Eine Zeit, zu leben - Jan Kjaerstad - E-Book

Eine Zeit, zu leben E-Book

Jan Kjaerstad

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Beschreibung

Zwölf Menschen sind auf dem Weg ins Nationaltheater, alle aus einem anderen Teil der Stadt. Alle haben eine Karte für die Premiere von Hedda Gabler. Eine Zeit, zu leben ist ein Roman über den unersetzlichen Wert der Begegnung, über Menschen, die dicht gedrängt in einem Saal sitzen und ihr Leben gegenseitig beeinflussen, ohne dass sie es selbst bemerken. Ein Lehrer ist einer Schülerin zu nahegekommen und fürchtet, in einen MeeToo-Skandal verwickelt zu werden. Ein Vater hat seine Tochter durch einen Selbstmord verloren und weiß nicht, ob er es ertragen wird, ein Theaterstück zu sehen, bei dem sich eine der Personen im letzten Akt erschießt. Eine sozial engagierte junge Frau plant, zur Halbzeit der Vorstellung aufzustehen und zum Protest aufzurufen. Eine Zeit, zu leben, verlegt in den Monat März des Jahres 2019, handelt von unserer Unwissenheit über all das, was bis zum nächsten Jahr geschehen wird. Und von der Jagd nach Aufmerksamkeit, von der unsere Zeit geprägt ist. Hedda Christine Foss spielt die Hauptrolle in Ibsens Stück, und jetzt steht sie mit einer Pistole auf der Bühne – einer mit scharfer Munition geladenen Pistole. In der dritten Reihe sitzt ein früherer Geliebter. In der vierten Reihe ein verhasster Kritiker. Und in der ersten Reihe sitzt die Ministerpräsidentin des Landes.

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Seitenzahl: 584

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Autor und Klappentext

Titelseite

Buchanfang

Eystein Laudal, 29 Jahre

Felix Boger, 41 Jahre

Stine Franzen, 29 Jahre

Edward Hart, 31 Jahre

Henrik Adler, 40 Jahre

Merete Sand, 28 Jahre

Markus Hansen, 21 Jahre

Rakel Borg, 23 Jahre

Frans Ottesen, 53 Jahre

Samah Ayoub, 24 Jahre

Paal Løchen, 40 Jahre

Originaltitel: Jan Kjærstad, En tid for å leve

© 2021, Jan Kjærstad

First published by H. Aschehoug & Co. (W. Nygaard) AS

Published in agreement with Oslo Literary Agency

Die Veröffentlichung dieser Übersetzung wurde ermöglicht durch die finanzielle Unterstützung von NORLA, Norwegian Literature Abroad

© 2025, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat: Teresa Profanter

Cover: Jürgen Schütz

Coverbild: © i-stock

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-99120-061-1

Printversion: Hardcover

ISBN: 978-3-99120-055-0

Septime Verlag e.U. | Johannagasse 15-17/18 | A-1050 Wien

[email protected]

www.septime-verlag.at

www.facebook.com/septimeverlag

www.instagram.com/septimeverlag

Jan Kjærstad

zählt zu den bedeutendsten zeitgenössischen Autoren Norwegens. Der 1953 in Oslo geborene Schriftsteller studierte Theologie, war Pastor und Jazzpianist, später Redakteur der norwegischen Literaturzeitschrift Vinduet. Er lebt in Oslo.Jan Kjærstad ist einer der bedeutendsten skandinavischen Schriftsteller der Gegenwart. Der Träger der wichtigsten literarischen Auszeichnung Skandinaviens, des »Literaturpreises des Nordischen Rates« zeichnet sich durch ein umfassendes Werk aus. Unter seinen Publikationen finden sich Essays, Kurzgeschichten, Artikel sowie Bilder- und Kinderbücher. Außerdem war er Herausgeber der wichtigen norwegischen Literaturzeitschrift Vinduet. Berühmtheit erlangte Jan Kjærstad jedoch durch seine Romane, von denen seit 1982 zwölf erschienen sind. Seine Bücher sind vor allem eines: großartige Literatur. Und spannend. Wie in einem Krimi wird man durch Erzählungen geleitet, die einen immer auf das große Ziel hinzuführen – zu der Antwort auf die einfache Frage: Warum? Die Ausgangssituationen sind dabei genauso mannigfaltig wie die überwachsenen Denkpfade, die uns Jan Kjærstad dabei literarisch freischlägt.Auch wenn sich der Autor dem Begriff der Postmoderne verwehrt, so ist er brandaktuell in seinen Themen und virtuos in den Spielarten seiner Romane. Jan Bürger meinte dazu 2004

in Literaturen: »Im Laufe der Jahre hat sich Kjærstad Formen erschrieben, in denen die unterschiedlichsten Themen und Stilebenen wie Zahnräder ineinandergreifen.«

Klappentext

Zwölf Menschen sind auf dem Weg ins Nationaltheater, alle aus einem anderen Teil der Stadt. Alle haben eine Karte für die Premiere von Hedda Gabler. Eine Zeit, zu leben ist ein Roman über den unersetzlichen Wert der Begegnung, über Menschen, die dicht gedrängt in einem Saal sitzen und ihr Leben gegenseitig beeinflussen, ohne dass sie es selbst bemerken. Ein Lehrer ist einer Schülerin zu nahegekommen und fürchtet, in einen MeeToo-Skandal verwickelt zu werden. Ein Vater hat seine Tochter durch einen Selbstmord verloren und weiß nicht, ob er es ertragen wird, ein Theaterstück zu sehen, bei dem sich eine der Personen im letzten Akt erschießt. Eine sozial engagierte junge Frau plant, zur Halbzeit der Vorstellung aufzustehen und zum Protest aufzurufen. Eine Zeit, zu leben, verlegt in den Monat März des Jahres 2019, handelt von unserer Unwissenheit über all das, was bis zum nächsten Jahr geschehen wird. Und von der Jagd nach Aufmerksamkeit, von der unsere Zeit geprägt ist. Hedda Christine Foss spielt die Hauptrolle in Ibsens Stück, und jetzt steht sie mit einer Pistole auf der Bühne – einer mit scharfer Munition geladenen Pistole. In der dritten Reihe sitzt ein früherer Geliebter. In der vierten Reihe ein verhasster Kritiker. Und in der ersten Reihe sitzt die Ministerpräsidentin des Landes.

Jan Kjærstad

Eine Zeit, zu leben

Roman | Septime Verlag

Aus dem Norwegischen von Bernhard Strobel

Nie werde ich den Augenblick vergessen, als ich die Pistole hob. Ich hätte geglaubt, es würde mich mit Abscheu erfüllen, eine Waffe zu halten. Aber es gefiel mir auf Anhieb. Das Gewicht, die Struktur des Schafts auf der Handfläche. Es fühlte sich ganz natürlich an, die Pistole zu heben, mit Kimme und Korn zu zielen und abzudrücken. Nicht einmal der Rückstoß überraschte mich. Ich stützte die Waffe mit der linken Hand, zielte erneut und gab noch vier weitere Schüsse ab.

Eystein Laudal, 29 Jahre

Respekt

I

Seit Tagen schon sieht er die Schlagzeilen vor sich: »Junge Frau sexuell belästigt.« Er denkt: Es ist nur eine Frage der Zeit. »Lehrer belästigt Schülerin in Hadeland.«

Eine seltsame Stimmung lässt ihn seit einigen Tagen nicht los, und das unangenehme Gefühl, auf eine Bühne geschoben zu werden, die Hauptrolle in einem erschütternden Drama spielen zu müssen, verstärkt sich noch zusätzlich, als er draußen vor dem Theater instinktiv genau in der Mitte zwischen den Statuen von Henrik Ibsen und Bjørnstjerne Bjørnson hindurchgeht, als befürchte er, schon an Ort und Stelle erdrückt zu werden, in der Passage zwischen einer Skylla und einer Charybdis. Er bleibt im Vestibül stehen, bis er sicher ist, dass alle aus der Klasse da sind, zählt sie zur Sicherheit noch einmal durch, als wären sie Schafe.

Und er? Der geile Hirte?

Sie sind unter den Letzten, die den Saal betreten, und beim Hinunterdrücken des Klappstuhls erlebt Eystein etwas Merkwürdiges. Es ist, als hätte es Klick gemacht. Als wäre er der fehlende Stein, und sobald er sich gesetzt hätte, würde sich alles zusammenfügen.

Die Vorstellung kann beginnen.

Er wird seine Unruhe nicht los. Aber genau hier, genau jetzt, bin ich in Sicherheit, sagt er sich. Wenn etwas passieren würde, wenn bereits etwas im Gang wäre, würde er zumindest nicht hier im Theater damit konfrontiert werden. Niemand würde in den Saal stürmen und rufen: Da sitzt das Schwein! Haltet ihn! Passt auf, dass er nicht abhaut!

Er versucht, ruhig zu atmen. Das Summen leiser Stimmen vermittelt ihm das Gefühl, als säße er in einem großen Generator. Er ärgert sich über die Handys, die trotz seines Verbots, trotz seiner freundlichen Bitte, sie mögen sich konzentrieren, zwischen den Beinen der Jugendlichen leuchten. Als würden sie masturbieren, denkt er. Sie können’s nicht lassen.

Er wirft einen verstohlenen Blick nach rechts. Unfreiwillig bleiben seine Augen an ihr hängen, drei Plätze weiter. Das Herz rutscht ihm in die Hose. Was denkt sie gerade? Wird er sich dafür verantworten müssen, dass er…wie sollte man es formulieren…eine Grenze überschritten hat? Wieder sieht er die Schlagzeilen vor sich: »Lehrer aus Hadeland-Schule entlassen.« Es würde ihn nicht wundern, wenn sie den Vorfall mit einem Bild von Dracula illustrierten, der sich gerade über den Nacken einer wie gelähmt dastehenden jungen Frau beugt.

