Der König vom Stuttgarter Platz - Bernd Termer - E-Book

Der König vom Stuttgarter Platz E-Book

Bernd Termer

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Beschreibung

In der Nachkriegszeit war der Stuttgarter Platz der bekannteste Rotlichtkiez von West-Berlin. Hier befanden sich Arbeiterkneipen neben Bars und Nachtclubs, Messegäste wurden von diesem Milieu ebenso magisch angezogen wie englische Besatzungssoldaten, die jedes Wochenende kräftig über die Stränge schlugen – was durchaus wörtlich zu nehmen ist, denn brutale Schlägereien waren an der Tagesordnung. Illegale Spielclubs gediehen in diesem Umfeld, die Polizei führte Razzien durch, Prostitution war allgegenwärtig und der Hauptgrund dafür, dass diese unscheinbare Ecke Berlins in allen gesellschaftlichen Schichten so beliebt war. Einer der Männer, die hier das Sagen hatten, war Bernd Termer, der „König vom Stuttgarter Platz“. Ihm gehörten mehrere Bars, Nachtclubs und Cafés, er war ein bekannter Zuhälter und Besitzer einer museumsreifen Oldtimersammlung. Am Ende wurde er von der Polizei über „Aktenzeichen XY“ gesucht, von einem SEK-Kommando gefasst und vor Gericht gestellt. Erstmals erzählt er hier, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, vom Aufstieg und Niedergang des Stuttgarter Platzes. Spannend, drastisch und ungeschminkt schildert er sein bewegtes Leben, wie er vom Straßenbauarbeiter und Kohlenträger an die Spitze des Rotlichtmilieus aufstieg, wie es hinter dessen Kulissen zugeht – und warum diese Welt heute Vergangenheit ist.

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Seitenzahl: 275

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Bernd Termer, geboren 1944, ist ein Berliner Urgestein. Als junger Mann schlug er sich als Straßenbauarbeiter und Kohlenträger durch, bald war er im Rotlichtmilieu am Stuttgarter Platz zu Hause. Dort arbeitete er sich mit unglaublicher Energie vom Kellner bis zum Besitzer mehrerer Bars, Cafés und Nachtclubs hoch. Er war ein stadtbekannter Zuhälter und der allseits anerkannte „König vom Stuttgarter Platz“ – bis er schließlich der Polizei ins Netz ging und sich aus dem Geschäft zurückzog.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

1

Als ich nach Hause kam, wartete bereits die Polizei auf mich. Es waren nicht die harmlosen Streifenbullen in ihren properen grünen Uniformen, die mit ein oder zwei Hunnis stets zufrieden sind. Nein, es handelte sich um ausgebuffte, gut ausgebildete Jungs in eng anliegender, schwarzer Kampfmontur, ausgerüstet mit Helmen, deren dunkles Visier ihre Gesichter unkenntlich machte, durchschlagsstarken Pistolen und schusssicheren Westen. Das SEK, das Sondereinsatzkommando des Landeskriminalamts. Jene Truppe, die nur bei den ganz schweren Fällen ausrückt.

Fällen, wie ich einer war.

Ich bemerkte sie nicht gleich, sie hatten sich gut versteckt. Es war eine uneinsehbare Stichstraße in einem Berliner Villenviertel, das bereits in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als gute Gegend angesagt gewesen war.

Knorrige alte Bäume beiderseits des Kopfsteinpflasters bildeten eine dichte Allee, die antiken Straßenlaternen hatten die Verwüstungen des Krieges unbeschadet überstanden. Jedes der großbürgerlichen Häuser, deren Stil von der Gründerzeit über Historismus und Jugendstil bis zum Bauhaus reichte, war von einer mehr oder minder hohen Mauer und einem Garten umgeben.

Die Villa, die ich mir von meinem hart verdienten Geld geleistet hatte, war eine Festung. Die Außentüren hätten selbst einer Granate widerstanden. Das Panzerglas in den Fenstern und die Gitter aus gehärtetem Stahl sowie die immens teure Alarmanlage mit einer Direktverbindung zur Polizei verschafften mir ein halbwegs ruhiges und sicheres Gefühl. Zumal ich damals schon lange nicht mehr der einsame Wolf meiner frühen Jahre war. Ich war verheiratet, mein Sohn war knapp zehn Jahre alt. In den Kreisen, in denen ich mich bewegte, machte mich das verwundbar.

In jener Nacht war ich allerdings allein, sogar mein Hund war nicht da. Ich hatte ihn für ein Tage in die Tierklinik gegeben, weil er Nierenprobleme hatte. Meine Frau und mein Sohn machten Urlaub auf Hawaii. Ich hatte in meinen Läden nach dem Rechten geschaut. Sechs waren es damals, sie alle liefen prächtig. Ich hatte keinen Grund zur Klage.

Es war noch nicht so wie heute, da unsereins Frauen fast schon auf den Knien anflehen muss, dass sie für einen arbeiten. Ich meine richtig gute Frauen, die Stil und Klasse haben und nicht nur mit aufgespritzten Lippen und vergrößerten Brüsten protzen. Frauen, die in der Lage sind, ein paar zusammenhängende, sinnvolle Sätze halbwegs verständlich in deutscher Sprache herauszubringen, während sie ihren Piccolo trinken und die Gäste bezirzen.

