Die Psychologie des IS - Jan Ilhan Kizilhan - E-Book

Die Psychologie des IS E-Book

Jan Ilhan Kizilhan

4,0

Beschreibung

"Auf Pfähle aufgespießte Schädel, gekreuzigte Menschen am Straßenrand, in Säurebottiche geworfene Männer, als Sexsklavinnen gehaltene Frauen … Es ist schwer zu glauben, dass Menschen im 21. Jahrhundert noch zu solchen Gräueltaten in der Lage sind. Die selbst ernannten Gotteskrieger, die innerhalb der letzten fünf Jahre weite Teile Syriens und des Iraks unter ihre Kontrolle gebracht haben, scheuen nicht vor Genozid, Versklavung, Vergewaltigung und Zwangskonvertierung zurück, um ihr Verständnis von einem islamischen Staat durchzusetzen. Was geht in den Köpfen von IS-Kämpfern vor? Welche Ideologie lässt sie jede menschliche Regung, jegliche Empathie unterdrücken? Prof. Jan Ilhan Kizilhan und Alexandra Cavelius geben anhand spektakulärer Fallbeispiele und Einzelschicksale einen tiefen Einblick in die Psychologie der Islamisten, die seit dem Anschlag auf das Pariser Satiremagazin Charlie Hebdo ihren Terror bis nach Europa tragen. Warum schließen sich Menschen dieser Terrororganisation an? Wie ist es möglich, dass nach einem 20. Jahrhundert der Weltkriege, Genozide, Konzentrationslager und Gulags solche totalitären faschistisch-islamisierten Gruppen wie der IS eine Renaissance erleben und weiterhin Völkermord verüben können? Welche Faszination übt das Leben als Dschihadist auf junge Leute in der arabischen, aber auch in der westlichen Welt aus? Auf der Basis von Interviews mit Überlebenden, aber auch mit den Tätern selbst legen die Autoren die Psychologie der Massenmörder offen und zeigen uns anhand eindrucksvoller Beispiele deren Denkweisen und Lebenswelten, die uns fremd, mitunter primitiv und sadistisch erscheinen. Zu Wort kommen unter anderem ein 14-jähriges Mädchen, das als Sexsklavin in den Händen des Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi war, ein ehemaliger IS-Henker und ein schwer verletzt Überlebender einer Massenexekution, der in der Folge mehreren Jungen das Leben rettete.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 558

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,0 (1 Bewertung)
0
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



1. eBook-Ausgabe 2016© 2016 Europa Verlag GmbH & Co. KG,Berlin • München • Zürich • WienUmschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © KeystoneLayout und Satz: BuchHaus Robert Gigler, München

Konvertierung: Brockhaus/CommissionePub-ISBN: 978-3-95890-115-5ePDF-ISBN: 978-3-95890-116-2

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.www.europa-verlag.com

INHALT

EINLEITUNG

DER IRAK: VOM GARTEN EDEN IN DIE HÖLLE DES IS

IM HERZEN DER FINSTERNIS: DAS MÄDCHEN, DAS IN AL-BAGHDADIS HÄNDEN WAR

Abu Bakr al-Baghdadi: Herr der Finsternis, Herr der Komplexe

Karriere eines einfachen Mannes: Vom Gefängnisinsassen zum Top-Terroristen

Der selbstverliebte Strohmann

Sexueller Sadismus und Paranoia

Mit aller Gewalt: Der Mann, der allen Muslimen helfen muss, indem er sie tötet

Das Theologen-Ego: Den »islamischen Code« geknackt

INTERVIEW MIT DEM IS-TERRORISTEN ABU DSCHIHAD: WIE EIN HENKER ERKLÄRT, WAS RICHTIG AUF DER WELT IST

Die Person Abu Dschihad: Vom braven Mann zum Schwerverbrecher

Der schwache Vater und die gedemütigte Gesellschaft: Von Beruf lieber Selbstmordattentäter als Arzt

Wie ein Zahnrad in einem Getriebe: Persönliche Interessen haben keine Platz mehr

Der moralische Imperativ: »Du musst gehorchen, egal, um was es geht!«

Der Wahn wird zur Wahrheit: Warum man Väter ermorden und deren Töchter vergewaltigen darf

Die Lust zu töten: Über den unstillbaren Appetit auf Blut

Jagdlust

Trauma von Opfern und Tätern: Von der eigenen Kaltblütigkeit profitieren

JEDER KOCHT SEIN EIGENES SÜPPCHEN: DER »EMERIKI« UND DAS INTERESSE DER GEHEIMDIENSTE

Das FBI: Der Umgang mit Zeuginnen und andere Fehler

Kurze Geschichte des IS: Von der Terrororganisation »Al-Qaida« zum Kalifat

Der Flirt der Geheimdienste mit dem IS

Die »Karriere« des IS

Die »Bunkermentalität«: Jeder hört jeden ab, keiner spricht mit dem anderen

Wechselnde Rollen: Von Opfern zu Tätern zu Opfern

Viele Akteure, viele Anliegen: Vom Interesse an der Instabilität

IBRAHIM ISO: DER MANN, DER EINE MASSENEXEKUTION ÜBERLEBT UND IN DER FOLGE VIELE MENSCHENLEBEN RETTET

Konvertierung oder Tod

Kranke Personen in einer kranken Welt?

Die Opfer: Das Unfassbare fassbar machen

Falschheit, Lüge, Irrtum: Nichts mehr von der Wahrheit wissen wollen

Kulturelle und religiöse Regression: Zurück ins Mittelalter!

Auswirkungen grenzenloser Gewalt: Tödliche Räume, tödliche Einstellungen

SCHWANGER VON EINEM IS-KÄMPFER: DAS UNGEHEUER IN MEINEM LEIB

Radikalen Nachwuchs zeugen: Erzwungene Schwangerschaften im IS

Sexualität in der islamischen Gesellschaft: Gleichstellung vor Gott, aber nicht vor der Gesellschaft

Systematische Vergewaltigungen: Über den sexuellen Terror

Das IS-Handbuch: Bedienungsanleitung zur Vergewaltigung

AUS DEM LEBEN EINES KINDERSOLDATEN: DAS MESSER AN DER KEHLE

Eine Kindheit auf dem Schlachtfeld

Unterwegs als Henker: Ein Job wie jeder andere

Das Töten der Individualität

Im Diesseits für das Jenseits leben – Töten und getötet werden als Befreiung

Die »Ehre« der Mörder: Über Gehorsamkeit und Autoritäten

Denkschemata des IS

Wie der IS ganze Familien für sich gewinnt: Das Band des Blutes

SHIRINS KORAN-SCHULUNG: ALLE UNGLÄUBIGEN MÜSSEN UMGEBRACHT WERDEN!

