« Sie wechselte schnell einen Blick mit dem Reverend, der unauffällig nickte, und fuhr dann fort: »Ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß mein Gatte, dein verstorbener Bruder, am Ende seines Lebens erkannt haben muß, daß ich vom ersten bis zum letzten Moment sein einziger wahrer Freund gewesen bin.«

Augusta dachte an die zahlreichen bissigen Bezeichnungen, die Byron für seine Frau verwendet hatte: »Meine moralische Klytämnestra«, »das tugendhafte Ungeheuer, Miss Milbanke«, »die Prinzessin der Parallelogramme«. Das Tragikomische an Annabellas Behauptung ließ in ihrem Inneren den verzweifelten Wunsch entstehen zu lachen, und sie brachte daher nicht mehr als ein angemessenes Schweigen zustande – mochte es Annabella deuten, wie sie wollte. Vielleicht war sie an einer Reaktion auch überhaupt nicht interessiert.

»… nicht schon früher eingesehen hat, kann nur an einem liegen.« Sie rückte etwas näher und glich in diesem Augenblick, wie Augusta fand, einem der Hühner von Six Mile Bottom, das einen Wurm gesichtet hatte. »Du hast ihn gegen mich aufgehetzt. Du hast seinen unnatürlichen Haß gegen mich in deinen Briefen aufrechterhalten, und daß er nicht reuig nach England zurückkehrte, um meine Verzeihung zu erflehen, ist allein deine Schuld.«

Augusta saß wie gelähmt da. Sie sah die unerbittliche Frau vor sich an, ohne sie wirklich zu erkennen. War dies die Schwester, die sich in der Verlassenheit einer Nacht an sie geklammert und geschluchzt hatte: »Ich weiß nicht, warum er mich nicht liebt, Augusta, ich weiß es wirklich nicht.«

»Und um zu dieser Schlußfolgerung zu gelangen, hast du dreißig Jahre gebraucht?« fragte sie schließlich, um überhaupt etwas zu sagen. In Annabellas blasse Wangen stieg ein Hauch von Rot. »Wage es nicht, dich über mich lustig zu machen, Augusta.« Augusta blinzelte und erinnerte sich lieber an die praktische Hilfe, die Annabella ihr in den ersten Jahren immer zuteil hatte werden lassen … an die Freundlichkeit und Großzügigkeit, mit der sie Augustas Tochter Medora behandelt hatte, auch wenn diese Freundlichkeit das Messer gewesen war, daß sie in Augustas Herz umdrehte … an die liebevolle Art, die Annabella ihr gegenüber während des einen Jahres ihrer Ehe gezeigt hatte. Damals war zwischen Annabella und Augusta ein tiefes selbstverständliches Vertrauen gewachsen, das kaum einer verstehen konnte.

Endlich streckte Augusta zögernd eine Hand aus und legte sie an Annabellas Gesicht. »Bell«, flüsterte sie, »Bell.« Einen Augenblick lang rührte sich Annabella nicht, und die Zeit schien zwischen den beiden zu gefrieren. Dann sprang sie auf. »Gib es zu!« stieß sie hervor, und jetzt sah Augusta reinen Haß aus ihren Augen leuchten – Haß, der sich über Jahrzehnte hinweg aufgestaut hatte.

»Du hast ihn dazu gebracht, mich zu verabscheuen, du hast meine Ehe zerstört, bevor sie überhaupt begonnen hatte! Die ganze Zeit über hast du so getan, als seist du meine Freundin, während du unter meinem Dach mein Vertrauen mißbraucht hast!« Sie wandte sich jäh ab und rang um Atem. »Ich kann nicht mehr, Reverend«, sagte sie schließlich. »Sprechen Sie mit ihr.« Annabella trat ans Fenster und wandte Augusta ihren sehr geraden, abweisenden Rücken zu.

»Mrs. Leigh«, begann Robertson und ließ seine tiefe Stimme grollend ertönen, als predige er auf der Kanzel, »warum blieben Sie bei Ihrem Bruder, nachdem Lady Byron zu ihren Eltern zurückgekehrt war?«

»Auf Lady Byrons Bitte«, erwiderte Augusta. In ihrer Schläfe begann eine kleine Ader schmerzhaft zu pochen. »Sie … wir dachten, mein Bruder könnte wahnsinnig sein, und sie bat mich, sie täglich über die Ergebnisse der ärztlichen Untersuchungen zu unterrichten.«

Robertson holte tief Luft. »Aber nachdem sich gezeigt hatte, daß Ihr Bruder nicht wahnsinnig war, sondern nur ein unmoralisches Ungeheuer, das seiner armen Frau das Leben zur Hölle gemacht hatte – warum blieben Sie danach dennoch bei ihm?« Seine Stimme war nur mehr ein drohendes Flüstern. »Zu diesem Zeitpunkt bat Lady Byron Sie bestimmt nicht mehr um Ihre Anwesenheit in jenem Haus der Sünde. Wäre es nicht Ihre Pflicht gewesen, Ihre hilflose Schwägerin offen zu unterstützen? Hatten Sie nicht eine eigene Familie, um die Sie sich kümmern mußten? Warum also blieben Sie?«

Augusta fühlte sich mit einem Mal unendlich müde. Ihr kam diese ganze Szene wie ein längst abgespieltes Schauspiel vor, bis zum Überdruß wiederholt. »Aus Liebe«, antwortete sie. »Er brauchte mich, und er war mein Bruder.«

