Der Kreis - Jan Ilhan Kizilhan - E-Book

Der Kreis E-Book

Jan Ilhan Kizilhan

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Beschreibung

Mitten hinein in die Wirren und politischen Umwälzungen während und nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches, in das Spannungsfeld zwischen unterschiedlichen Religionen, Kulturen und Kolonialmächten wird die kurdische Jesidin Aziza geboren. Es ist die Zeit, in der das osmanische Militär, später auch fanatische muslimische Sekten mit allen Mitteln versuchen, die Jesiden zum Islam zu bekehren. Jesidische Dörfer werden angegriffen, das Hab und Gut der Einwohner gestohlen, Frauen und Mädchen versklavt. Selbst vor den Gräbern der Jesiden wird nicht Halt gemacht, die Verstorbenen aus- und nach islamischer Tradition erneut begraben. Auch Azizas Familie wird gefangen genommen und zwangsislamisiert. Doch trotz allen Leids und aller Grausamkeiten, die das Mädchen erleiden muss, lässt sie sich nicht brechen und bleibt eine aufrechte Jesidin. Nachdem ihr die Flucht gelungen ist, wandert sie bis zu ihrem Tod als Heilerin von einem Dorf ins andere und hilft ihren Mitmenschen – unabhängig von ihrem Glauben und ihrer Herkunft. Als sie stirbt, ist sie bereits zu einer regionalen Legende geworden, die von Muslimen, Christen und Jesiden gleichermaßen verehrt wird. Nach der wahren Geschichte der Jesidin Begê Samur (1894–1956), deren Grab bei Urfa in der Türkei heute ein heiliger Ort ist, an den Menschen allen Glaubens gehen, um für Heilung zu beten.

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Jan Ilhan Kizilhan

Der

Kreis

Die letzte Jesidin

Roman

INHALT

Prolog

Buch I – Das Dorf

Buch II – Im Namen Gottes

Buch III – Der Krieg

Buch IV – Die Stadt Abrahams

Buch V – Die Odyssee

Buch VI – Das Ende der Reise

Nachwort

PROLOG

Angesichts der Anmut und Ruhe, mit denen Aziza ihre Hände der Sonne entgegen zum Gebet öffnete, wäre mir fast das Licht in ihren Augen entgangen. Doch als sie den Kopf hob und mich ansah, war darin das Leuchten der Engel. Trotz ihres Alters lag in ihren Augen dieses lebendige, gütige Strahlen der jungen, sechzehnjährigen Aziza.

Der feine Staub der Wüste erfüllte die Luft. Kinder rannten über den Hof und durch das Tor hinaus. Die Köpfe zusammengesteckt, saßen die Frauen im Garten beisammen und sprachen von den Wundern, die Aziza vollbracht haben sollte, während die Männer im Gästeraum weiter die Luft mit dem Qualm ihrer selbst gedrehten Zigaretten vernebelten, der nur teilweise und in kleinen Wolken durch die Fenster abzog. Auch sie sprachen von Aziza wie von einer Heiligen, längst vergessen waren all die vorgefassten harten Urteile.

Aziza lag schweigend auf dem schmalen Bett. Ihr Gesicht verriet weder Angst noch Verbitterung und auch kein Leid. Dennoch spürten wir beide, dass das Ende nahte. In mir stieg Angst auf, eisig wie das Wasser, das aus der Quelle in den Bergen unser Dorf versorgte.

Ich zögerte einen Augenblick, dann legte ich sachte die Hand auf Azizas Schulter. Ein Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus, doch zum Sprechen fehlte ihr die Kraft. Ich wusste, dass sie uns schon bald für immer verlassen würde. Und erfüllt von diesem Wissen, schaute ich ihr erneut ins Gesicht, ein letztes Mal noch, bevor der Hahn krähte und ein neuer Tag anbrach. Ihr Gesicht war nur mehr ein Schatten ihres früheren Ichs, aber im Laufe der Jahre hatte sich ihr Blick nie verändert. Als ich nun an ihrem Bett saß, glitzerte jedoch etwas in ihren Augen, ein mir unbekannter Ausdruck. Lange Zeit versuchte ich, ihn zu deuten, bis ich verstand, dass es nicht mehr Aziza war, die mich ansah. Es war Gott, es war der Engel Tausi Melek, der mir aus ihren Augen entgegenblickte.

Wir schreiben das Jahr 1954. Die türkische Republik ist weiterhin ein Unruheherd und die religiösen und säkularen Kräfte kämpfen im Land um die Macht. Juden, Armenier und andere Christen gibt es kaum, und die meisten jesidischen Dörfer sind längst islamisiert. Tag für Tag werden Moscheen errichtet, obwohl hier keine Muslime leben. Die islamischen Sekten haben einiges von ihrer Macht verloren, sind aber dennoch wie Ameisen im Untergrund aktiv und unbeirrt davon überzeugt, dass eines Tages ein islamischer Staat entstehen wird.

Beim Gedanken daran schnürt mir die drückende Hitze mit ihrem feinen Staub den Atem ab. Vor meinen Augen suchen die Menschen nach Schattenplätzen unter den Bäumen und nahe gelegenen Sträuchern oder sie verschwinden in der Menge, die im überdachten Basar Schutz sucht. Das Zirpen der Zikaden in den Olivenbäumen raubt einem schier den Verstand. Der Himmel über der Stadt verliert sich in wolkenlosem Blau, die Luft flimmert, am Horizont flirren die Umrisse des spitzen Felsgesteins der Berge, den Wächtern einer längst vergangenen Welt.

Ich fürchte mich bei dem Gedanken, ohne Aziza zu leben, auch wenn meine Tage bereits gezählt sind. Vor langer Zeit unterwies ich bereits ihre Eltern in den Lehren unserer Religion, als diese noch Kinder waren, und nun hatte Aziza selbst diese Welt vor mir verlassen. »Wie alt soll ich denn noch werden, mein Gott?« Ein langes Leben liegt hinter mir, Angst vor dem Tod habe ich nicht. Doch mit mir, einem der Letzten seiner Art, geht auch ein Teil meiner Religion. Sie ist dabei auszusterben, und es gibt keinen Weg, dies zu verhindern. Vielleicht ist die Zeit gekommen, dass wir diese Erde verlassen, gemeinsam mit unserem Gott, denn für einen anderen ist in Aziza und mir kein Platz. Das mag anders sein für die übrigen unseres Volkes, die sich umentschieden haben oder zu einem anderen Glauben gezwungen wurden und nun mit einem fremden Gott leben und seinen Namen loben um den Preis ihres Überlebens. Aber nicht Aziza. Aziza verlor niemals nur einen Gedanken daran, ihren Gott aufzugeben und einem anderen zu folgen, auch nicht, um ihr Leben zu retten. Und genau dafür liebten die Menschen sie, ganz gleich, ob es Jesiden, Muslime oder Christen waren. In ihren letzten Stunden verehrten sie alle Aziza wie eine Heilige.

Aziza ist niemals geflohen, weder vor ihren Feinden noch vor dem Sheikh oder den Trümmern ihres Lebens nach Jahren der Gefangenschaft. Ich frage mich oft, woher sie die Kraft nahm, das Elend zu überstehen. Die Frauen behaupten, sie habe sich dem Sheikh in den Weg gestellt und ihn durch ihren Glauben verzaubert, obwohl er ein bösartiger Mensch und elender Verbrecher war. Aber das stimmt ebenso wenig wie die Legende, dass Aziza den Sheikh geheiratet und deswegen überlebt habe. Die Wahrheit ist: Der Sheikh war ein Sektenführer und hat mithilfe von Magie und Tricks versucht, seine Herde zu vergrößern. Er hat mit Freund und Feind geschachert, um Macht und Einfluss zu bekommen. Er war ein Fanatiker, ein Sufist ohne Seele, ein religiöser Mann, der seinen Gott verloren hat. Heute würden wir ihn einen Wahnsinnigen nennen, einen Geisteskranken, einen Massenmörder. Aber damals war er ein Fürst, ein angesehener religiöser Führer, bei dem die Franzosen, Engländer und türkischen Offiziere ein und aus gingen. Er hatte keine Freunde, und Verbündete suchte er nur, wenn es um seine Interessen ging. Heute frage ich mich, warum wir Bestien wie ihm nicht trotzten. Aber so war es eben: Wir waren Menschen, unvollkommen, voller Angst und Zweifel, bemüht, im Heute zu leben und das Morgen Gott zu überlassen. Allein, wir überließen das Morgen nicht Gott, sondern den Ungeheuern, die unser Leben zur Hölle machten und unser Volk langsam und unaufhaltsam vernichteten, jeden Tag, einen Menschen nach dem anderen. Was nur haben wir getan? Wir hofften und beteten für ein besseres Morgen, das niemals kam.

So war Aziza stets in Gefahr, aber sie stand dem Himmel immer näher als wir, die wir an ihrem Glauben und ihrer Geschichte zweifelten. Ob es daran lag, dass sie nie ein böses Wort verlor und niemals versuchte, anderen Menschen zu schaden, ganz gleich ob Muslim, Jeside oder Christ? Sie war eine Heilerin und half jedem, der krank war. Sie fragte nicht nach Herkunft oder Religion. Für sie waren wir alle Menschen, und in ihrem Herzen waren wir Schwestern und Brüder im Blut. Sie ließ sich zu nichts zwingen und kämpfte zeitlebens für Freiheit, was ihr den Respekt und die Achtung aller einbrachte.