Ich übertreibe. Nur die Ruhe, wird schon gut gehen.

Es hängt alles von ihr ab, denkt er.

Plötzlich spürt Eystein etwas an seiner Schläfe, ein Gefühl, das ihn an den roten Punkt eines Ziellasers denken lässt. Er dreht sich um, und ihre Blicke begegnen sich. Im selben Moment werden die Lichter im Saal gedimmt. Unmöglich, ihren Blick zu deuten. Er lächelt ihr kurz zu, will gar nichtlächeln, aber sein Mund lächelt von selbst, wie um zu sagen, das Stück fange jetzt an, er sei gespannt, genauso gespannt wie sie.

Aber ist sie das denn? Oder denkt sie an etwas ganz anderes? An einen Mann, der sich ihr langsam näherte, als sie mit dem Rücken zu ihm stand?

»›Es war wie ein Angriff aus dem Hinterhalt‹, soll die Schülerin gesagt haben. ›Ich war total überrumpelt.‹«

Sie sind im Nationaltheater. Es ist einer der letzten Freitage im März2019, Premierevon Hedda Gabler, eine von den Medien gehypte Inszenierung. Den Anfang bekommt Eystein trotzdem nicht mit. Erst mit Heddas Erscheinen auf derBühne ist es, als würde er aufwachen und hören, was gesprochen wird. Die Schauspielerin heißt ebenfalls Hedda. Eigentlich versteht er gar nicht so viel vom Theater – vieles ist nur vorgetäuscht –, aber er weiß zumindest, dass Hedda Christine Foss eine der namhaftesten Schauspielerinnen des Landes ist, und genau in diesem Augenblick sagt sie etwas, das ihn trifft, ohne dass er versteht, weshalb ausgerechnet diese Worte eine solche Wirkung auf ihn haben, einige Sätze, die sie spricht,während sie ausdem Fenster sieht, das kein Fenster ist, sondern eine Öffnung in der unsichtbaren Wand, die dieBühnevom Saal trennt; und nicht nur die Worte treffen ihn, denn obwohl sie wahrscheinlich niemand Bestimmtes ansieht, sondern ihre Augen einfach auf irgendeinen Punkt heftet, hat er das Gefühl, als hielte sie beim Sprechen den Blick auf ihn, Eystein Laudal, gerichtet, der dort im Dunkeln sitzt. Durchschaut. »Ich sehe mir nur das Laub an«, sagt Hedda. »Es ist so gelb. Und so welk.«

Im selben Moment, nachdem sie das gesagt hat, und mit dem Gefühl, Hedda Gabler, oder besser gesagt, Hedda Christine Foss, habe ihn direkt angesehen, wie um ihm etwas Wichtiges mitzuteilen, fasst er einen Entschluss. Er muss mit Jenny reden. Gleich in der Pause muss er unter vier Augen mit ihr reden. Darf es nicht auf die lange Bank schieben. Vielleicht lässt sich der Skandal ja noch abwenden. Ein saftiger MeToo-Skandal, wenn auch nur auf regionaler Ebene. Ein gefundenes Fressen für die Medien. Etwas, das ihn vernichten könnte, ihn sein ganzes Leben begleiten würde, deutlich sichtbar wie eine Tätowierung auf der Stirn.

Etwas lenkt ihn ab. Tatsächlich erschrickt er sogar fast ein wenig, als er die Ministerpräsidentin in der Mitte der ersten Reihe erblickt, eine Gestalt, die man unschwer verwechseln kann. Interessiert sie sich fürs Theater? Vielleicht alles nur Show, um ihre Beliebtheit noch weiter zu steigern, denkt er. Der ewige Wahlkampf. Es gefällt ihm jedenfalls nicht. Seine Gedanken wandern zu Präsident Lincoln, der im Theater erschossen wurde. Wie einfach es doch wäre, ein Staatsoberhaupt an so einem Ort zu erschießen. Ein unbewegtes Ziel. Leichte Beute. Warum aber sollte jemand eine Ministerpräsidentin in einem Theater erschießen wollen? In Norwegen?

Fast ärgerlich richtet er den Blick auf Assessor Brack. Er hat etwas Obszönes an sich. Er oder die Art, wie er gespielt wird. In jedem Wort, das er zu Hedda sagt, schwingt ein erotischer Unterton mit. Als wolle er sie am liebsten ins Hinterzimmer zerren und über sie herfallen.

Den Zeitungsberichten zufolge sollen sie sich zerstritten haben, das heißt, die Schauspielerin und der Schauspieler, Hedda Christine Foss und Henrik Adler. Zumindest hatten die Medien den Vorfall schon im Vorfeld genüsslich ausgeschlachtet. Wie würden die beiden damit umgehen, gemeinsam auf der Bühne zu stehen? »Wird es ein echtes Feuer geben?«, wurde in einer Zeitung spekuliert.

II

Es passierte am Ende eines normalen Schultags Mitte März. Er sah Jenny Farstad die breite Treppe in der Mitte des großen Atriums hinaufgehen. Federnde Schritte. Und sie schnippte mit den Fingern einer Hand, als würde sie gerade Musik hören. Sie ging, oder tänzelte vielmehr, durch die Kantine und verschwand in den Musik- und Theatertrakt. Da kam er auf die Idee, ihr gleich die Hausarbeit zu geben, die die anderen bereits am Vortag zurückbekommen hatten, als sie nicht da gewesen war. Er korrigierte oft am Computer, aber diese Arbeiten hatte er lieber ausdrucken wollen, damit er mit Kugelschreiber seine Kommentare dazuschreiben konnte. Natürlich könnte ich auch noch warten, sagte er sich, entschied sich dann aber anders: Er wollte sie etwas fragen.

Da sie bald Hedda Gabler im Theater sehen würden, hatte er ihnen eine Hausaufgabe über das Stück gegeben. Er hatte die 3. aus Musik und die 3. aus Theater gemeinsam in Norwegisch. Er mochte die Schülerinnen und Schüler dieser Klassen, weil sie weniger auf Noten aus waren als die aus dem Studienvorbereitungszweig, außerdem waren sie empfänglicher für Literatur. Sie hatten das Stück diesen Frühling gelesen und besprochen, und auch den smarten Instagram-Hashtag hatten sie verfolgt, #heddaisthedda, ein pädagogischer Geniestreich. Im Gegensatz zu anderen idealistischen Lehrern gab er sich nicht der schwärmerischen Illusion hin, hormongesteuerte Teenager würden Hedda Gabler oder sonst etwas von Ibsen verstehen. Was ihn jedoch nicht davon abhielt, sich nach Kräften um ihre Aufmerksamkeit zu bemühen, nicht zuletzt im Wettstreit mit dem, was sich so alles auf ihren Handys abspielte. Er verteidigte die Langsamkeit, sagte ihnen, sie sollten ihren Gedanken Zeit geben, sich dem Genuss des Reflektierens hingeben. Natürlich vergebens.

Denk an Erbalunga!, sagte er sich.

Im Jahr davor hatten sie Der Werwolf von Aksel Sandemose gelesen, und er hatte so enthusiastisch, wie er es nur vermochte, über den Roman gesprochen, doch als die Jugendlichen das Klassenzimmer verließen, wusste er, dass niemand, oder nur sehr wenige von ihnen, es für wert befanden, etwas über Der Werwolf zu lernen. Oder über Hedda Gabler und Ibsen. Schon okay, dachte er. Ich weiß noch, wie ich selbst in dem Alter war.

Hedda hat einfach zu wenig gevögelt, hatte jemand aus der Klasse gesagt, ohne dabei rot zu werden. Eystein hatte getan, als hätte er es nicht gehört, aber wer weiß, vielleicht stimmte es ja.

Deshalb hatte es ihn überrascht, wie gut Jennys Hausarbeit geworden war. Etwas jedoch war ihm nicht ganz klar. Im Zusammenhang mit dem »wilden Tanz«, den Hedda spielt, kurz bevor sie sich erschießt, hatte Jenny etwas über Strindbergs Totentanz geschrieben. Er verstand diesen Bezug nicht, er war neugierig geworden und wollte diesen Aspekt gern mit ihr erörtern.

Sicher, er hätte warten sollen, aber wenn er ehrlich war, hatte er sich in letzter Zeit mehr für sie zu interessieren begonnen.

Angesteckt von ihren federnden Schritten, rannte er hinauf in sein Büro im obersten Stock und nahm Jennys Hausarbeit vom Schreibtisch. Im Nachhinein erinnerte er sich an einen Moment des Zögerns, so als hätte er in seinem impulsiven Entschluss eine Gefahr gewittert. Er warf einen Blick aus dem Fenster. Das Büro, das er mit sieben anderen aus dem Kollegium teilte, lag an der höchsten Stelle des Schulgebäudes und wurde Kontrollturm genannt, weil man von dort alle sehen konnte, die durch den Haupteingang hinein- und hinausgingen. Von hier aus hatte er außerdem Ausblick auf die Hauptstraße von Gran, auf das Shoppingcenter, den Bahnhof und die Hügel im Westen, auf die Kulturlandschaft, von der die Kleinstadt umgeben war und die er schon oft durchwandert hatte, seit er vor einigen Jahren – nach einem kurzen Aufenthalt an einer Osloer Schule und einer noch kürzeren Ehe – hierhergekommen war und sich zum Bleiben entschlossen hatte. Bevor sie getrennter Wege gegangen waren, hatte Trude ihm bei verschiedenen Gelegenheiten in verschiedenen Worten mitgeteilt, wie unattraktiv er sei, und dass sie nicht verstehe, was sie in ihm gesehen habe, dem »langweiligsten Typen der Welt« – Letzteres war ihr einfach herausgerutscht in einer Nacht, in der sie viel zu viel Zeit mit Reden verbracht hatten.