Annabella drehte sich abrupt um und verließ den Raum, ohne Augusta noch einmal angesehen zu haben. Sie schlug die Tür hinter sich zu. Der Reverend schaute ihr eine Weile irritiert nach, ehe er fortfuhr: »Es wäre gut, wenn Sie sich dessen etwas früher erinnert hätten, Mrs. Leigh. In Lady Byrons Augen sind Sie eine unwürdige Sünderin, die mit halben Geständnissen ihr Vergehen nur noch schlimmer macht, eine schlechte Mutter für Ihre armen Töchter Georgiana und Medora, und … wohin gehen Sie?«

Augusta hatte sich ebenfalls erhoben. Sie setzte ihren Hut wieder auf und streifte die Handschuhe über, während sie mit etwas zitternder, aber dennoch ruhiger Stimme erwiderte: »Ich sehe keinen Sinn darin, dieses Gespräch fortzusetzen, da Lady Byron uns verlassen hat. Ich kann nur wiederholen, daß ich ihr Vertrauen niemals mißbraucht habe, daß ich immer ihre Freundin war und sein werde. Ihnen jedoch, Reverend, bin ich keine Rechenschaft schuldig. Guten Tag.«

Sie hörte noch, wie er hinter ihr herrief: »Sie sind Gott Rechenschaft schuldig, Mrs. Leigh!« Dann verschwamm ihr Blick.

Irgendwie fand sie aus dem Hotel heraus. Das Salz der Tränen biß auf ihrer Haut. Aus irgendeinem Grund war sie wieder achtzehn, ein Mädchen im Haus von Lord Carlisle, das ein paar sentimentale Tränen über ihre Romanze mit Cousin George Leigh vergoß, und über den Flegel von Bruder, der sich auf so herzlose Weise darüber lustig machte. Plötzlich hörte sie seine Stimme. »Augusta? Aber Gänschen, warum weinst du?«

Sie blieb stehen, starrte in den Himmel über Brighton mit sich verdunkelnden Wolken, den Möwen, die schreiend ihre Kreise zogen. Eine von ihnen sah genauso aus wie Annabella. Unter den Tränen kam mit einem Mal ihr altes Gelächter zum Vorschein, geboren aus der Überzeugung, daß die Welt verrückt und schon deshalb nicht ernst zu nehmen sei. »Das Leben ist doch schön!«

1788–1812

»Ein unverheiratetes Mädchen wünscht natürlich, verheiratet zu sein – wenn sie zugleich heiraten & lieben kann, ist es gut – aber auf jeden Fall muß sie lieben.«

»Ich weiß nicht, wie das Leben anderer Menschen gewesen ist – aber ich kann mir nichts Seltsameres vorstellen als einige der früheren Teile des meinen.«

Als sie sich das erste Mal begegneten, hatten sie beide ihre Kindheit schon hinter sich. Frühere Gemeinsamkeiten gab es nicht, obwohl Augusta vage Erinnerungen an Byron als Säugling und Kleinkind hatte. Ada nannte er sie damals. Aber da Augustas Großmutter, Lady Holderness, sie nach dem Tod Captain Byrons sofort zu sich geholt hatte – was einen jahrzehntelangen Streit mit Augustas Stiefmutter nach sich zog –, waren beide Geschwister als Einzelkinder aufgewachsen.

Augusta lebte hauptsächlich bei ihrer Großmutter, aber manchmal auch bei Freunden, den Howards, oder bei ihren erheblich älteren Halbgeschwistern. Dort wurde sie zwar freundlich, aber doch etwas gönnerhaft aufgenommen, da man in ihr die Frucht eines ruinösen Skandals sah. Ihre Mutter, die bildschöne Marquise Carmarthen, hatte seinerzeit Mann, Kinder und gesellschaftliche Stellung aufgegeben, um mit Captain John Byron nach Paris durchzubrennen. Als wollte sie das Schicksal strafen, starb sie nach der Scheidung von dem Marquis und einer kurzen Ehe mit John Byron bei der Geburt ihrer Tochter.

John Byron, in Familienkreisen kurz »der tolle Jack« genannt, fand alsbald eine neue Gemahlin: die Schottin Catherine Gordon of Gight, plump, unhübsch, steinreich. Binnen eines Jahres hatte er sie, wie schon die Marquise, um ihr Vermögen gebracht. Er schenkte ihr einen Sohn, den er allerdings nie richtig kennenlernte, da ihn die ständige Flucht vor seinen Gläubigern immer wieder ins Ausland trieb, wo er schließlich starb.

Die Verwandtschaft seiner beiden Gemahlinnen atmete auf. Die Gordons waren erleichtert, weil Catherine jetzt endlich diesem Ausbeuter, den sie abwechselnd umbringen und ihm dann wieder bis an das Ende der Welt folgen wollte, befreit war. Lady Holderness, die Mutter der Marquise Carmarthen, sah nun eine Möglichkeit, die Frucht der bedauernswerten Verirrung ihrer Tochter unter ihre Aufsicht zu bringen, denn Mrs. Catherine Byron, so hatte sie gehört, war als Erzieherin denkbar ungeeignet. Sie machte vor allem durch ihre Angewohnheit, Geschirr an den Wänden zu zertrümmern, von sich reden.