Jetzt dringt nur noch die Stille durch das offene Fenster ins Zimmer. Die Kinder sind nicht mehr zu hören, der erste Wind kündigt die Kühle des Abends an und erlaubt es mir, wieder durchzuatmen. Lange Zeit war ich wie blind, geblendet von mir selbst, sodass ich das Geheimnis von Azizas Kraft nicht erkennen konnte. Und doch habe ich am Ende durch sie den Sinn meines Lebens gefunden.

Nun, nach mehr als neunzig Jahren auf dieser Erde, weiß ich, dass es keine vollkommene Wahrheit gibt, sondern nur die Worte eines sterbenden Priesters, wie ich einer bin; die Worte eines Greises, der nun auch sein letztes Schaf verlor. Aber was ist ein Hirte ohne seine Schafe?

Eines bleibt zu tun, bevor auch ich gehe. Ich will von dieser Frau berichten, die den Schrecken des Krieges, der Flucht und noch Schlimmerem getrotzt hat und überlebte. Glaubt mir, trotz meines zitternden Körpers und meiner getrübten Augen fällt es mir leicht, sie vor mir zu sehen, wie sie war, damals, bevor ihre Geschichte wirklich begann.

Buch I

DAS DORF

1

Wann werde ich endlich meine Freiheit finden?, fragte sich Aziza. Wenn ich geheiratet habe? Sie öffnete die Hände, als sollte sie eine Gabe empfangen, blickte der Sonne entgegen und blinzelte in die Strahlen, die ihr Gesicht erleuchteten. Trotz des lieblichen Duftes der feuchten Erde und der blühenden Pflanzen am Flussrand war es gefährlich, sich allein hier aufzuhalten. Muslime suchten immer eine Gelegenheit, jesidische Mädchen zu entführen. Und die Alten sagten, dass sich im Wasser sogenannte Djinns befänden, die einen erst verführten und dann fortstahlen. Es war ein Ort für böse Kräfte, vor allem, wenn man allein war. »Mein Gott und Engel Tausi Melek, beschützt mich«, betete sie im Stillen und lauschte dem Rauschen des Wassers.

Aziza hatte keine Angst. Um keinen Preis der Welt wollte sie Muslima werden wie ein Teil ihrer Familie und die Mehrheit der Dorfbewohner. Ich bin Jesidin und bleibe es. Gott hat mich so geboren und so werde ich sterben, sagte sie zu sich und wollte es am liebsten in die Welt hinausschreien. Diesen Entschluss hatte sie gefasst, und an jenem Vormittag klangen ihre Worte wie ein Schwur, den sie nie im Leben brechen wollte.

Es sollte nur ein Besuch in dem Teehaus sein, das zu einer Moschee umgebaut worden war, doch dann vernahm sie das Gemurmel des Imams, der geheime Verse in einer anderen Sprache sagte, die sie nicht verstand. Was folgte, war eine bedrückende Stille. Unbegreiflich, was Wörter, aneinandergereiht zu ganzen Sätzen, alles bewirken konnten. Nach den heiseren Worten des Imams wiederholten auch die versammelten Männer im Raum und die Frauen draußen die Worte, ohne sie zu verstehen, ahmten deren Melodie nach. Wieder und wieder sagten sie »Aschhadu an la ilaha illa-llah, wa aschhadu anna Muhammeden abduhu wa-rasuluhu«, in einem Chor, wie ein Schlachtruf, um sich zu motivieren, das Richtige zu tun. Es waren Worte auf Arabisch, das eigentlich niemand im Dorf verstand.

Die Haare zurückgebunden und versteckt unter einem schwarzen Kopftuch, das sie bisher nie getragen hatte, murmelte auch ihre Schwägerin die Worte und glaubte daran, sogleich in den Himmel zu kommen. Ihre Augen zuckten unruhig, sie begann zu zittern und wiederholte immer wieder: »Ich bezeuge: Es gibt keinen Gott außer Allah, und ich bezeuge, dass Muhammad der Gesandte Allahs ist.« Die anderen Frauen begannen hysterisch durcheinanderzuschreien wie ein Chor ohne Dirigent: »Es ist die Shadda, das Glaubensbekenntnis aller Muslime. Wir haben nun den wahren Glauben gefunden. Welch ein Glück, dass wir nun alle Muslime geworden sind.«

Azizas Mutter stand neben ihrer Schwägerin und hielt sie fest, damit sie nicht umfiel. Die kleine, unscheinbare und stets ängstliche Mutter sprach immerzu von vergangenen Katastrophen, einem neuen Ferman, einem Massaker, das kommen werde. Sie wollte ihre Familie, ihre Kinder schützen und hatte sich in die Reihen der schwarz gekleideten Frauen gestellt, der ehemaligen Jesidinnen. Sie wurde wie sie eine Muslima, um zu überleben. Denn sie alle glaubten, keine Wahl zu haben. Sie wussten nicht, was der Islam bedeutete, und es war ihnen auch egal. Sie wollten nur, dass sich die Grausamkeiten, die Verfolgung, Vergewaltigungen, Morde und Massaker niemals wiederholten. Sie wollten leben.

Azizas Blicke folgten den Sonnenstrahlen, die ihre Aufmerksamkeit an den Rand um die Sonne lenkten, wo sie einen dunklen Schatten ausmachen konnte, der ihr Angst einjagte. Wie zum Schutz gegen diese unsichtbare Macht zog sie ihr weißes Kopftuch noch fester und sagte leise: »Ich bleibe eine Jesidin!«

Seit sie sich erinnern konnte, hielt ihre Mutter das Gedenken an das Blutbad wach. Die Männer ihres Stammes waren seit einer Ewigkeit tot, niedergemacht von den Schwertern der Muslime. Warum ließ ihre Mutter die Verstorbenen auch nach all den Jahren nicht in Frieden ruhen und rief sie stattdessen immer wieder an? In den Augen des Imams öffnete sie damit den Boten Satans eine Hintertür. Die Jesiden waren für die Muslime sowieso Teufelsanbeter, weshalb man sie alle zu retten suchte, ob sie es wollten oder nicht.

Aziza hatte den Anblick der Frauen nicht ertragen und wollte nur noch allein sein. Sie hatte das Dorf hinter sich gelassen und war wie in Trance gelaufen, bis sie den Fluss erreichte.

Als wollte sie sich unsichtbar machen, rutschte Aziza tiefer in das dichte Gebüsch am Fluss. Sie atmete, das Rauschen des Flusses in den Ohren, und schloss die Augen. »Engel Pfau, Tausi Melek, rette mich. Ich bin deine Dienerin und glaube nur an Gott und an dich, mein Engel.« Danach fühlte sie sich etwas erleichtert, schöpfte neue Hoffnung.

Da schlug ein Stein neben ihr ins Gebüsch. Erschrocken riss sie die Augen auf und starrte durch die hochgewachsenen Pflanzen hindurch. Ein zweiter Stein landete dicht neben ihrem Kopf. Aziza rollte sich zur Seite und sprang auf. Manchmal verirrten sich Ziegen und Schafe hierher und lösten einen Steinschlag aus, aber nirgends waren Tiere zu entdecken. Seit Wochen ging das so: Der Wind säuselte, ein jähes Geräusch, Bewegungen, die wie Schatten flirrten.

Plötzlich entdeckte sie schwarze Vögel, Raben, die auf Ästen und Zweigen der fast ausgetrockneten Bäume auf der Anhöhe über ihr hockten. Es war ein ganzer Schwarm. Einer von ihnen hob den Schnabel. Er starrte sie mit schräg gelegtem Kopf aus dunklen Augen an. Sofort öffnete Aziza beide Hände zum Gebet und schaute in Richtung der Sonne. Sie war ihr heilig und in ihrem Glauben die Kraft allen Lebens. Raben aber waren Vorboten des Bösen, sie brachten Verderben und Tod. Wie damals, einige Tage nach dem Neujahrsfest am ersten Mittwoch im April, dem Carshema Sor, als der Pir Hesman vor dem großen Baum, dem Dara Mirade, dem Wunschbaum, zum Gebet gerufen hatte …

An jenem Tag war sie sofort zum großen Dorfplatz gelaufen und hatte mit angesehen, wie ein schwerer Ast den Pir traf und dieser zu Boden fiel. Für gewöhnlich waren es jesidische Jäger oder Landarbeiter aus den Bergen, harte und streitsüchtige Männer, die auf dem Dorfplatz erschienen und Essen verlangten, wie es die Tradition gebot, weil es der höchste Festtag des Jahres war. An jenem Tag aber waren es muslimische Sektenanhänger des Sufi-Ordens der Quadiriya, die sie vor sich sah. Ohne Ankündigung waren sie durch die Gassen gestürmt, hatten Türen aufgebrochen und die Dorfbewohner schikaniert. Im Namen Allahs scheuchten sie Frauen aus den Häusern und fingen Ziegen und Schafe ein, schneller als jeder jesidische Jäger. Die Tiere zerrten sie mit fort. Und nur mit aller Gewalt konnten sie davon abgehalten werden, auch jesidische Mädchen mitzunehmen. Einige Männer trugen Verletzungen davon, als sie diese verteidigten. Eine alte Frau stand in ihrem weißen Kleid und Kopftuch wie gefesselt da, bewegte sich nicht. Um sie herum war mit einem Stock ein Kreis in die Erde gezeichnet worden. Sie war gefangen in dem Kreis.

