Der König von Europa - Jan Kjaerstad - E-Book
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Der König von Europa E-Book

Jan Kjaerstad

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Beschreibung

00.00.00. Alf I. Veber entschließt sich, das neue Jahrtausend abgeschieden in den Bergen zu begrüßen. Ein Nullpunkt, und ein Höhepunkt: Als er nur knapp einen Schneesturm überlebt, will er sein Leben neu ausrichten. Er reist nach London, um seine große Liebe wiederzufinden, muss aber erkennen, dass seine Hoffnungen falsch waren. Er kehrt der Zivilisation den Rücken und taucht in den urbanen Dschungel ein, getrieben vom Wunsch, das große Muster im Chaos aufzudecken, er beginnt durch die Abenteuer seiner Vergangenheit zu verstehen, warum er an diesem Ort und zu dieser Zeit angekommen ist. Hier in Europa: einem kulturellen Schmelztiegel. Auf Europa: einem von vielen Jupitermonden. Im Untergrund findet er eine neue Liebe – doch um die Queen of Jupiter zu erobern, muss er selbst ein König ohne Land werden. Der König von Europa ist ein Kompendium der postmodernen Zeit, ein Roman über verbrannte Brücken und neue Möglichkeiten. Über die entscheidenden Begegnungen, die einen immer weiterführen – die fesselnde Geschichte, der andere Mensch oder die unvergessliche Reise. Jan Kjærstad beschreibt eine Hauptfigur, die verzweifelt versucht, die Prozesse zu beeinflussen.

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Seitenzahl: 1084

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Autor und Klappentext

Titelseite

Buchanfang

Leseproben

Jan Kjaerstad - Ich bin die Walker Brüder

Rodrigo Rey Rosa - Die Gehörlosen

José Luís Peixoto - Das Haus im Dunkel

Ryu Murakami - Coin Locker Babys

Ryu Murakami - Das Casting

Shusaku Endo - Schweigen

Carlos Gamerro - Der Traum des Richters

Carlos Gamerro - Das offene Geheimnis

Fußnoten

Originaltitel: Jan Kjærstad, Kongen av Europa

© 2005 H. Aschehoug & Co. (W. Nygaard) AS, Oslo, Norway

Die Übersetzung wurde von NORLA gefördert.

© der deutschen Ausgabe: 2016, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat: Christie Jagenteufel

Umschlag: Jürgen Schütz

Umschlagbild: © 2015, Jürgen Schütz, Europe, Öl auf Leinwand

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-903061-42-2

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-49-6

www.septime-verlag.at

www.facebook.com/septimeverlag

www.twitter.com/septimeverlag

Über den Autor

Jan Kjærstad

zählt zu den bedeutendsten zeitgenössischen Autoren Norwegens. Der 1953 in Oslo geborene Schriftsteller studierte Theologie, war Pastor und Jazzpianist, später Redakteur der norwegischen Literaturzeitschrift Vinduet. Er veröffentlichte zahlreiche Novellen, Essays und Romane, von denen etliche ins Deutsche übersetzt wurden. Für sein literarisches Schaffen erhielt er mehrere Auszeichnungen, u. a. den renommierten Henrik-Steffens-Preis.

Er lebt als Autor und Kritiker in Oslo.

2013 erschien bei Septime sein Roman: Ich bin die Walker Brüder.

Klappentext:

Alf I. Veber, Mitte vierzig, dessen Leben bislang von Verlusten geprägt ist, entschließt sich, das neue Jahrtausend abgeschieden in den Bergen zu begrüßen, wo er nur knapp einen Schneesturm überlebt: Ein Nullpunkt, und ein Höhepunkt. Geläutert reist er nach London, um seine große Liebe aus Studienzeiten wiederzufinden, schnell begreift er aber, dass er seine Hoffnungen begraben muss. Alf bricht aus der Gesellschaft aus und beginnt durch die Erinnerung an die Stationen seiner Vergangenheit zu verstehen, warum er an diesem Ort und zu dieser Zeit angekommen ist, bis zwei Menschen sein Leben erneut auf den Kopf stellen: Ian, sein Doppelgänger, und eine neue Liebe: die um viele Jahre jüngere Io.

Hier in Europa: einem kulturellen Schmelztiegel.

»Sei gekrönt, du – König von Europa.«

Durch seine Sandkastenfreundin Johanne hört Alf das erste Mal den Namen eines Jupitermondes: Europa; später erfährt er von Io, Callisto und Ganymed. Am Ende seines Studiums zählen die Menschen bereits 15 Monde, die den roten Riesen umkreisen.

Vom Hunger nach Erleuchtung getrieben, sucht er nach den Ideen, die die Menschheit weiterführen. Die Projekte, die er dabei mehr oder weniger erfolgreich startet, nehmen seinen Geist gefangen. In London, seine letzte Hoffnung zu Fall gebracht, trifft er auf seinen Doppelgänger Ian. Gemeinsam versuchen sie sich als Gesandte einer neuen Welt zu begreifen. Erst als er sich in die junge Io verliebt, deren scheinbar naives Wesen ihn gänzlich in den Bann zieht, kann er seine Gedanken befreien.

Er beginnt nicht nur an sich selbst, sondern auch an dem Wert seiner Ideen zu zweifeln. Denn was stellen wir mit unserem Wissen an? Welchen Wert hat Wissen in einer Welt, die immer komplexer wird? Alf ist getrieben vom Wunsch, das große Muster im Chaos aufzudecken. Er, der einst zum König von Europa gekrönt wurde, muss beweisen, dass er als König ohne Land die Queen of Jupiter erobern kann. Selbst wenn Europa nur ein kleiner Knoten eines viel größeren Netzes ist, denn die Welt zählt im Jahr 2000 bereits 63 Jupitermonde.

Jan Kjærstad

Der König von Europa

Roman

Aus dem Norwegischen von Alexander Riha

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Der Verlust

oo.oo.oo

Alf Veber entschloss sich, den Beginn des Jahres 2000 anders als ursprünglich geplant zu feiern. Er entdeckte den Weg zu einer eingeschneiten Hütte in Jotunheimen, nicht weit von Eidsbugarden in der Nähe von Bygdin. Die Hütte wurde selten benutzt und gehörte dem Onkel einer Jugendfreundin. Alf hatte Kontakt mit ihm gehalten und mietete den Ort von Zeit zu Zeit, ihm gefielen die Strapazen, um dorthin zu gelangen, die Weaselfahrt vom Tyinkrysset, der kolossale Steinkopf, der am Ziel wartete, Aasmund Olavsson Vinje, mit Schnee bis hinauf zu den ironischen Augen. Erst jetzt, allein am Silvesterabend, in einer leeren Stube halb unter Schneeverwehungen begraben, verstand er, wie richtig das war, dass der Beschluss schon lange in seinem Unterbewusstsein gewesen sein musste. Kein Prince auf voller Lautstärke, nichts von tonight I’m gonna party like it’s nineteen ninety-nine. Nicht dieses Jahr. Nach Einbruch der Nacht packte er seinen Rucksack, richtete sich Stirnlampe, Karte und Kompass her. Er wollte dem neuen Jahrtausend auf der Spitze des Utsikten entgegentreten, einer Anhöhe direkt unter dem Skinneggji. Das Ziel lag nur vier Kilometer südöstlich der Hütte und konnte unmöglich Probleme bereiten. Er kannte das Terrain zwar nicht gut, war aber bergerfahren, war Norweger.

Gegen zehn Uhr abends schnallte er sich seine Skier an. Er rechnete damit, dass die Tour eine gute Stunde in Anspruch nehmen würde. Der Gedanke schien immer verlockender zu werden. Um Mitternacht auf einem selbst gewählten Gipfel in Jotunheimen. Eine symbolische Marke. Hier konnte er über eine Frau sinnieren. Und über ein bahnbrechendes Erlebnis vor 25 Jahren auf genau diesen Quadratmetern. The Kinks und »Tired of Waiting for You«, The Searchers und »Needles and Pins«, den Kopf voller Sehnsüchte und erotischer Stecknadeln.

Das Wetter hätte besser sein können. Vollkommen bewölkt, wenig Wind, ein paar Schneeflocken in der Luft. Fünf bis sechs Grad minus. Die Winterpisten wurden nie vor Februar ausgesteckt, also gab es keine Stangen, denen man folgen konnte. Aus Sicherheitsgründen hielt er sich an den Kompasskurs. Er hatte das Orientieren immer geliebt, hatte sogar die Kompaniemeisterschaft beim Militär gewonnen. Einmal war er zwei Mädchen tief im Innersten der Nordmarka begegnet. Sie waren auf einer Blaubeertour gewesen und hatten sich verlaufen. Weinten. Er blickte auf die Karte und führte sie zu einem Wegkreuz, das sie wiedererkannten. Wie dankbar sie waren. Wie stolz er sich fühlte. Wie leicht das gewesen war.

Das Licht der Stirnlampe streifte über jungfräulichen Schnee. Es brauchte Kraft, die Spur ziehen zu müssen. Scheiße, wie wenig er in Form war. Kaum ein Fitnesstraining, vor einem Computerbildschirm zu sitzen, trotz all des Surfens. Stapfe mit den Skiern tief im Schnee. Vermeide eine Überanstrengung mithilfe des Grätenschrittes. Er konnte die Anstrengungen, den Schweiß dennoch genießen. Jotunheimen. Man sollte ein Jotun, ein Riese, sein. Er war nie ein Freund der Götter gewesen, gehörte Lokis Geschlecht an. Oder dem Stamm Prometheus. Ein Bringer des Feuers. Licht. Die meiste Zeit seines 46-jährigen Lebens hatte er versucht, ein Kulturbringer zu sein. Versucht, das war das Wort.