So wuchs Augusta bei verschiedenen Verwandten auf, ihr Bruder George Gordon dagegen bei seiner Mutter, begleitet von ständigen Temperamentsausbrüchen. Lady Holderness, bei der Augusta sich meistens aufhielt, war nicht mehr die Jüngste. Sie kümmerte sich liebevoll um ihr Enkelkind, aber da sie sehr schnell ermüdete, bestand ein Großteil ihrer Erziehung in kleinen Erzählungen und dem abendlichen Gebet. Augusta blieb häufig sich selbst überlassen und verbrachte viel Zeit mit den Dienstboten, ob nun in der Küche, in Lady Holderness’ sorgsam gehüteten Garten oder auf einer der Koppeln ihres Landguts.

Dieses regelmäßige Zusammensein mit den Hausangestellten ließ Augusta manche Erfahrung sammeln, die sie von ihren Altersgenossen unterschied und zu durchaus fragwürdigen Situationen führte. Denn die Saison verbrachte Lady Holderness für gewöhnlich in ihrem Londoner Stadthaus. An den nachmittäglichen Teegesellschaften durften auch die Kinder teilnehmen.

Ein beliebtes Gesprächsthema waren die schockierenden Neuigkeiten aus Paris, wo die Bevölkerung nach dem Ende von Robespierres Schreckensherrschaft in einen hemmungslosen Vergnügungstaumel gefallen war. »Es ist unglaublich«, mokierte sich Lady Carlisle. »Man sagt, daß die Tallien und diese Kreolin, die Beauharnais – daß diese Frauen tatsächlich in ihren Salons manchmal nur von Rosenblüten bedeckt als griechische Göttinnen auftreten!«

Sie vergewisserte sich mit einem raschen Blick, daß ihre kleine Gertrude außer Hörweite war. »Und wenn man bedenkt, meine Liebe – beide sind adeliger Abstammung und unterhalten dennoch gleichzeitig Beziehungen zu diesem Emporkömmling Barras.«

Lady Holderness verzog den Mund. »Mit der adeligen Abstammung ist es nicht sehr weit her. Die Beauharnais stammt aus Martinique, und man weiß ja, wie dort die Herrschaften mit ihren Dienstboten verkehren. Farbig oder nicht, es sollte mich nicht wundern, wenn dort jeder Krämer, der sich etwas Personal leisten kann, nach Sonnenuntergang in deren Betten zu finden ist, von den sogenannten Adeligen ganz zu schweigen, die auch nur emporgekommene Krämer sind.«

Lady Holderness hatte nicht bemerkt, daß sich Augusta und ihr Cousin Frederick Howard, die um Erlaubnis bitten wollten, den Raum zu verlassen, den Damen genähert hatten. Augusta war bei dem Wort »Martinique« aufmerksam geworden und fragte nun verwundert: »Ist es denn falsch, sich nach Sonnenuntergang in den Betten der Dienerschaft zu befinden? Als Lord Leveson-Gower uns besucht hat, war er auch am hellichten Tag dort.«

Tödliche Stille herrschte. Leveson-Gower war Lady Carlisles Bruder, der die Howards bei ihrem letzten Aufenthalt auf Lady Holderness’ Landgut begleitet hatte. Lady Carlisle starrte nun entsetzt auf das kleine braunhaarige Mädchen herab. Lady Holderness hatte ihren Fächer fallen lassen. Augusta wurde sich bewußt, daß etwas nicht stimmen konnte, und zupfte an dem ausladenden Satinkleid ihrer Großmutter. Diese rührte sich nicht.

Endlich versuchte Lord Carlisle, der den Disput der Damen bisher nur mit stummem Lächeln begleitet hatte, die peinliche Situation zu überbrücken: »Nun, Blut setzt sich durch. Das ist genau die Sorte Bemerkung, die Jack auch gemacht hätte.«

Lady Holderness warf ihm einen verärgerten Blick zu. Sie liebte es nicht, an Captain John Byron, der Lord Carlisles Vetter gewesen war, erinnert zu werden. Sie sorgte nach Möglichkeit dafür, daß er vor ihrer Enkelin nicht erwähnt wurde. Sie wandte ihre Augen wieder Augusta zu und erklärte strafend: »Du warst sehr unartig, mein Kind. Geh bitte sofort in dein Zimmer.«

Augusta öffnete den Mund, um zu widersprechen, denn sie wußte nicht, was sie getan hatte. Aber ihre sonst so freundliche Großmutter wirkte mit einem Mal fast furchteinflößend, und so drehte sie sich um, schaute noch einmal hilfesuchend zurück und hastete dann hinaus.

Lady Holderness nahm diesen Fauxpas zum Anlaß, ihr Enkelkind ernsthaft zu tadeln. Außerdem sah sie die Notwendigkeit, sich nach einer Gouvernante umzusehen, da Augusta nach diesem Vorfall in Gesellschaft außergewöhnlich schweigsam wurde. Die Wahl fiel auf die Tochter einer französischen Emigrantenfamilie, jung, munter und etwas kokett, aber sehr gutherzig. Mademoiselle Berger erfüllte in jeder Hinsicht ihre Aufgabe, nur in einer nicht. Sie wandte ihre Gunst zunächst freizügig dem Verwalter zu, war aber auch nicht traurig, als dieser seine Vorliebe für die Köchin entdeckte. »Schlechter Geschmack, ma petite«, sagte sie zu Augusta und tröstete sich mit Augustas ältestem Halbbruder, der Lady Holderness zu diesem Zeitpunkt gerade besuchte.