Solche Frauen sind Mangelware heutzutage. Niemand will mehr auf diese Weise arbeiten, den Leuten geht’s zu gut. Obwohl die Verdienstmöglichkeiten gerade deshalb sehr beachtlich sind. Das Milieu geht vor die Hunde.

Ich trug sämtliche Einnahmen dieser Nacht bei mir. Ein kapitaler Fehler, ich ärgere mich noch heute darüber und darf gar nicht daran denken. Es war eine gute Nacht gewesen, ein Samstag, ich erinnere mich genau. Es war Grüne Woche, die alljährliche Landwirtschaftsmesse, und das bedeutete, dass es hoch herging bei uns. In Berlin wollten die Bauern, die sonst aus ihren Kuhställen nicht herauskamen, natürlich was erleben, und so zogen sie, am frühen Abend schon, hordenweise zum Stuttgarter Platz. Er liegt dem Messegelände am nächsten und ist sogar zu Fuß leicht erreichbar.

Es war mein Revier. Hier war ich groß geworden, ich war der Platzhirsch. Es gab Leute, die ehrfürchtig von mir als dem „König“, dem „König vom Stuttgarter Platz“ redeten. Ich sah mich, viel bescheidener, als Geschäftsmann. Als erfolgreichen Geschäftsmann, zugegeben. Ungefähr zwölf Prozent aller Einnahmen, die in den Bars, Spelunken und Kneipen der Gegend anfielen, gingen an mich, einer meiner kreativen Buchhalter hatte es mal ausgerechnet. So lief das über viele Jahre.

Ich hatte noch einen Absacker getrunken, ein oder zwei Whisky-Cola, vielleicht auch drei, und war wohl deshalb etwas unaufmerksam. Sonst wäre mir der graue Lieferwagen mit der Aufschrift „Rohr frei!“ (das fanden sie wohl witzig) gleich aufgefallen. In dieser Straße wohnten keine Handwerker, kein einziger, das hätten sie sich gar nicht leisten können. Auch der schwarze SUV mit den abgedunkelten Scheiben gehörte nicht hierher. An die beiden Typen mit den Sonnenbrillen, die darin saßen und scheinbar gelangweilt nach vorne blickten, erinnerte ich mich erst im Nachhinein. Dass jede zweite Straßenlampe nicht brannte, so dass es viel dunkler war als sonst, war ebenfalls nicht normal.

Aber das alles fiel mir nicht auf, als ich mit meiner knallroten 57er Corvette in die Straße einbog. Klar, auffälliger ging es nicht, doch ich hatte ja nicht wirklich etwas zu verbergen. Die antiquierte Starrachse des alten Sportwagens gab jeden einzelnen Rumpler übers Kopfsteinpflaster direkt an meine Wirbelsäule weiter, diese Unbequemlichkeit war der einzige Nachteil dieser exklusiven Wohngegend. Ansonsten war es sicher, still und ruhig hier.

Bis jetzt. Es war genau fünf Uhr achtundzwanzig. Ich weiß das so genau, weil ich immer auf die analoge Uhr am Armaturenbrett schaute, wenn ich nach Hause kam. Es war früher Sonntagmorgen. Ich öffnete das schmiedeeiserne Tor meines Anwesens mit der Fernbedienung und fuhr vors Haus. Der sonor blubbernde V8-Zylinder der Corvette, dessen Klang ich so sehr liebte, erstarb, als ich den Schlüssel drehte.

Ich fuhr damals ausschließlich Oldtimer, die ich für viel Geld hatte restaurieren lassen. Ich besaß eine Sammlung, die rund 30 Stück umfasste, alle in Top-Zustand und auf Hochglanz poliert: mehrere Corvettes, darunter eine aus der legendären ersten Serie von 1954, eine von 1958 und eine von 1965. Sie wurde „Little Red“ genannt, weil sie nicht nur außen, sondern auch innen komplett rot war, inklusive der Ledersitze und des Lenkrads. Es folgten die Jahrgänge 1965, mit einem Splitted Window (also einem zweigeteilten Fenster), sowie 1967. Ein seltenes Schmuckstück war die 69er Corvette Cabrio „Bottlecoke“, während meine 79er Corvette mit unglaublichen 7,4 Litern Hubraum und 500 PS punktete.

Weniger sportlich, aber ebenfalls eine Augenweide war ein gelber 57er Ford Thunderbird, und bei meinem türkis-weißen 57er Ford Fairline blieben die Leute auf der Straße stehen, wenn er das komplette Dach automatisch im Kofferraum verstaute – heute fast normal, doch damals eine absolute Sensation. Bemerkenswert auch das rote 57er Bel Air Cabrio von Chevrolet sowie meine beiden Rolls Royce Phantom IV Cabrio. Jaguar war stark vertreten: zwei Jaguar E Cabrio aus den sechziger Jahren, ein XK 120, ein XK 150 und ein Mark II aus den Fünfzigern.