In seiner Anfangsphase in Gran hatte er sich, vielleicht ein wenig zu verzweifelt, bemüht, sein angeschlagenes Selbstvertrauen aufzupolieren. Er hatte sich die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er hatte sich im Schreiben von Kurzgeschichten versucht – alle von Melancholie geprägt –, aber ohne Erfolg. Er hatte sich eine ziemlich teure Morgan-Gitarre gekauft, aber nach fünf gelernten Griffen aufgegeben. Jetzt war nur noch der Pferdeschwanz übrig – nicht so einer, mit dem vollschlanke Roadies herumliefen, sondern einer, wie ihn Fußballer trugen, irgendwie japanisch, kunstvoll am Hinterkopf hochgesteckt. Auch ein paar Tattoos hatte er sich stechen lassen. Er wusste nicht, ob das pathetisch wirkte oder ob er damit wie ein harter Kerl aussah.

Aber er war gern Lehrer, und er mochte die fast komplett neu gestaltete Schule mit ihrer modernen Ausstattung. Er mochte den Dunst aus verschiedenen Parfüms und Teenagerschweiß, der im Klassenzimmer hing, mochte es, von jungen Menschen umgeben zu sein, deren Gehirne noch formbar waren. Er hatte sich gut eingelebt in Gran, er schätzte die Nähe zu den alten Schwesternkirchen, zur Glasfabrik und zum Wasserfall Kistefoss, die vielen Möglichkeiten, die sich in der freien Natur boten. Und jetzt stand er mit Jennys Arbeit in den Händen im Kontrollturm, nicht ahnend, dass er bald jegliche Kontrolle verlieren würde.

»Der Lehrer, derseine Finger nicht von seiner Schülerin lassen konnte.«

Die meisten hatten das Schulgebäude bereits verlassen, und der Musik- und Theatertrakt wirkte wie ausgestorben. Der Gemeinschaftsraum mit den grauen Kleiderspinden war leer. Ebenso die Klassenzimmer. Jenny konnte schon wieder gegangen sein. Er warf einen Blick in den Raum mit den Arbeitsplätzen für das Lehrpersonal. Keine Menschenseele, nur die kleinen Statuen auf dem Fensterbrett, drei Buddhas, die von allen Die drei Weisen genannt wurden.

Dann hörte er Klavierklänge. Er drehte sich zu der Wand um, von der die Türen zu den Übungsräumenführten. Eine davonstand einen Spaltbreit offen. Er wusste, dass die Schülerinnen und Schüler aus dem Musikzweig eine eigene Schlüsselkarte hatten und nach dem Unterricht hier üben durften. Er ging weiter und warf einen Blick hinein. Jenny war da. In den anderen Zimmern befanden sich Klaviere, nur in diesem stand ein Flügel. Sie blickte über die Schulter, als er die Tür öffnete und über die Schwelle trat, lächelte kurz, setzte aber ihr Spiel fort. Er blieb stehen und hörte zu. Die Harmonien wirkten schwer und klangvoll in dem kleinen Raum und erreichten ihn gleichermaßen über den Köper wie über die Ohren.

Haben dieseTöne irgendwie eine Hemmschwelle durchbrochen?, dachte er später.

Vermutlich galt das nicht als ein mildernder Umstand, aber ursprünglich hatte er sich nicht zu ihr hingezogen gefühlt. Außerdem war er sich vom ersten Moment an dieser kleinen Spannung bewusst gewesen, die an der weiterführenden Schule zwischen einem Lehrer und einer Schülerin entstehen mochte, und hatte es bis jetzt geflissentlich vermieden, auf das herausfordernde Lächeln und die koketten Bemerkungen einiger Mädchen mit etwas zu dick aufgetragenem Make-up zu reagieren.

Jenny Farstad war keine von denen, die auffallen wollten, sie schminkte sich dezent und benutzte nicht so einen markanten Lippenstift wie viele andereMädchen. Ihr Kleidungsstilentsprach nicht der Mode, war aber auch nicht hipsterartig. Während des Unterrichts war sie ruhig, doch ihm fiel auf, dass sie direkt an sie gerichtete Fragen ohne zu zögern beantwortete, oft mit einer unerwarteten Wendung. Ihre schriftlichen Arbeiten waren stets tadellos. Wenn er im Flur an ihr vorbeiging, summte sie immer. Er fand ein Adjektiv, das seiner Meinung nach zu ihr passte: grazil. Gleichzeitig wirkte sie aber auch stark.

Bei einer Veranstaltung im großen Hörsaal kurz vor Weihnachten, an einem Abend unter der Regie des Musik- und Theaterzweigs, passierte dann doch etwas. Er wusste, dass Kontrabass ihr Hauptinstrument war, aber erst jetzt hörte er sie das erste Mal spielen. Sie trat gemeinsam mit einer Schülerin aus der Theaterklasse auf, die Gedichte von Anna Achmatova vorlas – in englischer Übersetzung. Irgendwie war Eystein nicht darauf vorbereitet, Jenny Farstad in bunter Bluse und schwarzer Schlaghose mit wiegenden Bewegungen dort oben auf der Bühne stehen zu sehen, wo sie die Finger über das Griffbrett eines Instruments wandern ließ, das er immer für ein typisch männliches gehalten hatte; wie gebannt saß er da und hörte zu, wie sie die Pausen zwischen den Strophen des Gedichts mit suggestiven Basslinien ausfüllte, dann mit eher singenden Tönen unterlegte, während die andere vorlas. Manchmal schien sie rhythmische Entgegnungen zu den Gedichten zu formen. Ein melodisches, fast aufbrausend wirkendes Thema wurde besonders oft wiederholt, und von einem Musiklehrer, den er im Anschluss fragte, erfuhr Eystein, dass es sich um ein Motiv aus der Anfangspassage von Rachmaninows zweitem Klavierkonzert handelte. Noch am selben Abend hörte er sich zu Hause das Konzert auf Spotify an, wie um sich noch einmal den Anblick von Jenny Farstad ins Gedächtnis zu rufen, als sie dort oben gestanden war, sich im Takt mit den Tönen hin und her bewegend, und dem Kontrabass unwiderstehliche Melodien entlockt hatte.

Er konnte nicht leugnen, dass sie ihm nach diesem Auftritt öfter aufgefallen war. Irgendwie hatte es auch mit der Art und Weise zu tun, wie sie das Klassenzimmer betrat, fast immer als Letzte, mit einem kurzen entschuldigenden Blick, worauf sie sich hinter ihr Pult setzte und eine beunruhigende Gegenwart ausstrahlte.

Trotzdem schien es ihm, als würde er sie erst jetzt, in diesem kleinen Zimmer, zum ersten Mal deutlich sehen, am Flügel sitzend, den sie also ebenfalls zu spielen verstand. Er erkannte nicht, was sie spielte, und sie sang auch nicht dazu, summte nur. Irgendwie schienen ihm ihre Hände beim Berühren der Tasten immer länger zu werden. An einem ihrer Finger steckte ein Ring mit einem großen Opal, zumindest hielt er es für einen Opal. Er hatte gehört, in einem perfekten Opal könne man das ganze Universum sehen. Für eine Sekunde verspürte er den Drang, sich hinunterzubeugen und in den Stein hineinzuschauen, um herauszufinden, ob es stimmte.

Jenny hatte sich die Haare mit zwei langen Bleistiften hochgesteckt, die aus dem Haarknoten herausragten wie zwei Essstäbchen aus einem Nudelwirbel. Aber es waren nicht ihr langer Nacken und auch nicht die feinen Haarsträhnen, die sich, wie es Männer des Öfteren ausdrücken, wie kleine Ornamente unwiderstehlich unter dem Haarknoten kräuselten. Nein, es war ihre Haut. Ihre Haut war…nicht magnetisch, nicht porzellanartig…eher…wie Papier, eine Einladung, mit kleinen Muttermalen, wie eine geheime Notation. Etwas, das man erforschen musste. Mit den Lippen. Er hörte selbst, wie peinlich überspannt sich das anhörte. Wie die Verharmlosung eines animalischen Triebes.

Die Goldbuchstaben auf dem Instrument glitzerten: W. Hoffmann. Der Dichter E.T.A. Hoffmann fiel ihm ein und ein Buch, das er einmal gelesen hatte: Die Elixiere des Teufels.

Sie stand auf. Er hoffte, sie würde ihre Notenblätter einsammeln und das Zimmer verlassen. Gleichzeitig hoffte er inständig, sie würde es nicht tun. Er trat einen Schritt auf sie zu. Sie blieb regungslos stehen, als hätte sie sein Näherkommen gespürt. Er trat noch einen Schritt auf sie zu, dachte nicht nach, seine Beine bewegten sich von selbst.

»Ich bitte um Strafminderung. Ich war zum Tatzeitpunkt hypnotisiert.«

III

Die Zugfahrt von Gran nach Oslo genoss er immer aufs Neue, besonders die letzte halbe Stunde. Das war die perfekte Art, in der Stadt anzukommen, eine Reise, die die historische Entwicklung widerspiegelte – den Weg vom Wald in die Zivilisation. Aber da war auch noch etwas anderes, denn besonders der Abschnitt nach dem Bahnhof Nittedal, wo sich die Schienen mitten durch die großen Waldgebiete Lillomarka und Nordmarka hindurchschlängelten, weckte immer Erinnerungen an seine Jugend. Er war in einem der Plattenbauten in Rødtvedt aufgewachsen und oft Langlaufen gewesen – als Kind in der Lillomarka und später, als er schon älter war, immer tiefer hinein in die Nordmarka, an Tømte vorbei und anschließend in westliche Richtung nach Kikut oder direkt hinauf nach Norden zum Trehørningen; manchmal hatten sie auch den Zug nach Stryken oder Grua genommen und waren von dort aus auf den Loipen den weiten Weg bis nach Hause gelaufen.