Ein junger Muslim lachte hämisch: »Schaut euch diese Teufelsanbeter an, sie dürfen den Kreis nicht verlassen, es sei denn der Kreis wird von außen wieder aufgelöst. Wie lächerlich!«

Die alte Frau schaute den jungen Mann an und sagte: »Bitte, mein Sohn, nimm den Stock und mach einen Strich in den Kreis, damit ich ihn wieder verlassen kann. Der Kreis ist vollkommen und darf von demjenigen, der sich in ihm befindet, nicht verlassen werden.«

Da bekam Aziza Angst und floh. Als sie sich umdrehte, stand die alte Frau noch immer im Kreis und der junge Mann lachte sie aus. Aziza aber wollte nach Hause, in ein sicheres Versteck, doch hinter dem Dorf auf einem Baum warteten die Raben auf sie und krächzten wild, als drohe an diesem Tag die Hölle, das ganze Dorf zu verschlingen.

Aziza wusste, sie musste nach Hause, und so lief sie, so schnell sie konnte, machte einen Umweg um den Baum, wich dornigen Brombeersträuchern aus, die ihr den Weg versperrten, und schloss die Augen, so oft sie es wagte, um die Raben nicht sehen zu müssen. Ihr Herz schlug hart und schnell. Sie hörte das Rauschen des Flusses, er sprang wild über die Felsbrocken und zwischen ihnen hindurch. In Gedanken war sie schon auf dem Pfad, der sie zu ihrem Haus hinaufführen würde, und eilte geschwind die Stufen hinauf. In der Schlucht flatterten die Raben auf, als habe sie jemand aufgescheucht.

Wie ein verstecktes Nest schmiegte sich das Bergdorf in den Hang unterhalb der Gipfel, die breiten und großen Felsen schimmerten im Sonnenlicht. Die hohen Berge schützten die Häuser von beiden Seiten vor dem kalten Wind. Und nach Süden erlaubten spärliche Taleinschnitte das Wachstum einiger Granatapfel- und Feigenbäume, die die Sicht auf das Tal versperrten. Bis vor wenigen Wochen hatte Aziza kaum einen Gedanken an die Welt jenseits der Täler verschwendet oder an ihre Zukunft, an Ehe und Kinder, aber nun sehnte sie sich nach einem Leben in einem ganz normalen Dorf, gemeinsam mit ihren jesidischen Landsleuten. Aber gab es überhaupt noch ein rein jesidisches Dorf? Oder sollten aus der Mehrheit bereits Muslime geworden sein? Diese unbeantworteten Fragen beunruhigten sie und legten sich ihr wie eine Faust ums Herz.

Erst vor wenigen Tagen war die jährliche Karawane bei dem jesidischen Priester Pir Hesman eingetroffen und hatte neben Weizen, Oliven und Stoffen eine Botschaft für Aziza mitgebracht. Es war eine Nachricht von ihrem Vater. Nicht nur der Priester war erstaunt, nach so langer Zeit Kunde von ihm zu erhalten. Für gewöhnlich schickte der Vater wortlos Güter für ihren Unterhalt. Aziza war ebenfalls verblüfft über den Inhalt der Nachricht: Ein junger Mann aus jesidischer Familie suche eine Frau. »Was für ein Glück«, sagte der Priester, öffnete die Hand zum Gebet und schaute in Richtung der Sonne. »Sie werden nicht sehr wohlhabend sein, aber Gott sei gelobt, dein Vater hat dich nicht vergessen. Er hat für dich einen jesidischen Mann gefunden und du kannst diesem Dorf entfliehen. Denn hier wird es bald schon keine Jesiden mehr geben.«

Den Rest der Woche hatte Aziza zwischen Unbehagen und Freude geschwankt. Sie hatte ihren Vater nur undeutlich in Erinnerung, aber jeder im Dorf wusste, dass er vor langen Jahren Soldat geworden war und deshalb das Dorf, die Mutter und seine Kinder verlassen hatte.

Bei dem Gedanken an die alte Jesidin im Kreis aber wusste sie: Jetzt galt es, eine Entscheidung zu treffen. Je heftiger Azizas Herz schlug, desto deutlicher erkannte sie die Gelegenheit. Jetzt oder nie! Sie wollte nicht wie ihre beiden Brüder und ihre Schwester zur Muslimin werden. Das kam für sie nicht infrage. Der Gedanke an den unbekannten jungen Mann reizte sie natürlich auch. Vielleicht liebte er ebenso wie sie den Klang der Hirtenflöte, tanzte gerne und schätzte den jesidischen Glauben. Ja, vielleicht würden sie Kinder bekommen und in einem jesidischen Dorf glücklich leben.

Geschrei holte sie aus ihren Gedanken und brachte sie zurück in die Gasse, die sie entlanglief. Am Dorfbrunnen spielten Kinder. Wasser plätscherte in ein Becken aus Stein. Die Entscheidung war gefallen. Ihr Herzschlag beruhigte sich. Ihr Vater bot ihr ein neues Leben an.

Aziza lief am runden, mit Steinen befestigten Brunnen vorbei und bog in die Straße, in der der Priester wohnte, vorbei an den Häusern ihrer Geschwister. Sie alle waren schwarz gekleidet und ähnelten immer mehr den Raben, vor denen Aziz sich so sehr ängstigte. Nun galt es, ihrer Mutter die Wahrheit zu sagen. Kein Weg führte an der Wahrheit vorbei. Das hatte diese oft genug gesagt.

Weiter oben im Dorf, zwischen den Häusern des Mohtars, des Dorfvorstehers, und des Bekci, des Dorfwärters, bog Aziza in den Pfad ein, der zu ihrem Haus führte. Vor der Zeit, an die sie sich erinnern konnte, hatte ihr Vater ein zweistöckiges Haus errichten lassen. Das Haus war etwas ungewöhnlich, da es nicht nur aus Lehm und Steinen, sondern mit viel Holz erbaut worden war und sich durch seine zwei Stockwerke deutlich von den anderen Häusern abhob. Es war ein schönes Haus. Hohe Mauern umschlossen den Hof mit Scheune und Garten. Das Tor knarrte, als Aziza es aufschob. Sie lief über den trockenen Erdboden des Hofes, vorbei an dem angelegten Garten mit Auberginen, Tomaten und Zucchini. Ihr Blick schweifte über die rankenden Weinreben, die vertrauten Feigen- und Olivenbäume jenseits der Mauer.

»Mutter!«, rief sie, als sie den Vorraum betrat, und schloss die Tür hinter sich. Ihre Mutter stand in der hintersten Ecke des hohen, gewölbeartigen Raumes, einen Wald von getrockneten Kräuterbüscheln über sich. Sie hielt einen Beutel aus getrockneten Linsen und Reis in der Hand und war wohl dabei, eine Suppe oder einen Arzneibrei zuzubereiten. Das Wasser auf dem Feuerherd kochte bereits. Im fahlen Licht des Raumes warf ihre Gestalt dunkle Schatten, unter ihrem Kopftuch hatte sich eine Haarsträhne gelöst und fiel ihr ins Gesicht. Die Mutter hatte die Hand grüßend erhoben und ließ sie nun sinken, als sie die Tochter ansah, in ihren Augen ein müder Schimmer, bevor sie sich wieder dem Topf auf dem Herd widmete.

Ihre Mutter war eine Heilerin, kannte sich mit allen Pflanzen der Gegend aus und wusste immer, welche Kräutermischung gegen Kopfschmerzen, Wunden oder auch schlechte Stimmung half. Aziza beobachtete, wie sie einen großen, hölzernen Löffel nahm und kräftig im Topf rührte. Ein angenehmer Geruch verbreitete sich allmählich im Raum. Schließlich kam die Mutter auf Aziza zu und holte einen Beutel aus der hölzernen Truhe, die direkt neben ihr an der Wand stand. Dann gab sie die Mischung aus dem Topf auf ein Tuch, drückte dieses sanft zusammen und wickelte es nach kritischer Prüfung ein. »Die Frau des Müllers quält sich schlimmer als je zuvor …«, sagte sie. »Ich habe nur auf dich gewartet. Komm!«

Aziza biss sich auf die Lippe: »Es kann nicht Tausi Meleks Wille sein, dass wir die Geister der Vorfahren rufen, um der Frau des Müllers zu helfen.«

Ihre Mutter ging zur anderen Seite des Gewölbes. »Woher willst du wissen, was Tausi Melek will und was nicht?« Sie nahm einige getrocknete Pflanzen, die in einer Tasche an der Wand hingen. Aziza atmete tief durch. Ihre Mutter war so sehr mit ihren Gewürzen und Pflanzen beschäftigt, dass sie Aziza nicht einmal mehr anschaute. Wortlos sammelte sie, was sie benötigte, tat alles in ein Tuch, wickelte es sorgsam ein und steckte es unter ihr langes und dickes Bauchtuch, dass den Ober- und Unterkörper fest umschloss. »Nichts, was ich tue, steht im Widerspruch zu Gott und Tausi Melek. Ich tue alles im Namen der Sonne, der Erde, des Wassers und des Windes, das ist unser Glaube. Heilen kommt mit und durch diese Elemente. Wir müssen allen Menschen helfen«, sagte sie, ohne Aziza in die Augen zu schauen, und verließ den Raum. Aziza folgte ihrer Mutter in das Wohnzimmer, das nur für Gäste vorgesehen war.