Die Saat des Terrors

Vom Wunsch, die Wirklichkeit hinter hohen Zäunen auszusperren

Die Frage nach dem Sinn: Delegitimierung und Verneinung der Humanität

Das beste Argument für Krieg: Die Bedrohung der kulturellen Identität

Der Völkermord und die Auswirkung auf die nachfolgenden Generationen

Die Welt der kollektiven Traumata: Vom Leben in einer stehen gebliebenen Zeit

Die Spuren jahrhundertelanger Verfolgung: Wege aus der Zerstörung finden

GESCHICHTE EINER MUTTER: DER WAHNSINN HAT EIN MILCHGESICHT UND MORDET KLEINE KINDER

Der Psychopath, der sich in tausend Einzelteilchen zerlegte

Psychologie des Terrors

Aggression und Gewalt: Eine tödliche Geschwulst

Kochende Emotionen: Wut vergeht, aber Hass folgt dem Feind auf den Fuß

Angeknackster Selbstwert: Grausamkeit als Medizin

Die Suche nach einem positiven Selbstwertgefühl: »Wir sind wieder wer!«

FREMDHEITSGEFÜHLE: TRÄUME EINER DSCHIHADISTIN VON EINER BESSEREN WELT

Auf der Suche nach dem »Ich«: Erkenne dich selbst

Schräge Männerfantasien: Dschihadistinnen als IS-Sexpuppen

Identität als Produkt der Umwelt: Hin- und hergerissen zwischen Selbst- und Fremdbild

Unsere Angst bekommt ihr nicht!

Im Rampenlicht morden: Die Rolle der Medien

Islamistischer Faschismus: Aktiv die Welt retten oder passiv dem blutigen Treiben zusehen

Über die Verantwortung: Verbrecher müssen als solche auch benannt werden

Blutsbande: Das unendliche Wirken des Patriarchalismus im Islam

Alte und neue Konflikte: Auf der Suche nach Selbstverständnis

Ungläubige als geistiges Vorbild: Auftragskiller, Drogen, Jungfrauen – Der IS als die neuen Assassinen

Politische Perspektive: Wie kann man helfen, wenn einer von innen die Tür zuhält?

Die Gewalt wird noch einige Generationen anhalten

Der IS lockt: Die Kinder sind unsere Zukunft

Einmischen, jetzt erst recht!

ANMERKUNGEN

ZEITTAFEL

EINLEITUNG

Wieder blutüberströmte Menschen auf den Straßen. Wieder Dutzende von Toten. Wieder Terror in Europa. Paris. Istanbul. Brüssel. Nizza. Dann ein Regionalzug in Deutschland. Als Nächstes ein Konzert. Irgendwo in der Provinz. Jenseits großer Menschenansammlungen. Die Abstände dazwischen schockierend kurz. Und wer weiß, wo es morgen krachen wird? Der IS bietet Ziellosen nicht nur eine Zielscheibe, sondern auch eine Projektionsfläche, in der sie bequem persönliche Probleme als politische verkaufen können. Die Zielscheibe kann überall sein und jeden jederzeit treffen. Im Privathaus, im Vorgarten, in der Kirche, im Café oder im Klub. Und dass dieser grausame Spuk des nahöstlichen Kalifats ein baldiges Ende findet, ist leider nicht zu erwarten.

Trotzdem könnten wir aufatmen, denn rein statistisch betrachtet, ist es in unserem Land wahrscheinlicher, an einer Grippe zu sterben oder von einem Blitz erschlagen zu werden, als Opfer eines Terroranschlags zu werden. Die Angst, diesem Irrationalen ausgeliefert zu sein, ist jedoch weit mächtiger als das Wissen, davor sicher zu sein. Je weniger wir über die Gefahr wissen, desto mächtiger ist die Angst. Es sind archaische Urängste, die uns Menschen in solch einem Fall aufscheuchen. Wie einst unsere Vorfahren müssen wir herausfinden, welche Gefahr da im Gebüsch auf uns lauert. Die richtige Einschätzung ist lebensentscheidend. Löwe oder Kaninchen? Es ist aber nicht nur die nackte Angst ums eigene Leben, sondern auch um das gewohnte Leben in einer sicheren Gesellschaft. Wo allerdings mit Angst gesät wird, gedeiht auch Hass. Denn oft hassen wir, was wir fürchten. Und Angst besitzt die Kraft einer Bombe, um zivilisierte Gesellschaften zu zersprengen.

Sollte es uns gelingen, die IS-Terroristen zu stoppen und ihre Führung auszuschalten, so werden sie sich womöglich zurückziehen, um sich bald darauf wieder andernorts als neue islamisierte Terrorgruppe zu erheben. Besatzung und Zerstörung in bereits zerrütteten Ländern werden zu neuen Verteilungskämpfen führen, denn Gewalt schafft neues Unrecht, das wiederum nach Vergeltung schreit.

Während der IS im Internet mit Hetzpredigern und weiteren Komplizen den Hass auf alle »Ungläubigen« schürt, verstärken sich gleichzeitig die Extreme in der Bevölkerung. Rechtspopulisten und andere Radikale nutzen die Angst der Menschen, die eine schnelle Veränderung dieses Zustands wünschen. Sie stacheln gegen Immigranten auf und setzen Flüchtlingsheime in Flammen. Auf beiden Seiten liefert simples Schwarz-Weiß-Denken den Scharfmachern die nötigen Argumente.

Die Faszination am romantisierten Bild des Dschihadisten-Daseins wird bei jungen Leuten in der arabischen, aber auch in der westlichen Welt nicht nachlassen. Jeder dieser neuen »Gotteskrieger« wird fortan nicht nur im Irak, in Syrien oder Libyen unschuldige Zivilisten töten, sondern gemeinsam werden sie mit aller Macht versuchen, auch in Europa mit Blutbädern die demokratische Gesellschaft weiter aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ihre Macht beziehen sie aus dem Schrecken, den sie verbreiten und mit dem sie unser Denken lähmen.