Gib nicht auf. Das Terrain war einfach und er konnte das Licht der Hütte immer noch vage erahnen. Und von Fondsbu; mit dem Schneemobil war er einer Touristengruppe gefolgt, die dort den Jahreswechsel feiern wollte. Er wandte der Zivilisation den Rücken zu und pflanzte die Skier in den Berg, motivierte sich, weiter hinaufzusteigen. Das Gedächtnis sinnierte über eine Geschichte von Kristian Birkeland, dem Nordlichtforscher, wie dieser sich zu Beginn seiner Karriere auf einen öden Gipfel in der Finnmark gemüht hatte, mit einem Hundeschlitten bei 20 Grad minus, um wissenschaftliche Pionierarbeit zu leisten. Sie waren ein Geschlecht, er, Alf Veber, und Kristian Birkeland, der eine Methode erfand, Stickstoff aus der Luft zu gewinnen, und damit die Basis für eine norwegische Industrie legte, die Wohlstand AG. Zwei Stück Prometheus. Zwei Stück Kulturbringer. Zwei Menschen, die Werte aus Luft, Wind, Nichts erschaffen wollten.

Alf wanderte in einem Schneegestöber von Gedanken, pflanzte automatisiert seine Skier in den Berg, hörte tief in seinem Bewusstsein Fragmente von »Needles and Pins«, wunderte sich über das Phänomen, dass er plötzlich, hier, in der Dunkelheit mitten in Jotunheimen, ein Lied von The Searchers hören konnte, eine Melodie, der er seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr gelauscht hatte, und das in all ihrer Fülle, mit Gitarrenbegleitung und mehrstimmigem Gesang, der ganze Sound, außerdem in Stereo. Dies konnte kaum den Nadelspitzen aus Eis zugeschrieben werden, die ihn im Gesicht trafen, hing wohl damit zusammen, dass er bald auf dem Utsikten stehen sollte, dem Gipfel, den Anna Fleischer K2 nannte, der zweithöchste Berg, der Gipfel, an dem sie ihn geküsst und damit eine Sehnsucht in ihm geweckt hatte, die er nie befriedigen konnte. K2. Der Kussberg. K mal 2. Der Gedanke folgte einer neuen Spur: Y2K. Die ganze Schreiberei der letzten Wochen. Die Furcht einer ganzen Welt. Was passierte mit den Computern in den Sekunden nach Mitternacht? Vielleicht würde die fürchterlichste Katastrophe eintreffen, Flugzeuge fallen vom Himmel, der Strom fällt aus, alles wird dunkel. Es fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, Sicherheitskopien anzufertigen. Scheiß drauf! Kein mentales Sicherheitsnetz heute Nacht.

In Grübeleien versunken. Wie der Schnee, auf dem er wandelte. Mehrere Lagen, von ungleicher Beschaffenheit. Reflexionen obenauf, Anfechtungen ganz unten. Gefahr einer Gedankenlawine. Stockeinsatz, Stockeinsatz. Die Skier trugen ihn nach oben, Schritt für Schritt, immer weiter. Glücklich mit sich selbst. Als er seinen Kopf zum Eidsbugarden und zum Buddhakopf von Vinje wandte, sah er kein Licht mehr. Habe ich mich verlaufen? Sollte das Terrain nicht zum Utsikten hinaufführen? Der Kegel der Stirnlampe untersuchte das Meer aus Schnee, aber es war unmöglich, deutliche Konturen zu erkennen. Die Karte. Er hielt sie ins Licht. Der Gipfel war zweifelsohne direkt voraus, einfach weitergehen. Ganz ruhig, Alf, das klappt. Die Willensstärke eines Mannes wie Denis Diderot. Musste ja beachtlich sein. Redakteur von 28 Bänden der monumentalen französischen Encyclopédie (17 Bände mit Text, 11 mit Illustrationen). Entspricht 28 Besteigungen des Mount Everests. Mindestens. (Finde mehr darüber heraus. Der Widerstand, die Verbote, der heimliche Vertrieb.) Hatte die Encyclopédie einen Artikel, der Willensstärke hieß?

Bei jedem Stockeinsatz kam ihr Gesicht näher. Anna. Ein Wegkreuz, an dem er sich falsch entschieden hatte. Fatal falsch. Hatte sich schlecht orientiert. Anna. Die Gedanken begannen sich zu teilen, folgten ungleichen Richtungen, unterschiedlichen Erklärungen, warum es so geworden war, Anna vorwärts und rückwärts, er wurde mit sich selbst nicht einig, bemerkte auch, dass etwas, vielleicht eine Lektion, entglitt. Er musste sich einen Überblick verschaffen, sehnte sich verzweifelt danach, am Utsikten zu sitzen. Die Skier trugen ihn mit Leichtigkeit vorwärts, die Lichtstrahlen tanzten über die Landschaft. Verdammt. Ich bin zu weit gegangen. Kann nicht erkennen, wo ich bin. Welch amateurhaftes Unterschätzen der Dunkelheit. Er wandte seinen Kopf erneut nach unten und ließ das Zyklopenauge auf die Karte leuchten, versuchte sich zu orientieren, fand nichts, das übereinstimmte.

Bewölkt. Keine Hilfe von Jupiters Monden. Keine Hilfe vom Netscape Navigator. Um Punkt zwölf Uhr, im Übergang von 1999 und 2000, stand Alf Veber mit dem Wissen, sich verlaufen zu haben, in der norwegischen Urlandschaft. Er war über seine eigene Ruhe überrascht, musste in einem Teil seines Gehirnes bewundern, wie zielbewusst er umherrutschte, bis er ein Gefälle entdeckte, eine geeignete Schneeverwehung, wo er seinen Rucksack ausleerte und Raketen auflas, die er in einem Anflug von Traditionsbewusstsein mitgenommen hatte. Die Seitentasche seines Rucksacks diente als Rampe. Er zündete die Lunte. Ein Funkenregen, ein glühender Streifen gen Himmel. Er wartete mit einer Art Begehren darauf, dass sich die rote Blüte öffnete. Hilfe, ich bin Norweger! Ich bin allein inmitten der Einöde. Kommt und rettet mich. Aber die Flamme war blau. Er hatte in der Eile die falsche Farbe eingepackt. Egal. Joni Mitchell hätte es gemocht. Anna auch. Der blaue Stern sank einige Sekunden und erlosch. Blue, here is a song for you. In die Hirnrinde tätowiert.

Er grub sich ein. Kein Drama. Indoktrinierter Bergverstand. Das Licht erstarb. Verfluchte Batterien. Long life my ass. Aber in diesen Stunden, im Dunkeln, in einer kalten Schneehöhle, ohne zu schlafen, ohne etwas zu essen außer einem kleinen Stück Norwegen, dachte Alf in Bahnen, die er ansonsten zu vermeiden versucht hätte, Bahnen, die allzu oft an derselben Erkenntnis streiften: seiner himmelschreienden Unwissenheit. Es war, ohne dass er es erklären konnte, so, als ob er an der Kante eines Abgrunds säße, spürte einen kalten Hauch direkt aus dem Bodenlosen. Einen Atem, der ihm ein eiskaltes Gefühl auf dem Rücken bescherte. Er hatte viele Jahre versucht, Europa zu suchen, die Zivilisation zu suchen. Ein Traum von Feuer. Licht. Und so endete er hier, saß in Eis und Finsternis. Inmitten der Einöde, in einer engen Schneehöhle. Er hatte es geschafft, sich in der einfachsten Landschaft zu verlaufen, bei einer Wetterlage, die nicht außergewöhnlich schlecht war. Er war als Homo sapiens ungeeignet, sogar als Norweger. Wenn er hinauskroch und verschwand, wenn er niemals gefunden werden würde, würde man dennoch, in dieser Höhle, das Phänomen Alf Veber rekonstruieren können: ein Hohlraum in menschlicher Form, umgeben von Kälte. Er wusste nicht, was mit der Welt dort draußen geschah, ob alle Computer, Flugzeuge abstürzten, die Kraftwerke zusammenbrachen, die Ampeln sich abschalteten, doch für ihn stoppte die Zeit um 00.00.00. In Alf selbst war alles auf null gestellt.

Als es dämmerte, kroch er hinaus und blinzelte neugierig um sich. Nur um zusammenzuschrecken. Ein kalter Hauch. Dieses Mal von etwas Realem. Er befand sich zehn Meter von einem Abhang entfernt. Oder jedenfalls von einer gefährlichen steilen Böschung, die nach Bygdin hinunterführte. Peer Gynts Ritt auf einem Bock, nur ohne Wasser. Eine Lektion in Sachen Lebenslüge. Er befand sich um einiges nördlicher, als er gedacht hatte. Musste nach links abgekommen sein, was oft geschieht, wenn man nichts sieht. Mit einem eigenartigen Zittern im Körper, ein Gefühl, das an Raserei erinnerte, schnallte er seine Skier an und ging so schnell er konnte in die entgegengesetzte Richtung, bis er einen Punkt erreichte, an dem die Landschaft abzufallen begann und er zurück nach Eidsbugarden und zur Hütte fahren konnte. Das Leiterspiel der Kindheit. Das schreckliche Gefühl, kurz vor dem Ziel, wenn der Würfel so fiel, dass die Figur die unendlich lange Treppe hinuntergleiten und von Neuem beginnen musste. Alf Veber befand sich inmitten einer Talfahrt, auf dem Weg hinunter von einem Gipfel, den er nie erreicht hatte. Zurück zum Start. Er empfand keine Enttäuschung. Die Abfahrt war eine neue Möglichkeit.

Am Neujahrstag lag Alf zu Hause in Oslo auf seinem Sofa, mit dem Blick starr an die Decke, auf eine Landkarte bestehend aus einem einzigen quälenden weißen Feld. Dann fasste er einen Entschluss. Er gab seinen Job auf und verkaufte all seine Aktien. Sie standen hoch im Kurs. Viel höher als das letzte Mal, als er nachgesehen hatte. Auf seinem Konto lag ein Betrag, von dem er fürstlich leben könnte, bis er hundert sein würde. Aber im Gegensatz zu dem, was die meisten gefühlt hätten, schämte er sich für diesen Gewinn. Das Kapital, das er investiert hatte, hatte sich nun unmoralisch vervielfacht. Welche Art von Gesellschaft ließ solche Dinge geschehen?