Das Zimmer war mit handgewebten Teppichen ausgelegt, dazu lagen an den Wänden mehrere lange Kissen aus geschlagener Schafswolle. In der Ecke brannte ein Licht, ein winziger Docht schwamm in einem Ölgefäß. Eine goldene Statue von Taus, dem Pfau, stand als Zeichen ihres Glaubens an Tausi Melek, den obersten Engel, neben dem Fenster, angeleuchtet von den Strahlen der Sonne.

»Pir Hesman hat mir die Augen geöffnet. Du hast dich wie eine Einsiedlerin hier eingenistet und gehst nur zu den Leuten, wenn sie krank sind, ein Kind gebären oder einfach ein Mittel brauchen, um sich wohlzufühlen. Du hast dich von Gottes Wort entfernt und tust nichts dagegen, dass deine eigenen Kinder Muslime geworden sind. Bist du noch eine Jesidin?«, fragte Aziza.

Ruhig und gelassen öffnete die Mutter die Hände und richtete den Blick nach oben, als könnte sie die Sonne durch die hölzerne Wanddecke sehen. »Glaubst du wirklich, ich bin keine Jesidin mehr, weil außer dir alle meine Kinder Muslime geworden sind? Glaubst du, sie sind aus Freude Muslime geworden? Sie haben Angst um ihre Familien, und jeden Tag kommen diese Leute von der islamischen Sekte und versprechen ihnen Geld, Frauen, Land, und wenn sie damit nichts ausrichten, ziehen sie das Messer. Was sollen unsere Leute machen? Du musst selbst entscheiden, was du willst. Ich wünschte, ich hätte so viel Kraft und einen starken Glauben wie du, aber ich kann nicht. Ich muss auch meine anderen Kinder und Enkel schützen. Sie sind alles, was ich habe.«

»Silt, schnell, kommt!«, ertönte es vom Hof.

Die Gerufene, Azizas Mutter Silt, ging zum Fenster, hob den Arm und winkte zum Zeichen, dass sie verstanden hatte. Dann drehte sie sich um. »Wir gehen jetzt zur Müllerin. Sie braucht uns.«

»Ich weiß nicht, Mutter …«

»Was weißt du nicht? Die Seelen der Menschen sind unerlöst. Sie brauchen dich, ich brauche dich, meine Aziza.« Silt holte eine Flasche mit Wasser: »Hier, nimm einen Schluck. Es ist das Wasser aus dem weißen Brunnen des heiligen Ortes der Jesiden aus Lalish. Er wird dich gegen die bösen Kräfte schützen. Und der Priester? Er ist ein Narr, ein Träumer der alten Welt.«

Widerwillig nippte Aziza an der Flasche und nahm einen Schluck.

Ihre Mutter nickte zufrieden: »Es gibt nur einen Gott, und er wird uns helfen!«, rief sie aus.

Aziza aber wusste nichts mit dem Satz anzufangen und schaute wortlos zu, wie ihre Mutter den Raum verließ.

2

Silt trat mit ihrem Stab aus rotem Kokaholz vor das Hoftor. Auf dem Pfad zum Dorf war niemand zu sehen. Um diese Tageszeit arbeiteten die Nachbarn in den Gärten, auf den Feldern oder hüteten das Vieh. Auch die Frau, die sie zur Müllerin gerufen hatte, war fort. »Gut so«, dachte Silt bei sich, denn das bedeutete, sie musste keine Leute sehen, keine Fragen hören und keine endlosen Gespräche über den Islam und das Jesidentum oder über die guten und bösen Dorfbewohner ertragen.

Aziza folgte ihr leichtfüßig, aber mit schwerem Herzen. Sie schaute sich die Häuser, Gassen, Bäume und Sträucher an, als müsste sie jede Einzelheit im Gedächtnis bewahren, damit sie ja nichts vergaß. In ihrem Innern war Aziza damit beschäftigt, ihre Heimat zu verlassen, während die Mutter ahnungslos die Gasse entlangging, von der Hoffnung erfüllt, dass ihre Mittel die erwartete Heilung bringen würden.

Silts stiller Wunsch dabei war, dass Aziza so weitermachen würde wie bisher. Keines ihrer anderen Kinder war so begabt und besaß die innere Kraft und Macht, eine Heilerin zu werden. Schon als Kind aber kannte Aziza alle Kräuter und Pflanzen und wusste viel über deren Wirkung. Ihre Hände und ihre Stimme waren die einer Magierin, auch wenn Aziza davon nichts wissen wollte. Als sie klein war, hatte sie noch Freude daran gehabt, ihrer Mutter zu helfen, und nicht nur die Dorfbewohner, sondern auch Fremde aus anderen Gegenden sahen es gerne, wenn Aziza bei der Behandlung dabei war. Inzwischen war es über zehn Jahre her, dass Aziza ihre Mutter zu einer Heilung begleitet hatte. Sie war zu einer jungen Frau herangewachsen mit der schlanken Gestalt ihres Vaters und den wilden Locken ihrer Mutter. Schon immer gelang es ihr nur mit Mühe, ihren Haarschopf unter einem Tuch zu bändigen, doch seit einer Weile trug sie ihr Haar nun schon offen. Du wärst eine mächtige Heilerin, dachte Silt, während sie den Blick auf Aziza ruhen ließ.

Die beiden schlugen den Weg zum Melonenfeld ein. Immer wieder blickte Silt Richtung Sonne und betete still, froh, dass Aziza sie an diesem Tag begleitete. Sie spürte, dass die Macht um sie war, aber sie wusste, dass Azizas noch viel stärker wäre und dass sie die Fähigkeit hatte, in die Vergangenheit und auch in die Zukunft zu blicken. Aziza war vielleicht keine Heilerin, aber sie war eine Seherin, selbst wenn sie davon nichts wissen wollte. Ihr war zwar bewusst, dass sie über eine Gabe verfügte, aber nicht, warum und in welchem Maße. Sie erlebte die Leidenszeit ihres Volkes mit und wollte nicht zusätzlich die Bürde besonderer Fähigkeiten. Sie wollte einfach Aziza sein, so wie sie war, mit einem Ehemann und Kindern.

Als sie den kleinen Bach im Dorf erreichten, lehnte Silt ihren Stab an den hoch aus dem Bach aufragenden Stein, formte mit den Händen eine Schale, nahm einen Schluck von dem Wasser und wusch sich das Gesicht. Aziza sah sich währenddessen um, erfüllt von dem Gedanken, dass bald die roten Mohnblüten und viele weitere Pflanzen mit ihrer unverwechselbaren Farbe den Bach in ein wunderschönes Meer aus Blumen verwandeln würden.

Erfrischt griff sich die Mutter den Stab, schaute in Richtung der Sonne und betete so laut, dass die Vögel erschrocken aus dem Gebüsch aufflogen und dabei die Zweige zum Rascheln brachten, als würden sie eine fremde Sprache sprechen.

»Irgendwann muss ich ihr die Wahrheit sagen«, murmelte Aziza leise vor sich hin.

Angekommen in der Gasse der Müllerin, blieben die beiden Frauen vor der Tür des Hauses stehen. Silt zog ein Berat, eine weiße runde Lehmkugel von der Größe eines Fingernagels, aus der Tasche, wickelte es in ein kleines rotes Tuch und befestigte es oben am Türrahmen des Hauses. Es war heilige Erde aus Lalish, dem Heiligtum der Jesiden. So ein mit Erde gefülltes Tuch sollte die bösen Geister verjagen und der Müllerin in ihrem derart gesegneten Haus die Heilung ermöglichen. Silt betrat das Haus, ohne anzuklopfen. Sie wurde bereits erwartet. Aziza folgte ihr unwillig.

3

»Sei gegrüßt, Müllerin«, sagte Silt. »Wie fühlst du dich?«

Die Frau machte keine Anstalten, sich zu bewegen. Sie lag wie tot auf ihrer Schlafmatratze, das Gesicht kalt und grau wie ein erloschenes Feuer. Leeren Blicks starrte sie auf die Holzbalken unter dem Dach.

Silt nahm die Tasche von der Schulter und reichte sie ihrer Tochter. Aziza wusste sofort, was zu tun war. Sie ging in die Küche, wo sie die Tasche neben dem Feuer abstellte und niederkniete. Nacheinander holte sie die getrockneten Pflanzen heraus. Daraus mischte sie ein Mittel und kochte die Kräutermischung auf dem Feuer mit Wasser auf.

Die beiden Frauen in der Schlafkammer sprachen miteinander, die Stimmen unterdrückt, als hätten sie ein Geheimnis. Es war ein leises Flüstern, aber Aziza hörte sie dennoch.