Auf Pfähle aufgespießte Schädel, gekreuzigte Menschen am Straßenrand, in Säurebottiche geworfene Männer … Es ist schwer zu glauben, dass Menschen auch im 21. Jahrhundert noch zu solchen Gräueltaten in der Lage sind. Die von uns befragten IS-Terroristen erzählen ruhig und gelassen, wie sie Männer regelrecht abschlachten oder junge Mädchen vergewaltigen, als würden sie wie gewöhnliche Beamte ihrer Arbeit nachgehen. Keine Aufregung, kein Zittern in ihren Stimmen. Ein ehemaliger IS-Henker schwärmt regelrecht davon, wie er Unschuldigen das Messer an den Hals ansetzte. »Alle … wollten genau sehen, wie das Blut aus der Kehle spritzte!« Der IS-Terrorist gerät angesichts seiner Schilderungen derart in Wallung, als müssten seine Zuhörer gleich »mitfeiern«. Beim Erzählen scheint er sich diese Szene bildlich vorzustellen, wirkt fast abwesend und genießt diesen Augenblick, der für ihn wie eine ganze Stunde zu dauern scheint. Auf einmal ist er wieder wach und sich dessen bewusst, dass er in einer Zelle sitzt. Sein Gesicht drückt Bedauern darüber aus.

Nur wenige IS-Terroristen bereuen ihre Verbrechen und argumentieren, dass die versklavten oder hingerichteten »Ungläubigen« es nicht »besser verdient« hätten. Dieses völlige Fehlen von Moral, von jeglichen Schuldgefühlen bei den Tätern entspricht der Realität, mit der die Menschen im Irak, in Syrien, Libyen oder Nigeria bis heute tagtäglich konfrontiert werden. Während bei uns die Gewalt bildlich gesprochen bislang nur einmal vorbeigeschaut hat, hat sie sich bei ihnen zu Hause eingenistet. In diesen brennenden Ländern haben IS-Terroristen oder deren radikale Ableger wie die »Islamische Front« oder die in »Fateh al-Sham« umbenannte »Nusra-Front« einem weitgehend selbstbestimmten Leben und einer pluralistischen Gesellschaft den Krieg erklärt. Zwischen Tod und Elend, Schwerstverletzten und Flüchtlingen lauern Schlepper, Menschenfänger und Kriminelle auf ihr Geschäft.

Mehrmals war ich 2015 im Irak, manchmal nur einige Kilometer von der IS-Front entfernt, untersuchte mehr als tausend Frauen und Mädchen, die in die Hände des IS gefallen waren. Während sich die Täter selbstbewusst präsentierten, waren ihre Opfer nervös, ängstlich und angespannt. Zuflucht gefunden haben sie meist in riesigen Zeltstädten; sobald sie aber in der Nacht ihre Augen schließen, glauben sie sich erneut in IS-Gefangenschaft zu befinden. Und wieder müssen sie Folter, Vergewaltigung, Hilflosigkeit, Flucht und Sorgen durchstehen. Eltern und Geschwister sind meist noch in Händen der Terroristen oder liegen in einem der zahlreichen Massengräber, von den Bulldozern des IS mit Erde bedeckt.

All diese Ereignisse haben mich manchmal hilflos, aber auch zornig gemacht. Mitgefühl für die Opfer und Solidarität ist wichtig, reicht aber nicht aus, weil sich diese Tragödien und Schicksale wiederholen werden. Es darf nicht sein, dass eine Rhetorik der Trauer zu einem begleitenden Ritual des Terrors wird, wir darüber jedoch vergessen, die Ursachen dafür zu analysieren.

Warum schließen sich Menschen diesen Terrororganisationen an? Wie ist es möglich, dass nach dem 20. Jahrhundert des Totalitarismus, der Genozide und Massaker, nach Konzentrationslagern und Gulags, totalitäre faschistisch-islamisierte Gruppen wie der IS eine Renaissance erleben und weiterhin Völkermord verüben können? Wie können freiheitlich organisierte Staaten sich wirksam gegen Menschen zur Wehr setzen, die den Tod nicht scheuen? Wieso wissen Sicherheitsbehörden so wenig über die Informations- und Kommunikationsstruktur der Terrorzellen oder »flirten« sogar zeitweise mit ihnen?

Freie Gesellschaften sind verwundbar, dürfen aber aufgrund des Terrors keinen Zentimeter von ihren demokratischen Werten abrücken, für die sie so lange und unter so schmerzlichen Verlusten gekämpft haben. Nur wenn wir die Täter und ihre Motivation, ihre Psychologie verstehen, kann es uns gelingen, in den Kriegsgebieten langfristig demokratische Strukturen aufzubauen, damit dieses Morden aufhört.

Menschen mit scheinbar unauffälligen Biografien, die vielleicht vor zehn Jahren noch niemandem ein Haar gekrümmt hätten, verwandeln sich mittels radikaler Ideologien in Massenmörder. Darunter brave Jungs aus Vorstädten, die in einem schwachen Moment von einem IS-Werber gezielt ins Verderben gelockt werden. Diese Prozesse müssen wir verstehen und daraus unsere Schlüsse ziehen. Dazu gehört es auch, die Probleme an der Wurzel zu packen. Neuausrichtungen der globalen Weltfinanzmärkte, die sich bislang zuungunsten des überwiegenden Teils der Menschheit auswirken, aber auch des Waffenhandels und der Unterstützung diktatorischer Länder sind notwendig. Andernfalls wird in vielen Ländern weiter die Korruption blühen, Regierungen werden ihre Bürger unterdrücken und eine neue Generation der Gedemütigten hervorbringen, die glaubt, nichts zu verlieren zu haben außer ihrer Angst vor dem Tod. Weiter werden sie darin fortfahren, historische Bauwerke und die Erben der heutigen Zivilisation in die Luft zu sprengen. Wenn wir also wollen, dass in unserem Land Sicherheit, Wohlstand und Freiheit so bleiben, wie wir es kennengelernt haben, müssen wir vieles ändern.