Ein besonderes Schätzchen war ein VW Käfer Cabrio von 1979 mit Porsche-Motor und entsprechendem Fahrwerk, und natürlich die Porsches selbst: Ein legendäres 356 C aus den Sechzigern, ein Carrera Cabrio S4 aus neuerer Zeit und – als absolutes Highlight – ein Porsche 959. Dieses Teil war nur tausend Mal gebaut worden und galt als „Über-Porsche“. Der Wagen war ein abgefahrener Technologieträger und wurde zu einem sagenhaften Preis von vierhundertzehntausend Mark verkauft. Er war damals einer der teuersten Wagen der Welt. Ich zahlte nur zweihundertfünfundsechzigtausend Mark dafür, an einen in Berlin prominenten Immobilientycoon namens Gutmann. Er verkaufte ihn mir, als seine Geschäfte etwas schlechter gingen, aber er hatte (das muss man dazusagen) noch ein zweites Exemplar in der Garage stehen. Nachdem ich den Wagen, der wie neu aussah, abgeholt hatte, kam ich wenige Kilometer weiter schon nicht mehr den Berg hoch: Die Kupplung war kaputt.

„Das geht gar nicht“, sagte ich zu Gutmann. „Zweihundertfünfundsechzigtausend Mark und die Karre fährt nicht.“

Ich blickte ihm intensiv in die Augen, doch meinem Blick wich er aus. Er wusste, dass er Mist gebaut hatte. Es war ihm mehr als peinlich.

Schließlich lenkte er ein und ließ den Wagen auf seine Kosten reparieren, was nur recht und billig war. Fünfundzwanzigtausend Mark zahlte er dafür, zehn Wochen blieb der Wagen in der Werkstatt – was mir letztlich sehr entgegenkam, als die Polizei ihn verzweifelt suchte wie eine Nadel im Heuhaufen.

Meine Sammlung wurde komplettiert durch einen Ferrari 456, ein weißes VW Käfer Cabrio, ein Mercedes Cabrio W 111 von 1970 sowie eine überaus feine Cobra mit sechs Litern Hubraum, Aluminiummotor und 500 PS.

Natürlich standen die Wagen nicht einfach rum, wie sie das in Museen tun. Oldtimer sind wie Frauen. Sie müssen bewegt werden, dafür sind sie gebaut. Wenn man das nicht tut, kann man sie irgendwann vergessen. Meine Kumpels und ich – eine eingeschworene Truppe von Oldtimer-Liebhabern aus ganz Deutschland – fuhren nachts illegale Rennen über eine Viertelmeile auf der Straße Unter den Eichen, zwischen den Berliner Bezirken Steglitz und Zehlendorf. Einmal im Monat trafen wir uns im Hamburger Freihafen, den wir ebenfalls unsicher machten. Die beste Zeit dafür ist morgens um vier, da herrscht Totenstille überall. Sogar die Bullen schlafen. Meistens jedenfalls.

Ich hatte gut damit zu tun, alle Autos regelmäßig zu bewegen. Ich musste Buch führen, dass ich keines meiner Schätzchen vergaß. Auch darin waren die Autos für mich wie Frauen.

Jetzt also, an diesem unseligen Sonntagmorgen, als der Himmel kaum graute, saß ich in meiner 57er Corvette in der Einfahrt meiner Villa und freute mich auf einen entspannten Morgen. Ich stieg aus dem Wagen und atmete tief die feuchte Luft ein. Sie weckte wieder meine Lebensgeister.

Dann brach die Hölle los.

Von hinten stieß mich irgendwer mit brutaler Gewalt zu Boden, so dass ich mir Kinn und Knie aufschlug. Rund um mich Geschrei und gebellte Befehle, die ich nicht verstand. Verzerrte Geräusche aus diversen Funkgeräten, die aufgedrehten Motoren von schweren Autos, deren Reifen auf dem Kies der Einfahrt knirschten. Die Arme wurden mir schmerzhaft auf den Rücken gedreht, während ein Stiefel hart auf meinen Nacken drückte. Handschellen klickten. Man hätte denken können, ich sei der meistgesuchte Terrorist der Welt.

Sie durchsuchten mich, und natürlich fanden sie das Geld. Es verschwand auf Nimmerwiedersehen in einem schwarzen Plastiksack, ebenso wie meine goldene Rolex mit Diamanten, die mir viel bedeutete.

Danach wurden sie menschlicher. Einer bot mir sogar eine Zigarette an. Da meine Hände weiterhin gefesselt waren, steckte er mir seine in den Mund. Da er unlängst wohl eine große Menge Knoblauch gegessen hatte, hielt sich der Genuss in Grenzen. Ich sagte aber nichts.

Der Trupp umfasste fünfzehn, zwanzig Mann. Anführer war ein miesepetriger Hauptkommissar namens Mittelstätt, der mir wortlos einen Wisch unter die Nase hielt: einen Durchsuchungsbeschluss, richterlich abgesegnet. Oben rechts auf dem Formular war ein rotes Kreuz, das hieß Gefahr im Verzug. Der Tatverdacht lautete auf Menschenhandel.

„Öffnen Sie die Haustür oder sollen wir das für Sie tun?“, fragte Mittelstätt mit einem sardonischen Lächeln.

Offenbar hoffte er, dass ich mich weigerte, damit seine Leute mein Anwesen zu Kleinholz verarbeiten konnten. Doch so unvernünftig war ich nicht. Ich wusste, ich konnte nichts dagegen tun. Es war ein offizielles richterliches Dokument, das ihnen erlaubte, fast alles zu machen, was sie wollten. Also öffnete ich die Tür und führte sie ins Haus.

„Tun Sie sich nur keinen Zwang an“, sagte ich leichthin und machte eine einladende Handbewegung. „Mein Haus ist Ihr Haus.“

Mittelstätt grinste süß-säuerlich.