»Ich habe meine Tochter mitgebracht. Sie wird uns helfen.«

»Bist du dir sicher? Du solltest das arme Kind nicht dazu zwingen.«

»Mach dir keine Sorgen, meine Liebe. Sobald du das Heilmittel zu dir genommen hast, bist du frei.«

Während Aziza in dem kleinen Topf rührte, erfüllte ein angenehmer, berauschender Duft den Raum, hellte die Stimmung auf. Die Mutter begann zu beten, Gebete, die niemand kannte.

Aziza starrte auf die Glut, als sei die Flamme die erste, die sie je gesehen hatte, und rang nach Luft. »Mir ist schwindlig«, sagte sie.

Silt kniete sich vor sie hin, fasste ihre Schulter mit der einen Hand und legte ihr die andere an die Stirn, als wisse sie genau, was zu tun war. Sie sagte: »Das ist nicht schlimm, hab keine Angst.« Sie brachte Aziza dazu, sich auf den Boden zu setzen, nahm das Gefäß mit den Heilkräutern und schob die heruntergebrannten Hölzer des Feuers geschickt zusammen. Dann pustete sie, bis das Feuer neu angefacht war und die rote Glut das Schwarz durchdrang.

»Mutter, mir ist immer noch schwindlig, was geschieht mit mir?«

Silt beugte sich vor und nahm mit einem Holzlöffel etwas von der warmen Arznei aus dem Gefäß. Dann gab sie vorsichtig Aziza etwas von der dicken, braunroten Flüssigkeit.

Aziza verzog das Gesicht, schluckte sie jedoch widerstandslos. »Das ist aber bitter«, sagte sie nur.

Silt reagierte nicht darauf, als hätte sie das schon oft gehört. »Hab keine Angst. Unsere Familie hat seit Jahrhunderten Wunderheiler hervorgebracht. Wir haben die Gabe, nicht nur im Diesseits Dinge zu sehen, sondern auch im Jenseits – Dinge, die andere nicht sehen können. Es ist eine Gabe, also hab keine Angst. Das Feuer ist heilig, und es hilft dir.«

Plötzlich begann Aziza am ganzen Körper zu zittern, sie verdrehte die Augen und lag schließlich unter Krämpfen auf dem Boden. Sie bewegte den Kopf unkontrolliert, und ihr Gesicht verzog sich vor Angst, als wäre sie gefangen in einem Albtraum, aus dem sie nicht herauskam.

»Hör auf mich!«, rief Silt leise. »Hab keine Angst, lass es zu. Es ist alles in Ordnung.« Die Stimme ihrer Mutter beruhigte sie kurz, dann aber begann Aziza, erneut und heftig am ganzen Körper zu zittern, wie bei einem Krampfanfall, den sie nicht zu kontrollieren vermochte.

Plötzlich hatte sie das Gefühl, im Nebel zu stehen. Die Glut und die Flammen vereinten sich und brachten Geräusche hervor, die einer fremden Sprache ähnelten.

Silt hielt Aziza noch immer an der Schulter gefasst. Wie aus weiter Ferne drang ihre Stimme an das Ohr ihrer Tochter: »Bleib ruhig, mein Kind. Spürst du ihre Nähe?«

Aziza reagierte nicht. Das Einzige, was sie wahrnahm, waren der Boden und die Hand ihrer Mutter. Ihre Atmung wurde flach. Silts Stimme war nur mehr ein Murmeln, als der Nebel schwand und sie in einer Höhle zu sich kam, in der ein klares und süß duftendes Wasser entsprang. Das Wasser floss ruhig durch die Höhle und verschwand auf der anderen Seite durch einen Spalt. »O Gott Khuda und Engel Pfau, Tausi Melek, helft uns, damit wir überleben.« Aziza begann zu beten, während ihr Körper dalag und ihre Mutter sah, wie sie krampfte. Sie beendete ihr Gebet und schaute sich erneut um: Die Welt stand still. Aziza bewegte sich, ohne dass sie wusste, wie ihr geschah, aus der Höhle hinaus und erblickte ein grünes Tal, in dessen Mitte sich ein weißer Turm mit einer goldenen Kugel an der Spitze erhob, der die Sonne berührte. Von einem leichten Windhauch erfasst, drehte sich Aziza um und sah einen alten, weißbärtigen Mann in weißer Tracht vor dem Tor eines großen Gebäudes sitzen. Rund um das Tor waren alte Zeichen eingeritzt, die sie nie zuvor gesehen hatte. Auf der rechten Seite sah sie an der Mauer das Bild einer schwarzen Schlange. Da schien der Mann auf einmal Azizas Anwesenheit zu bemerken, denn er drehte langsam den Kopf, in der Hand eine goldene Pfauenstatue, das Zeichen der Jesiden.

»Da bist du ja wieder«, sagte Silt und half Aziza dabei, sich aufzusetzen. Sie beugte sich vor und strich ihrer Tochter das Haar aus der Stirn.

Aziza blieb noch eine Weile erschöpft auf dem Boden sitzen. Sie zwang sich, die Augen offen zu halten, um nicht zurück in die Tiefe zu sinken. Sie war an einem anderen Ort gewesen! Vielleicht war ihr deshalb noch immer schwindlig. Die Lebhaftigkeit des Traumes ängstigte sie.

Aus halb geöffneten Lidern wanderte ihr Blick durch das Zimmer und erfasste die erkrankte Müllerin auf der Matratze, die auf einer verzierten Decke am Fenster lag. Sie hatte eine Tasse voll Arznei in ihrer Hand und sah Aziza an, als wäre nichts geschehen. Staubteilchen tanzten vor ihr im Sonnenlicht. Draußen hörte Aziza das Rascheln der Blätter und das nie enden wollende Zirpen der Grillen. Hatte die Müllerin nicht eben noch wie tot auf der Matratze gelegen? Sie wirkte so wach und gesund.

»Ich muss aufstehen«, sagte Aziza und zog langsam die Füße an, stützte sich mit einer Hand auf und erhob sich mühsam, als wäre sie den ganzen Tag über gelaufen und als wollten die Glieder ihres Körpers nicht auf sie hören.

»Bleib noch liegen.« Silts Hand fasste sie an der Schulter. »Du bist noch nicht vollständig zurück.«

»Lass mich, ich will raus.« Aziza wehrte die Hand ab.

»Was hast du gesehen, mein Kind? Erzähl es mir.«

»Nein.«

»Glaubst du, dein Priester kann dir helfen? Der Mann ist dumm, und sein Herz ist hart, er will nur kämpfen und siegen. Wir Frauen aus unserer Familie sind dem Wirken der anderen Welt auf eine ganz andere Art verbunden als er!«

Aziza sprang auf und drängte ihre Mutter zur Seite. Erst in der Gasse wurde sie richtig wach und blickte sich um. Sie stand allein zwischen den Mauern.

Der alte Mann, das Gebäude, das Tal, der seltsame Ort – dies alles war ihr so echt und wahrhaftig vorgekommen. Alles war so lebendig gewesen! Wer war der alte Mann, und was hatte er von ihr gewollt?

4

Aziza hastete den einsamen Feldweg entlang zu dem Hügel, auf dem ein kleines Heiligtum der Jesiden stand. Es war kein Gebäude, sondern ein Bauwerk aus Lehm und Stein mit einem runden Fundament von ungefähr drei Metern Durchmesser und einem drei Meter hohen, sich nach oben hin verjüngenden Spitzturm. Der Wind, der über die Ebene fegte, war trocken und staubig. Sie sog die Luft tief in ihre Lungen. Wenn ihr jemand helfen konnte, dann war es der Priester Pir Hesman. Er betete dreimal am Tag, fastete vierzig Tage im Sommer und vierzig Tage im Winter und lebte von dem, was die Menschen und die Erde ihm gaben. Pir Hesman war die meiste Zeit beim Heiligtum, dessen Pflege ihm oblag. Dort betete er für die Lebenden und die Toten.

Sie entdeckte ihn, wie er gerade einige Meter vom Heiligtum entfernt Steine aufsammelte, damit die Menschen ohne Mühe den Pfad hinauf zum Heiligtum steigen konnten. Wenn es etwas in diesem Land gab, dann waren es Steine: kleine und große, auf den Feldern, in den Ebenen und sogar im Dorf. Daher war die Arbeit auf den Feldern zugleich ein Schleppen und Verschieben der Steine, um dazwischen einen Flecken Erde für die Saat zu finden. Der Pir summte ein Lied bei der Arbeit, tief in Gedanken versunken, nahm er einen Stein nach dem anderen auf und schichtete sie neben dem Feldweg auf, sodass eine Mauer daraus entstand.

Pir Hesmans Bart war lang und silbergrau und wurde jeden Tag ein wenig weißer. Er hatte freundliche Augen, und die Liebe darin verlor nichts an Intensität, auch wenn er in diesen schweren Tagen ein Schaf nach dem anderen aus seiner Herde verlor. Immer mehr hatten dem Glauben entsagt, waren zur islamischen Sekte konvertiert, erfüllt von der Euphorie und Gewissheit, sich dadurch einen sicheren Platz im Paradies bei ihrem Propheten zu sichern. Und da waren ja auch noch die zweiundsiebzig Jungfrauen, die den Männern versprochen wurden. Den Frauen wiederum wurde nichts versprochen als die Pflicht zu gehorchen.