Die Reaktion war spontan, nichts, mit dem er sein Gewissen erleichtern wollte. Er entschied sich jedenfalls, zwei Millionen seines neuen Vermögens zu spenden. Oder genauer gesagt: Er wollte sie in die Zukunft investieren. Alf kaufte zweihundert Serien des Lexikons StoreNorske und traf eine Abmachung mit dem Verlag: Jede einzelne Serie sollte man an jene Adresse senden, die er angab. Alf wollte diese kostbaren Lexika verschenken, aber nicht an jeden Beliebigen. Jedenfalls nicht Norwegern, die diese gegen Kochbücher tauschen würden, sobald er ihnen den Rücken zukehrte. Aufgrund einer Schulaufgabe wollte er das Prachtwerk im Unbekannten Norwegen platzieren. Das Store Norske in Kleinasien.

In den darauffolgenden Wochen arbeitete Alf ganztags daran, Erst- oder Zweitgenerationseinwanderer, speziell aus Pakistan und vor allem Frauen, zu finden, damit diese eine Serie des 16-bändigen Prachtlexikons entgegennehmen konnten. Er wollte einen Beitrag zum Wachstum seiner nun hundertjährigen Nation leisten. Und er scheute keine Mittel, zog sogar persönlich durch die Straßen von Tøyen und Grønland in Oslo, Entschuldigung, Frau, stoppte Erwachsene mit offenkundigem Migrationshintergrund, nötigte sie, zeigte ihnen eine Broschüre dieses wertvollen Nachschlagewerkes. Eine Art heimlicher Vertrieb, von den alten Enzyklopädisten inspiriert. Fridtjof Nansen ging mit Skiern über Grönland, Alf Veber verteilte Lexika in Grønland. Er war ein neuer Hans Egede, Grönlands Apostel. Missionierte für eine bald ausgestorbene Religion, einen Glauben, dessen heilige Schrift aus dicken lexikalischen Bänden bestand. Nachdem was Alf erfahren hatte, standen sie sonst ungeöffnet in Tausenden Haushalten umher. Genauso wie Bibeln. Vielleicht konnten diese neuen Norweger das Wissen auf eine Weise nutzen, zu dem die eingeborene Bevölkerung nicht fähig war. Und die Welt bleibt jung! Was, wenn aus einem der Empfänger sogar ein neuer Spinoza wurde – Spinoza kam doch aus einer Familie, die in die Niederlande eingewandert war – und genauso viel Ehre für ein zerklüftetes Bergland errang, wie der große Philosoph einer tief gelegenen südlicheren Region gebracht hatte. Aber sosehr sich Alf bemühte, lächelte, argumentierte – wirf einen Blick auf den fabelhaften Beitrag zum Element Karbon! –, schaffte er es nicht, alle Serien an den Mann zu bringen. Die Menschen waren, verständlich genug, skeptisch gegenüber jemandem, der prunkvolle Nachschlagewerke verschenkte. Da musste es einen Haken geben. Verpflichtungen. Auf der anderen Seite konnte man auch sagen: Dank Alf Veber erhielten plötzlich mehr als einhundertsechzig Familien, die meisten in Tøyen und Grønland, Zugang zu einem Qualitätslexikon innerhalb der eigenen vier Wände. Alf gefiel der Gedanke. Der Koran und Store Norske im selben Regal. Verbunden mit der Philosophie von Akbars Hof.

Trotzdem lockerte die Schwermut ihren Griff nicht und sie erreichte eines Morgens Anfang März den Tiefstand. Er stand barfuß am Schlafzimmerfenster. Draußen war es noch dunkel, aber er konnte die Schweizer Berge auf Augenhöhe erkennen. Ließ er seinen Blick schweifen, entdeckte er Paris, dann den Kanal, sah Londons rote Felder weiter links. In letzter Zeit hatten sich seine Augen oft nach London verirrt. Der Gedanke an Anna. Er hatte die Rollgardinen als Geschenk von Kollegen bekommen, damals, als sie unnachgiebig an euroway gearbeitet hatten, eine Karte von Europa zwischen sich und den Nächten. Die Finger zogen am untersten Knoten an. Er hatte es immer wertgeschätzt, seit er klein war und sein Vater ihn geweckt hatte, den Tag enthüllte, indem er die Rollgardinen hochzog. Mit dem hereinströmenden Licht, einer plötzlichen Aussicht erwachen. Der Duft des Frühstücks. Alles unkompliziert. Die Welt dort draußen, Johanne, die wartete.

Er zog daran, doch nichts geschah. Er zog noch einmal. Etwas war seltsam. Er zerrte daran, dass der ganze Kram hinunterfiel, Europa in einem Knäuel auf dem Boden. Alles falsch. Alles verquer. Ein Impuls zwang ihn, das Fenster einzuschlagen. Die Hand stoppte nur Zentimeter davor. Begann es sich jetzt aufzulösen? Draußen war alles trostlos grau. Als er hinuntersah, blinkte es im Londoner Feld wie von einem roten Juwel. Ein Funke. Der verschwundene Diamant. Anna.

Eine Woche später saß er mitten in der Nacht hinter dem Steuer eines Ford Transits auf dem Weg hinauf zum Holmenkollen. Die Kisten lagen wie Leca-Blöcke im Laderaum geschlichtet, in einer Ecke standen zwei Kanister mit Benzin. Wenn man es nicht besser gewusst hätte, hätte man denken können, er plane einen Terroranschlag. Er glaubte das beinahe selbst. In der Verlängerung der Strecke stand der Tryvannstårnet, dieser bedeutende Fernsehturm.

Stattdessen bog er links ab, nachdem er die Sprungschanze passiert hatte, folgte dem kleinen und verschlungenen Voksenkollveien, bis er den Kragstøtten erreichte, einen kleinen Platz, der ihm auch ermöglichte, seinen großen Lieferwagen zu parken. Eine neue Aussicht. Aber er kam nicht, um den Ausblick auf eine funkelnde Stadt zu genießen. Er begann die Kisten herauszuhieven, die sechsunddreißig Serien der Store Norske, die er nicht an den Mann gebracht hatte, annähernd bestimmt einhundertvierundvierzig Kisten zu je vier Bänden. Kompaktes Wissen. Norwegische Konserve höchster Güte. Er stapelte sie so, dass sie zwei Säulen bildeten, eine Grundfläche mit sechs Kisten und elf in die Höhe. Bald musste er eine Trittleiter verwenden. Zum Schluss legte er vier dicke Planken auf die Spitzen, von der einen Säule zur anderen. Auf diese legte er zwei Lagen mit Kisten, sechs für jede. Er kletterte mit den Benzinkanistern hinauf und tränkte das Portal von Bücherkisten mit der stark riechenden Flüssigkeit.

Die Uhr zeigte nach drei. Er geriet in die Wolfsstunde, jene Zeit der Nacht, in der bekanntermaßen die meisten Menschen starben. Vor vielen Jahren war er am selben Punkt angelangt. Auch damals in der Wolfsstunde. Es war die Nacht gewesen, in der er erloschen, die Glut verschwunden war. Er musste wieder ein Feuer entfachen. Fiat lux. Zurückfinden zu dem, der er einst gewesen war, ein besseres Ich als jenes, das ihn jetzt beherrschte.

Er warf ein Streichholz auf die Bücherkisten. Was sagte Marlowes Faust am Ende? I’ll burn my books! War das nicht etwas Ähnliches? Ein lehrreiches Schicksal. In Sekundenschnelle stand alles in hellen Flammen. Endlich. Wissen, das einen Brand verursachte. Die gegenwärtige Aufklärung leistete in der Regel nichts. Vollkommen ungefährlich. Eine Million Fakten, keine Weisheit. Er starrte in den mächtigen Scheiterhaufen, die Flammen schienen blauer als sonst, ein Zeichen hoher Temperatur, hoher Energie im Material, das verzehrt wurde. Der große Brand von London. 1666. Eine Katastrophe. Dennoch schuf er die Basis für das Talent Christopher Wrens, den Architekten. Ist das die Voraussetzung für jede Epoche der Aufklärung – dass Altes verbrennen muss? Ein seltener Anblick. Bestimmt vom Osloer Zentrum und von der Umgebung um Bogstad aus sichtbar. Was glaubten jene Menschen, die wach waren? Dass jemand versuchte, die Tradition der Kriegsposten wiederzubeleben?

Einen kurzen Moment konnte er das Ganze von außen betrachten. Eine Wahnsinnstat. Was fehlte ihm? Woher dieses ewige Schwanken zwischen Extremen? Im einen Augenblick verschenken, im anderen verbrennen?

Er verurteilte seinen Hang zur Übertreibung, schritt aber dennoch zögerlich zum Portal, das jetzt lichterloh brannte, mit dem von Flammen versperrten Durchgang. Unser Feuer soll in Norwegen am stärksten lodern. Wagte er hindurchzugehen? Das wahre Norwegenportal.

Beinahe sechshundert Bände in hellem Lichte vor ihm. Ein Inferno. Das Store Norske in eine Faktenhölle verwandelt. Die Hitze wurde schnell unerträglich. Er zielte dorthin, wo er wusste, dass der Durchgang war, ein Tor, setzte an, sprang, warf sich hindurch, fire walk with me, ein Klaps von einem glutheißen Handtuch, bevor er auf der anderen Seite landete, sich abrollte. Der Geruch nach Verbranntem. Verbrannte Haare, verbrannte Brauen, verbrannte Wimpern. Aber ein neuer Blick. Er war ein anderer. Es bestand kein Zweifel: Er war ein anderer. Und dieser Mensch, der Alf I. Veber war, der aber dennoch ein anderer war, beschloss, sofort nach London zu reisen. Er konnte immer noch mit alldem, was er wusste, etwas erschaffen. Er benötigte nur eine Partnerin. Er benötigte Anna. Irgendwie war es, als wäre er durch ein Portal gesprungen und hätte sich mit einem Mal in London befunden. Man geht in Oslo hinein, hinein in ein brennendes Tor, und kommt in London heraus.