„Sie haben wohl Ihren witzigen Tag“, entgegnete er. Ich hatte ihm den Spaß verdorben. Dann ließ er seine Hunde von der Kette.

Sie machten sich gleich an die Arbeit. Sehr behutsam gingen sie nicht gerade vor. Ich mag es nicht, wenn jemand meine Sachen anfasst, und schon gar nicht, wenn er nicht sorgsam mit ihnen umgeht. Das ist respektlos. Bald lagen Kleider auf dem Boden und Papiere waren überall verstreut. Ich will nicht sagen, dass sie mutwillig etwas zerstörten, aber man merkte schon, dass es keineswegs ihr Haus war. Mit ihren eigenen Sachen wären sie nicht so umgegangen.

Innerlich kochte ich. Natürlich wusste ich, dass sie das finden würden, was sie suchten: Beweise für ihre lächerliche Anschuldigung. Ich hatte nie ein Hehl aus meiner Tätigkeit gemacht, aber mit Menschenhandel hatte die bestimmt nichts zu tun. Im Gegenteil: Die Frauen hatten darum gebettelt, bei mir arbeiten zu dürfen. Nicht für mich, das ist ein entscheidender Unterschied. Ich bin Geschäftsmann, ein respektierter Unternehmer. Niemand, der minderjährige Prostituierte im doppelten Boden eines Lastwagens über die deutsch-polnische Grenze schmuggelt.

Doch genau das versuchten sie mir anzuhängen. Im Grunde hatte ich keine Chance. Ermittlungsrichter und Staatsanwälte können die Fakten – das ist zumindest meine Erfahrung – immer so drehen, dass es ihnen in den Kram passt. Dann bist du verloren. Du wanderst in den Bau. Auf Jahre.

Ich kannte das schon. Schon der Gedanke an U-Haft jagte mir einen unangenehmen Schauer über den Rücken. All meine Körperhaare stellten sich auf. Die Bullen in meinem Haus arbeiteten gerade intensiv daran, dass es wieder soweit kam. Alles, was sie brauchten, waren Beharrlichkeit, Spürsinn und Geduld.

Und das wussten sie.

Ich hatte diese Geduld nicht. Mich beherrschte nur ein Gedanke: Raus hier!

Aber wie konnte ich das anstellen?

Die SEK-Leute waren sich meiner inzwischen ziemlich sicher. Anders war es nicht zu erklären, dass sie mir die Handschellen abnahmen und nur einen einzigen Mann zu meiner Bewachung abstellten. Und eine Polizistin. Ja, zum Team gehörte wirklich eine Frau. Ist mir unverständlich bei dem hohen Risikofaktor, den solche Einsätze mit sich bringen. Manche Errungenschaften der Emanzipation erscheinen mir denn doch etwas fragwürdig. Nur mal angenommen, ich wäre bewaffnet gewesen? Und hätte geschossen? In meinem Umfeld war das ganz normal.

Wir waren in der Küche im Erdgeschoss, zu dritt, während sich alle anderen im Haus verteilt hatten und eifrig nach Beweisen suchten. Wir tranken Kaffee und rauchten. Plötzlich wurde die Polizistin abgezogen: Mittelstätt wollte sich mit ihr unterhalten. Ich vermute, dass dies mehr ihrem Aussehen geschuldet war als einer dienstlichen Notwendigkeit. Für eine Polizistin sah sie verdammt gut aus, sie war groß, brünett und schlank, mit intensiven grünen Augen. Viel zu schade für eine Polizistin. Als Barfrau hätte ich sie sofort genommen. Aber sei’s drum: Meine Aussichten zu entkommen stiegen dadurch um hundert Prozent.

Durch das Fenster ging nichts: Davor waren Gitterstäbe aus gehärtetem Stahl, viel stärker als jene im Knast. Ich hatte sie selbst einbauen lassen. Jetzt wurden sie mir zum Verhängnis. Es musste eine andere Möglichkeit geben.

Ich weiß ziemlich gut über die Psychologie des Menschen Bescheid. In meinem Beruf ist das essentiell. Sie müssen Gäste sofort einschätzen können: Macht er Ärger oder nicht? Betrügt die Barfrau? Sie betrügt immer. Aber um wie viel? Hat dein Gegenüber soviel Ehre im Leib, dass du einen Vertrag per Handschlag mit ihm machen kannst? Wenn du ein paar Jahre im Geschäft bist, hast du auf solche Fragen sofort die richtige Antwort. Aus dem Bauch heraus. Der Bauch liegt fast immer richtig.

Wenn jemand auf dich aufpassen soll, hilft eine Taktik todsicher: Du musst den Kerl zermürben. Ihn ermüden. Ihn nie zur Ruhe kommen lassen. Irgendwann wird er unaufmerksam. Diesen Moment musst du nutzen. Du hast nur diesen einen.

Ich begann, scheinbar hektisch hin und her zu laufen, von einer Ecke in die andere. Ich wusste, das würde meinen Aufpasser nervös machen.

„Ich brauche frische Luft“, sagte ich.

„Gute Idee“, erwiderte er. „Aber kommen Sie mir ja nicht auf dumme Gedanken.“

„Wie könnte ich?“, gab ich zurück und machte eine Kinnbewegung zu seinem Pistolenhalfter. „Ich bin doch nicht lebensmüde.“

Es schmeichelte ihm offenbar, dass ich ihn für so gefährlich hielt.