Aziza fürchtete sich davor, dem Priester zu berichten, was ihr geschehen war. Einen Atemzug lang wusste sie nicht, wo sie hinschauen sollte. Hitze stieg in ihr hoch und schnürte ihr die Kehle zu. Sie war schon dabei, sich umzudrehen, als ihr Blick auf den Turm fiel. Die Spitze wies gen Himmel, und sie erinnerte sich daran, dass es bei den Jesiden keine Hölle gab. Der Engel Pfau, Tausi Melek, hatte sich vor Beginn der Menschheit für sie geopfert, und seitdem kamen sie ohne Umwege in den Himmel. Schön wäre es, dachte Aziza, aber glauben konnte sie es nicht, wie wohl auch die Konvertiten, die nun über den Islam einen neuen Versuch unternahmen, ihm nahezukommen.

Pir Hesman sagte: »Du zitterst ja, Mädchen. Was ist los mit dir?«

Aziza blinzelte und fürchtete im ersten Moment, kein Wort über die Lippen zu bringen. »Ich habe etwas gesehen, was ich nicht verstehe, und ich habe Angst, mein Priester. Ich war an einem Ort …« Ihr Hals wurde eng. Sie hob den Blick und sah den Priester an.

»Ich weiß, Silt übt einen schlechten Einfluss auf dich aus. Sie versucht, Gott ihren Willen aufzuzwingen, statt sich ihm zu unterwerfen. Das ist Hochmut und übles Werk. Es wird höchste Zeit, dass du von hier fortkommst.« Er öffnete die Hände, blickte auf zur Sonne und betete: »O Khuda und Tausi Melek, helft uns in dieser schwierigen Zeit und beschützt unsere Schafe. Uns droht der Untergang. Beschützt Aziza, eine eurer Liebsten.«

Aziza tat es dem Priester gleich und murmelte etwas. Während Pir Hesman einen Rosenkranz aus seinem Mantel zog und weitersprach, kämpfte sie erneut gegen das Zittern an, das sie zu überwältigen drohte.

»Fürchtest du das Unheil, das uns alle erwartet?«, fragte er und schaute in den Himmel, als könne Tausi Melek ihn von dort sehen. »Was ist es genau, das dich bedrückt?«

Aziza hätte sich am liebsten hinter einem der großen Steine verkrochen. Wie sollte sie ihm erklären, was mit ihr geschah? Wie sollte sie es beschreiben: den Wind, die jähen Geräusche, die Höhle und dann die Gestalt am Tor? Oft genug hatte sie den Frauen beim Backen in der Mühle gelauscht. Wer über die Geschichte der Vergangenheit und Zukunft verfügte, wurde zum Spielball der Toten und Lebenden, von solchen Sehenden hieß es, sie würden ein Leben lang seelische und körperliche Qualen leiden.

»Ich sehe Dinge, die nicht wirklich sind«, gestand sie regungslos. »Es scheint dann, als wären sie da: Zeichen, Stimmen, von denen ich nicht weiß, ob sie aus dieser Welt stammen oder aus einer anderen. Sie suchen meine Nähe.«

Pir Hesman ließ die Hände sinken und sagte: »Du musst dich entscheiden zwischen Tausi Melek, dem Jesidentum, und der Verführung durch das Böse. Unseren Glauben gibt es, seit es die Menschen gibt, aber dies sind schwere Zeiten. Du musst dich entscheiden für deinen Glauben oder den Unglauben, der sich wie die Pest verbreitet und uns vernichtet.«

»Ich bin zu allem bereit, mein Priester. Aber ich habe doch gelernt, in unserem Glauben gibt es das Böse nicht mehr?«, wunderte sich Aziza und schaute dem Priester fragend in den Augen.

Der lange Rosenkranz aus schwarzen und funkelnden Steinen pendelte unruhig hin und her. »Es gibt das Böse in einem selbst, und Gott ist beides zugleich, gut und böse. Verstehst du, Kind?«

Aziza nickte wie eine Schülerin, die eine dumme Frage gestellt hatte.

»Fühlst du dich bedroht?«

»Manchmal weiß ich nicht mehr, wer ich bin und was ich machen soll.«

»Bete, mein Kind, und du wirst niemals allein sein. Und richte deinen Blick nach oben.« Er wies mit dem Kopf auf die Kuppel des kleinen Heiligtums. »Dort siehst du die goldene Kugel, die die Sonne für uns ist. Solange du die Sonne und das Feuer in deinem Herzen hast, wird der Herr, Khuda, bei dir sein und dich nicht allein lassen, auch in den schweren Zeiten nicht, die dir bevorstehen, mein Kind.«

Azizas Herz schlug wieder langsamer, und die Angst schwand.

»Deine Mutter ist eine gute Jesidin, und eure Familie verfügt über eine Gabe, die dir keine Angst machen sollte. Aber deine Mutter, das muss ich gestehen, hält sich nicht immer an die Regeln.«

»Was ist mit meinem Vater und den anderen Männern unserer Sippe geschehen, mein Pir?«

Der Priester wandte sich mit einer raschen Bewegung ab und kehrte Aziza den Rücken zu, den hageren Körper gebeugt. »Das ist lange her. Du warst noch nicht geboren. Wie kommst du auf diese Frage?«

Mit wenigen Worten berichtete Aziza, was am Nachmittag bei der Müllerin geschehen war.

»Und deine Mutter fordert dich auf, mit ihnen in Verbindung zu treten?«, fragte der Priester.

Plötzlich fühlte Aziza sich wie eine Verräterin. Silt war immer noch ihre Mutter, und sie wünschte sich nur, dass ihre Tochter ihre Nachfolge als Heilerin antrat. Schließlich hatte Silt alles verloren, ihr Mann war fort, und die anderen Kinder waren Muslime geworden. »Sie hat mich nur beruhigt und mich festgehalten. Sie glaubt, Gutes zu tun«, antwortete Aziza schwach. »Sie glaubt in Gottes Namen zu handeln wie du mit deinen Gebeten.«

Pir Hesman schnappte nach Luft. Er steckte den Rosenkranz ein. »Wenn ein Mann oder Weib den Kontakt zum Jenseits sucht, dann begegnet ihnen nicht nur das Gute, sondern sie sehen sich mächtigen Kräften gegenüber, die wir nicht kontrollieren können. Irgendwann weiß man nicht mehr, was gut ist und was böse. Sie darf so etwas nicht tun. Deine Mutter ist eine Heilerin und sollte den Menschen helfen, wenn sie krank sind, und sonst nichts. Dein Vater will, dass du keinen Tag länger bei deiner Mutter bleibst. Er hat mich gebeten, dich in ein jesidisches Haus zu führen, weil es hier bald keine Jesiden mehr geben wird, auch deine Mutter wird nicht lange durchhalten. Jeden Tag kommen deine Geschwister und predigen den Islam, und am Ende wird sie irgendwann allein der Enkel wegen zur Muslima werden.«

Aziza nickte. Sie erlebte es jeden Tag, dass ihre Geschwister wie Furien die Mutter und sie selbst bearbeiteten. Jeder Besuch endete in Streit und Kampf darüber, welche Religion die bessere war. Der Priester hat recht, dachte Aziza.

»Du gehörst in ein Haus voller anständiger und gottgefälliger jesidischer Menschen. Das Dorf ist verloren.«

Aziza hob den Kopf. »Mein Pir, ich habe noch keine Antwort auf meine Frage.«

Die Augen des Priesters wurden schmal. »Hat deine Mutter jemals mit dir über deinen Großvater gesprochen?«

»Ja, er ist auf einer Reise verstorben.«

Pir Hesman ging langsam zu der kleinen Öffnung am Heiligtum, wo Menschen Essensgaben hinterließen. Er griff tief in die Öffnung hinein und holte eine goldene Taus-Statue hervor. »Dein Großvater, Mani Ammo, war ein gläubiger Mann, er hat dieses Heiligtum mit eigenen Händen errichtet, um den Menschen Hoffnung zu geben. Die Menschen kommen, wenn sie sich an ihre Toten erinnern wollen oder einen Wunsch haben, und beten hier«, erklärte er ihr. »Er war ein großer Mann, ein Kocek, ein Wunderheiler, stärker als deine Mutter, aber er hat sich nicht an die Regeln gehalten. Die Hirten haben nur die Reste seiner Kleidung und diese Statue in den Bergen gefunden.«

Aziza schnappte nach Luft. Sie hatte plötzlich das Gefühl zu ersticken. Genau diese Statue hatte sie in ihrem Traum in der Hand des alten Mannes vor dem Tor gesehen! »Ich habe … eine der sieben Statuen …«, stammelte sie.

Sanft legte der Priester seinen Arm um ihre Schultern und drehte sie weg vom Heiligtum und in Richtung des Dorfes. »Es wird allerhöchste Zeit, dass du aus diesem Dorf fortkommst. Übermorgen ist unser Neujahr, der rote Mittwoch im April. Kurz vor Sonnenaufgang brechen wir auf. Deine Mutter darf nichts davon erfahren!«

Sanft berührte Aziza die Taus-Statue, und für einen Moment erleuchteten Sonnenstrahlen ihr Gesicht.