Forschungen über Gewalt müssen sich immer auch auf die Angreifer selbst erstrecken – das haben wir nach vielen Einsätzen in Krisenregionen der Erde verstanden. Wer jedoch wüsste mehr über die Täter als die Opfer selbst? Auf der Basis meiner Untersuchungen mit Hunderten von Überlebenden, aber auch durch Interviews mit den Tätern wollen wir daher die menschliche Bereitschaft zu töten näher ergründen. Die Realität und die Komplexität im Nahen Osten, mit seinen verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen, mit seinen unüberschaubaren politischen Koalitionen und nie enden wollenden Menschenrechtsverletzungen seit Jahrhunderten, bleiben uns in den westlichen Ländern oft verborgen. Diese Welt erscheint uns fremd, mitunter primitiv und sadistisch; sie entzieht sich unserer Vorstellungskraft und ist mit unseren gängigen moralischen Wertvorstellungen nicht vereinbar. Doch ist diese Welt der Gewalt und Aggression wirklich so weit entfernt von unserem ureigenen Wesen? Wie verändern sich Menschen angesichts einer Umwelt, die von Grausamkeit geprägt ist? Wie schmal ist die Grenze, die der Mensch überschreiten muss, um die Zivilisation zu verlassen?

DER IRAK: VOM GARTEN EDEN IN DIE HÖLLE DES IS

Einst Wiege der Kultur, ist der Irak heute im Niedergang begriffen. Angesichts der Barbarei der »Gotteskrieger« ist es kaum zu glauben, dass sich im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris, dem alten Mesopotamien und Babylonien, die Geburt von Zivilisation, Religionen, Wissenschaft und Kultur vollzogen hat.

Zeitlebens war dieses Gebiet Zentrum verschiedener Weltereignisse, von den alten Hochkulturen der Sumerer bis hin zu den Griechen und Römern. Von hier aus sollen Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben worden sein, hier begrub die Sintflut das Land, hier übergab Moses die Zehn Gebote, und von hier stammte das sagenumwobene Menetekel, das den Untergang Babylons vorhergesagt hat.

Durch weite Wüsten und Steppen, schmale Sumpfgebiete und fruchtbare Ebenen zogen große Feldherren wie Alexander, die Kreuzfahrer oder Sarazenen. Wo damals die Speere der Ägypter, Assyrer, Griechen, Römer und Perser flogen, krachen heute Bomben und fahren Panzer. Da kämpfen Araber, Saudi-Araber, Franzosen, Briten, Türken, Iraner und viele andere um Land, Öl und Macht. Seit Beginn der menschlichen Zivilisation wurde der Nahe Osten von tiefen Erschütterungen geprägt und hat nie wirklich zur Ruhe gefunden. Und bis heute nimmt das Gebiet eine Schlüsselposition ein, die immer wieder die ganze Welt erbeben lässt. Das Land, in dem Öl und Wasser fließen, verfügt eigentlich über genug Ressourcen, um seine Bevölkerung gut zu versorgen. Heute aber geht nahezu ein ganzes Volk am Hungerstock.

Nach Ende des Ersten Weltkriegs ist der Irak aus den Trümmern des Osmanischen Reiches in seiner heutigen Form entstanden. Auf britische Initiative hin schlossen sich drei völlig unterschiedliche osmanische Provinzen um Mossul, Bagdad und Basra zu einem Gefüge zusammen, die sich bis heute aneinander reiben und keine Einheit bilden. So war der Irak 1920 zunächst britisches Mandatsgebiet, zwölf Jahre später wurde daraus ein unabhängiges Königreich, und 1958, nach einem Militärputsch, entstand ein entschlossen aufrüstender, nationalistischer Ölstaat, der in die Hände der Militärdiktatur Saddam Husseins fiel.

Die etwa 35 Millionen starke irakische Bevölkerung besticht durch eine große religiöse, kulturelle und ethnische Vielfalt. Darunter stehen die Araber mit über 75 Prozent und die Kurden mit über 15 Prozent an der Spitze; es folgen Turkmenen, Aramäer und weitere ethnische Minderheiten wie ca. eine Million Christen, 700000 Jesiden und verschiedene heterodoxe islamische Gruppen wie die Schabak, Kakai und Mandäer. Dieses bunte Gemisch wurde seit 1968 mit dem Militärputsch der Bath-Partei zunehmend ausgemerzt und unterdrückt; einzelne Angehörige hat_Saddam Hussein in die Machtstrukturen seiner Diktatur mit eingebunden. Etwa zwei Drittel der Gesamtbevölkerung zählen zu den Schiiten, ein Drittel zu den Sunniten. Die Muslime sind hier überwiegend Araber. Zu den Sunniten zählen auch die meisten muslimischen Kurden, im Gegensatz zu den jesidischen Kurden. Nicht-Muslime machen im Irak weniger als drei Prozent der Bevölkerung aus.

Zahlreiche nachfolgende Kriege, zuletzt 2003 die Invasion der USA, haben im Irak tiefe Wunden hinterlassen; heute erscheint das Land politisch, konfessionell und territorial gespalten. Nur noch in den großen Städten funktioniert die Verwaltung. Die Wirtschaft liegt nahezu am Boden. Arbeitslosigkeit und Armut bestimmen das Leben. Einen Teil im Zentrum und im Süden hat die schiitische Regierung noch unter Kontrolle. Im Norden versuchen die Kurden, einen Proto-Staat zu errichten. Einen anderen Teil des Zentrums und den Westen hält der IS besetzt, der seinen Einfluss bis weit nach Syrien hinein ausgeweitet hat.

In der Politik regieren vor allen Dingen Korruption und Streit. Ein ehemals hervorragendes Bildungssystem liegt in Trümmern, ebenso wie viele Häuser und öffentliche Gebäude. Die schiitischen Regierungsmilizen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Grausamkeit, besonders gegenüber den Sunniten, kaum von den IS-Terroristen. Kurdische Rebellen wie die Peschmerga stehen an der Seite der Zentralregierung, konzentrieren ihren Kampf gegen den IS aber auf die autonomen kurdischen Gebiete.

Krieg und Terror haben zu einer immer stärkeren Zerstückelung und räumlichen Teilung der Gesellschaft geführt. Die Lage der ethnischen Minderheiten wie Christen oder Jesiden ist so schwierig, dass vielen als letzter Ausweg nur noch die Flucht bleibt.

IM HERZEN DER FINSTERNIS: DAS MÄDCHEN, DAS IN AL-BAGHDADIS HÄNDEN WAR

»Wer flieht, dem droht der Tod!« Das war uns Mädchen klar, doch wir ahnten nicht, dass uns noch viel Schlimmeres bevorstand, nachdem die IS-Wachen uns zu viert im Garten geschnappt hatten. Unser Besitzer hat uns aber nicht, wie erwartet, mit eigenen Händen erschlagen. Nein, er hat uns zur Strafe in einem anderen Haus mit seinen Emiren eingesperrt. Wenn man sich mit 14 Jahren so alt fühlt, dass es einem vorkommt, als könnte man den nächsten Morgen nicht mehr überstehen, fürchtet man den Tod nicht mehr. Wir sind ein zweites Mal davongelaufen. Und diesmal sind wir unseren Folterknechten entkommen! Mir war klar, dass wir Glück gehabt haben. Wie groß unser Glück war, ist mir jedoch erst viel später bewusst geworden.