Wir gingen zusammen raus. Ich sah mich unauffällig um. Wir waren allein. Alle anderen Polizisten waren im Haus und stellten die Bude auf den Kopf. Es regnete leicht, in den umliegenden Häusern brannten Lichter. Auf einigen Balkonen standen Leute, die neugierig zu uns herüberstarrten. Sie redeten und lachten. Einige von ihnen hatten Bier- oder Weingläser in der Hand, aus denen sie ab und zu tranken, wieder andere blickten durch Ferngläser. Aus einigen Fenstern hörte man leise Musik. Was sich vor und in meinem Haus abspielte, war wohl beste Abendunterhaltung für sie. Kostenloses Kino.

Ich schaute mich nach einem Fluchtweg um. Das Tor und die Straße schieden aus, da hätten sie mich innerhalb weniger Minuten wieder geschnappt. Mit der Corvette zu fliehen, war zwar ein höchst reizvoller Gedanke (er erinnerte mich an zahlreiche amerikanische Actionfilme, die ich gesehen hatte), doch leider undurchführbar, da der „Rohr frei!“-Lieferwagen quer vor meinem Wagen stand. Es blieb nur eine Möglichkeit: rund ums Haus und über den Zaun, rein in Nachbars Garten. Und mich auf mein Glück verlassen.

Mein Begleiter machte inzwischen einen ziemlich entspannten Eindruck auf mich. Er schien sich zu langweilen. Wahrscheinlich hätte er lieber mit den anderen mein Haus auf den Kopf gestellt. Von drinnen waren dumpfe Geräusche zu hören. Vermutlich warfen sie gerade die Möbel um. Ich wollte mir das besser gar nicht vorstellen.

Ich hänge an meinem Besitz.

„Wenn irgendwas kaputt geht, reiche ich Klage ein“, sagte ich. „Die Möbel sind alt und wertvoll. Jugendstil und Biedermeier.“

Der Polizist zuckte mit den Schultern.

„Manche Kollegen sind eben etwas stürmisch“, erwiderte er. „Man muss das verstehen.“

Ich hatte dafür überhaupt kein Verständnis. Doch jetzt hatte ich andere Sorgen als die Unversehrtheit meiner Möbel. Sobald sie die Unterlagen hinter dem Kosmetikspiegel meiner Frau gefunden hatten (sie hatte keine Ahnung davon, was sich da verbarg), würden sie mir bestimmt sofort wieder Handschellen anlegen. Wegen Fluchtgefahr. Womit sie, nebenbei bemerkt, auch verdammt recht hatten. Ich dachte an nichts anderes.

Schließlich kam der Moment, auf den ich gewartet hatte. Mein Begleiter steckte sich eine Zigarette an, was bei dem Regen und dem schneidenden Wind gar nicht so einfach war. Drei Streichhölzer verloschen nacheinander. Er stieß einen Fluch aus, riss zwei Streichhölzer auf einmal an und konzentrierte sich voll darauf, dass das Feuer nicht ausging. Er hielt seine Hände dicht vors Gesicht.

Dies war der Augenblick, in dem ich die Beine in die Hand nahm. Ich rannte los, so schnell ich konnte.

Mein Aufpasser bekam es zunächst gar nicht mit. Ich hatte schon ungefähr zehn, zwölf Meter zurückgelegt, als er bemerkte, dass ich nicht mehr neben ihm stand. Natürlich konnte ich nicht nach hinten sehen, aber ich wollte keine Zeit dadurch verlieren, dass ich mich umschaute. Ich hörte, wie es hinter mir lebendig wurde.

„Alles raus, der Termer ist weg“, schrie der Bulle.

Dass ich zu flüchten gewagt hatte, ging vermutlich über seinen Horizont. Jetzt kamen wohl gerade seine Kollegen aus dem Haus gestürzt. Aber ich war schon um die erste Ecke, sie konnten mich also nicht mehr sehen.

Wenn es drauf ankommt, kann ich ziemlich schnell laufen, trotz der hundert Kilo, die ich damals draufhatte. Ich rannte um zwei Ecken des Hauses herum. An dessen Rückseite befand sich, wie ich wusste, ein nicht allzu hoher Zaun zum Nachbargrundstück hin, den ich mit Leichtigkeit würde überklettern können.

Genauso war es auch. Zwar riss ich mir die Hose auf und schnitt mir die Finger blutig an dem scharfen Metall, doch ich kam gut und vor allem schnell hinüber. Von der Vorderseite meines Hauses hörte ich ein hysterisches Geschrei, mit dem mein düpierter Bewacher seine Kollegen auf sich aufmerksam machte.

Ich wusste, ich hatte nicht viel Zeit. Sekunden vielleicht nur. Der Garten des Nachbargrundstücks war ziemlich verwildert, was mir sehr zugute kam: So konnte ich nicht leicht gefunden werden. Das Unkraut wucherte mannshoch, vereinzelte Bäume waren schon fast verschlungen von ihm. Ich wusste, dass das Gebäude einer senilen alten Dame gehörte, die in einem Altenheim ihrem Tod entgegendämmerte, während sich die Erben darüber stritten, was mit der leer stehenden Villa nun geschehen sollte. Sie suchten bereits nach einem Käufer. Es war also garantiert niemand da.