Alf stand auf einem orientalischen Teppich in der Residenz des norwegischen Botschafters in London. Er wartete auf eine Frau, eine Frau, auf die er sein halbes Leben gewartet hatte. Einen Augenblick lang sorgte er sich wegen der sowohl unvorhersehbaren als auch ereignisreichen Vorfälle des letzten Monats. War alles gefährlich schnell in Schwung gekommen? Er drehte den Stiel des Glases zwischen den Fingern, während er dem Stimmengewirr um ihn herum lauschte. Wird es sich nun aufzulösen beginnen? Er schob es von sich, stellte die Füße ein wenig auseinander. Im Seemannsgang. Klar für eine steife Brise. Danke, gerne. Er tauschte ein leeres Glas Weißwein gegen ein volles. Das vierte. Fünfte? Abend, April. Jahr nullnull. Ein vollkommen neues Jahrtausend. Die Möglichkeiten wie ein roter Teppichläufer vor ihm. Die Kamine brannten sowohl hier als auch draußen in der Halle. Alles, was fehlte, war eine Prinzessin, eine schlagfertige Frau, die mit der Wärme ihres Gluthügels provozieren konnte. Siebzig, achtzig Menschen standen in dem gelben Salon um ihn herum. Die meisten herausgeputzt, nicht aufgedonnert, aber herausgeputzt. Nur er war in einem informellen Jackett und ohne Schlips gekommen, Hemdkragen offen. Er nippte an seinem Glas. Trank unabsichtlich die Hälfte des Inhalts. Kannte niemanden. Outsider. The Man Who Fell to Earth. Guten Abend, Alf Veber, Diamantschleifer vom Jupiter. Er hatte gerade den Botschafter bei der Ankunft begrüßt. Integrer Typ. Professionell, mit Spuren einer Million Handabdrücke. Seine Ehefrau ebenso. Ein behagliches Wesen. Meinte es nur gut. Alf hatte auch Mikael zugenickt, den er in einer Gruppe entdeckt hatte. Elegant, Savile Row, das Schuhleder glänzte wie poliertes Mahagoni. Alf hob ein Glas: Rule, Britannia, sagte er. Mikael hob ein Kanapee in Richtung Alf: Vive la France!

Die alten Gegensätze. Das Paradoxon, Mikael, der immer nach Paris wollte, aber hier in London gelandet war, nach mehreren Stationen innerhalb des weit gestreckten britischen Imperiums.

Wo steckte Anna?

Alf war erwartungsvoll gewesen, als er das letzte Stück über das Palace Green geschlendert war, hatte unabsichtlich »You Really Got Me« gesummt, The Kinks, eine Glücksmelodie, ein Durchgang zu den schönsten Stunden seines Lebens, ein Sound, der Anna an die Oberfläche seines Bewusstseins spülte. Auch nervös, selbstverständlich. Er war irritierend angespannt, als er sich der Residenz des Botschafters näherte, ein edwardianisches Herrschaftshaus mit historischem Rauschen. Die norwegische Regierung hatte während des Zweiten Weltkriegs hier ihren Sitz. Schon als er durch die schmiedeeiserne Pforte schritt, ahnte Alf, dass er einer entscheidenden Wendung gegenüberstand, dass er eine Ansprache halten sollte, wie König Haakon es in jenen schweren Tagen getan hatte. Dreißigjähriger Krieg.Habe nie auf diesen Flickenteppich stupider Konflikte Wert gelegt. Überdenken? Der Krieg als Industrie. Gewaltausübung als Normalzustand. Muss mich eventuell an ein Fragment aus diesem komplizierten Chaos klammern, etwas, das den Wahnwitz veranschaulicht. (Irgendetwas von der Schlacht bei Breitenfeld, 1631? Oder eine von Jacques Callots Radierungen?) Sich kreuzende Heuschreckenschwärme, die alle tot auf dem Boden liegen. Der schlimmste Krieg? Das 17. Jahrhundert in einer Nussschale. Eine einzige Hurra dröhnende Übertreibung.

Er nickte Leuten zu, die glaubten, ihn zu kennen. Die Kunst, ein Glas zu heben und nichts zu sagen. Oder zu sprechen, ohne etwas zu sagen. Er hatte angenommen, dass es so sein würde, war aber trotzdem über seine eigene Umgänglichkeit überrascht. Vielleicht weil er aufgeregt war. Zielgerichtet erwartungsvoll. Meinungen abgefeuert, sobald er die Chance dazu bekam. Nicht übel das Ganze. Er wurde von Gesprächen umgarnt, die ihn interessierten. Der Dorschbestand. Die schönsten Wanderungen im Lake District. Die neuesten Verschwörungstheorien über Dianas Tod. Englischer Fußball. Frag mich. Ich kann dir alle Torhüter der 60er-Jahre aufzählen. Der Empfang galt allerdings einem norwegischen Schriftsteller, einem jener nicht wirklich herausragenden Romanautoren, die schließlich, auf nicht nachvollziehbaren Wegen, eine englische Übersetzung eines nicht wirklich herausragenden Buches erreicht hatten, eine Begebenheit, die man mit einer Veranstaltung unter der Regie der Botschaft zu feiern für angebracht hielt, auch weil es als weiteres Glied in der hoch priorisierten Arbeit betrachtet werden konnte, die man Profilschärfung Norwegens nannte. Er sagte wirklich Profilschärfung. Ein Versuch, das Interesse auf die norwegische Talentlosigkeit zu lenken. Man hatte auf die Pauke gehauen, eine Pressemeldung mit Adjektiven, eines Nobelpreiskandidaten würdig, ausgesandt, alles, was kriechen konnte und für potenziell interessiert im kulturellen britischen Leben galt: Journalisten und Redakteure wichtiger Zeitungen und Zeitschriften, Menschen vom Fernsehen, Einkaufsleiter von Buchhandlungsketten, Bibliothekare, Akademiker. Alf hörte niemanden um sich herum über Literatur reden. Verständlich genug. Ja, danke, ich nehme gerne noch ein Kanapee. Vorzügliche Rohstoffe. Man konnte sagen, der Dreißigjährige Krieg des 20. Jahrhunderts dauerte dreißig Sekunden. Nagasaki und Hiroshima.

Der Botschafter hatte getan, was er konnte. Über seine Fähigkeiten hinaus. Alf war in der Tat stolz auf die Vertretung der Nation, als der Wirt eine kurze, aber charmante Begrüßungsrede hielt, in die er routiniert eine Geschichte des Hauses einflocht, in dem man sich befand, über die Bilder an der Wand, sogar ein kleiner Gude, und dann der englische Verlag seine erwartete Reklame nachreichte, oder den kommerziellen Köder, der aus dem außergewöhnlichen Verdienst dieses norwegischen Autors und den wundervollen Qualitäten dieses Romans im Besonderen bestand, sie zitierten sogar den Klappentext, für den zu schreiben sie einen renommierten englischen Schriftsteller – Gott weiß wie – überlistet hatten. Sie hätten da aufhören sollen, aber der norwegische Autor musste selbstverständlich unter dem Kronleuchter aus Hadeland hervortreten und das Ganze zerstören, indem er etwas hoffnungslos Weitläufiges von sich gab, und das in einem beschämend schlechten Englisch. Peinlich, peinlich, peinlich. Alf musste den Ekel mit ein paar zusätzlichen Gläsern Weißwein hinunterspülen. Die norwegischen Gäste grinsten begeistert; die englischen verhielten sich höflich lauschend oder eher ironisch abwartend. Sie werden das Buch vielleicht erst lesen, bevor sie sich begeistern lassen.

Danach löste sich die Versammlung wieder in sich unterhaltende Gruppen auf. Der Autor zirkulierte, wurde in Ost und West präsentiert, während er untertänig auf den Boden starrte, wenn Leute von seinem Roman mit falschem Titel sprachen. Alf fühlte sich in immer besserer Verfassung. Wie beim jugendlichen Vorglühen, der Gedanke an Frauen, die Aussicht auf das, was später geschehen würde. Guten Abend, Alf Veber, Barockforscher und Vorsitzender des Vereins zum Schutz der Bäume. Er verteilte schneidige Repliken auf seinem Rundgang durch den Salon. Ja scheiße noch mal, ist Prinz Charles’ Auffassung von Architektur ein Skandal, verzeihen Sie mir meine gegenteilige Meinung, aber ist es möglich, schlecht über Tony Blair zu sprechen, nachdem man elf Jahre mit Margaret Thatcher gelebt hat? Nein, wissen Sie was, Oasis und Blur mit den Stones und den Beatles zu vergleichen, ist wie Mäuse mit Dinosauriern zu vergleichen. Gleichzeitig versorgte er sich unverschämt oft mit Kanapees von Silbertabletts, die zwischen den Gruppen hin und her schwebten, von eifrigen asiatischen Kellnern getragen, die es als ihre Aufgabe betrachteten, die Häppchen mit Lachs und Garnelen so schnell wie möglich loszuwerden. Die wenigen Ansätze zu Wortwechsel über Literatur waren nach der Rede zur Gänze verstummt. Gott sei Dank. Er hatte von der norwegischen Dichtkunst keine Ahnung, kannte niemanden der mediengeilen Gegenwartsautoren, sie sahen in seinen Augen nahezu identisch aus. Anna hingegen. Wo war sie? Er spähte umher, während er immer gewandter an Gesprächen über neue Restaurants, TV-Programme, Ausstellungen, Reisen teilnahm. Ja, ich habe vom Asia de Cuba gehört, ich möchte das Crossover-Essen dort probieren. Tate Modern könnte spannend werden, eröffnet im Mai, richtig? Smack the Pony sind die Krönung, mitunter der beste Humor, den ich gesehen habe, besonders die eine Blondine ist eine Fülle an Dimensionen. Da stimme ich zu, Tasmanien wird als Reiseziel unterschätzt. Er war plötzlich ein gottbegnadeter Konversationskünstler auf Wanderschaft über den gigantischen Teppich in dem gelben Saal. Erkannte beinahe sein eigenes glühendes Gesicht im Spiegel, der über dem Kamin hing, nicht wieder. Weil er so lange allein gewesen war, ohne soziales Leben? Oder weil er sich freute, Anna zu treffen? Anna mit ihrer heiseren Stimme? Anna mit ihren Grace-Kelly-Augen. Aber Anna war nirgendwo zu sehen.