Augustas jüngerer Bruder und seine Mutter bekamen nie eine Einladung von Lady Holderness, auch sprach Catherine Byron niemals den Wunsch aus, ihre Stieftochter wiederzusehen. Lady Holderness bemerkte nur einmal spitzfindig: »Diese Frau ist kein Umgang für uns.« Catherine, nie durch Diplomatie irgendwelcher Art behindert, drückte sich ihrem Sohn gegenüber wesentlich deutlicher aus: »Verdammt will ich sein, wenn ich in meinem Leben noch eine einzige Zeile an die Holderness richte – und Johns Brut geht dich nichts an!«

Als Catherines Sohn zehn Jahre alt war, starb der fünfte Lord Byron, der Onkel des »tollen Jack«. Dieser Todesfall hätte keine weitere Bedeutung gehabt, wenn nicht das Schicksal vorher den Sohn und den Enkel des fünften Lords dahingerafft hätte. Beide wurden mehr betrauert als der fünfte Lord Byron, der von seiner Familie als »der böse Lord« bezeichnet worden war und sich vornehmlich mit der Dressur von Ratten und Heuschrecken beschäftigt hatte.

Doch da »der böse Lord« keine direkten Erben hinterließ, fiel der Titel nebst Schloß und Gut an »den kleinen Jungen in Aberdeen«, wie er im Testament genannt wurde – George Gordon, sechster Lord Byron. Catherine hielt dies für die Gerechtigkeit des Himmels. Sie hatte es immer als besondere Heimtücke empfunden, daß ihr hübscher intelligenter Sohn, den sie ebenso maßlos verwöhnte, wie sie ihn züchtigte, mit einem lahmen rechten Fuß geschlagen war. Seit er gehen konnte, kaufte sie alle möglichen Dehnungs-, Streckungs- und Pressungsmaschinen, um diese Behinderung zu beheben. Sie bestand sogar darauf, daß er sie während seiner Unterrichtsstunden trug, und ahnte nichts von dem tiefen Gefühl der Demütigung und Minderwertigkeit, das sie dem Jungen dadurch einflößte.

Doch jetzt kam der gerechte, der unüberbietbare Ausgleich: ihr Sohn wurde Pair von England! Catherine brach ihr Gelübde, niemals mehr an die Holderness zu schreiben. Sie machte es so kurz wie möglich, doch aus jeder Zeile sprach ihr Triumph. Ha! Sie war jetzt die Mutter eines Mitglieds der ewig herrschenden Oberschicht. Da mochte die Holderness sehen, wo sie mit Johns Göre aus erster Ehe hinkam.

Lady Holderness preßte die Lippen zusammen, während sie ihrer Enkeltochter Catherines Brief reichte. »Augusta, dein Bruder ist jetzt der sechste Lord Byron.«

»Magnifique!« rief Mademoiselle Berger. »C’est superbe, vraiment!«

Augusta sah ihre Großmutter bittend an. »Kann ich ihn jetzt besuchen?«

Lady Holderness’ Antwort war ebenso kurz wie endgültig. »Nein!«

Catherine und der Pair von England siedelten nach Newstead Abbey über, dem verfallenen Stammsitz der Byrons. Die Wälder waren abgeholzt oder verwahrlost, der Tierbestand ausgerottet, und die zum Schloß umgewandelte alte Abtei lag zum Teil schon in Trümmern. Jedermann hatte Catherine davor gewarnt, sich dort niederzulassen, doch die Vorstellung, ihre Briefe von nun an vom altadeligen Stammsitz Newstead Abbey aus verschicken zu können, lockte unwiderstehlich. Dafür nahm sie sogar das Entsetzen beim Anblick dieses Erbes in Kauf. Ihr Sohn allerdings verliebte sich vom ersten Augenblick an in das verfallene alte Schloß, den See und den verwilderten Park.

Er verschwand stundenlang, manchmal den ganzen Tag, um das Gebäude und seine Umgebung zu erkunden, was Mrs. Byron zur Verzweiflung trieb; denn anders als in dem bescheidenen Haus in Aberdeen war er hier ihrer Aufsicht völlig entzogen. Als er dann wiederauftauchte, waren seine Kleider schmutzig, und in der Hand hielt er triumphierend einen Totenschädel.

»Ich wußte doch, daß es noch Überreste von den Mönchen hier gibt, Mama!« Catherine warf einen Blick auf seine Trophäe und erschauderte. »Wie kannst du so etwas nur anfassen? Wirf es weg!« Der Sohn hatte ihren Starrsinn geerbt und schüttelte energisch den Kopf. Sie mußte lächeln. Obwohl seine Haare fast so dunkel wie ihre waren, schien er doch sonst das Abbild seines Vaters zu sein. Jack, den sie so sehr geliebt hatte, daß sie noch in diesem Jahr bei den Worten »O mein Captain« in einer Theatervorstellung in Ohnmacht gefallen war … und den sie auch ein- oder zweimal durchaus ernsthaft mit dem Messer bedroht hatte, wenn ihr Temperament mit ihr durchging.