Im November 2014 nahm mich mein Onkel im kurdischen Teil des Irak in seiner Familie auf. Gemeinsam verfolgten wir nach dem Abendessen die Nachrichten im Fernsehen. Als hätte ich einen Stromschlag erhalten, zuckte ich zurück und stammelte, mit dem Finger auf den Bildschirm deutend: »Bei … bei … bei diesem Mann war ich auch!« Damals war er anders gekleidet gewesen, trug nicht dieses schwarze lange Gewand und den schwarzen Turban. Unverkennbar jedoch waren das breite Gesicht wie das eines Bauern und der schwarze Vollbart mit weißen Strähnen. Mein Onkel wurde kreidebleich.

Plötzlich haben sich die Ereignisse nur so überschlagen. Der US-Geheimdienst wollte mit mir sprechen. Und schon kurze Zeit später hat man mich außer Landes nach Deutschland geschafft. Bis dahin hatte ich keine Ahnung gehabt, dass es Abu Bakr al-Baghdadi persönlich gewesen war, der mich als sein Eigentum betrachtet hatte. Zweieinhalb Monate lang war ich in Händen des selbst ernannten Kalifen, des Anführers der Terrormiliz Islamischer Staat, des meistgesuchten Terroristen der Welt. Ich wusste nicht, dass die USA auf ihn ein Kopfgeld von 10 Millionen Dollar ausgesetzt hatte. Bis dahin war mir auch nicht klar gewesen, dass die Führer des IS die schönsten Mädchen für sich selbst wählen.

Seitdem ich in ihrer Gefangenschaft war, fühle ich mich hässlich. Ich bin Jesidin. Mein Haar ist lang und schwarz gelockt. Ich bin dünn. Meine Augen sind groß und schwarz wie Kohle. Die Schatten darunter sind tief. Meine Haut ist weiß wie mein T-Shirt. Ich bin in einer aufgeschlossenen und modernen Familie aufgewachsen. Wie hätte ich mir da ausmalen sollen, dass im Irak von einem Tag auf den anderen wieder das Mittelalter herrscht? Mit Sklaverei und Menschen, die wie Fliegen auf der Straße sterben. Bis heute konnte mir niemand sagen, ob meine Eltern und Geschwister noch leben. Als ich in der Pubertät war, ist mein altes Leben zu Ende gewesen.

Das alles passierte so überraschend, dass ich es immer noch nicht ganz verstanden habe. Deshalb erzähle ich im Gespräch oft in der Gegenwart und sage: »Sindjar ist eine Stadt, in der etwa 30000 Menschen leben.« Dabei gibt es die Stadt und die Einwohner nicht mehr. In Sindjar sind nur Ruinen, unterirdische Tunnel und überall Minen, sogar in Kopfkissen und unter Waschbecken, übrig geblieben. So viele Menschen sind tot. Wo sind meine vier älteren Brüder? Sie sind 16, 17, 20 und 21 Jahre alt. Wo ist meine zwölfjährige Schwester Leyla*? Ich habe so schreckliche Angst um sie. Schließlich habe ich am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, Dienerin von IS-Terroristen sein zu müssen. Ich habe meine kleine Schwester so geliebt und vermisse sie so sehr.

Bis zum 3. August 2014, dem Tag des Überfalls, lebte unsere Familie gut. Mein Vater ist Lehrer und meine Mutter Hausfrau. Ich besuchte die 10. Klasse, hatte einigermaßen gute Noten und viele Freunde. In der Schule unterrichteten uns sowohl arabische, kurdische als auch jesidische Lehrer, die eigentlich alle nett waren. Ich beherrsche Arabisch, Kurdisch sowie ein bisschen Englisch. Richtige Hobbys hatte ich nicht, aber ich habe gerne gelesen und oft kurdische Musik gehört.

In den Schulferien ist unsere Familie immer aufs Land zu unseren Verwandten gefahren. Diese Ausflüge haben mir großen Spaß gemacht. Besonders schön fand ich die Abende im Sommer, wenn es langsam dunkel und kühler wurde. Dann saßen alle bis in die frühen Morgenstunden zusammen. Die Alten erzählten ihre Geschichten, wir Mädchen hörten gespannt zu oder haben uns zurückgezogen, gequatscht und gespielt.

Meine Mutter hat uns Kindern das Gefühl gegeben, dass wir das größte Geschenk auf der Welt seien. Vater, der als Lehrer arbeitet, hat dagegen öfter mal den Zeigefinger mahnend erhoben: »Ihr müsst viel lernen, damit ihr später einen guten Beruf erlernt und von niemandem abhängig werdet.« Meine beiden älteren Brüder wollten aber kein Abitur machen, sie haben lieber gleich ihr eigenes Geld verdient. Vater war enttäuscht über sie, denn es war sein großer Wunsch gewesen, dass alle seine Kinder eines Tages studieren würden. Deswegen hatte ich mir fest vorgenommen, nach dem Abitur gleich an die Universität zu gehen. Vielleicht, um selbst einmal Lehrerin zu werden? Aber das war noch so weit weg. Viel mehr interessierte ich mich für Kleider, Schmuck, aber auch Schminke. Leyla* und ich haben sehr häufig, unter viel Gelächter, alles Mögliche an uns ausprobiert.

Frauen und Mädchen verhüllen sich bei uns nicht mit schwarzen Kopftüchern oder langen Kleidungsstücken, wie es die Muslime machen, nur weil es ihnen ein anderer so vorgeschrieben hat. Wir sind kurdische Jesiden, wir brauchen solche Regeln nicht. Unsere Familie ist sehr offen gewesen, mein Vater war nicht mal besonders religiös. Womöglich lag das daran, dass er als Lehrer eine sehr aufgeklärte Weltsicht hatte. Er hat uns viel Freiraum gelassen, wir Mädchen durften uns so anziehen, wie es uns gefiel. In der Schule habe ich meistens T-Shirt und dazu eine Jeans getragen und meine langen Haare offen gelassen. Nur vor Freundschaften mit Jungen haben mich meine Eltern gewarnt, da die Leute sonst schlecht über uns redeten.