Aber die Polizisten würden das Gebäude mit Sicherheit durchsuchen. Und auch den Garten abgrasen. In der Ferne sah ich bereits den hektischen Schein der Stablampen, mit denen sie das Gelände absuchten. Sie näherten sich rasch. Es war hochgradig dringend, dass ich eine sichere Bleibe für die nächsten Stunden fand, und sei sie noch so unbequem.

Wenn es wirklich eng wird, habe ich fast immer Glück. In diesem Fall war es ein umgedrehtes altes Schlauchboot, das im hintersten Teil des Gartens vor sich hin rottete. Ich hob es mit all meiner Kraft an, kroch darunter und ließ es wieder auf die Erde fallen. Es war stockdunkel und roch muffig, die Geräusche aus der Außenwelt drangen nur gedämpft zu mir.

Nun, in diesem finsteren, ungesunden Versteck, dicht an den feuchten Boden gepresst, konnte ich nur noch beten, dass sie mich nicht finden würden.

2

Nach Berlin war ich sechzig Jahre zuvor, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gekommen. Da war ich noch nicht einmal zwei Jahre alt. Meine Eltern waren mit dem großen Flüchtlingstreck aus Ostpreußen über das Frische Haff gezogen, und Berlin war nicht die Endstation.

Aber für mich.

Sie ließen mich einfach zurück. Kaum zu glauben, aber da ich nur eine Last für sie war und ein unnützer Esser obendrein, der wegen seiner O-Beine noch nicht mal richtig laufen konnte, gaben sie mich im nächsten Kinderheim ab. Das war das Mossestift in der Mecklenburgischen Straße, nicht weit vom Stuttgarter Platz.

Die Weichen waren gestellt.

Ich wuchs bei Pflegeeltern auf. Eigentlich müsste ich sagen: auf der Straße. Denn sie kümmerten sich nicht groß um mich. Ich tat mich mit anderen Kindern zusammen, wir bildeten eine Bande. Die Ruinen, von denen es damals viele gab, waren ein großartiger Abenteuerspielplatz. Wir spielten Verstecken, beschossen uns gegenseitig mit Pfeil und Bogen und lieferten uns Verfolgungsjagden mit anderen Kindern, die sich in unser Revier wagten. Jede Kinderbande hatte ihre eigene Ruine. Es war eine großartige Zeit. Wenn ich daran zurückdenke, weiß ich, was den heute aufwachsenden Kindern meist entgeht. Kein Computerspiel und kein Fernsehen kann die Erfahrungen ersetzen, die ich damals sammelte.

Mit den Jahren wurden die Spiele weniger harmlos. Wir klauten Autos, der Opel Rekord P4 war das beliebteste Modell. Mit Ketten, die wir an der Stoßstange befestigten, rissen wir Zigarettenautomaten aus der Wand. Die Zigaretten, eine ganz normale Währung zu jener Zeit, verkauften wir auf dem Schwarzmarkt und verdienten uns auf diese Weise ein hübsches Sümmchen.

Das konnte nicht gutgehen. Bald hatte uns die Polizei auf dem Kieker. Die Anwohner betätigten sich als Blockwarte und hielten von ihren Balkonen, bewaffnet mit Ferngläsern, Ausschau nach uns. Als wir eines Nachts mitten in Charlottenburg, in einer Gegend, wo die Leute früh schlafen gingen, einen Höllenlärm veranstalteten, weil der Zigarettenautomat unvermutet fest in der Wand verankert war, dauerte es nicht lange, bis zwei Peterwagen (so hießen die Polizeiautos damals, meist waren es dunkelgrüne VW Käfer) mit Blaulicht und Sirene angerast kamen. Aus heutiger Sicht sah das saukomisch aus, man sieht es noch in alten schwarzweißen Fernsehfilmen, „Stahlnetz“ zum Beispiel, oder „Funkstreife Isar 12“. Ab und zu laufen sie noch heute nachts in den dritten Programmen.

Die Verfolgungsjagd endete an einem Bauzaun, in den der Opel krachte. Ich kam in Untersuchungshaft, es war meine erste Begegnung mit jener Parallelwelt, in die ich später noch öfter eintauchen würde. Drei Monate dauerte der Aufenthalt, den ich vorzugsweise dazu nutzte, den definitiven Klassiker für Gefängnisinsassen zu lesen, „Wer einmal aus dem Blechnapf frisst“ von Hans Fallada. Es war ein Buch, das mich nachhaltig beeindruckte, vor allem deshalb, weil mir beim Lesen klar wurde, welche Karriere ich garantiert nicht einschlagen wollte. Noch war scheinbar alles offen, ich besaß alle Optionen.

Dachte ich.

Ich war selten so naiv. Ich denke manchmal, den Menschen ist ihr Leben vorbestimmt, da können sie machen, was sie wollen. Karma, wenn Sie so wollen. Ob wir wirklich autonome Individuen sind? Ich habe da meine Zweifel.

Der Richter verurteilte mich zu neun Monaten mit zwei Jahren Bewährung. Ins Gefängnis musste ich also nicht mehr.

„Ich gebe Ihnen noch mal eine Chance“, sagte er. „Ich hoffe sehr, Sie nutzen sie.“

„Danke, Herr Richter“, erwiderte ich wohlerzogen. „Ich werde Sie nicht enttäuschen.“

„Ich will Sie hier nie wieder sehen, hier vor Gericht“, sagte er zum Abschluss. „Haben wir uns verstanden?“

Das hatten wir.