Diese positive Stimmung wollte sich heute nicht einstellen. Er saß im Waggon und starrte hinaus. Die Wand aus Fichtenstämmen dicht neben den Gleisen war plötzlich ein Gitter, das ihm das Gefühl vermittelte, er habe sein schönes Leben als respektierter Lehrer in Gran torpediert. Denn schön war es gewesen. Mehr als schön eigentlich. Er fühlte sich längst wie zu Hause, fühlte sich wohl in dem Haus, wo er manchmal nach dem Korrigieren Brot backte und dann, während es aufging, eine Tour den Berg hinauf unternahm. Er hatte eine Stelle gefunden, von der aus er bei klarem Wetter zum Trapez des Großen Wagens hinaufblickte, zum Megrez, der Schwanzspitze des Großen Bären, von der ausgehend er die anderen Sternbilder am Himmel fand. Zurück im Haus, vor dem fertig gebackenen Brot, konnte er sich an so einfachen Dingen wie dem scharfen Brotmesser erfreuen, bevor er, wenn es sich gerade ergab, den Abend mit einem Champions-League-Match beschloss, gerne eines, bei dem Bayern München spielte, dazu eine Scheibe Brot mit Pflaumenmarmelade und ein Glas Milch, und vielleicht ging er vor dem Schlafengehen noch zu dem alten Plattenspieler, um Blood on the Tracks herauszusuchen, das einzige Überbleibsel einer Beziehung aus seiner Zeit am Institut für Skandinavistik, ließ die Nadel auf »Simple Twist of Fate« fallen und lauschte dem Knistern, bevor Dylans nasale Stimme einsetzte. Und er fühlte sich nicht einsam, sondern spürte, im Gegenteil, mitunter einen Anflug von Glück, während er das Brot in ein Geschirrtuch wickelte.

Doch jetzt hatte sich etwas in ihm verknotet. Sein ganzer Körper war ein Knoten.

Jenny Farstad. Auch sie befand sich im Zug. Direkt dort drüben. Das dunkle Haar offen, als wolle sie nicht noch einmal den Fehler begehen, ihren Nacken freizulegen und notgeile Lehrer mit ihrer verlockenden Haut zu verführen. Einen Moment lang hatte er überlegt, die Klasse allein zur Theatervorstellung fahren zu lassen. Ein Unwohlsein vorzuschieben. Sich zu drücken.

Früher hatte er sich immer auf Stadtausflüge wie diesen gefreut. Er beobachtete sie gern heimlich, diese jungen Menschen, die sich an der Schwelle zwischen Pubertät und Erwachsenenalter befanden. Viele von ihnen hatten Stöpsel in den Ohren, wie ein Ohrschmuck – der Anblick ließ ihn an alte Comics denken, in denen die Eingeborenen mit kleinen Knochen in den Ohrläppchen herumliefen. Gerade amüsierte er sich über den Eifer, mit dem sie während ihrer lautstarken Gespräche virtuose Daumenbewegungen auf den Bildschirmen ausführten und mit einer Geschwindigkeit, die fast schon unnatürlich wirkte, auf ihren Smartphones tippten. Er saß hier inmitten einer wahren Berieselungsanlage, der ganze Waggon brodelte nur so vor Testosteron und Östrogen. All diese Jugendlichen. Gehirne, die noch im Aufbau begriffen waren. Die Stirnlappen noch nicht ganz fertig entwickelt.

Aber bin ich selbst denn viel weiter gekommen?, dachte er.

Ein erbärmlicher Lustmolch.

Es war Ende März, und es schien, als müsse Bjørnson korrigiert werden. Der März war der neue April, der Frühling hatte längst begonnen. Aber es lag noch immer genügend Schnee in der Marka für eine Skitour. Der Zug näherte sich Movatn, und hier, an der Südseite des nördlichsten Sees, wo die Loipe von Sinober herunterführte, schaute er immer aus dem Fenster. Auf der kleinen Brücke über den Gleisen, direkt vor dem Tunnel, hatte er einmal ein Mädchen geküsst. Das war in der zehnten Klasse gewesen. Sie hatten sich die Skier abgeschnallt und beide eine Tasse Kakao in der Hand gehabt. Er war verliebter gewesen, als er gedacht hätte, dass ein Mensch es je sein könnte. Es war ein beispielhafter Wintertag, vier, fünf Grad unter null. Der Geschmack von Kakao und Küssen. Sie waren zusammengezuckt, als ein Zug aus dem Tunnel gebraust kam, in der engen Schlucht unter ihnen Schnee aufwirbelte und nach Norden verschwand. Sie waren stehen geblieben, hatten gelacht und sich weitergeküsst. Er war sich sicher gewesen, sie würden für immer zusammenbleiben, etwas anderes zu denken war unmöglich. Als der Frühling kam, war es vorbei.

Was alles gewesen hätte sein können.

Zu Beginn seines Studiums, vor seiner kurzen Ehe mit Trude, war er mit einer großartigen Frau zusammen gewesen…Merete Sand. Einmal, auf einer Party, hatte sie einem Typen, der über Hedda Gabler hergezogen war, eine Ohrfeige verpasst. So gemein redest du nicht über eines der sieben Wunder der Weltliteratur, hatte sie gesagt. Er dachte oft an sie. Merete. Smarter als die meisten anderen. Und mit einer VorliebefürVinyl. Besonders Dylan und Aretha Franklin. Ein ungleiches Paar. Genau wie wir, hatte sie gesagt. Was wäre gewesen, wenn sie zusammengeblieben wären? Wie er gehört hatte, war sie jetzt ein Wissenschaftsstar. Ibsen-Spezialistin.

Was alles gewesen hätte sein können.

Und vielleicht hätte sich das mit seiner Zukunft als Lehrer auch bald erledigt.

Der Zufall. Warum musste er Jenny um jeden Preis an diesem Nachmittag ihre Hausarbeit zurückgeben? Warum kam niemand in den Musik- und Theatertrakt und unterbrach ihn, als er wie gebannt vor der blassen Haut ihres Nackens stand?

Er wusste einiges über Schwarze Löcher. Gab es auch Weiße Löcher?

Diese langen Sekunden. Die Möglichkeit alternativer Entscheidungen. Aber sein Gehirn war wie ausgeschaltet.

Er stand hinter ihr. Sie ordnete die Hefte auf dem Flügel. Wie er sehen konnte, waren sie nicht mit Noten gefüllt, sondern mit Buchstaben, die, soweit er wusste, Akkorde bezeichneten. An manchen Stellen stand außerdem noch maj oder sus oder dim darüber. Er dachte an seine Morgan-Gitarre, an die fünf Griffe, die er bereits vergessen hatte. Jenny stand jetzt ganz still, wie in Erwartung. Der Nacken freigelegt. Bot sie ihn dar? Sie hätte etwas tun können, hätte die Blätter weglegen, sich hinsetzen und weiterspielenkönnen. Hätte ihn durch ihr Spiel davon abhalten, ihn mit einem Thema aus Rachmaninows zweitem Klavierkonzert entwaffnen können.

Sie blieb regungslos stehen. Er starrte ihren Nacken an. Die Linie. Den Bogen. Etwas Kraftvolles, zugleich aber …Graziles. Und ihre Haut. Auffallend weiß. Und geschmückt mit vier Muttermalen, eine Konstellation, die ihn just an das Trapez des Großen Wagens denken ließ. Er hatte Herzklopfen, wie er es nicht mehr gespürt hatte, seit er das erste Mal verliebt gewesen war. Auf der Brücke im Schneetreiben am Bahnhof Movatn.

Jenny Farstads unwiderstehlicher Nacken.

Er beugte sich nach vorn, wollte sich nicht nach vorn beugen, aber sein Kopf, sein Körper wurden zu ihr hingesaugt, der Mund suchte ihren Nacken. Es war kein Kuss, sondern eher, als würde er dem unbändigen Drang nachgeben, mit etwas in Verbindung zu treten. Etwas zugeführt zu bekommen. Seine Lippen lagen auf Jennys Nacken, nicht kurz, nicht lang, aber immerhin so lange, dass es überall in ihm zu kribbeln begann. Es hätte nicht viel gefehlt und erhättezu zittern begonnen. Ihr Nacken war zugleich hart und weich. Kalt und warm. Er presste seinen Mund nicht gegen ihre Haut, es war nur eine Berührung.

Die Intensität dieser Sekunden. Ihre Haut auf seinen Lippen. Ihr Duft. Ein Duft, den er nie würde beschreiben können. Ein Duft, bei dem er nur »Jenny« dachte.

Sie wich nicht zurück. Sie hätte zurückweichen können, aber sie blieb ruhig stehen.

Vielleicht hatte sie Angst, dachte er hinterher.

Was sollte er jetzt tun?

Er sah, dass an den Enden der beiden Bleistifte in ihrem Haarknoten jeweils ein kleiner Radiergummi angebracht war. Er wünschte, er könnte ausradieren, was er gerade getan hatte.

Er würde es nicht ausradieren können.

In dem Moment wollte er das auch gar nicht.