Man begann, Drinks zu servieren. Alf nahm sich etwas. Herrje, stärkeres Zeug. Er stellte sich zum Flügel, eine Rettungsflotte im Falle hoher See. Nein, wir haben uns nicht begrüßt. Alf Veber, Archäologe mit Delphi als Forschungsgebiet. Frag mich und du erhältst einen Orakelspruch als Antwort. Er wurde die Nervosität nicht los, sprach mit Essen im Mund, frittierten Scampi, Fleischbällchen mit passendem Dip. Die Tabletts flogen aufgrund der kurzgewachsenen Kellner vor seinen Augen hin und her. Römer mit Schild über dem Kopf. Er schüttete mehrere Drinks in sich hinein, viel zu schnell. Danke Gott für Plymouth Gin. Er stand inmitten des Geräuschpegels, hörte sich selbst reden – laberte er etwas von Kricket? –, fühlte sich immer mehr außerhalb des Geschehens. Das Glas wog plötzlich mehrere Kilo, die Schuhe drückten ihn wie Folterinstrumente, all dieses unnötige Geschwätz verursachte Schmerzen in seinem Kiefer.

Dann – der ganze Körper signalisierte es. I feel the earth move under my feet. Ein neues Element befand sich im Raum. Ein Barometer würde eine unerklärliche Druckveränderung anzeigen. Sein Blick suchte und fing Anna ein, direkt in der Tür. Älter. Gleichzeitig unverkennbar Anna. Wie in alten Tagen. Sie konnte vollkommen stillstehen – und gleichzeitig Unruhe in einer Versammlung hervorrufen. Drei grau gekleidete Herren eilten herbei, Motten um das Licht, bevor sie einige Meter in den Salon hineinging, schritt. Die Gestalt wurde von einem Rokokospiegel an der Wand dahinter verdoppelt. Welch Anwesenheit. Ein Filmstar, eine Präsidentin. Niemand anderer hatte diese Eigenschaft, nicht einmal der Botschafter. Alf sollte nichts tun. Nur ruhig stehen bleiben. Eine Hand am Flügel. Sich festhalten. Sie würde ihn bemerken müssen. Mit einem Mal. Anna bewunderte Marguerite Duras, eine Schriftstellerin, die darüber schrieb, wie ein einziger Augenblick alles verändern konnte. Und über den Mut, den Willen, den man bei allen wiederfindet, die einer aufzehrenden Passion nachgehen. Ich brauche nur hier zu stehen, beständig wie eine korinthische Säule, das Herz schlagen lassen, und alles wird getan werden.

Es dauerte lange, länger, als er gehofft hatte. Der Raum wogte ein wenig. I’m so tired, tired of waiting. Dann bemerkte sie etwas. Ihre Augen trafen die seinen. Derselbe Blick. Ein Blick, als wüsste sie, dass man etwas Verrücktes getan hat, und darauf wartete, dass man es jetzt erzählen wird. Sie sprach etwas Entschuldigendes zu den Herren in Grau, begann langsam in seine Richtung zu gehen. Er ließ den Flügel los, legte diskret ein halb verspeistes Fleischbällchen auf einen der Tische im Empirestil vor sich ab, ein wenig zu hektisch, begann sich in ihre Richtung zu manövrieren. Es war belebt und er stieß kräftig gegen die Schulter einer vierschrötigen Frau, die ihm einen grimmigen Blick zuwarf. Hör auf zu jammern, Zicke. Er war auf dem Weg zu Anna. Hatte vergessen, dass Treffen mit Frauen eine brutale Angelegenheit sein konnten.

Himmelfahrt

Alf Veber betrachtete sich selbst als einen Menschen mit ernsthaften Mängeln. Das lag an vielen Dingen, aber auch an einem Mädchen. In seinem Leben tauchte sie eines Tages in den frühen 1960ern auf, als er an der Startlinie in seiner schlanken Caravelle III saß. Alf wusste nicht, warum er seine Fahrzeuge nach Flugzeugmodellen benannte – vielleicht weil die Konstruktion ein Kettenglied in jener Arbeit war, einen größeren und luftigeren Traum zu verwirklichen. Jetzt saß er allein mitten auf der Straße, niemand anderer wagte es, sich dafür zu melden. Er begnügte sich mit einem Rekordversuch.

Alf war gegenüber der Vorstellung einer »ersten Erinnerung« skeptisch, er war geneigt zu denken, dass solche Dinge im Nachhinein konstruiert wurden, weil man etwas Geeignetes benötigte, um es seinem Psychologen zu erzählen – oder vielleicht besser: seinen Kindern. Als Kind hatte er trotzdem behauptet, dass er eine deutliche Erinnerung an jene Jahre gehabt hatte, an die man sich normalerweise nicht erinnern kann. Er hatte in einem Kinderwagen gesessen und die Leine eines roten Ballons gehalten. Der war groß und glatt und erfüllte ihn mit Aufregung. Wahrscheinlich stand auf ihm auch etwas geschrieben, Zeichen fern seiner Auffassungsgabe. Er erinnerte sich nur an den Bindfaden um den Finger, an die Verbindung zu der schwebenden roten Kugel.

Begann es bereits hier? Eine Sehnsucht nach fernen Planeten?

Alf hatte frühzeitig einen luftigen, wenn auch erdgebundeneren Traum. Er liebte es, auf Bäume zu klettern. Mehr als alles andere. Insbesondere hohe Laubbäume zogen seine Aufmerksamkeit auf sich. Es war etwas mit der Aussicht, dem Wind, der Rinde an der Handfläche, den Gerüchen, die sich veränderten, je höher er hinaufstieg. Für Alf waren alle Bäume aus der Familie der Boswellia sacra. Diese wuchsen im Oman und man gewann daraus Gummiharz, das Rohmaterial für den ursprünglichen Weihrauch, eines der Geschenke, die dem Kind in Bethlehem überreicht worden waren. Und wenn er auf dem Baum saß, nicht ganz oben, sondern so gut es ging in der Mitte, mit dem Rücken gegen den Stamm in einer kräftigen Astgabel, wurde er immer von dem Wunsch ergriffen, hier wohnen zu können, im Sonnenglanz, von beweglichen grünen Medaillons umgeben. Er atmete nie leichter als auf einem Baum. Die Lunge bekam Unterstützung von einer viel größeren Lunge. Alf sollte später von einer jungen Frau im nördlichen Kalifornien lesen, die zwei Jahre lang hoch oben in einem gigantischen Riesenmammutbaum gelebt und ihr Leben riskiert hatte, um zu verhindern, dass er gefällt wird. Er hätte das auch machen können. Als Kind war dies sein größter unternehmerischer Traum: die denkbar prächtigste Hütte auf einem mächtigen Baum zu bauen. Er zeichnete oft Entwürfe, wie das Gebäude aussehen sollte. Es veränderte sich ständig, aber alle Skizzen hatten einen gemeinsamen Nenner: Die Hütte sollte aus vielen unterschiedlichen Materialien gebaut sein.

Er begann inzwischen mit etwas Einfacherem, trotzdem in einem größeren Maßstab als ein Kinderspielzeug. Matchbox-Autos bescherten Alf ein klaustrophobisches Gefühl, nicht einmal die Corgi-Spielzeugautos genügten. Er hatte nie einen Sinn für Basteleien gehabt, hatte mit Verwunderung auf den eineinhalb Jahre jüngeren Bruder geblickt, der sämtliche Ersparnisse für Bausets ausgab; er hatte die gesamte englische und deutsche Flotte aus dem Zweiten Weltkrieg im Regal vom Stapel gelassen, brach mit weit geöffneten Augen Kunststoffteile herunter, bevor er die komplizierte Bauanleitung zurate zog, und klebte die Teile mit der Genauigkeit eines Goldschmieds zusammen, die Zunge hing dabei aus dem Mundwinkel. Alf wurde schwindelig, wenn er die Filigranarbeit betrachtete. Er konnte sich nicht vorstellen, warum sich der Bruder Meccano und Lego zu Weihnachten oder zum Geburtstag wünschte. Erst als Alf die Brottrommel auf zwei Hocker stellte, begann die Einbildungskraft zu arbeiten. Er stand während des Lofotenfischfangs bei steifer Brise auf einem Kutter im Vestfjord; das Schleppnetz war voll glänzender Heringe und das Boot neigte sich bedrohlich. Alfs Fantasie strebte nach größeren Dingen, echten Bauklötzen und Balken. Also begann er mit einer Seifenkiste, mit Autorennen, bei denen die Jungen in Alunåsen miteinander konkurrierten. Damals war auch die Rallye Monte Carlo in aller Munde, nicht zuletzt, seit Norweger sie mehrmals gewonnen hatten.

Zu allem Glück war gleich nebenan eine Müllhalde, und keine der stinkenden, dampfenden Sorte. Alf fand es nie heraus, aber Laster aus der Stadt kamen dorthin, um Fuhre um Fuhre an Dingen abzuladen, vermutlich von Bürohäusern, Wohnungen und Büros, die im Zentrum abgerissen wurden. Für die Erwachsenen war das ein Chaos unbrauchbaren Schrotts. Für Alf bedeutete dies Möglichkeiten, Teile, die zu etwas Neuem zusammengesetzt werden konnten, zum Beispiel zu einem Spielzeugauto imponierenden Ausmaßes.