»Es ist ein Brief von Mary Duff gekommen«, schmeichelte sie. »Wirf das gräßliche Ding weg, und ich gebe ihn dir.« Mary Duff war eine Cousine, die im letzten Jahr Aberdeen besucht und die er sofort zu seiner Verlobten erklärt hatte.

Sein Gesicht erhellte sich jetzt, doch dann warf er ihr einen mißtrauischen Blick zu. Seine Mutter machte sich nicht das geringste daraus zu lügen, wenn es ihrem Zweck dienlich war. Er überlegte und schüttelte wieder den Kopf.

Catherine richtete sich auf und runzelte die Stirn. Sie war klein, aber mit ihrer üppigen Figur eine imposante Erscheinung. Ihre Stimme klang drohend, als sie jetzt befahl: »Wirf es weg, sofort!« Er rührte sich nicht. Wie der Blitz war sie bei ihm und versetzte ihm ein paar Ohrfeigen. »Oh«, keuchte sie und wich einige Schritte zurück, »du bist genau wie dein Vater. Aber du bist mein Sohn, nur zehn Jahre alt, und du wirst mir gehorchen!« Seine Wangen waren gerötet, aber er schob das Kinn vor und erklärte laut und deutlich: »Eher gehe ich zur Hölle!«

Bei dieser Bemerkung verlor Catherine ihre Beherrschung. Joe Murray, einer der Diener des bösen Lords, hatte ihr vor etwa einer Viertelstunde das Dinner serviert und beobachtete nun staunend, wie seine neue Herrin erst ihr Weinglas, dann die sorgsam hergerichtete Platte mit dem Kapaun in Richtung ihres Sohnes schleuderte, der offensichtlich Übung darin besaß, sich zu ducken, und dabei Flüche von sich gab, die dem fünften Lord selbst Ehre gemacht hätten.

»Du glaubst wohl, du könntest dir das erlauben, weil wir nicht mehr in Aberdeen sind? Verdammt sollst du sein«, sie ging zu dem Besteck über, »verdammt, verdammt, verdammt! Lahmes Balg!«

Bei dem letzten Wort erstarrte ihr Sohn, vergaß, ihren Geschützen auszuweichen, und wurde von einer Gabel getroffen. Blut tropfte von seinem Ohr herab, doch er rührte sich nicht, sah sie nur an. Langsam öffneten sich seine Finger, und der Schädel kollerte auf den Boden, wo ihn Murray hastig auflas und vorsichtshalber aus dem Raum entfernte.

Aller Trotz fiel von dem Jungen ab, und er starrte seine Mutter zutiefst verletzt an, so daß Catherine sofort wieder zu sich kam. Sie lief zu ihm, umarmte ihn und küßte fiebrig sein Gesicht ab. »Mein Kleiner, mein Lieber, ich habe es doch nicht so gemeint. Ich liebe dich über alles in der Welt, das weißt du doch.« Er wußte es – schließlich sagte sie es ihm oft genug –, aber während er ihren vertrauten Beteuerungen zuhörte, wußte er auch, daß sie nicht zögern würde, diese neue Waffe wieder zu verwenden, wenn er sie das nächste Mal reizte.

Von dieser Zeit an hörte Augusta etwas öfter von ihrem Bruder. Lord Carlisle, das Howardsche Familienoberhaupt, hatte durch das königliche Landesgericht die Vormundschaft über den unmündigen sechsten Lord Byron erhalten, was ihm ganz und gar nicht behagte. »Wie soll ich einen zehnjährigen Bengel erziehen, den ich nie sehen kann, weil er eine Furie als Mutter hat? Entschuldige, Augusta.«

Lord Carlisle und Catherine begegneten sich nie persönlich, zerstritten sich aber brieflich so heftig, daß der geplagte Carlisle die Vormundschaft an das königliche Gericht zurücksandte. Er bekam sie wieder. Nachdem Catherine eine Reihe der von ihm vorgeschlagenen Erzieher gefeuert hatte, einigten sie sich auf Harrow als passende Lehranstalt für einen Pair von England.

Der Junge sah in Harrow zunächst einmal eine Art römische Kampfarena mit ihm als Gladiator. Er hatte inzwischen einen regelrechten Fanatismus für alle Sportarten entwickelt, bei denen ihn sein rechter Fuß nicht behinderte. Reiten, Schwimmen, sogar Boxen – alles wurde mit einer wütenden Leidenschaft zur Vervollkommnung gebracht. Er glaubte, daß darin die einzige Möglichkeit läge, von diesen Hunderten fremder Jungen, die bei seiner Ankunft in Harrow alle auf seine Behinderung zu starren schienen, anerkannt zu werden.

Zum Zeitpunkt seiner ersten Schulferien hatte Augusta ihren Debütantinnenball. Ihre Einführung in die Gesellschaft wurde ein Erfolg, den Lady Holderness – knapp und präzise – an Mrs. Byron weitermeldete. »Deine Schwester Augusta hat ihr Debüt hinter sich, Byron.«

»Können wir sie nicht jetzt besuchen?«

»Nein!«

Als Augusta achtzehn Jahre alt wurde, starb Lady Holderness. Catherine schickte ein Beileidsschreiben. Neben der Absicht, der gesellschaftlichen Konvention – von Newstead Abbey aus – Genüge zu tun, bewog sie zu diesem Schritt vor allem die Tatsache, daß Augusta offensichtlich gesellschaftliche Verbindungen hatte, die einem Pair von England später einmal nützen könnten. Sie unternahm daher den Versuch, taktvoll und diplomatisch zu schreiben.