Ihm fiel auf, dass er noch immer ihre Hausarbeit in der Hand hielt. Er legte sie vorsichtig auf den Flügel, vergaß Strindberg und den Totentanz. Er machte einen Schritt rückwärts und schnappte nach Luft. Sein Puls ging viel zu schnell, und er wartete darauf, dass sie sich umdrehen würde. Ihm vielleicht eine Ohrfeige verpasste. Vielleicht schrie. Vielleicht zu weinen anfing. Er bemühte sich angestrengt, ungerührt zu wirken. Er wusste nicht, wie es weitergehenwürde. Alles hing von ihr ab. Sie warf einen schnellen Blick auf die Hausarbeit, legte sie zu den Akkordtabellen und drehte sich um.

Für eine Sekunde begegneten sich ihre Blicke. Er wusste nicht, was er in ihren Augen sah. Es mochte Begehren sein. Es mochte Verachtung sein.

Er hatte den Kopf verloren. JedeWürde und jeglichen Respektfahren lassen, um einige Quadratzentimeter Haut mit den Lippen zu berühren.

Er suchte nach etwas, das er sagen könnte, suchte fieberhaft, fand nichts.

Ich muss gehen, sagte sie und huschte an ihm vorbei.

In seinen Ohren hämmerte es, tiefe Töne, wie von einem Kontrabass. Er blieb stehen, bis er sicher war, dass sie das Schulgebäude verlassen hatte.

IV

Es gelingt ihm nicht, sich auf Hedda Gabler zu konzentrieren, erst recht nicht, dieses außergewöhnliche Ereignis zu genießen, eine Premiere am Nationaltheater. Er sucht nach einem Wort für seinen Gefühlszustand und findet es: welk. Obwohl draußen Frühling ist. Er sieht die Gestalten, die sich auf der Bühne bewegen, und hört sie ihre Dialoge aufsagen, aber seine Gedanken sind anderswo. Jenny Farstad. Was könnte sie sagen? Was würde sie tun?

Weil er nichts mitbekommt, schnellt er buchstäblich aus dem Sitz hoch, als Hedda Gabler zu Beginn des zweiten Akts auf Assessor Brack schießt. Die Jugendlichen links und rechts von ihm sehen ihn an und grinsen. Er grinst zurück, wie um zu sagen, er habe bloß so getan, schließlich sei man ja im Theater, da müsse man eben mitspielen, hehe. Aber der Schuss hat schrecklich laut geklungen, es hat sich angehört, als hätte Hedda dort oben auf der Bühne eine echte Waffe abgefeuert. Es muss an der Tonanlage liegen. Aber irgendetwas ist auch mit dem Gesicht von Hedda Christine Foss. Plötzlich scheint es ihm, als ob sie Brack am liebsten umbringen würde, das heißt natürlich, den Schauspieler, Henrik Adler. Hass liegt in diesem Blick. Ist das bloß gut gespielt?

Das alles macht ihn noch nervöser. Er versucht sich abzulenken, indem er eingehend das Bühnenbild betrachtet.

Warum Lehrer werden? Warum nicht zum Beispiel Architekt?

Die Bühnenausstattung ist schlicht, deutet jedoch ganz eindeutig ein modernes Haus an, das sowohl elegant wirkt als auch eine spannende Architektur aufweist; nichts lässt an die »Villa der Staatsrätin Falk« denken, die im Stück erwähnt wird.

Die Wahrheit ist, dass er ursprünglich Architekt werden wollte, und das vor allem wegen Knut Knutsen. Eysteins Mutter hatte ihren Arbeitsplatz im Venstres hus, sein Vater im Folkets hus – zwei Gebäude, die einander am Youngstorget direkt gegenüberlagen. Beide von dem Architekten Knut Knutsen entworfen. Wenn er bei seinem Vater gewesen war, hatte Eystein aus dem Fenster gesehen und die Fassade des Venstres hus gezeichnet, bei seiner Mutter das Folkets hus. Als er älter geworden war, hatte er Aquarelle gemalt, mit denen er Licht und Schatten besser einfangen konnte. Ihm gefielen diese beiden Fassaden, die Fensterreihen und die klaren Linien. Er war überrascht gewesen, als er entdeckte, dass Knut Knutsens Villen zum Teil ganz anders aussahen.

Seine Bewerbung an der Architektur-Hochschule wurde abgelehnt, er schaffte es nicht einmal in die zweite Runde der Aufnahmeprüfung.

Was alles gewesen hätte sein können.

In seiner Enttäuschung reiste er in jenem Sommer nach Korsika, und nachdem er diese üppig bewachsene Insel eine Weile durchstreift hatte, landete er schließlich in einer Pension in Erbalunga, einem kleinen Ort im Norden, draußen auf dem »Finger«. Obwohl er nicht auf der Architektur-Hochschule angenommen worden war, hatte er trotzdem weitergezeichnet, auch auf Korsika, und versucht, denselben Strich hinzubekommen, wie er ihn in Knut Knutsens Entwürfen für dessenHütte in Portørgesehen hatte. Eines Abends saßer an einem der Tische vor einem Caféunten am Hafen und blätterte in seinem Skizzenbuch. Eine junge Frau, die gerade vorbeiging, warf einen Blick auf seine Zeichnungen und wurde neugierig. Sie kamen ins Gespräch, und sie fragte ihn, ob sie sich zu ihm setzen dürfe. Es wurde ein schöner Abend, einer dieser Abende, über die man Romane schreiben könnte, ein junger Nordländer und eine korsische Schönheit, eine leichte Meeresbrise und der Duft nach gegrillten Meeresfrüchten. Eysteins Sicht auf das Leben hellte sich wieder auf, er trank recht ordentlich und flirtete vielleicht ein wenig zu aufdringlich. Eine Gruppe junger Männer an einem Tisch ein Stück weiter weg musste ihn schon länger beobachtet haben. Etwas an seinem Verhalten gefiel ihnen offenbar nicht, denn jetzt standen sie auf, und wie es aussah, hatten sie beschlossen, ihm eine Abreibung zu verpassen. Er dachte an die Terroraktionen der korsischen Nationalistenbewegung. Gab es nicht auch viele Messerstechereien hier auf der Insel?

Da betrat ein älterer Mann mit Baskenmütze und Spazierstock den Schauplatz, vielleicht hatte er das Geschehen vom Café aus durch eines der Fenster beobachtet, und es war offensichtlich, dass die Burschen ihn kannten, denn sie grüßten ihn, verbeugten sich regelrecht und nannten ihn Monsieur; Eystein hörte, wie der Alte sich nach ihren Eltern und Geschwistern erkundigte, wie sie ihm höflich Antwort gaben, lachten und plötzlich ganz andere Wesen waren als die, die gerade noch drohend auf ihn zugekommen waren, sie verbeugten sich noch einmal und traten eilig den Rückzug an. Auch die junge Frau entschuldigte sich bald und verschwand.

Der Mann setzte sich zu ihm an den Tisch und fragte Eystein, ob er ihn auf einen Kaffee einladendürfe; es schien, als wolle er den Zwischenfall damit kaschieren und den guten Ruf des Dorfes wiederherstellen. Er sei Lehrer, erzählte er, er habe diese Jugendlichen als Schüler gehabt, als sie noch jünger gewesen waren. Nachdem sie sich eine Weile unterhalten hatten, stellte sich heraus, dass der alte Mann eine Vorliebe für Literatur hatte, denn er kam recht bald auf Bücher zu sprechen und legte ihm ganz besonders einen französischen Schriftsteller ans Herz, André Gide, wobei er sehr ausführlich von dem Konflikt in einem Roman mit dem Titel Die Pastoralsymphonie berichtete, er sprach davon mit einer solchen Begeisterung, dass Eystein sich, als er wieder zu Hause war, das Buch kaufte. Irgendwie hatte diese Situation seine Zukunft bestimmt: In Erbalunga an einem Cafétisch sitzen, nachdem er einer Tracht Prügel entgangen ist, einen Espresso genießen und auf das Mittelmeer blicken, nach Elba und Italien, während ein alter Lehrer über André Gide und er selbst über Der Werwolf von Aksel Sandemose spricht. Der Alte kam auf seinen Beruf zu sprechen. Ein guter Lehrer wird immer mit Respekt behandelt, sagte er. Von den Schülern genauso wie von den Eltern. Über Generationen. Und das, obwohl ich ihnen nichts anderes beibringe, als erhobenen Hauptes durch ein sinnloses Leben zu gehen, sagte er.

Es heißt, dass Geistliche einen Ruf vernehmen. Konnte man auch den Ruf vernehmen, Lehrer zu werden?

Denk an Erbalunga!, sagte sich Eystein, wenn er seine Lehrtätigkeit wieder einmal als schwierig empfand.

Respekt erlangen. Und den, denkt er, habe ich jetzt verspielt, ich werde das Gegenteil davon ernten: Verachtung.

»›Eine Schande fürunsere Schule‹, heißt es in einer Stellungnahme des Direktors der weiterführenden Schule Hadeland.«

Gegen Ende des zweiten Akts zuckt er erneut zusammen. Eine Frau hat sich aus ihrem Sitz erhoben und ruft etwas. Er glaubt zuerst, es sei Jenny. Jetzt ist es so weit!, denkt er. Sie sagt es, hier und jetzt. Fehlt nur noch, dass ich von einem Scheinwerfer eingefangen werde. Dass ich in Schmach und Schande hier sitze und sie mich vor der ganzen Welt an den Pranger stellt.