Es gab einige Mitschüler, die mir von ihrer Art her gefielen; wir haben auch auf dem Pausenhof miteinander gescherzt. Speziell interessiert hat mich aber keiner. Innerlich habe ich jedes Mal die Augen verdreht, wenn im Dorf getratscht wurde. Sobald man 13 Jahre alt wird, fangen die älteren Leute an, die Mädchen zu ärgern: »Na, wen willst du mal heiraten?« Meistens unterbreiteten sie gleich darauf selbst ihre Vorschläge. »Ich habe einen hübschen Sohn. Den solltest du unbedingt nehmen.« Da habe ich immer nur gelacht. »Ich bin doch noch viel zu jung dazu.« Viele der älteren Frauen haben schmunzelnd entgegengehalten. »Ach, ich habe selber schon mit 14 Jahren geheiratet.« Wenn kein Argument mehr weiterhalf, habe ich meine lange Mähne geschüttelt. »Nein, nein, mein Vater möchte das noch nicht.« So reden eben die Menschen im Dorf, da dreht es sich häufig um Hochzeiten und andere Feierlichkeiten. Zu Hause war das kein Thema. Am liebsten habe ich mit Leyla* gespielt. Sie war mehr als eine Schwester, sie war meine beste Freundin.

Wir lebten in einem großen Haus mit einem großen Vorgarten. Selbst, wenn drum herum alles von der Sonne verdorrt war, leuchtete unser Rasen grün, weil Vater ihn mit großer Hingabe gepflegt hat. Wir hatten auch einen Obstbaum und verschiedene Gemüsesorten angepflanzt. Abends im Sommer haben wir auf der Wiese einen Teppich ausgebreitet, und Mutter hat wunderbare Speisen zubereitet, wie Reis, Bulgur, viel Fleisch und Gemüse. Ich habe ihr dabei geholfen, was mir manchmal Spaß gemacht hat, manchmal aber auch überhaupt nicht. Endlich erschienen unsere Gäste!

Frauen und Mädchen haben wir umarmt, den älteren Männern haben wir die Hand geküsst, den Jungen in unserem Alter haben wir die Hand gegeben zur Begrüßung. Kaum hatten die Besucher Platz genommen, sind wir in die Küche gerannt und haben eine Leckerei nach der anderen serviert, angefangen mit Tee oder Kaffee, manchmal sogar beides, dann folgten mehrere Teller mit Obst. Und kurz danach trugen wir Vorspeise, Hauptgang, Nachspeise und natürlich sehr viele Süßigkeiten und Gebäck herbei. All das Essen ließen wir auf dem Tisch stehen, damit die Leute bis zum Schluss etwas davon nehmen konnten. Oft kamen die Gäste gegen 20 Uhr und gingen erst um 2 Uhr nachts wieder nach Hause. Zum Glück begann der Schulunterricht morgens erst um 9 Uhr. Zwischen 13 und 16 Uhr war Pause, weil um diese Uhrzeit die Hitze in Sindjar unglaublich drückend ist. Nicht selten zeigt das Thermometer in der Sonne Temperaturen um 60 °C an. Da kann man sich weder in der Schule noch sonst irgendwo konzentrieren. Gleich nach dem Mittagessen haben wir uns aufs Ohr gelegt.

Vater hat uns Kinder häufig zu politischen Veranstaltungen in der Schule mitgenommen. Die Mehrheit in Sindjar hat die »Demokratische Partei Kurdistans« (DPK) von Präsident Masud Barzani unterstützt. Vater jedoch war der Ansicht, dass die »Patriotische Union Kurdistans« (PUK) viel moderner und den Jesiden gegenüber offener sei und sie zudem stärker unterstütze. Wenn seine Freunde zu Besuch waren, haben sie viel über die Rechte der Jesiden diskutiert, aber auch über die Beziehung unseres Volkes zum Irak, zu den Arabern und zu den Kurden. Die Mehrheit der Kurden gehört den sunnitischen Muslimen an. Wir sind sozusagen eine Minderheit in der Minderheit.

»Als Kurde geboren zu sein bedeutet, verfolgt zu sein«, haben die Alten oft gesagt. Es bedeutete auch, zum größten Volk ohne eigenen Staat zu gehören. Meine Eltern haben mir viel über die Aufteilung Kurdistans im Irak, in der Türkei, in Syrien und im Iran berichtet. Und auch, dass meine Vorfahren ursprünglich aus der Türkei stammten, vor 80 Jahren jedoch nach Sindjar auswanderten, weil sie dort ihres Lebens nicht mehr sicher gewesen seien. Ja, ich habe viel über die vergangenen »Fermans« (Anm.: Wort für Völkermord bei den Jesiden) gehört, dass die Jesiden schon 72-mal einen Völkermord durch islamistische Gruppen durchlitten haben. Ich selbst aber hatte bis zum Überfall der IS-Milizen keine Diskriminierung durch Muslime erlebt. Allerdings ist Sindjar auch mehrheitlich von uns Jesiden besiedelt. Es gibt dort zwar auch sehr viele Muslime, Christen, und vor einigen Jahren sind sogar Schiiten hierhergezogen, aber wir haben unter den verschiedenen Religionsgruppen nie einen Unterschied gemacht. Im privaten Bereich hatten wir jedoch nur wenig Kontakt mit Arabern, dafür vorwiegend mit Jesiden und muslimischen Kurden.

Nachdem im Juli 2014 die IS-Milizen Mossul eingenommen hatten, herrschte große Aufregung in unserer Stadt. Vater hat uns daheim beruhigt. »Diese Kämpfer wollen nichts von uns Jesiden. Sie wollen nach Bagdad, um die schiitische Regierung zu stürzen.« Dennoch lag Mutter ihm dauernd in den Ohren, dass wir ins Dorf zu unseren Verwandten fahren sollten. »Dort sind wir besser geschützt«, glaubte sie. Die Atmosphäre blieb angespannt. Ich beobachtete, wie die Lehrer sofort nach dem Unterricht nach Hause eilten. Alle waren mit ihren Handys und Smartphones beschäftigt und debattierten lautstark über den IS.