Ich sollte zwar ihn nie wieder sehen, einige seiner Kollegen aber schon.

Meine Lehrstelle als Buchbinder war ich los, ich war schon während meiner Haft fristlos entlassen worden. Ich musste mich nun mit Hilfsarbeiten durchschlagen, das war kein Zuckerschlecken. In einem Hinterhaus, einer improvisierten Manufaktur (Industrie gab es in den Berliner Ruinen ja nicht mehr), lötete ich Platinen für fünfundneunzig Pfennig die Stunde. Das waren sechsunddreißig Mark pro Woche. Selbst für die damalige Zeit war das nicht viel.

Dann heuerte ich beim Straßenbau an. Ich verlegte Kabel, schachtete den Boden aus und arbeitete im Akkord als Handrammer, das heißt, ich setzte Pflastersteine und haute sie mit Schwung in den Boden. Das Ergebnis waren wunde und kaputte Hände, viel Hornhaut und ein steifer Rücken.

Aber ich verdiente gut. Das Geld gab ich meist gleich wieder aus. Der Stuttgarter Platz war die Gegend, in der ich mich am liebsten aufhielt. Eigentlich war es ein sehr gutbürgerliches Wohnviertel. Der Krieg hatte die meisten Häuser verschont, so dass es dort genauso gepflegt aussah wie ehedem.

Aber es gab dort auch ein anderes soziales Leben, das sehr in meinem Sinne war und das ich in höchstem Maße reizvoll fand. Es war ein Leben, genauer gesagt: ein Milieu, für das der Stuttgarter Platz später berühmt werden sollte.

3

Dieses Milieu entstand ungefähr ab Mitte der fünfziger Jahre. Damit einher ging die Umwandlung eines reinen Wohnviertels in ein Vergnügungsviertel, zum Teil jedenfalls. Leute mit Geld in der Tasche, die aus dem Osten zugezogen waren und genaue Vorstellungen davon hatten, was sie aus dem Viertel machen wollten, tauchten plötzlich auf. Sie boten den Hausbesitzern Beträge, die früher unvorstellbar gewesen waren, für Mietverträge in bester Erdgeschosslage, in denen bis dahin kleine Gewerbetreibende wie Bäcker, Friseure oder Gemüsehändler ihre Läden hatten. Es war ein brutaler Verdrängungswettbewerb, den diejenigen gewannen, die mit den großen Scheinen winkten. Heute wiederholt sich das, auf ähnliche Weise, in anderen Berliner Bezirken.

Es ist wie eine feindliche Übernahme.

Es war ein Prozess, der schleichend vonstatten ging. Nicht in einem Monat und nicht in einem Jahr, doch der Unterschied war mit der Zeit deutlich merkbar. Plötzlich eröffneten dort, wo zuvor Schuhe, Wurst oder Brötchen verkauft worden waren, Bars mit eindeutig erotischer Ausrichtung – sofern man davon in den fünfziger Jahren überhaupt reden konnte, denn es war eine ausgesprochen prüde Dekade. Kein Vergleich zu heute, wo ja wirklich alles gezeigt werden kann, an jedem Zeitungskiosk. Aber es war klar, was sich hinter den abgedunkelten Scheiben der Eingangstüren verbarg. Das rote Licht der Leuchtreklamen tat ein Übriges.

Betrat man diese geheimnisvolle, dunkel lockende Welt, so fand man sich meist in einem schummrigen Raum mit plüschigen Sitzgelegenheiten und vielen Spiegeln wieder. Hinter dem Tresen waren einige Reihen mit alkoholischen Getränken aufgereiht, leise Musik war zu hören, und auf den Barhockern saßen leichtbekleidete Damen, die jeden Gast auffordernd anlächelten. An den Wänden waren schwere Damastvorhänge, hinter denen sich winzige Separees verbargen. War ein Gast mit einer Dame handelseinig, verschwanden die beiden in einem dieser Separees – mit einer Flasche Sekt zumeist, die selbstredend ein Vermögen kostete. Dies war die Währung für eine Viertelstunde Liebe – oder das, was die Freier dafür hielten. War die Viertelstunde um, riss ein Kellner den Vorhang auf und fragte, was es denn noch sein dürfe – eine weitere Flasche Sekt vielleicht?

Um die Gäste auf Touren zu bringen, gab es Filme zu sehen, vorgeführt auf ratternden Schmalfilmprojektoren im Format Super 8. Die Filme waren aus Dänemark herübergeschmuggelt worden und von einer lausigen Qualität. Sie zeigten Stripteaseszenen, die heute so harmlos wirken, dass sie in jedem ab zwölf Jahren freigegebenen Spielfilm problemlos zeigbar wären. Damals waren sie der Gipfel der Verruchtheit. In späteren Jahren wurden aus den Stripteasefilmen veritable Pornos, die kein Tabu mehr kannten. Wenn die Polizei davon Wind bekam, beschlagnahmten sie die Filme und die Projektoren gleich mit. Dazu gab es eine empfindliche Geldbuße. Alle zwei Monate im Durchschnitt fanden diese Razzien statt. Auf die Dauer ging das natürlich ziemlich ins Geld, für die Barbesitzer meine ich. Die Prüderie jener Epoche wirkt heute wie aus einer fernen Welt.