Aber es ist nicht Jenny, sondern eine Frau einige Reihen hinter ihnen. Sie ruft etwas in Richtung Bühne. Ein kleiner Skandal. In seiner Bestürzung bekommt er die Worte nicht mit. Nur dass sie an Løvberg gerichtet sind, der auf dem Weg hinaus ist, auf dem Weg zu dem schicksalsschwangeren Zechgelage bei Assessor Brack, aber jetzt hält der Schauspieler einige Sekunden lang inne.

Eystein dreht sich vorsichtig um. Die weiße Bluse der Frau leuchtet im Halbdunkel. Die Leute starren sie an, manche mit wütenden Gesichtern, andere mit einem verlegenen Lachen.

Sie setzt sich wieder, als hätte sie einen Auftrag erfüllt. Die Schauspielerinnen und Schauspieler zeigen sich davon unbeeindruckt, das Stück geht weiter. Oder ist da etwas mit Hedda? Sie scheint verwirrt, zumindest einen Moment lang.

Er bemerkt, dass Jenny sich zu ihm hingedreht hat. Er erwidert ihren Blick.

Liegt eine Anklage in diesem Blick? Hat die junge Frau mit ihrem Zwischenruf vielleicht den Entschluss in ihr ausgelöst, Anzeige gegen ihn zu erstatten? Oder ist das eher der Blick eines Mädchens, das versucht, so zu tun, als sei nichts geschehen? Das gerade dabei ist, etwas Schreckliches zu verdrängen?

Immerhin hat er seine Hände nicht auf ihre Brüste gelegt. Oder ihre schmale Taille umfasst und sich gegen ihren Hintern gepresst.

Trotzdem.

Man küsst seine Schülerinnen nicht in den Nacken.

Schließlich kassiere ich doch noch die Prügel, die mir auf Korsika erspart geblieben sind, denkt er.

Er erinnert sich an Hedda Gablers Worte ziemlich am Anfang des Stücks, als sie ihn angesehen hat oder er zumindest geglaubt hat, sie würde ihn ansehen. Über das gelbe, welke Laub. Siebenhundert Menschen saßen in dem Theatersaal, aber sie hat ihn angesehen, nur ihn. Und ihn zu einer Erkenntnis geführt. Bald würde es zu spät sein.

Die Leute erheben sich langsam. Es ist Pause. Lass uns ein Glas Wein trinken, hört er eine Frau hinter sich sagen. Viel eherkönnte ich einen doppelten Whisky vertragen, antwortet ein Mann. Und irgendwer sollte Hedda Gabler auch einen ausgeben. Was für ein Stinkstiefel!

Eystein schielt hinüber zu Jenny Farstad, sieht ihren Rücken zusammen mit denen einiger anderer Schülerinnen aus der Bankreihe verschwinden. Er verlässt seinen Platz und folgt ihnen. Auf dem Weg hinaus fällt sein Blick auf die junge Frau, die vorhin gerufen hat. Den Kopf gesenkt und mit einem leichten Lächeln steht sie vor einem älteren Mann, der noch nicht aufgestanden ist. Eystein erwartet beinahe, jemand vom Theaterpersonal würde sie hinausführen, sie auffordern, das Theater zu verlassen. Doch nichts geschieht. Und die Frau wirkt durchaus nicht verlegen. Sieht sie nicht ein bisschen aus wie Jenny? Wie eine ältere Ausgabe von ihr? Junge Frauen, die sich etwas zu sagen trauen.

Er muss mit Jenny unter vier Augen reden. Heute Abend.

V

Er steht im Pausenfoyer, ein Glas Farris in der Hand, die Flasche auf einem kleinen Tisch, er braucht eine Erfrischung, seine Kehle ist komplett ausgetrocknet. Er sieht niemanden aus der Klasse. Vielleicht haben sie sich aus dem Staub gemacht, denkt er, vielleicht haben sie das Stück so langweilig gefunden, dass sie schon auf der Karl Johans gate sind, auf dem Weg zum Hauptbahnhof. Hat Hedda Gabler jungen Menschen von heute noch etwas zu sagen? Wenn er ehrlich zu sich war, hegte er große Zweifel daran. Er, der Norwegischlehrer.

Der Kampf um Aufmerksamkeit.

Denk an Erbalunga, sagt er sich.

Das Farris-Glas in der Hand steht er da und versucht, die Deckengemälde und Kronleuchter in dem prachtvollen Raum zu bewundern. Sicher gäbe es hier eine Menge bekannter Persönlichkeiten zu sehen. Aber er fühlt sich nicht dazu in der Lage, nach irgendwelchen Promis Ausschau zu halten, er ist vollauf damit beschäftigt, seine Nerven zu beruhigen. Doch dann entdeckt er den Schriftsteller Felix Boger. Er erinnert sich an den Namen, erkennt ihn wieder, allerdings nur, weil er zufällig heute etwas über ihn in der Zeitung gelesen hat. Einen längeren Artikel. Trotzdem steht der Schriftsteller ganz allein vor einer der Türen und wirkt ziemlich verloren, hat nicht einmal ein Glas in der Hand.

Eystein ist schon auf dem Weg zu ihm, um ein paar nette Worte zu sagen – immerhin ist er Norwegischlehrer und hat ohnehin nichts anderes zu tun –, als er Jenny Farstad auf sich zukommen sieht. Also ist sie es, die die Initiative übernimmt, nicht umgekehrt. Eine Schande, durchfährt es ihn. Und jetzt sagt sie es ihm ins Gesicht. Die Frist ist abgelaufen. Jennys Miene ist ausdruckslos. Oder vielmehr entschlossen. Aufgepasst, gleich kracht’s, denkt er. Zumindest gibt das einen hübschen Rahmen für ihren Auftritt. Ein komplett vergoldeter Raum. Als würde man von der Königin in einem der Säle von Versailles hingerichtet. Jenny Farstad wird allen Anwesenden von einem Lehrerschwein berichten.

Und dann: die Zeitungen am nächsten Tag. Schlagzeilen, die sich auf den Handybildschirmen, auf die so ziemlich die gesamte Bevölkerung regelmäßig einen Blick wirft, wie ein virtuelles Strohfeuer ausbreiten werden.

Sie bleibt vor ihm stehen. Er will etwas sagen, bekommt aber kein Wort heraus.

Auch sie steht schweigend da, schielt zu seiner Farris-Flasche hinüber. Er könnte sie fragen, ob sie etwas zu trinken möchte. Er könnte etwas über ihr Talent am Kontrabass sagen, über Rachmaninow, über den Großen Bären, das Trapez des Großen Wagens, über den hellen Stern Megrez, ein arabischer Ausdruck, der »Schwanzwurzel« bedeutet.

Diese Sache da mit…,fängt sie an. Er sieht, dass es ihr einiges gekostet hat, zu ihm herüberzukommen. Sie hätten das nicht tun dürfen, sagt sie leise.

Lange Pause. Die Leute umkreisen sie, als wären sie der Mittelpunkt des Raumes.

Dafür sind Sie ein viel zu guter Lehrer, fügt sie mit ebenso leiser Stimme hinzu.

Er will etwas sagen, findet aber immer noch keine Worte. Zumindest keine, die passend wären, genügend Reue ausdrückten.

Aber ich hätte es verhindern können, sagt sie.

Lange Pause.

Jenny…, beginnt er.

Ich habe es keinem erzählt, sagt sie und sieht ihm in die Augen. Und das werde ich auch nicht. Gleichzeitig nimmt sie seine Hand, alswären sie zwei Vertreter der Diplomatie, die nach langen Verhandlungen die Klärung einer außergewöhnlich heiklen Angelegenheit erreicht haben. An ihremHändedruck, ihren Worten, ihrer Stimme erkennt er, dass sie es ernst meint. Er hat es nicht verdient, aber allem Anschein nach hat sie darüber nachgedacht und eine Entscheidung zu seinen Gunsten gefällt.

Danke, sagt er. Ich… Danke. Mehr sagt er nicht.

Dafür, dass du mein Leben gerettet hast, wollte er sagen.

Er will ihr sein Glas reichen, erkennt aber, dass das nicht richtig wäre.

Wie findest du das Stück?, fragt er stattdessen undhört selbst, dass die Überleitung zu plötzlich kommt. Hätte er besser eine Stunde oder zwei mit gesenktem Kopf dastehen sollen?

Jetzt bricht sie über ihn herein. Die Erleichterung. Er stellt sich vor, wie er sich – nicht diesen Abend, vielleicht nächsten – ein Glas genehmigen und I Never Loved a Man the Way I Love You von Aretha Franklin heraussuchen wird, eine andere von Merete Sand zurückgelassene LP, dann die Nadel auf »Respect« – das war auch eine von Meretes Lieblingsnummern gewesen – fallen lassen und so laut aufdrehen wird, dass der Song noch bis zu den Schwesternkirchen zu hören ist: R-E-S-P-E-C-T.

Was glaubst du, was passiert nach der Pause?, fragt er.

In seiner Verwirrung hat er vergessen, dass sie das Stück vorher gelesen haben und die Klasse eine Hausarbeit darüber verfasst hat.

Fantastischwäre ja, wenn sie keine Munition für ihre Pistolen findet, sagt Jenny.

1

Als Kyrre Ellingsen, einer unserer meistgefeierten Regisseure, mich anrief und mir von einer geplanten Hedda-Gabler-Inszenierung am Nationaltheater berichtete, wusste ich sofort, was er mich fragen würde. Der Sommer neigte sich dem Ende zu, und ich stand zu Hause in der Observatorie terrasse vor dem Bücherregal, leicht frustriert, weil ich den französischen Roman, den ich suchte, nicht fand. Während Kyrre eifrig weiterredete, schaute ich zuerst zu der üppigen Baumkrone unten vor dem Fenster, dann hinüber zu Henrik, der mit einer Tasse Tee und dem iPad auf dem Sofa lag. Mit veränderter Stimme kam Kyrre Ellingsen endlich zur Sache: Ich habe mich bereit erklärt, die Regie zu übernehmen, unter einer Bedingung. Dass du die Hedda bist.