Es muss gesagt werden: Alfs Seifenkisten waren eine Augenweide. Sie trugen Namen wie Spitfire II und Boing IV und bestanden aus so vielen und befremdlichen Elementen, dass sie den Anschein bekamen, eine rollende Erfindung zu sein. Auch wenn sie unterschiedlich aussahen, war die Basis immer dieselbe: Eine große und eine kleinere Platte auf einer breiten Planke befestigt, Kinderwagenräder, ein durchgehender Bolzen, sodass die Vorderplatte mithilfe einer Steuerplanke schwingen konnte. Darüber hinaus hatte Alf alles in Verwendung, was er auf dem Schrottplatz fand. Kunststoffrohre, der Länge nach geteilt, konnten als Stoßstangen dienen, ein Metall- wurde zum Nummernschild und er nagelte Teile von Kisten einer Molkerei auf die Seiten, als würde er nicht von Zigarettenmarken, die auf Rennwagen zu sehen waren, sondern von etwas Gesundem gesponsert. Manches hatte den Zweck von Hupen oder Schellen, aber das meiste war reiner Schmuck, Knöpfe, die er auf weggeworfenen Radioapparaten gefunden hatte, das Innenleben zweier Lautsprecher, eine Angelwinde ohne Sehne, Lampen und Blinklichter, die trotz der Motorradbatterie, die auf die Vorderplatte gebunden war, nicht funktionierten. Das Lenkrad konnte ein großer Deckel sein oder von einem Schlitten stammen. Es gefiel ihm, dass das Fahrzeug aus so unterschiedlichen Fragmenten bestand, dass die Teile sozusagen verschiedenen Geschichten angehörten. Aus der Distanz gesehen, konnte das alles Mögliche sein. Etwas, das in der Luft navigieren konnte, auf dem Land, zu Wasser. Alf ereilte ein starkes Wiedererkennungsgefühl, als er später von dem Fahrzeug in Jules Vernes Roman Der Herr der Welt las. Der Versuch einer norwegischen Automobilindustrie wäre nicht so missglückt, hätte es in den 1950ern Erwachsene mit Alfs Designtalent gegeben.

In seinem letzten Kistenmodell saß Alf, beinahe 10 Jahre alt, an der Startlinie. An der Seite standen der Bruder und Syver Karma sowie die übliche Schar schaulustiger Kleinkinder. In der Welt der Seifenkisten war die Bahn ein langer, leicht abfallender und kurviger Hügel, eine kaum befahrene Straße vom obersten Punkt in Alunåsen bis hinunter zur Ebene, wo die Hauptstraße weiter nach Ammerud führte. Alf hatte nur selten ernsthafte Konkurrenz, meistens fuhr er lediglich, um seinen eigenen Rekord zu verbessern. Wie an diesem Mittwoch vor Christi Himmelfahrt – einige Stunden zuvor hatte Alf in der Schule Schelte bekommen, weil er eine Zeichnung von Jesus abgab, in der dieser auf dem Weg nach oben auf Sputnik ritt. Der Bruder besorgte die Zeitmessung mit einer Stoppuhr; sie konnten den Punkt sehen, an dem der Hügel auf die Hauptstraße traf, und man bremste, indem man auf der Ebene ausrollte.

Aber noch jemand musste von dem Rekordversuch Wind bekommen haben, denn plötzlich kam ein Unbekannter, der eine Seifenkiste ganz anderer Art als Alfs hinter sich herzog. Sie war von allem befreit, abgesehen von dem tatsächlich Notwendigen. Ein Kunsthistoriker würde dies mit den Worten funktionalistisch oder minimalistisch beschreiben. Und mindestens genauso verwirrend: Der unbekannte Konkurrent war ein Mädchen. In Alfs Augen hatte sie viel zu große Hosen, überhaupt viel zu große Kleidung an – falls sie nicht einfach zu dünn war. Und sie trat mit einem Sturzhelm aus Leder an, einen, den Springer benutzten oder Piloten in alten Kriegsfilmen auf dem Kopf hatten, als man noch in offenen Cockpits saß. Ihr Fahrzeug machte auch einen luftigen Eindruck, besonders aufgrund der großen, dünnen Reifen. Sie richtete einen prüfenden Blick auf Alf, der wiederum dem Bruder anordnete, die Räder erneut zu ölen. Danach studierte sie mit offensichtlicher Skepsis den ganzen Krimskrams an Alfs Caravelle III, das Wirrwarr aus Kupferkabeln, kleinen Nägeln, Wimpeln, blank geputzten Messing- und Kupferstücken, Dinge, die nur Dekor sein sollten, eine Augenweide. Das kann gefährlich werden, dachte er sofort. Er meinte nicht, dass niemand von ihnen Bremsen hatte – was sollte man mit Bremsen –, aber dass er verlieren könnte. Und das gegen ein Mädchen.

Alf konnte unmöglich verlieren. Er nahm sein eigenes Auto in Augenschein. Der Stolz war das Tempo-Zeichen, an der Front befestigt, ein Zeichen, das von einem richtigen Moped stammte und sowohl die großartige Zeichentrickserie, die bald herauskommen sollte, genannt Tempo, mit dem Rennfahrer Mark Breton in einer der Hauptrollen, als auch ein Fahrzeug von noch aufsehenerregenderem Charakter als Alfs, nämlich Il Tempo Gigante, vorwegnahm. Der Startschuss fiel – Syver Karma hatte eine Schreckschusspistole mitgenommen – und beide erhielten einen kräftigen Stoß von hinten. Alf saß auf einem Kissen mit einem prächtigen Brokatbezug, der nur durch ein paar Flecken verunstaltet war. Auch dieses stammte von der Müllhalde, passte perfekt in den Fahrersitz. Alf fühlte sich majestätisch und unbesiegbar. Er war der König von Alunåsen, der Favorit in jeder lokalen Rallye Monte Carlo.

Aber es war ausgeglichen. Unvorstellbar ausgeglichen. Sie fuhren nebeneinander bergab. Er schielte auf die Fahrerin im zweiten Wagen, als sie aus der Kurve brausten. Woher kam sie? Sie wirkte verbissen, konzentriert, steuerte die Vorderplatte mit einem Tau auf dieselbe Weise, wie man ein Pferd mit Zügeln steuerte. Sie schoss knapp vor ihm eine gerade Strecke hinunter, aber er holte sie ein, indem er eine bessere Bahn in der Kurve wählte. Das dumme Mädchen war ja neu, zum Teufel, konnte unmöglich gewinnen. Er kannte diesen Hügel, jede Erhebung, jede anspruchsvolle Kurve, hatte zudem noch das verwegenste Auto. Ein kurzer Blick auf das Armaturenbrett auf der Steuerplanke bestätigte das, ein alter Wecker, zwei alte Uhren und ein ausgedienter Transformator aus einem elektrischen Eisenbahnzug. Alles zur Navigation, damit er mit äußerster Präzision steuern, Bordsteinkanten streifen, Kanaldeckel umfahren, jede Kurve richtig anvisieren konnte. Hinter dem Sitz hatte er einen Staubsauger befestigt, wie eine Jetdüse, sodass der Schlauch ein Auspuffrohr imitierte. Schade war nur, dass er kein Geräusch damit erzeugen konnte; das würde eine herrliche Wirkung haben, hätte dieses freche Mädchen, das in zu großem Gewand daherkam und ihn herausforderte, vielleicht erschreckt.

Sie lagen immer noch gleichauf, auch nach den nächsten leichten Kurven. Alf hörte die anderen nach unten hetzen, wie sie mit Abkürzungen die Kurven durch Büsche und Gestrüppe schnitten, hörte die Hurra-Rufe. Dann, in der untersten Kurve, kam das Rad des fremden Mädchens mit Alfs Rad in Kontakt. Er wusste nicht, ob das Absicht gewesen war, aber er hörte ein schneidendes und knirschendes Geräusch wie von zwei Zahnrädern, die in keiner Weise zusammenpassten, zwei Welten, die sich nicht zusammenführen ließen. Vera, viel älter als er, hatte gerade Ben Hur gesehen und Alf erinnerte sich sofort an ein Detail aus der Wagenrennenszene, die sie so lebendig für ihn beschrieben hatte: ein Rad mit Messerklingen, das die Speichen der Räder der Gegner in Stücke schnitt, sodass deren Wagen grausam in die Arenawand donnerten und zu Brennholz zerbarsten.

Das Resultat für ihn war jedenfalls, dass der Wagen, dieser Armyschlitten von einer Seifenkiste, das Ergebnis wochenlangen Herumschraubens, fatal vom Weg abkam. Und weil es hier weder Bordsteinkanten noch Arenawände gab, fuhr er weiter auf einen Felsen zu, die reine Sprungschanze, sodass das Fahrzeug einige Sekunden durch die Luft in Richtung Waldrand schwebte –, Alf hatte auch den Eindruck, dass es nur aufwärts ging, dass er tatsächlich an Bord eines Caravelle-Fliegers saß –, wo er grausam gegen eine Birke krachte. Dank des Bruders, der viel über den Zweiten Weltkrieg wusste und über König Haakon und die Flucht aus Norwegen gelesen hatte, wurde der Baum für alle Ewigkeit Königsbirke getauft.

Alf fühlte sich elend. Sah abwechselnd rot, gelb, grün. Um ihn herum lagen die Einzelteile des Autos, ein Katzenauge, eine verbogene Antenne, ein Regenschirmgriff, der den Ganghebel darstellte. Das fremde Mädchen kam auf ihn zu, nachdem sie unentschlossen aus dem Fahrersitz geglitten war. Das Kissen war bei der Kollision abgefallen, lag im Heidekraut. Ein verlorenes Königreich. Eine der letzten Erinnerungen war, dass sie ihren Lederhelm abnahm. Ihre Haare. Ziemlich kurz. Borstig und rot. Aufstehende Locken. Ein Haar wie Feuer. Ihr ganzer Körper stand da und brannte. »Bist du verletzt?«, fragte sie. »Du siehst bleich aus.«

Er konnte nicht antworten. Musste sich eine Rippe gebrochen haben. Alle Rippen. Die Steuerplanke hatte ihn direkt in den Bauch getroffen. Er fühlte einen Sturzbach in sich. Ein rieselndes Gefühl. Er erbrach. Sah durch einen verschleierten Blick etwas auf dem Hang. Ein Stück Schlackwurst? Sicher ungefährlich, er hatte nur einen starken Druck gefühlt, wie der Vater sagte. Aber es fühlte sich eher an, als hätte ihn ein Truck überrollt. Da half kaum nur ein Globoid. Er schwitzte. Etwas im Bauch war anders. Das Herz schlug rasend. Schlug seinen Namen. Mehrere Male. Oder war es jemand, der seinen Namen rief?