»Ich werde alle Gedanken über eine Person, die nicht mehr unter uns weilt, vermeiden … Obwohl er doch so wenig von Ihnen weiß, spricht Ihr Bruder mit der größten Zuneigung von Ihnen.« Augusta hielt diesen Brief in der Hand und dachte nach. Von Lady Holderness und den Howards beeinflußt, sah das Bild, das sie sich von Catherine Byron machte, wie eine Kreuzung aus Fischweib und schottischer Hexe aus. Catherines Meinung war ihr gleichgültig. Aber ihr Bruder… Sie überlegte. Sie schrieb. Und sie erhielt eine Antwort.

Keiner von beiden konnte später sagen, warum sie sich in diese Korrespondenz stürzten, warum sie sich so völlig dem Entzücken hingaben, an einen fremden Vertrauten zu schreiben, an einen Unbekannten, der einem doch so nahestand. Vielleicht war es gerade dieser Gegensatz, der sie beide reizte, vielleicht war es das Bedürfnis nach einer Person, die alles verstand.

»Ach, wie unglücklich war ich bisher durch die Trennung von einer so liebenswerten Schwester! Aber das Schicksal hat mir nun Genüge getan, indem es mich eine Verwandte entdecken ließ, die ich liebe, eine Freundin, der ich vertrauen kann. Als beides, meine liebe Augusta, werde ich Dich immer ansehen, und ich hoffe, daß Du Deinen Bruder nie unwürdig Deiner Zuneigung und Freundschaft finden wirst … Adieu, meine liebste Schwester, und vergiß nicht die Börse, die Du mir stricken willst.«

Augusta war die einzige, der er von den ständigen Streitereien mit seiner Mutter erzählen konnte. »Meine Unterhaltungen zur Zeit sind Bücher, und meiner Augusta zu schreiben, was immer zu meinen größten Vergnügen zählen wird … wieder ein Streit mit Mrs. Byron. Sie erklärt, daß ich mich mit ihren schlimmsten Feinden verbündet hätte – viz. Lord Carlisle, Mr. Hanson und Du – und beehrt uns alle mit einer Reihe von Bezeichnungen … zum Schluß nennt sie mich einen echten Byron, was das schlimmste Schimpfwort ist, das sie finden kann.«

Catherine hatte es mit einem aufwachsenden Jugendlichen zu tun, der einen Großteil ihres eigenen Temperaments geerbt hatte. Schon sie dazu zu bewegen, die Hilfsmaschinen für seinen Fuß – die trotz jahrelanger Quälerei nicht das geringste Ergebnis gebracht hatten – zu entfernen, bevor sie ihn nach Harrow schickte, war ein monatelanger Kampf gewesen. Jetzt, da er ihr immer weniger gehorchte, überschüttete sie ihn abwechselnd mit Küssen und beschimpfte ihn dann wieder. Sie warf ihm die Ähnlichkeit mit seinem Vater vor und bewirkte dadurch eine lebenslange Sympathie für diesen ansonsten unrühmlichen Gentleman. Häufig griff sie zu ihrer schrecklichsten Waffe, ihn als »lahmes Balg« zu verfluchen.

Byron erweiterte in Harrow die Liste seiner sportlichen Fähigkeiten und ging unter die Schützen, und obwohl seine Treffsicherheit bald die Achtung seiner Kameraden noch steigerte, gab auch sie ihm nicht das erwünschte Gefühl der Gleichwertigkeit. Der verkrüppelte rechte Fuß prägte ihn für immer und ewig, und es gab keinen Tag, an dem er nicht unter dieser Behinderung litt.

Seine Briefe an die unbekannte Schwester spiegelten seine ständig wechselnden Stimmungen, einmal melancholisch, dann wieder witzig, mit einer reizenden Mischung aus Naivität und Altklugheit: »Kannst Du Dir diesen Cousin nicht aus Deinem hübschen Kopf schlagen? … Und wenn ich fünfzig Mätressen hätte, ich würde sie alle am nächsten Tag vergessen!« Augusta mußte zuerst lachen, als sie diesen Brief von ihrem noch nicht fünfzehnjährigen Bruder erhielt, fand den folgenden Teil seines Berichtes jedoch sehr viel ernster.

Er enthielt die ausführliche Schilderung einer neuen Byronschen Familienszene, die sich zu allem Überfluß noch in Harrow, vor den Ohren der gesamten Schule, zugetragen hatte. Byron wußte genau, daß er noch monatelang wegen dieser öffentlichen Ohrfeigen und Maßregelungen seiner Mutter gehänselt werden würde, und das, nachdem er seine Mitschüler gerade erst dazu gebracht hatte, seine Lahmheit zu übersehen. Einer seiner Freunde hatte ihm mitleidig zugeflüstert, als Catherine gerade in ihrer Schimpftirade innehielt, um Luft zu holen: »Byron, deine Mutter ist eine Närrin.«

»Ich weiß.«

Eigentlich nahm er sie schon längst nicht mehr ernst, aber als er an Augusta schrieb, tauchte die ganze Peinlichkeit dieser Szene erneut vor ihm auf, und er schloß: »Muß ich diese Frau Mutter nennen?!!!« In einem Postskriptum gab er der Hoffnung Ausdruck, die nächsten Ferien nicht zu überleben.