Ich ließ den Blick auf dem kleinen Zipfel des Fjords ruhen, der hinter Dächern und Bäumen zu erkennen war. Viele Gedanken schossen mir durch den Kopf. Darüber, was alles geschehen konnte, wenn ich in diese Rolle schlüpfte.

Die Pistolen. Ich hatte schon immer Lust gehabt, mit Pistolen auf der Bühne zu stehen.

Willst du? Kannst du?

Ich sagte noch nichts, sondern wartete, bis seine Nerven aufs Äußerste gespannt waren: Natürlich, sagte ich schließlich. Ich bin Hedda, sagte ich.

Er lachte. Erleichtert, aber trotzdem falsch. Er lachte auf eine Art, die verriet, dass er das zu Marketingzwecken bereits einkalkuliert hatte. Du warst fantastisch als Rebekka West, sagte er.

Als Hedda werde ich noch besser sein, sagte ich und hob einen kleinen Stein auf, den Henrik einmal aus Jæren mitgeschleppt hatte. Ich hatte mich zu jung gefühlt, um die Rebekka zu spielen, aber das sagte ich nicht. Hast du mich in Betrogen gesehen, dem Pinter-Stück?, fragte ich. Hast wahrscheinlich nicht einmal mitgekriegt, dass da die Zeit rückwärts läuft.

Henrik wusste nicht, mit wem ich sprach, lachte aber leise über meine letzten Worte.

Ich bin nie dazugekommen, mir diese Inszenierung anzusehen, leider, sagte Kyrre. Entweder war er zu sehr mit sich selbst beschäftigt, oder er verstand den Scherz nicht. Aber ich hatte gern in Betrogen gespielt, einem Stück, das dem Publikum etwas abverlangte. Kyrre hatte angefangen, lang und breit zu berichten, wie stressig es in Schweden gewesen sei, von den vielen Angeboten, mit denen er überhäuft worden war, von Schauspielern, die ihn angebettelt hatten, sie für eine Rolle in Erwägung zu ziehen. Ich klopfte mit dem Finger gegen eine Flasche Mezcal, die auf der Kommode neben dem Bücherregal stand, als glaubte ich, der Skorpion auf dem Boden der Flasche wäre lebendig und würde anfangen, sich zu bewegen.

Wann?, fragte ich.

Premiere ist nächstenMärz, sagte er. Die Proben starten im Jänner. Aber bei der Präsentation des Frühjahrsprogramms, die bald stattfinden wird, hätte das Theater gern schondie wichtigsten Rollen besetzt.

Vielleicht hätte ich mir Bedenkzeit erbitten sollen. Nicht so sehr deshalb, weil der Regisseur – der Spielleiter, wie die Alten sagten – für sein Temperament bekannt war. Am Anfang seiner Karriere hatte er einmal sogar einen Schauspieler zusammengeschlagen, der das Kyrie eleison intoniert hatte, als Kyrre den Proberaum betrat – das war das letzte Mal, dass jemand ihn so genannt hat, zumindest in seinem Beisein. Meine leisen Zweifel hatten eher mit seiner umstrittenen Person zu tun: Er war dafür bekannt, kein Problem damit zu haben, Menschen auf offener Bühne zu demütigen, ein Tyrann, besonders gegen Schauspielerinnen; Kyrre war ein Mann, der sich in Zeiten von MeToo auf sehr dünnem Eis bewegte.

Okay, das passt gut, sagte ich. Wir hören uns.

Henrik hatte das iPad weggelegt, ihm war klar, dass sich da gerade etwas angekündigt hatte, vielleicht sogar etwas Schicksalhaftes.

Kyrre Ellingsen will mich als Hedda Gabler, sagte ich. Dann kannst du ja Tesman spielen.

Er verzog das Gesicht. Jørgen Tesman war nicht gerade eine Traumrolle für Henrik Adler. War er ein bisschen eifersüchtig, weil ich als die furchteinflößende Hedda Gabler auf der wichtigsten Bühne des Landes auftretenwürde?

Ah, Kyrre also, sagte er wie nebenbei. Hab von seiner phänomenalen Pirandello-Inszenierung in Stockholm gehört. Etwas in seiner Stimme verriet eine alte Rivalität zwischen ihnen. Frauen wahrscheinlich.

Er winkte mich zum Sofa herüber, zog mich zu sich herunter, sah mich lange an und fing an, meinenKörper zu streicheln.Könnte es vielleicht sein, dass Ihnen alles in den Schoßgefallen ist, Hedda Christine Foss?, sagte er. Könnte es sein, dass Sie einfach zu hübsch sind? Dass Sie zu…heiß sind. Er küsste mich. Scht, flüsterte er mir ins Ohr wie einem Kind, ich höre die Matratzen aus dem Schlafzimmer nach uns rufen. Sollen wir Hedda vielleicht ein Baby machen?

Bis dahin hatte ich keine Sekunde darüber nachgedacht, nicht mehr zu verhüten. Und ich hatte nicht vor, jetzt damit aufzuhören. Scheiß auf dieses ganze method acting. Typisch Henrik.

Aber die Matratzen durften erhört werden.

Vielleicht hat er recht, dachte ich eine halbe Stunde später, als ich im Bad stand und mich im Spiegel betrachtete. Das Glück hatte mein Gesicht mit einer ansprechenden Knochenstruktur ausgestattet, besonders die Wangenknochen. Vom ersten Moment an hatte die Presse versucht, sie mit Vergleichen einzufangen, über die ich nur lachen konnte. Aber irgendwie stimmte es schon, es hatte mit dem Winkel zu tun, es gab keine Wörter dafür, es war einfach da, ein Geschenk.

Neben dem Waschbecken stand eine hübsche Orchidee, die Henrik für eine Lesung bekommen hatte, irgend so eine Buchpräsentation, die von einem Verlag organisiert wurde und bei der seine Hilfe als Schauspieler gefragt war. Ich füllte ein wenig Wasser in ein Glas und leerte ein paar Tropfen neben die dicken grünen Blätter bei den Wurzeln.

Wie wichtig war das Aussehen? Oder der Körper? Meine ersten großen Schlagzeilen hatte ich nach einem Film bekommen, einer seichten Sommerkomödie, bei der ich mehrere Szenen fast nackt gespielt hatte – nicht gerade mit einem nassen T-Shirt, das sich gegen die Brustwarzen presste, aber so in die Richtung. Sexy war das Adjektiv, das anfangs am häufigsten verwendet wurde. Meine Brüste hatten sich bei meiner Karriere als förderlich erwiesen, das ließ sich nicht leugnen – die Hälfte des Publikums bestand schließlich aus Männern. Diese Erfahrung hatte ich schon früh gemacht: Ich zog die Blicke der Männer auf mich. Sie schauten nicht, sie glotzten, und sie konnten nur schwer wieder wegsehen, auch dann nicht, wenn ich mich umdrehte und sie direkt ansah.

Später hatten sich die Filmkritiken auf einen anderen meiner Vorzüge konzentriert: meine Augen. Aber auch da verhaspelten sie sich in quasilyrischen Metaphern, besonders wenn sie versuchten, einen Blick zu beschreiben, der erst in Nahaufnahme auf einer großen Kinoleinwand voll zur Geltung kam.

Aber hier geht es ums Theater, sagte ich mir. Ich habe die Rolle der Hedda Gabler bekommen, weil ich eine gute Schauspielerin bin. Ich werde ihnen eine Hedda liefern, wie sie sie nie zuvor gesehen haben.

Unbewusst hatte ich einen Zeigefinger auf mein Spiegelbild gerichtet.

Ich werde mich in die norwegische Theatergeschichte hineinschießen, dachte ich.

Felix Boger, 41 Jahre

Gold

I

Schon immer hat er beim Zugfahren eine rätselhafte Ruhe empfunden, eine irgendwie vergessen geglaubte innere Stille. Mochte sein Kopf noch so voll sein mit Problemen, sobald er sich im Sitz zurücklehnte und der Zug aus dem Bahnhof glitt – oder rollte, wie er als Kind immer gedacht hatte –, kam alles zur Ruhe. So ist es auch an diesem Tag, seine Gedanken waren ein Fliegenschwarm, doch als er sich hinsetzt und das Buch herausholt – und noch bevor der Zug den Bahnhof Tønsberg verlassen hat −, stellt sich diese friedliche, beinahe meditative Stimmung, ja, ein Anflug von Schwerelosigkeit ein.

Nur wenn ihm zwischendurch einfällt, dass er Hedda Christine Foss demnächst wiedersieht, wird er in seiner Ruhe gestört.

Das Buch, das Felix gerade liest, Der Werwolf von Aksel Sandemose, hat er schon einmal gelesen und deshalb eingepackt, weil er bei seinem eigenen Roman feststeckt, ihm fehlt eine Figur, und er glaubt, es könne ihm eine Idee kommen bei der Lektüre von Sandemose, einem Autor, der sich hervorragend auf Personengalerien, auf Konstellationen versteht, ein Komponist, der die Stimmen seines Ensembles gekonnt ineinander verwebt; darauf vorbereitet, mögliche Einfälle auf das leere Blatt ganz hinten zu kritzeln, hält er den Stift bereit. In vielen seiner Bücher hat er die letzte Seite mit handschriftlichen Notizen vollgeschrieben.