Alles war grün. Alles war blinkend sonnengrün. Der Geruch von Bäumen. Der Geruch von Erde. Eine Welt voller Astgabeln. Und Krankenwagensirenen.

Danach rot. Alles. Rot.

Die erste Erinnerung. Er saß im Kinderwagen mit einem großen roten Ballon, der über ihm schwebte. Die rote Kugel füllte den gesamten Himmel aus. Plötzlich entglitt ihm die Schnur und der Ballon begann zu steigen. Er weinte nicht. Er war vielmehr neugierig. Aufgeregt. Der Ballon war kleiner und kleiner geworden, ein Rot, das schrumpfte, nur ein Punkt am Himmel, bevor er verschwand.

Er weinte nicht. Aber er hatte es zum ersten Mal gefühlt: Verlust.

Als er einige Stunden nach dem Unfall erwachte, war alles weiß. Er befand sich in einem weißen Bett, in einem weißen Raum, in einem weißen Krankenhaus. Mit demselben Gefühl: Verlust. Etwas war fort. Ein Arzt sprach mit den Eltern, drehte aber den Kopf, als sich Alf bewegte. »Ausgezeichnet, der Formel-1-Fahrer ist aufgewacht«, sagte er und hielt die Daumen hoch, als wäre er ein Mechaniker und wolle damit signalisieren, dass der Motor in Ordnung ist.

Der Vater lachte über Alfs erste Worte und wiederholte sie mit großer Heiterkeit am nächsten Tag in der Arbeit: »War es ein Virus?« Eigentlich hatte Alf nur vor einer Sache Angst: Viren. Das hatte seine Ursachen.

»Du hast einen Riss in der Milz gehabt«, sagte die Mutter mit Erleichterung in den Augen, als sie ans Bett kam.

Er kannte das Wort nicht. Hörte sich wie ein kleines schwarzes Tier an. Oder ein Name. Jahre später sollte er Milton mit gierigem Interesse studieren. Ein verlorenes Paradies.

»Die Milz ist geplatzt«, sagte der Vater. Als ob dies verständlicher wäre. »Sie mussten sie entfernen. In toto.« Der Vater kopierte die lateinischen Wendungen, die der Arzt verwendet hatte.

In den darauffolgenden Wochen sollte Alf oft zu hören bekommen, wie bekümmert die Eltern gewesen waren. Die Ärzte wussten nicht, was ihm fehlte, als er unter Schock auf den Operationstisch gebracht wurde und die Narkose bekam. Der Chirurg musste ihn entlang der Mittellinie öffnen, um ein möglichst großes Areal untersuchen zu können. Sie fanden bald heraus, dass die Milz nicht mehr zu retten war, und nahmen sie behutsam heraus – »so als wäre sie ein faules Ei«, wie der Arzt sich ausdrückte. Deshalb eignete sich Alf in den folgenden Jahren ein solides Wissen über die Milz an, und über den Mangel, den sein Immunsystem nun litt. Aber er hatte Glück gehabt, rechtzeitig ins Krankenhaus gekommen zu sein. Aufgrund der inneren Blutung hätte er sein Leben verlieren können.

»Man kann ohne Milz leben«, sagte der Arzt und legte eine Hand beschwichtigend auf Alfs Schulter. »Gut, dass es nicht die Seele war«, sagte er und grinste.

Aber welcher Teil der Seele saß in der Milz?, dachte Alf. Von da an sollte er sich ungeachtet dessen wie einen Menschen mit ernst zu nehmenden Mängeln betrachten. Eine Narbe vom Brustbein hinab, 25 Stiche, erinnerten ihn täglich daran. Den Rest seines Lebens lebte er mit dem Gefühl, einen Hohlraum in sich zu haben, ein klaffendes Loch. Sich nach etwas sehnen zu müssen, mit dem er es auffüllen konnte.

Wie Anna. Es war vor allem eine wie Anna, die ihm fehlte. Als er in Heathrow sechs Stunden vor dem Treffen im Palace Green ankam, nahm er eines jener schwarzen Taxis, Londons Antwort auf die Gondeln Venedigs, direkt zur Botschaft. Das heitere Gefühl war intakt, der Optimismus, den er kannte, seit er durch die Kontrolle in Gardermoen spaziert und den Blick zu den riesigen Tafeln unter dem Dach gehoben hatte, voller Schriften, die seine zahlreichen Wahlmöglichkeiten, vor denen er stand, bekräftigten. I’m leaving on a jet plane, don’t know when I’ll be back again. Im Taxi Richtung London fühlte er sich so erbaulich und sinneswach, wie wenn er, nach einer ernsten Viruserkrankung endlich gesund, wieder hinausgehen könnte. Das Taxi stoppte an einer Ecke des eleganten Belgrave Squares, ein Viereck, umgeben von gepflegten, weiß bemalten Gebäuden im klassischen Stil und einem kleinen privaten Park in der Mitte, schmalen Pfaden, auf denen die Bewohner flanierten und ihre Hunde ausführten. Von einer Fassade wehte die norwegische Fahne. Für ein paar Sekunden sah er eine Fata Morgana. Die Fahne der Romantik. Rot, gelb und grün.

Mikael traf ihn innerhalb der dicken Glastüren in der Sicherheitsschleuse und führte ihn in sein Büro im ersten Stock. Er ließ die Tür offen stehen, als würde er mit einem kurzen Besuch rechnen. Wirkte gequält, etwas machen zu müssen, das nicht seinen Job betraf. Sie wechselten einige Sätze. Wechselten war das richtige Wort. Wie trockene Währung von Hand zu Hand. Knister, knister. Alf fiel auf, dass das Büro sehr geräumig war. Geschmackvolle Einrichtung. Statusymbole. Botschaftsrat für Presse und Kultur. Die Decke war sogar wie ein kleiner Dom geformt. Ein Raum für die heiligen Rituale der Diplomatie. Dies ist eine Gilde Non Plus Ultra. Spiritus sanctus. Trink dies im Gedenken an Norwegen.

Ich hatte beinahe erwartet, einige gestohlene Skulpturen aus Angkor hier zu sehen, sagte Alf und nickte in Richtung Schreibtisch.

Sei nicht albern, sagte Mikael, jedoch zornig auf sich. Immer noch ein jugendliches Aussehen. Das lockige Haar war bloß kürzer.

Du könntest jedenfalls eine kleine Walharpune ausstellen, setzte Alf fort.

Mikael strengte sich an, die Fassade zu wahren. Punkt für dich, sagte er. Es war nicht lustig, in dieser Angelegenheit zu arbeiten. Mit den Robben auch nicht. Die Briten sehen uns immer noch als blutrünstige Barbaren.

Was ist das Problem? Das stimmt doch. Wir sind im Wesentlichen ein unzivilisiertes Land.

Wir machen auch Dinge, derer du dir bestimmt nicht bewusst bist, parierte Mikael, wies auf einen Tisch, eine Mappe. Alf nahm sie in die Hand. Der Inhalt enthüllte eine CD-Rom mitsamt Instruktionen. Etwas, das Lehrer in der Secondary School verwenden können, wenn sie Norwegen im Unterricht behandeln. Ein Erfolg, sagte Mikael, wippte selbstzufrieden in dem Bürostuhl mit hoher Rückenlehne hinter dem hellen Schreibtisch. Isn’t it good Norwegian wood. Das Hauptproblem sind nicht die Wale und die Wölfe, Sellafield oder alles dort, aber die Briten kümmern sich weder noch wissen sie etwas über unser Land.

Während Alf ein anderes Heft durchblätterte, kurz beim Kapitel »Close ties between the Royal Families« verweilte, erwähnte Mikael etwas davon, dass Alf selbstverständlich bei ihm wohnen könne. Oder sagte er das? Alf stutzte später darüber. Mir oder uns? Mikael war geschieden. Alf stellte sich Mikael mit einer neuen Freundin, einer jungen Geliebten vor. Feste Oberschenkel, schöne Fotze. Warum sagte man schöne Fotze? Vielleicht meinte man muskulöse Fotze. Ungebrauchte Fotze. Der Mensch als Sklave des Sexualtriebs. Eine Generalabrechnung. Nimm den Knacks von Sektenführern wie Freud oder Reich. Zeige, dass libidos primat ein Dogma auf Ebene mit der Jungfrauengeburt ist. Viele Männer streben genauso nach Frauen mit schönen Hirnen, gut trainierten Hirnmuskeln. Muss in diesem Bereich auch das Credo der Aufklärung beleuchten. Einen Stoß gegen den Versuch des letzten Jahrhunderts ausführen, uns in das Reich der Tiere hinunterzuziehen, in den Urschlamm. Das Adelsmerkmal der Menschheit: Zärtlichkeit. Gestreichelt zu werden, nicht gerieben. Eben nicht Onanie. (Oder: Verwende nicht zu viel Platz dafür. In einer Fußnote abhandeln.) Mikael sah gut aus, besser als das letzte Mal. Nur vier Monate her? Er wusste wenig über Mikaels Leben in den letzten Jahren. Nach der Scheidung. Nach Harare. Oder war das Ottawa? Sie sprachen nie miteinander. Nicht einmal ein Telefonat. Nicht eine E-Mail.