Der Priester sah sie erstaunt an und verharrte einen Moment regungslos. Dann holte er tief Luft, verabschiedete sich kurz angebunden und ging rasch wieder dorthin, wo die unfertige Mauer auf ihn wartete.

5

Aziza lief atemlos in der Küche auf und ab. »Kein Wunder, dass sich das ganze Dorf vor unserer Familie fürchtet und alle einen weiten Bogen um uns machen!«, rief sie aufgeregt.

Im Herd brannte ein Feuer, und von einem gusseisernen Topf stieg der Geruch von Linsen auf und erfüllte den ganzen Raum. Silt saß auf einer kleinen Bank neben der Feuerstelle und rührte gelegentlich mit einem großen Holzlöffel die Suppe im Topf.

»Wie konntest du mir ein Leben lang verschweigen, dass ich einen Großvater habe, der ermordet wurde? Ihr habt ihn nicht einmal anständig begraben, wie es unsere Religion vorschreibt. Warum hast du mir nichts von ihm erzählt?«

Silt blickte kurz auf. »Mani Ammo war ein guter Mann. Er hat Menschen geheilt«, erklärte sie ruhig.

»Bei Gott, irgendeine Sünde muss er ja begangen haben, sonst wäre er doch nach unserer Tradition begraben worden. Nicht einmal eine Totenwaschung und ein Gebet, wie ein Tier ist er in den Bergen verwest. Was hat er nur getan, dass er auch nach dem Tode bestraft wurde?«

Silt umklammerte den Löffel und rührte in der Suppe, als suche sie dort nach Worten, die sie nicht finden konnte. Schließlich sagte sie, ohne Aziza anzusehen: »Gut, ich erzähle es dir. Es geschah in der Schlucht, dort gibt es eine Höhle, genau an der Stelle, wo der Fluss im Sommer kein Wasser führt.« Nach einem Moment des Schweigens sprach sie weiter: »Unser Dorf wurde angegriffen. Es war ein heißer Tag, kurz nach dem Neujahrsfest im April. Wir lebten damals oben in den Bergen, wo die großen Weiden ausreichend Nahrung für die Tiere boten. Als der Angriff begann, wurden die Kinder in der Höhle versteckt.«

»O Gott«, hauchte Aziza. Sie war wie erstarrt. »Und?«

»Die Kinder hatten Angst und einige weinten. Sie waren unruhig und spürten, dass etwas nicht in Ordnung war.«

»Konntest du etwas tun, um sie zu beruhigen?«

»Wir haben alles getan, um die Kinder zum Schweigen zu bringen, aber drei der Kleinen fingen an zu schreien«, sagte Silt, und die Knöchel an der Hand, mit der sie den großen langen Kochlöffel noch fester griff, wurden weiß, als sie weiter in der Suppe rührte.

Aziza traten Tränen in die Augen, und obwohl sie lieber nicht weiter fragen wollte, musste sie es dennoch wissen. »Und dann?«

»Und dann?«, schrie Silt unvermittelt heraus. »Es gibt ein Gesetz, mein Kind. Das Überleben der Gemeinschaft kommt zuerst und dann alles andere. So einfach ist das. Als die drei Kinder nicht aufhörten zu schreien, zwangen die Männer die Frauen, die Kinder zum Schweigen zu bringen. Sie konnten es nicht. Sie waren Mütter. Sie konnten es nicht. Dann taten es die Männer, und danach war es still.«

Aziza saß wie betäubt da. Vorsichtig blickte sie Silt an. Sie wagte die Frage kaum zu stellen: »Ihr habt sie …?«

Da ließ Silt endlich den Löffel los, und er rutschte in die Suppe und tauchte ein, als könnte er die Scham und Schuld nicht ertragen.

»Und einer von ihnen war …?« Aziza brachte den Satz nicht zu Ende.

Silt schwieg wieder. Sie rang nach Worten. »Einer von ihnen war dein Bruder, und es war die Aufgabe deines Vaters, ihn zum Schweigen zu bringen.«

Aziza seufzte schwer. »Mein Vater hat …?«, hob sie an.

»Nein, hat er nicht.«

Die Antwort blieb aus. Silts Augen waren zu Schlitzen zusammengekniffen, ihre Lippen dünn wie ein Faden zusammengepresst, als sie schließlich sagte: »Dein Großvater, er hat seinen Enkel eigenhändig erstickt.«

»O Gott«, stieß Aziza aus.

Silts Blick folgte dem Löffel, der in den Suppentopf gerutscht war. »Ja, für den Glauben an Gott müssen wir Dinge tun, die manchmal unvorstellbar sind«, seufzte sie. »Dein Großvater und die anderen Männer haben uns gerettet, und sie haben sich gleichzeitig schuldig gemacht.«

»Du hast gesagt, er war ein Heiler. Wie konnte er nur so etwas tun?«

Ihre Mutter hielt den Kopf gesenkt, ihre Augen suchten weiter nach dem verlorenen Löffel. »Dein Vater war auch da. Er konnte es nicht. Er setzte sich in eine Ecke und hörte nicht auf zu weinen. Dein Großvater hat es für deinen Vater getan. Es war seine Pflicht.«

»Wie bitte, die Pflicht meines Vaters? Was ist das für eine Pflicht? Er sollte sein eigenes Kind ermorden? Das kann man ihm doch nicht vorwerfen, dass er es nicht konnte. Ich verstehe das einfach nicht!«

»Wir müssen überleben, und das geht nur, wenn wir die Gemeinschaft beschützen. Ansonsten werden wir nicht fortbestehen. Siehst du nicht, wie wir Jesiden jeden Tag immer weniger werden?«, entfuhr es Silt. »Verstehst du nicht? Dein Vater wurde für seine Feigheit verachtet. Er war ein Feigling und hat die Verantwortung einem anderen überlassen. Deswegen ist er verschwunden, weil er weiß, dass er versagt hat, und Mani Ammo hat menschliche Größe bewiesen. Für diese Größe haben wir ihn verehrt. Er hat sich für uns geopfert. Verstehst du das? Dieses Opfer haben wir ihm mit Liebe gedankt. Davon hat der Priester dir wohl nichts erzählt, was?«

Aziza ließ den Blick durch den Raum schweifen. In der Ecke brannte das Licht, ein winziger Docht in einem kleinen Gefäß mit Öl. Während die Worte ihrer Mutter noch in ihr nachhallten, kam ihr ein Gedanke. In ihrem Traum hatte sie Blutflecken auf der heiligen Statue bemerkt. Als der alte Mann sie hochgehalten hatte, konnte sie es ganz deutlich erkennen.

»Ich sehe deinen Großvater noch vor mir«, fuhr Silt fort. »Er war der Erste, der aus der Höhle kroch. Er kletterte in das Flussbett und blieb dort stehen, wo die Muslime nach uns gesucht hatten. Lange hat er hoch zum Himmel und zur Sonne geblickt. Ich bin sicher, er hat gebetet.«

Aziza hörte zu, griff nach einem Kissen und legte es sich auf den Schoß, wo sie es Halt suchend umklammerte. Die Zeichen, die sie im Traum gesehen hatte, verschwammen. War alles nur Einbildung gewesen, was sie im Haus der Müllerin gesehen hatte, oder verstand sie die Botschaft nicht? Es war ihr Großvater gewesen, der Mann, den sie gesehen hatte, aber was hatte er von ihr gewollt? Er war ein Heiler, einer, der vom Diesseits und vom Jenseits wusste. Aziza hielt sich krampfhaft an dem Kissen fest und versuchte zu verstehen, was ihr Großvater Mani Ammo von ihr wollte. Irgendwann erlahmte ihr Griff, vor Müdigkeit fielen ihr die Augen zu, aber sie schlief nicht. Plötzlich sah sie vor sich das blitzende Gold der heiligen Statue und den Mann, der sie in seinen Händen hielt. Wie ein kühlender Strom stieg Gänsehaut von den Fingern ausgehend ihren Arm hoch. Gänsehaut in der Wärme am Herd? Mit dem nächsten tiefen Atemzug flutete sie das angenehme Gefühl vollends und drang ihr bis ins Herz. Der Gedanke kam wie von selbst: »Es war der Tag, an dem die Männer aus den muslimischen Nachbardörfern unsere Männer umgebracht haben, nicht wahr?«

Silt sah erstaunt auf. Über ihrer Nase bildete sich eine Falte, die sich aber sofort wieder glättete. Dafür wurde ihr Blick durchdringender. »Woher weißt du das?«, fragte sie ihre Tochter.

Aziza blieb ruhig. Es war ein seltsames Gefühl. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich ihrer Mutter ebenbürtig. »Nun, wenn sie euch in der Höhle nicht gefunden haben … Einige Männer sind doch sicher im Lager und auf den Weiden geblieben. Hat sie niemand vor den Ungläubigen gewarnt?«

»Nein, niemand. Dazu ging alles zu schnell. Sie wurden überrascht.« Silts Stimme klang rau. »Aber das war auch nicht das Entscheidende. Auch ohne Warnung hätten unsere Männer jeden Ungläubigen besiegt.« Sie holte tief Luft. »Doch es waren nicht die Männer aus den muslimischen Dörfern. Gewiss, sie sind böse, aber nicht so …«

Aziza legte das Kissen auf den Boden und schaute ihre Mutter ernst und erstaunt an.