Am 3. August, wir wollten nach dem Frühstück zur Schule aufbrechen, hörten wir lautes Geschrei auf den Straßen. »Was ist das?«, fragte Mutter. Sofort sind wir Geschwister an die Fenster gestürzt und haben hinausgeblickt. Kopflos wie die Hühner vor dem Fuchs rannten die Leute da draußen kreuz und quer herum. Vater ist hinausgegangen und hat mit den Nachbarn gesprochen, die wiederum gehört hatten, dass der IS nun auch im Sindjar-Gebiet einmarschiert sei. »Ihr bleibt im Haus«, verlangte er daraufhin von uns. Während Vater mit den unterschiedlichsten Leuten telefonierte, saß die ganze Familie, sehr unruhig und sehr nervös, zusammen im Wohnzimmer. Das erste Mal in meinem Leben erlebte ich ein Gefühl von Unsicherheit. Ein Gefühl, dass uns etwas Furchtbares zustoßen könnte. Vater hielt noch das Handy in der Hand, als er uns plötzlich zurief: »Schnell, steigt alle ins Auto! Wir müssen versuchen, die Berge zu erreichen.« Er habe mitbekommen, dass die IS-Milizen auch Jesiden verhafteten. Ohne zu zögern, haben wir Schuhe und Jacken angezogen. Mutter hat Gold und Geld an ihrem Körper versteckt. Wir sechs Geschwister haben uns irgendwie auf der Rückbank übereinandergestapelt, aber vor lauter Schreck und Angst gar nicht gemerkt, wie unbequem das war. Kurz vor dem Ausgang der Stadt riegelten schwarz gekleidete Männer mit langen Bärten die Straße ab. Es war, als hielten wir alle gleichzeitig den Atem an. »Verdammt!«, entfuhr es Vater. Er stoppte, stieg aus und versuchte, sich ruhig mit diesen IS-Kämpfern zu verständigen. Doch seine Stimme war in ihrem Geplärre draußen überhaupt nicht zu hören. Zerknirscht ließ Vater den Motor wieder an. »Wir sollen zurück nach Hause fahren und dort warten, bis sie kommen.« Meine Brüder redeten wild durcheinander. Leyla* guckte mich verstört an. Mutter presste ihre Handflächen gegen die Schläfen. Dennoch versuchte Vater weiter, uns die Angst zu nehmen. »Sie haben versprochen, dass uns nichts passieren wird.«

Zu Hause haben wir sofort alle Fenster geschlossen, uns im Dunkeln auf das Sofa gesetzt und die Nachrichten im Fernsehen eingeschaltet. Ständig hat Vaters Handy geklingelt. »Flieht! Lauft um euer Leben!« All unsere Verwandten waren in heller Aufregung. Vater aber wollte nicht riskieren, dass die IS-Milizen auf uns schossen. »Uns wird nichts passieren«, wiederholte er. Als Mutter angefangen hat, mehrmals laut nach Luft zu schnappen und schließlich ihren Tränen freien Lauf zu lassen, haben auch wir es nicht länger geschafft, uns zusammenzureißen. Weinend haben wir uns alle gegenseitig umarmt. Vater hielt uns fest umfasst, aber zum ersten Mal habe ich ihn so hoffnungslos gesehen. Meine Familie war für mich immer ein Schutz gegen das Böse.

Bis zum frühen Morgen lief der Fernseher. Keiner von uns hat ein Auge zugemacht. Plötzlich schreckte uns Lärm von der Straße hoch. Die IS-Milizen durchsuchten ein Haus nach dem anderen und trommelten mit den Fäusten gegen die Tür. Vater machte sofort auf. Die Bärtigen trieben ihn mit ihren Kalaschnikows vor sich her, verlangten nach unseren Ausweisen und schrieben alle unsere Namen nacheinander auf. »Ihr wartet hier! Wir kommen gleich wieder«, schnauzten sie. Diese Dschihadisten wirkten sehr bedrohlich, schmutzig und sprachen auch nicht durchweg ein gutes Arabisch.

Zwei Stunden verstrichen, bis erneut eine Gruppe mit IS-Kämpfern unser Wohnzimmer belagerte. »Packt ein paar Sachen und kommt mit!« Sie verlangten unsere Wertsachen und drohten, uns zu töten, wenn sie danach noch etwas bei uns finden würden. Mutter hat so große Angst bekommen, dass sie unser gesamtes Geld und Gold unter ihrem Rock und aus ihren Ärmeln hervorkramte und ihnen aushändigte. Im Anschluss daran verfrachteten sie uns mit vielen anderen Stadtbewohnern ins Verwaltungsgebäude. Dort sollten wir bis zum nächsten Morgen bleiben. Mitten in der Nacht aber polterten Bewaffnete herein, um die ersten Gefangenen wegzuschaffen.

Am nächsten Tag haben sie uns mit anderen Einwohnern in einen Bus in Richtung Mossul gesetzt, der zweitgrößten Stadt im Irak, vielleicht 120 Kilometer entfernt. Im Vorort Badusch, vor einem der größten Gefängnisse im Land, mussten wir wieder aussteigen. Bis es dämmerte, verbrachten wir gemeinsam unsere letzten Stunden in einer Zelle. Danach habe ich meinen Vater, meine Brüder und meine Mutter nie wieder gesehen. Fassungslos versuchte ich noch, Mutter am Arm festzuhalten, aber da schlugen diese Maskierten mit Stöcken auf sie ein. Augenblicklich habe ich sie wieder losgelassen, doch ich konnte nicht mehr aufhören zu rufen: »Mama! Mama!« Mit langen Schritten schnellten diese Typen auf mich zu, stießen mich in die Ecke und knurrten: »Wenn du nicht sofort still bist, werden wir deinen Vater gleich hier an Ort und Stelle erschießen.« Vater wollte protestieren, doch als er mich so am Boden sah, schluckte er seine Worte wieder hinunter. »Amina, tu das, was sie sagen.« Er warf mir einen schmerzvollen Blick zu und drehte sich um. Noch heute sehe ich vor mir, wie meine Eltern und Brüder das Gebäude verlassen. Mutter hat immer wieder zu uns zurückgeblickt. Und ich höre wieder, wie meine kleine Schwester und ich ihnen hinterherschreien.