Er lehnte ohnehin dankend ab, bei Mikael zu wohnen, kostenlos, auch wenn es sicher bequem gewesen wäre. Eine Verlängerung dieses großartigen Büros. Auch zu Hause ein Dom. Über dem Bett. Schön … Die Aussicht auf ein knisterndes Gespräch, die versuchte Ölung mit einem Glas Cognac, verlockte nicht. Eher schon die Neutralität des Hotelzimmers, eine gesegnete Einsamkeit in der Tottenham Court Road. Falls ich nicht sofort mit Anna in Kontakt komme. Sofort bekomme …

Alf war zu Mikael gefahren, um ihn um Hilfe zu bitten, jedenfalls bildete er sich das ein. Mikael wusste vielleicht, wo Anna wohnte. Alf konnte sich dennoch nicht überwinden zu fragen, schämte sich auch ein wenig wegen seines Auftrags, seines Vorsatzes. Er versuchte bereits vom Flugplatz aus Anna anzurufen, hatte eine Adresse, eine Telefonnummer. Einige Jahre alt. Eine Stimme: Die Nummer gab es nicht mehr. Anna war mit einem Briten verheiratet. Oder verheiratet gewesen. Alf wusste, dass die Ehe Geschichte war. Es war noch nicht zu spät. Gaia und Uranos. Hätte er das alles in Norwegen herausfinden sollen? Ihre Eltern waren verreist, Pensionisten auf Weltumsegelung. Er stürzte sich gleich in den Flieger, war von einer Ahnung geritten, dass es galt, ohne Sicherheitsnetz zu handeln. Beinahe Aberglaube. Kein zögern. Just do it.

Gerade als er gehen wollte, senkte Mikael seinen Blick auf einen Haufen Visitenkarten und sagte, dass Alf auf jeden Fall zu dem Empfang kommen müsse, den der Botschafter zufälligerweise heute Abend abhielt. Anna würde auch dort sein. Alf glaubte sich verhört zu haben. Mikael wiederholte es, vielleicht weil er Alfs ungläubigen Gesichtsausdruck bemerkte. Anna kommt, sagte er. Erinnerst du dich an Anna?

Ob er sich an Anna erinnerte? Er war hier, um Anna zu retten. Trug eine schillernde Rüstung unter der Kleidung. Konnte Drachen mit der bloßen Faust töten. Mikael öffnete eine Schublade, nahm eine Einladung heraus. Hier ist die Adresse, sagte er. Die Botschaftsresidenz. Mikael erhob sich, signalisierte, dass der Besuch vorüber war, kratzte sich im Schritt. Eine Unsitte. Der Mensch in einer Nussschale, dachte Alf. Diplomat und Tier. Vielleicht trotzdem genauer als nur in einer Fußnote. Denn was ist mit Thomas Hobbes? Der Blick auf den Selbsterhaltungstrieb des Menschen machte aus ihm nicht gerade einen Optimisten im Namen der menschlichen Natur. (Kann ich das Ganze umgehen, indem ich behaupte, er gehöre nicht zur Aufklärung?)

Sie nahmen außerhalb der Sicherheitsschleuse, wo zwei große Fotografien von König und Königin alle Besucher willkommen hießen, voneinander Abschied. Bist du nicht Republikaner? Alf konnte sich nicht zurückhalten. Mikael grinste nur, öffnete die Außentür und schloss ihn aus. So wenig Kontakt. So wenig Gefühle. So wenig Wiedersehensfreude. Alf stand mit dem Koffer in der Hand auf dem Bürgersteig vor der Botschaft. Von Neuem beginnen. Ich. Ich und Anna. Er wandte der norwegischen Flagge, die von der weißen Wand hinter ihm wehte, den Rücken zu. Wie heraus aus einem gekalkten Grab.

Im Hotel war er auf dem Teppich im Kreis gelaufen, hatte versucht die Zeit totzuschlagen. Welch ein Glück, Anna schon am ersten Abend wiedersehen zu können. Eine Frau, die ich vermisste. Die ich jetzt … Das Gehirn drohte mit einem Kurzschluss. Zwei Kopfschmerztabletten. Er erinnerte sich an die Globoid-Packung in der Kindheit. Zwei aufgerichtete Löwen an beiden Seiten der verschlungenen Buchstaben N und C, Nyegaard & Co. Der Vater. Der Vater und Tabletten gehörten zusammen.

Dann endlich, der Empfang, wo sie – nachdem er vielleicht ein paar Drinks zu viel gehabt hatte – einander näherkamen. Zwei periphere Punkte plötzlich auf dem Weg zu einem gemeinsamen Zentrum. Folgenschwer, dachte er. Nichts auf der Welt könnte sie jetzt aufhalten. Am wenigsten ein Zusammenstoß mit einer grimmigen Frau, sicher ein norwegischer Verlagsmensch, von all den heuchlerischen Lobpreisungen erledigt, die sie über ihrem Autorenprotegé ausgießen musste. Sie trafen sich inmitten des herrschaftlichen gelben Raums, mitten auf einem der imponierenden orientalischen Teppiche, so als ob jeder von seinem Startpunkt eines zeitraubenden und komplexen Labyrinths gekommen wäre und sie sich im Innersten treffen würden, von einer kostbaren Krone erleuchtet.

Sie blieben stehen und betrachteten einander. Stand er ein wenig unsicher? Der Grund mussten ihre Augen sein. Er hielt ein Glas Saft in der Hand. Anna, ich, Anna, sagte sie. Lächelte. Es brauchte Zeit, bevor er sich wieder an ihre Art sich vorzustellen erinnerte, ein Test, die Idioten von möglichen Kandidaten zu trennen. Alf? Was um alles in der Welt machst du hier? Hast du den Anwärterkurs belegt? Der Ton war nüchtern, verriet keine Überraschung. Die Heiserkeit, die sexy Stimme genauso wie früher.

Rettungsaktion, sagte er.

Ihr Blick irrte umher. Wer ist die … ich weiß nicht, ob ich Glückliche oder Unglückliche sagen soll?

Du, sagte er. Das Kleid war schlicht, blau. Verriet, dass ihre makellose Figur intakt war. Gab es die Farbe Königinnenblau?

Blue, here is a song for you.

Anzeichen von Verwirrung. Dann brach sie in Lachen aus. Das herzhafte Lachen, an das er sich so gut erinnerte. Das Lachen einer Skipperstochter. Witzig, sagte sie. Ich hatte deinen Sinn für Humor vergessen.

Sie maßen einander ab. Welch Augen. Aquamarin mit Diamant vermischt. Königinnenblau.

Was treibst du so zur Zeit?, fragte sie. Zu Hause?

Ich habe gerade eine vielversprechende Karriere als Portalwächter beendet. Ihm missfiel, dass sie das Thema wechselte, hatte trotzdem genug Zeit, jetzt, da er sie endlich wiedergefunden hatte. Er fühlte sich sicher, voller Selbstvertrauen. Etwas zerstreut, aber in der Offensive.

Genau. Ich habe davon gehört.

Alf verstand nicht warum, aber wollte das Thema nicht weiterverfolgen. Und du?, sagte er stattdessen. Ich hörte, du bist an einer Universität gewesen, hast Literaturwissenschaft gelehrt, irgendetwas mit Feminismus. Die alte französische Hetze? Oder bist du bis Siouxsie Sioux gekommen? Sie stand nur da und schüttelte leicht den Kopf. Aber lächelte. Wie zuvor. Was nun? Er versuchte angestrengt sich zu erinnern, was er in der Schneehöhle gedacht hatte. Sätze, die er während des Fluges feingeschliffen hatte. Musste Zeit gewinnen. Bist du wegen des Buches hier?, fragte sie, zeigte mit dem Kopf in alle Richtungen. Der lobgehudelte norwegische Autor stand hinter ihnen, angelte nach englischen Wörtern im Gespräch mit Leuten, die drei Kritikern ähnelten, die hoffentlich bald, mit ausgesuchter Eleganz und gnadenlos, den geistlosen Roman in verschiedenen Medien schlachten würden. Die englische Literatur des 18. Jahrhunderts. Sollte etwas damit machen können. Jonathan Swift. Tobias Smollett. Oder besser: Samuel Richardson, Vorläufer für den ganzen Kram, der triumphierenden Romankunst des 19. Jahrhunderts. (Eventuell Henry Fielding, bereits ein Erneuerer von Richardson.) Welch Qualität! Und welch Qualität im Vergleich zur heutigen Literatur, im Vergleich zur norwegischen Literatur. Bücher, die Genres schufen. Wege ausschlugen. Schenk mir eher Pamela oder Tom Jones als den gesammelten norwegischen Buchherbst! Was ist, wenn ich nun die Textstelle finden würde, den Abschnitt in einem dieser Romane,der alles beinhaltete, ein Netzwerk aus zwanzig Sätzen, das den Zeitgeist genauso einfing wie ein Kescher einen Schmetterling?

Er ließ sich nicht anmerken, dass Annas Antwort ausblieb, stand da und bewunderte sie. Eine neue Schönheit durch das Alter. Auf einer Walnusskommode an der Wand entdeckte er eine Vase mit langstieligen weißen Blumen. Er dachte an seine Beziehungen zu Frauen, dass sie nicht nur aus Kollisionen, dass sie auch aus Bewunderung bestanden. Rembrandts Modelle, das Scheue, Liebliche. Vera und ihre Zeichenkünste.

Die Fahne der Romantik ist rot, gelb und grün

Lieber als mit dem jüngeren Bruder, den Alf trotz des geringen Altersunterschieds zu den Scheißkerlen zählte, Zeit zu verbringen – jedenfalls weil sie klein waren und der Bruder ein rotzfreches und aufdringliches Wesen war, nur für eine Tracht Prügel geeignet –, sehnte sich Alf nach einem Mädchen, ganze sieben Jahre älter, die eine Etage über ihm wohnte. Ihre Eltern waren mit Alfs Eltern gut befreundet und Vera war Babysitter gewesen, solange sich Alf erinnern konnte. Er mochte Vera. Es war etwas mit dem Geruch, mit ihren Fingern, wenn sie ihn berührte, damit, einfach in ihrem Zimmer zu sitzen und Platten zu spielen. Vor allem The Searchers. Es herrscht eine gute Chemie zwischen uns, dachte er immer, borgte den Ausdruck von seinem Vater.