Hin und wieder blickt er auf, um seine Mitreisenden zu beobachten. Niemand außer ihm liest, alle anderen haben den Blick nach unten auf ihre Handybildschirme gerichtet, wischen und wischen mit dem Daumen, als würden sie nie finden, was sie zu finden hoffen, nie den großen Fisch fangen, nach dem sie suchen. Wahrscheinlich gehörte er zu den Letzten, die durch das Zugfahren zum Lesen gekommen sind. Er denkt an die vielen Zugfahrten in seiner Jugend von Vestfold-Stadt in die Hauptstadt, denn dort, als Lesender im Zug, hatte er schließlich auch den Grundstein gelegt für seine spätere Sehnsucht, selbst zu schreiben, eine Sehnsucht, die erst nach dem Schulabschluss in ihm erwachte. Ich bin ein Anachronismus, denkt er. Ich schreibe für eine aussterbende Rasse. Ich sollte Blogs oder Drehbücher für Fernsehserien schreiben, Romane sind ein absolutes Auslaufmodell.

Bloggen? Aber worüber? Tatsächlich hat er, nur um zu sehen, was für Möglichkeiten sich da boten, während der vergangenen Wochen einen Blog verfolgt, einen Film-Blog von einer Person, die sich Stalker-Stine nannte. Einer sogenannten Influencerin. Seine Neugier hatte ihn dann zu ihrem Instagram-Profil und einem YouTube-Kanal weitergeführt. Sie hatte offensichtlich schon eine ganze kleine Industrie aufgebaut, mit Werbeanzeigen, Product-Placement und allem Drum und Dran. Entdeckt hatte er sie durch eine größere Reportage – »Die Unternehmer*innen von heute« – in einer Wochenendzeitschrift. Felix ertappte sich dabei, Verachtung zu empfinden über diese ganze Aufmachung, Stalker-Stine, auch wenn es einen Anflug von Ironie, von Intelligenz verriet. Er selbst wäre nie zu so etwas fähig, würde sich niemals auf solche Art exponieren. Oder war er bloß neidisch?

Er unterstreicht ein Wort in der Taschenbuchausgabe des Sandemose-Romans, aber seine Konzentration ist futsch. Aus den Kopfhörern eines jungen Mannes auf dem Sitz vor ihm dringen nervenaufreibende Rhythmen. Wer nicht auf einen Bildschirm schaut, hört Musik. Oder beides. Sollte er dem Burschen auf die Schulter tippen und ihm erzählen, David Bowie habe beim Zugfahren immer Bücher gelesen?

Er beginnt bereits, diesen Oslo-Ausflug zu bereuen, ihnfüreine lächerlicheIdee zu halten. Er hätte zu Hause bleiben sollen und schreiben, oder es zumindest versuchen. Er sehnt sich bereits zurück in das kleine Haus draußen am Meer, sehnt sich danach, auf die sich ständig verändernde Wasseroberfläche hinauszublicken und währenddessen ein Glas Beckett zu genießen. Oder auch zwei. Die Zeiten sind vorbei, als er sich zu mehr verleiten ließ, denn es endete jedes Mal in einer Melancholie, mit Textfragmenten, die im jeweiligen Moment genial wirkten, von einem nüchterneren Blick aber gnadenlos demaskiert wurden.

Er ist gerade mitten in der Arbeit an einem Roman, steckt aber fest. Eine sehr vielversprechende Idee. Empfangen in nüchternem Zustand. Es geht um den Goldtransport nach Persien im April1940. Insgesamt 1503Kisten und 39Fässer Gold wurden aus der Osloer Zentralbank befördert und auf Autos verladen; die kleineren 685Kisten wogen je 25Kilo. Felix will einen Funktionär, einen fiktiven natürlich, vor der Abfahrt aus der Hauptstadt die Unterlagen verändern lassen, sodass danach nur mehr 684Kisten gelistet sind. Er steigt auf den Transporter, der zu seinem Glück einen Zwischenstopp in Lillehammer einlegt, und dort, in jener Nacht, in der das Gold aus der Stahlkammer der Bank zum Bahnhof gebracht und auf den Zug verladen wird, gelingt es dem Mann, eine Kiste mit zwei Goldbarren hinauszuschmuggeln. Noch in derselben Nacht holt er die Kiste ab und versteckt sie in einem Haus in Lillehammer, das er gerade geerbt hat. Später schließt er sich der Widerstandsbewegung an. Während dieser ganzen Zeit sind die Goldbarren in seinem Haus versteckt. Nach dem Krieg wird er als Held gefeiert, niemand weiß von seinem Diebstahl, von dem Goldvermögen, das in seinem Haus versteckt ist. Die Kiste steht einfach da. Ab und zu nimmt er die Barren heraus, um sie sich anzusehen. Ihr Gewicht zu spüren. Es soll ein Buch über die Spannung zwischen Heldentum, Verrat und irrationalem Verlangen werden, Felix glaubt fest daran, vielleicht könnte es sogar ein Bestseller werden. Aber im Moment steckt er fest, und das Problem schwirrt ihm die ganze Zeit im Kopf herum: ein missing link in der Personengalerie.

Sie nähern sich Oslo, doch das Fenster bietet nicht mehr die anregende Aussicht auf Frognerkilen und Oscarshall, der letzte Streckenabschnitt verläuft jetzt unter der Erde. In seiner frühesten Kindheit hielt der Zug noch am Westbahnhof, und er dachte immer, so sollte man in der Stadt ankommen: aus dem Zug steigen und direkt hinaus auf den Rathausplatz spazieren. Trotzdem konnte er nicht nachvollziehen, warum man diese alte Bruchbude von einem Bahnhofsgebäude erhalten wollte. Verglichen mit ähnlichen Gebäuden in Europa war das ein Puppenhaus. Ein Kuhstall. Außerdem versperrte es die Sicht auf das neue Nationalmuseum. Wozu diese Pietät für etwas so Unbedeutendes? Überhaupt warOslo eine unaufregende Stadt. Man müsste schon ein echter Patriot sein, um ein Loblied auf eine so gewöhnliche Hauptstadt anzustimmen, sagt er sich auf der Rolltreppe vom Bahnsteig hinauf zur Station Nationaltheatret. Felix geht nichts ab, seit er wieder in seine Heimatstadt gezogen ist, in ein kleines Haus am Meer.

Oder doch, denkt er, als er auf den Johanne Dybwads plass kommt und zu dem hohen Radisson Blu Scandinavia Hotel direkt an der Ostseite des Schlossparks hinaufblickt. Dort, in der Lobby dieses Hotels, hat er während des Studiums den Großteil seines ersten Romans geschrieben. Er wohnte in einer WG ganz in der Nähe, fand es aber inspirierend, in diesem großen offenen Raum voller geschäftig umhereilender Menschen zu sitzen, in dem Stimmengewirr aus Gesprächen in verschiedenen Sprachen. Viele wichtige Passagen hat er sogar auf den Hotelblöcken geschrieben, die er vom Personal an der Rezeption bekam – sie hielten ihn für einen Gast oder glaubten, er würde auf jemanden warten. Einige dieser unbenutzten Blöcke hat er immer noch zu Hause und kramt sie hervor, wenn es wieder einmal irgendwo hakt; es verschafft ihm jedes Mal einen Auftrieb, sich vorzustellen, er sei bloß ein Gast auf der Durchreise.

Das alles erinnert ihn an den Roman, mit dem er sich gerade abkämpft, an das Loch, von dem er nicht weiß, wie er es stopfen soll. Er bleibt vor dem großen Plakat in der Glasvitrine direkt neben dem Personaleingang stehen, von dem ihm Hedda Christine Foss mit zwei modernen Pistolen entgegenstarrt. Forsch. Oder bedrohlich. Vielleicht hilft es mir, wenn ich sie sehe, denkt er. Wenn ich Hedda sehe, die Hedda spielt. Und das noch dazu bei der Premiere. Er weiß, dass sie einige Jahre mit Henrik Adler zusammen war. Das »Promi-Paar«. Aber jetzt war es aus zwischen ihnen. Irgend so eine pikante Geschichte. Auf dem Bahnhof hat er die Titelseite eines Boulevardblatts gesehen: »Heute Abend stehen sie zusammen auf der Bühne.« Und in kleinerer Schrift darunter: »Beste Voraussetzungenfüreinen explosiven Auftritt.«

Hoffen wir, dass es interessant wird, denkt er. Dass etwas Explosives passiert. Vielleicht kann ich dadurch das Gewirre auflösen.

Vielleicht macht mein ganzes Leben eine Kehrtwende.

II

Einmal erlebte Felix tatsächlich, wie sich das Leben innerhalb weniger Sekunden ändern kann. Umgeben von feiernden Menschen, stand er an einer Bar und wünschte sich einfach nur fort, als etwas völlig Unvorhergesehenes eintrat.

Das Ereignis fand 2010 auf dem Literaturfestival in Lillehammer statt, genauer gesagt, während des geselligen Höhepunkts, der als Banknacht bezeichnet wurde, weil er in dem prächtigen Gebäude abgehalten wurde, das unter dem Namen Kulturhaus Banken bekannt war. Felix stand mit einem Wilde an der Bar, froh, dass sie wenigstens einen irischen Whiskey hatten – er hatte schon damals auf die irischen geschworen, und Wilde war der Deckname für Jameson.

Es war spätabends an einem Freitag, und der große Raum war zum Brechen voll mit Autorinnen und Autoren, darunter viele bekannte, von denen einige sogar als landesweite Berühmtheiten zu betrachten waren. Dazu wimmelte es nur so von Branchenvertretern jeglichen Formats. Es war das erste Mal, dass Felix zu dem Festival eingeladen wurde, er sollte über seinen jüngsten Roman Blauer Prinz