Augusta lag es eigentlich nicht, sich in anderer Leute Angelegenheiten zu mischen, doch an dieser Stelle überlegte sie zweimal und entschied sich dann, an den Familienanwalt Hanson zu schreiben. Lord Carlisle, so führte sie aus, hätte bestimmt nichts dagegen, wenn ihr Bruder die nächsten Ferien bei seinem Anwalt Hanson und nicht bei seiner Mutter verbringen würde, was angesichts der angespannten Situation ohnehin für beide Teile das Beste wäre. Außerdem könnte Hanson dann mit Byron einen Abstecher zu den Howards machen, wo nicht nur Lord Carlisle, sondern auch sie selbst zum ersten Mal das Vergnügen einer persönlichen Begegnung haben könnten.

Die Herren Hanson und Carlisle zeigten sich einverstanden, Byron war begeistert, und Catherine schrieb an alle drei Intriganten einen rachsüchtigen Brief, in dem sie ihren verwundeten Gefühlen auf eine Weise Luft machte, die ihr Sohn als »Meisterübung im Furioso-Stil« bezeichnete, oder auch als »die Explosion der Dowager auf Papier«.

Diese Begegnung, der so schnell keine zweite folgen sollte, wäre um ein Haar katastrophal verlaufen. Sicher, der Abend, an dem Hanson und sein junger Klient bei den Howards dinierten, fing vielversprechend genug an.

Castle Howard war in England einzigartig; nirgendwo sonst hatte ein Architekt versucht, den auf dem europäischen Kontinent üblichen Barockstil so einzufangen. Seit fast hundert Jahren wurden dem Prunkbau immer weitere Verzierungen hinzugefügt. Byron war von der Anlage, die auch nicht die geringste Verfallserscheinung zeigte, nachhaltig beeindruckt. Traurig dachte er an die Große Halle von Newstead Abbey, die er zur Zeit nur noch zu Schießübungen benutzen konnte. Diese Halle war üppig eingerichtet, mit Parkettböden und Marmorfliesen. Statt vermoderter Wandbehänge gab es Seidentapisserien und elegant gedrechselte Möbeln aus Frankreich.

Auf einer Chaiselongue in der Nähe des Kaminfeuers, das ein Diener eifrig schürte, saß eine Dame, die offensichtlich Lady Carlisle sein mußte. Sie hätte seiner Mutter nicht weniger ähneln können! Lady Carlisle trug ein zartes Musselinkleid; denn seit bekannt geworden war, daß der Erste Konsul der Franzosen, Napoleon Bonaparte, Musselin verabscheute, hatte das Material in England eine ungeahnte Beliebtheit erlangt. Ihre schlanke Gestalt und das blasse glatte Gesicht ließen keine Schlüsse auf ihr Alter zu. Um die Chaiselongue hatte sich eine Schar rotblonder Mädchen gereiht, die die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter nicht verheimlichen konnten.

Lord Carlisle wollte wohl dafür sorgen, daß die Familie nicht ausstirbt, schloß Byron mit dem leichten Zynismus, den er sich in Harrow angeeignet hatte. Ihm fiel plötzlich mit Entsetzen ein, daß er überhaupt nicht wußte, wie Augusta aussah, daß sie sehr wohl eines dieser Mädchen sein konnte.

Sie musterten ihn alle erwartungsvoll, und obwohl er sich so lange auf diesen Besuch gefreut hatte, wünschte er sich plötzlich, weit fort zu sein. Nur nicht hier unter diesen überlegenen, gesellschaftsgewandten Fremden, die im nächsten Moment schon seinen Gang bemerken würden.

Etwas abseits stand Lord Carlisle mit zwei jungen Männern und einem weiteren Mädchen.

Byron spürte, wie Hanson ihm die Hand auf die Schulter legte. »Nun gehen Sie und begrüßen Sie Ihren Vormund und Ihre Schwester, Mylord«, sagte der Anwalt freundlich. Byron schluckte, gab sich einen Ruck und ging auf die kleine Gruppe zu.

Augusta war etwa so groß wie er, für ein Mädchen hochgewachsen und ein wenig dünn. Ihr Haar, etwas heller als seine eigenen, fiel in kastanienbraunen Locken auf ihre Schultern.

Der Blick in ihr Gesicht ließ ihn fast erschrecken, als er erkannte, wie sehr sie sich glichen.

Sie besaßen beide die vollkommene klassische Nase, die hohe Stirn und den etwas zu großzügigen Mund der Byrons. Nur ihre leicht schräggestellten Augen und die Grübchen, die schon beim leisesten Lächeln hervorkamen, ließen sie ausgesprochen weiblich wirken. Byron wollte sie umarmen, brachte es dann aber vor all diesen Fremden doch nicht fertig, streckte ihr die Hand entgegen und sagte leise: »Augusta.«

Augusta fiel als erstes der Klang seiner Stimme auf, ein melodiöser Bariton, der nichts mehr von einem Stimmbruch verriet. Er kam ihr viel älter vor, als sie erwartet hatte, und sie spürte jäh Enttäuschung in sich aufkommen, weil sie ihn nie als Kind erleben würde, wie sie ihre Vettern erlebt hatte, weil man ihnen die gemeinsame Kindheit weggenommen hatte und es jetzt vielleicht zu spät war. Sie hatte bemerkt, mit welchem Gesichtsausdruck er die Howards gemustert hatte. Was, wenn er sie als genauso fremdartig empfand?