Doch die Bars waren nur ein Teil des Stuttgarter Platzes damals. Auch etliche Bierkneipen waren dort angesiedelt, „Arche Noah“ etwa und „Bierschwemme“, „Rhode“, „Pohlmann“ oder „Sorgenpause“. Heutigen Kneipengängern sagen diese Namen nichts, doch damals waren sie in ganz Berlin bekannt. Dort gingen Arbeiter hin, manchmal kamen sie sogar extra aus dem roten Wedding herüber. Das war schon eine weite Strecke, zudem der öffentliche Nahverkehr in Berlin bei weitem nicht so ausgebaut war wie heute. Eine Stunde hin und eine zurück, so lange war man unterwegs. Mindestens. Aber es lohnte sich, nirgends war die Atmosphäre so anregend und fidel wie hier. Da man damals seinen Lohn freitags in bar ausgehändigt bekam, war jedes Wochenende etwas los. „Lohntütenball“ nannte man das. Bier und Schnaps gab’s für fünfundzwanzig Pfennig, die Prügeleien waren umsonst.

Dazu kamen die Engländer. Richtung Westen, nach Gatow und Spandau hin, hatten die englischen Besatzungstruppen ihre Kasernen. Wir nannten sie die „Inselaffen“. Jeden Freitag und Samstag bekamen die Soldaten Ausgang. Dann fielen sie am Stuttgarter Platz ein. Wenn sie sich volllaufen lassen konnten, war es ein guter Tag, wenn er außerdem mit einer zünftigen Schlägerei verbunden war, ein sehr guter. Es war ein reiner Sport für sie. Sie kamen aus allen Ecken der britischen Insel, neben Engländern waren auch Schotten, Iren und Waliser dabei. Trinkfest waren sie alle, und sie konnten kräftig zulangen.

Deshalb waren wir aber keine Feinde. Ganz im Gegenteil. Denn hinterher, nachdem wir uns geschlagen hatten, tranken wir fast immer zusammen ein (oder auch zwei oder drei) Bier auf das großartige Vergnügen, das wir gerade gehabt hatten. Bis zum nächsten Wochenende. Zum Abschied drückten und umarmten wir uns gegenseitig.

Heute, da das Rotlichtmilieu fest in ausländischer Hand ist, wäre das undenkbar. Inzwischen geht es ganz anders zur Sache. Richtig hart und unfair. Wenn man sich mit einem dieser Typen geprügelt hat, Mann gegen Mann, kommt er häufig am nächsten Tag mit einem Dutzend seiner „Brüder“, um seine „Ehre zu retten“. Sie lauern dir auf und fallen alle zusammen über dich her. Ehre ist überhaupt das Schlüsselwort. Wer einen Kampf verliert, hat deswegen doch nicht seine Ehre verloren. So sehe ich das. Diese Typen sehen das völlig anders. Es ist eine seltsame Kultur, die sich mir nicht erschließt.

Ich selbst war immer vorne mit dabei. Ich bin eins zweiundachtzig groß und hatte mir durch den Straßenbau ein paar dicke Muskelpakete antrainiert. Außerdem boxte ich zum Spaß, bei „Sparta 58“ im Amateur-Mittelgewicht (ich wog damals fünfundsiebzig Kilo, die hundert erreichte ich erst sehr viel später). Ich war gar nicht mal schlecht: Von einunddreißig Kämpfen verlor ich nur sechs, sieben gingen unentschieden aus. Eines meiner Lieblingslieder ist bis heute „Das Herz eines Boxers“ von Max Schmeling, das kann ich immer wieder hören. Wenn es große Kämpfe gab, in der Deutschlandhalle am Funkturm etwa, wo sonst die Sechstagerennen stattfanden (die es heute ja leider auch nicht mehr gibt), war ich als Zuschauer stets dabei und fieberte mit.

Sport war überhaupt mein Ding, schon immer. Mit Ringen im griechisch-römischen Stil, bei einem Berliner Traditionsverein namens „Heros“, hatte ich angefangen. Doch da hatte ich fast immer auf dem Rücken gelegen, also verloren, und das mag ich gar nicht. Noch heute gehe ich regelmäßig ins Fitnessstudio, und für mein Alter habe ich mich – das darf ich sagen, ohne anzugeben – bemerkenswert gut gehalten.

Es war überhaupt ein lustiges Völkchen am Stuttgarter Platz, fast schon wie eine große Familie. Manche Kneipen hatten vierundzwanzig Stunden offen, dort schliefen dann die Trebebrüder, wenn sie nachts aus den Kinos rausgeworfen wurden. Die Wirte hatten selten was dagegen.

An der Ecke stand Anni mit ihrer Würstchenbude, wo sie Buletten verkaufte, die mehr Brot als Fleisch enthielten, aber trotzdem lecker schmeckten. Ein stark nach Sesamöl und Knoblauch riechender, billiger Chinese, dessen Name mir entfallen ist, war das einzige Speiselokal. Man aß von der Hand in den Mund, mehr konnte oder wollte man sich gewöhnlich nicht leisten. Im „Tanger“, einem der wenigen Lokale mit Musicbox, tanzten wir Rock’n’Roll. Es war eben die Zeit. Man kann sich das heute gar nicht mehr so richtig vorstellen.