Die Mutter wand sich innerlich, doch ihr Blick, der auf Aziza ruhte, blieb fest.

»Es waren keine Muslime?«, drängte Aziza ungeduldig. »Waren es etwa Jesiden?«

»Natürlich nicht«, fand die Mutter ihre Sprache wieder. »Es waren weder Jesiden noch Männer aus den muslimischen Nachbardörfern. Es waren Anhänger einer islamischen Sekte, ein Sheikh, der bekannt war für seine Grausamkeiten. Er hatte schon ein Jahr nach deiner Geburt die Armenier und Christen für den Sultan Abdulhamid II. verfolgt und soll mit eigenen Händen hundert männliche Kinder in einer Höhle getötet haben. Dieser Sheikh und seine Anhänger sind keine normalen Menschen. Sie töten und vernichten alles. Für sie sind wir Ungläubige, keine Menschen. Entweder wir werden Muslime wie sie, oder wir müssen sterben.« Sie setzte sich wieder auf die Bank und senkte die Stimme: »Sie waren hinter deinem Großvater her.«

»Woher weißt du das alles?«

Silt schwieg gedankenverloren, dann sagte sie: »Dein Großvater hatte gute Beziehungen zu den Christen wie wir alle. Aber er war über die Grenzen hinaus bekannt, und auch der britische Konsul Fitzmaurice wusste davon. Er hatte damals mehrfach deinen Großvater besucht, weil er mehr über die Jesiden erfahren wollte. Er war es auch, der berichtete, dass dieser Sheikh mit der Kavallerie der Hamidiye Alay dreitausend Christen, die in der armenischen Kathedrale in Riha Zuflucht gesucht hatten, bei lebendigem Leib verbrannte. So wurde es jedenfalls erzählt. Dieser Sheikh war grausam, er kam direkt aus der Hölle.«

Aziza senkte sichtlich betroffen den Kopf.

Silt hielt inne und warf Aziza einen langen Blick zu, bevor sie fortfuhr. »Dein Großvater verfügte über eine Kraft, die für sie gefährlich war. Er konnte in die Herzen der Menschen sehen, auch in die Seelen der Verdorbenen und Bösen, von Menschen also, wie sie es waren. Dein Großvater war der Feind dieses Sheikhs und seiner Anhänger, und so jagten sie ihn, denn er kannte ihre Geheimnisse und wusste, dass sie weder Muslime waren noch einen anderen Glauben hatten. Sie hatten keine Seele.«

»Aber er konnte sich wehren, oder?«, stieß Aziza aus. »So wie du.«

»O ja, das konnte er, aber nur bis zu jenem Tag, über den wir sprechen. Als ich ihn das letzte Mal nach diesem Tag traf, erzählte er mir, er habe seine Gabe verloren. Gott hatte ihm die Fähigkeit genommen, Dinge zu sehen und Menschen zu heilen. Weil er seinen Glauben verlor.«

Aziza starrte ihre Mutter an. »Du meinst durch den Tod meines Bruders, den ich nie gekannt habe?«

»Ja, ein Mord bleibt ein Mord, vor allem vor Gott.«

»Ich verstehe.«

»Und dann fanden die Hirten seine blutige Kleidung und die blutbefleckte Statue von Taus.«

Silt stand wieder auf, schaute nach der Suppe und versuchte, den darin verlorenen Löffel wiederzufinden. »Es gibt Menschen, die meinen, er sei von Wölfen zerrissen worden. Und andere behaupten, dass die Ungeheuer ihn geköpft hätten. Ich weiß es nicht.«

Aziza drehte sich zu ihrer Mutter und überlegte laut: »Der Priester hat recht. Die Vergangenheit war seine Last und hielt ihn gefangen. Aber was will Großvater von mir?«

»Mani Ammo?«, fragte Silt.

»Ja, es war mein Großvater, den ich heute im Traum sah. Ich bin sicher.«

Ihre Mutter schwieg.

In die Stille hinein fuhr Aziza fort: »Was aber ist mit meinem Vater? Alles, was ich weiß, ist, dass ich einmal im Jahr von ihm Geschenke erhalte.«

Silt schnalzte mit der Zunge. »Dein Vater ist ein Feigling. Nur zweimal nach deiner Geburt ist er gekommen, um dich zu sehen. Aber es war jedes Mal, als habe er sich bei deinem Anblick erschreckt.«

»Und du?«

»Ich war froh, wenn er wieder verschwand.«

Im Feuer knackte ein Scheit. Die Suppe brodelte laut vor sich hin. Aziza ließ das Kinn auf die Brust sinken. Sie fühlte sich leer, aber es war ein vertrautes Gefühl, das sie willkommen hieß. Sie hob den Kopf und betrachtete das Geschirr auf dem hölzernen Regal gegenüber. Tontöpfe und Krüge standen dort zusammengewürfelt, es war ein zutiefst vertrauter Anblick. Wie oft hatte sie sich Gedanken um ihren Vater gemacht, wie oft hatte sie nachgefragt, doch bisher hatten die Antworten ihrer Mutter in ihr nichts hinterlassen als einen Klumpen aus Schwere in ihrem Bauch. Wie satt sie es gehabt hatte, sich mit dem belehrenden Ton und den halbherzigen Erklärungen zufriedengeben zu müssen. Jetzt aber war es endgültig an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen.

»Ich will nichts mehr mit der Vergangenheit zu tun haben. Das ist nicht meine Geschichte«, stieß sie aus.

Nachdenklich antwortete ihre Mutter: »Du kannst deinem Schicksal nicht entrinnen, mein Kind.«

Aziza überlief ein Schauer, hilfesuchend sah sie ihre Mutter an, doch die hatte sich von ihr abgewandt.

6

Der Saal des Sheikhs war groß, und die Geräusche hallten darin wider. Die lehmverputzten Steinmauern kühlten den Raum, während die Hitze draußen die Menschen in ihren Häusern gefangen hielt. Die spärlichen Sonnenstrahlen, die durch das Fenster hereindrangen, warfen lange Schatten, die langsam über den Boden wanderten und die Dunkelheit des Raumes betonten. Sheikh Khalidi saß im Schneidersitz auf dem Sofa der mit kostbaren Teppichen bedeckten Empore und verfolgte mit seinen kleinen schwarzen Augen jede Bewegung seines alten Schülers Jibrail.

Jibrail war der Vertraute des Sheikhs und stand ihm stets demütig zur Seite, doch nun liefen ihm die Schweißperlen über die Schläfen, denn der Sheikh hatte schlechte Laune, woran auch der vierte arabische Kaffee nichts änderte, den er gerade erst getrunken hatte. Zögernd fuhr Jibrail in seiner Rede fort: »Anatolien, hier im Osten … Verehrte Würdenträger und ehrenwerte Muslime, was bedeutet so eine Region?« Jibrail seufzte und rang die Hände, während sein Blick den des Sheikhs suchte. »Anatolien ist nur ein Gebiet von vielen im Osmanischen Reich und nicht wirklich interessant!«

Seit Tagen hatte Jibrail versucht herauszufinden, worin die Launenhaftigkeit seines Meisters Sheikh Khalidi begründet war, aber keinen Hinweis entdecken können. »Natürlich gehört Anatolien zum großen Osmanischen Reich. Zudem war es einst ein strategisch wichtiges Gebiet im Kampf gegen die Perser. Dort findet sich immer noch einer der wichtigsten Handelswege nach Saudi-Arabien, Asien und Ägypten. Doch das Osmanische Reich steht am Abgrund und zerfällt. Es wird den Krieg nicht überleben«, sagte Jibrail voller Überzeugung.

Er wusste, dass dem Sheikh dies längst bewusst war und die Gunst der Stunde nutzen und die Region unter seine Kontrolle bringen wollte. Doch der Wunsch des Sheikhs, nicht nur religiös, sondern auch politisch mehr Macht zu bekommen, nahm allmählich krankhafte Züge an. Dabei musste er Anatolien gar nicht vollständig kontrollieren, solange es ihm gelang, ausreichend Anhänger für seinen Orden zu gewinnen. War die Zahl seiner Jünger und Schüler groß genug, dann würden weder die Hohe Pforte in Istanbul noch die verdammten neuen türkischen Nationalisten in der Region etwas ohne ihn tun können. Sheikh Khalidi hatte bereits viele Anhänger in Anatolien, vor allem unter den Kurden im Gebiet bis Bagdad, Urmiye und Damaskus, aber auch Araber, Turkmenen, Assyrer und andere Konvertiten waren darunter, die einst Christen, Juden und Jesiden gewesen waren. Am Ende gab es unter seinen Anhängern ehemalige Gläubige aller Glaubensrichtungen der Region und auch aller Völker, denn er zog sie alle in seinen Bann.

Das Osmanische Reich und der Sultan waren im fernen Istanbul mit den Engländern, Franzosen und Russen beschäftigt. Gezielt hatte Sheikh Khalidi seine Verwandten aus dem nördlichen Kaukasus zu sich geholt und als Ordensvertreter der Qaadri im ganzen Land verteilt, sodass sie die Glaubensgemeinschaften an die Person des Sheikhs banden.