»Georgy«, sagte sie, denn so hatte sie ihn als Kind genannt, vor dem Tod ihres Vaters.

Aber irgendwie schien es falsch zu klingen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern – wie sollte er auch, er war viel zu jung gewesen.

Sie fragte sich, ob er wohl jetzt auch an ihren Vater dachte, den unbekannten Vater, über den man nicht sprach. Das geheimnisvolle Schweigen hatte sie zu den abenteuerlichsten Vorstellungen angeregt – ein Pirat, ein Ritter, der ausgezogen war, um Gefahren zu bestehen –, bis sie alt genug war, um von gelegentlichen Bemerkungen Lord Carlisles oder anderer Verwandter wie »Jack war liebenswert in seiner Verrücktheit, aber vollkommen verantwortungslos, es war ihm gleich, wer unter seinen Extravaganzen litt« ernüchtert zu werden.

Sie zögerte noch einen winzigen Augenblick, dann trat sie vor und umarmte ihren Bruder. Die Schultern unter ihren Händen spannten sich kurz, doch er erwiderte ihre Umarmung mit einer unerwarteten Heftigkeit.

An der gespielt selbstsicheren Art, mit der Byron daraufhin Lord Carlisle begrüßte, erkannte sie ihre eigene Schüchternheit und hatte sofort das Gefühl, ihn bemuttern zu müssen.

Dieses Bedürfnis verging ihr jedoch spätestens beim Dessert, als sie von ihrem angebeteten Vetter George Leigh erzählte und Byron das Medaillon mit dem Porträt dieses Cousins zeigte, das sie immer bei sich trug. Ihr Bruder wartete einige Augenblicke und murmelte dann, die Augen auf die Tischdecke geheftet:

»Übrigens möchte ich dich bitten, mich nicht mehr Georgy zu nennen. Sag Byron – es gibt schon zu viele Georges in der Verwandtschaft!«

Sie erstarrte und wußte einen Augenblick lang nicht, ob sie ihn ohrfeigen oder auslachen sollte. In diesem Moment dämmerte ihr die Erkenntnis, daß Catherines Ausbrüche vielleicht nicht unprovoziert gewesen waren. »Gut«, erwiderte sie langsam, »Baby Byron.«

»Gans!« Aber während er das sagte, zwinkerte er ihr zu, und sie konnte nicht anders, als ebenfalls ein Auge zuzukneifen und ihn mit übertrieben strengem Blick so lange strafend anzusehen, bis sie beide in schallendes Gelächter ausbrachen.

Dennoch mußte er immer wieder seine kleinen Sticheleien anbringen. Als Lord Carlisle von einem Manöver berichtete, an dem Lieutenant Leigh teilgenommen hatte, entfuhr Augusta ein überraschter Ausruf. Darauf blickte ihr Bruder sie von der Seite an und bemerkte mit hochgezogenen Augenbrauen, Vetter George sei wohl nicht sehr schreibfreudig. Das traf sie. Seit über einem Monat hatte George Leigh nichts mehr von sich hören lassen!

Die Leighs gehörten zu den wenigen Verwandten der Byronschen Familie, die Augusta in ihrer Kindheit kennengelemt hatte, und obwohl man sie eigentlich überall recht freundlich aufnahm, schien ihr doch George der erste zu sein, der nicht diese Seien-wir-nett-zu-Augusta-sie-kann-ja-nichts-dafür-Haltung an den Tag legte.

Bei ihm spürte sie Achtung und Freundlichkeit, und ein- oder zweimal, als sie mit ihm ausritt, hatte sie sogar Bewunderung in seinen Augen aufblitzen sehen. George Leigh war darüber hinaus eine ins Auge fallende Erscheinung, deren Charme man sich nur schwer entziehen konnte. Und so hatte Augusta sich an dem Tag, als er mit ihr ihren ersten Ball eröffnete, unsterblich in ihn verliebt. Eigentlich hatte sie gedacht, er würde sie nie bemerken, doch gerade auf diesem Ball hatte er ihr zugeflüstert: »Ich glaube wahrhaftig, du wirst erwachsen, Augusta.«

Damit hatte eine wunderbare Romanze begonnen, die nur durch die ärgerliche Tatsache gestört wurde, daß Georges Vater General Leigh, der seinem Sohn ein Offizierspatent gekauft hatte, darauf bestand, daß dieser sich auch längere Zeit bei der Armee sehen ließ. Und nun hatte George lange nichts mehr von sich hören lassen, was Augusta zu allen möglichen Befürchtungen Anlaß gab – Ängste, die ihr Bruder durch seine gemeinen Bemerkungen wieder wachrief und schamlos ausnutzte.

Sie sprang auf und rannte in ihr Zimmer, zutiefst gekränkt und beleidigt. Was hatte ihr dieser hinterhältige Stichler von Bruder noch in seinen Briefen versichert? Sie sei »die nächste Verwandte, die ich in der Welt habe, sowohl durch Blutsbande