Eng umarmt hielten Leyla und ich uns in einer Ecke fest. Wir weinten bitterlich, und grauenhafte Gedanken fuhren mir durch den Kopf. Da ich aber die Ältere von uns beiden war und meine Schwester so zitterte, habe ich versucht, sie aufzurichten, um mir auch selbst Mut zu machen. »Das ist alles nicht so schlimm. Wir kommen wieder zusammen, das geht vorbei.« In dieser Zelle befanden sich noch etwa 60 bis 70 Mädchen, alle zwischen 10 und 16 Jahre alt. Sie stammten aus verschiedenen Dörfern im Sindjar-Gebiet. Untereinander haben wir kaum gesprochen, weil meine Kehle wie zugeschnürt war und ich nur noch meine Schwester festhalten wollte. Von draußen hörten wir Schüsse und Schreie. Solche Schreie hatte ich vorher noch nie gehört. Wir machten uns noch kleiner, und ich zog Leylas Kopf noch fester an meine Brust. »Das ist alles nicht so schlimm …«

Wieder kamen sie in der Nacht, als wir vor Müdigkeit nicht mehr wussten, wo wir waren. »Aufstehen!« Sie haben uns mit ihren Stiefeln getreten, an den Zöpfen gerissen und vorwärts geschubst. Noch nie zuvor hatte mich jemand so grob angepackt. Draußen wartete bereits ein Bus, der nach etwa 15 Kilometern in Mossul hielt. Ich kannte die Stadt, weil ich dort bereits mehrmals mit Vater zum Einkaufen gewesen war. 18 Tage lang haben sie uns Mädchen in einer Villa gefangen gehalten, in der vor Kurzem offenbar noch Christen gelebt hatten. In die Mauern waren viele Kreuze eingemeißelt, und die IS-Kämpfer haben dauernd wie die Verrückten versucht, diese Zeichen mit Hammer und anderen Werkzeugen herauszukratzen und zu zerstören.

Jeden Tag schlurften irgendwelche Männer vorbei und haben sich Mädchen ausgesucht. Wer von uns sich gewehrt hat, wurde geschlagen. Am 18. Tag verlangten zwei IS-Milizen nach meiner kleinen Schwester. An meinem Bauch spürte ich den Herzschlag meiner Schwester, so stark hielten wir uns umschlungen, und gemeinsam flehten wir: »Bitte, nehmt uns wenigstens zusammen mit!« Mich aber hat der eine festgehalten, während der andere mir meine Schwester aus den Armen gerissen und sie weggetragen hat. Leyla* hat fürchterlich um sich geschlagen, gebrüllt, sich aufgebäumt, aber es half nichts. Und so saß ich allein an der Wand. Ohne meine Schwester. Ohne meine Familie. Mutterseelenallein. Ich weinte und weinte und sobald ich an Leyla dachte, die irgendwo mit diesem Fremden mitlief und nach mir rief, und ich die traurigen Gesichter meiner Eltern und meiner Brüder wieder vor mir sah, weinte ich noch mehr. Einige der Mädchen kamen zu mir, wiegten mich im Arm, summten ein Lied, so wie es unsere Mütter manchmal mit uns getan hatten. Aber ich konnte den ganzen Tag nicht mehr aufhören zu weinen. Ich fühlte mich so verloren. Und ich wünschte mir so sehr, dass morgen alles wieder vorbei wäre.

Am nächsten Tag tauchte ein Emir mit seinem Gefolge auf. Man erkannte gleich, welche Macht er besaß, weil sich alle Wachen vor ihm verbeugten und mit eingezogenen Köpfen zurückwichen. Mit dem Finger auf mich deutend, hat dieser Emir beschlossen: »Die bleibt erst einmal hier, die nehme ich woandershin mit.« Eilfertig nickten alle Wachen und ließen mich ab sofort mit ihren Gemeinheiten in Ruhe. So vergingen einige Tage, an denen ich mit ansehen musste, wie ein Mädchen nach dem anderen weggeholt wurde. Nachts träumte ich von meiner Schwester, doch als ich nach ihr rufen wollte, hatte ich keine Stimme mehr …

Jener Emir hat zwölf Mädchen und mich über einen langen Weg durch die Wüste nach Rakka, in die Hochburg des IS, transportiert. Vor Ort hat er unsere Gruppe aufgeteilt und vier von uns in einem sehr großen Haus abgesetzt, das ähnlich aussah wie das Anwesen zuvor. Vielleicht würde ich dort meine Schwester wiedersehen? Von außen hat man nicht erkannt, wie stark das Haus bewacht war. Überhaupt lief da hinter den Mauern sehr viel Personal herum. Allein in der Küche bereiteten zwei bis drei Frauen das Essen vor, im Garten schaufelten mehrere Männer, und überall schoben schwer bewaffnete Milizen ihren Wachdienst, sowohl drinnen in den Gängen und Zimmern als auch draußen zwischen Büschen und Bäumen. Zwei Männer mit Flusenbärten haben uns in eines der Zimmer gewiesen. Was hatte das bloß zu bedeuten? Nach einer Weile brachten weibliche Bedienstete uns etwas zu essen. Wir vier waren völlig ausgehungert. Das Mädchen, das neben mir seinen Reis aß, war 13, ein Jahr jünger als ich, die zweite war gleichaltrig, und die dritte war 15, ein Jahr älter als ich.

In jenem Haus herrschten wie Drachen drei Frauen, vor denen alle die Köpfe eingezogen haben, die Wachen mit ihren Kalaschnikows genauso wie die Hausmädchen mit ihren Besen. Eine dieser Befehlshaberinnen baute sich vor uns im Zimmer auf. Sie wirkte bedrohlich in ihrem langen, dunklen Gewand, die halbe Stirn, Ohren, Hals, Ausschnitt und jedes einzelne Haar fein säuberlich unter dem Hijab versteckt. Mit scharfer Stimme stellte sie klar, dass wir ab sofort Muslima seien und uns auch wie solche zu verhalten hätten. Als Zeichen unseres Einverständnisses sollten wir dreimal hintereinander sagen: »Allah ist groß und Mohammed ist sein Prophet.« Als ich mich weigerte, das nachzusprechen, hat sie mir eine geknallt. Weinend presste ich zwischen den Lippen hervor: »Ich bin Jesidin, ich sag das nicht.« Daraufhin hat sie mir erneut ins Gesicht geschlagen und scharf den Atem eingezogen. »Ich werde jetzt den Wächter holen«, keifte sie, »und der wird dich vergewaltigen, wenn du nicht sofort dieses Bekenntnis nachsprichst.« Seltsamerweise war meine Erschütterung über ihr Verhalten größer als meine Furcht. Ehrlich gesagt, verstand ich auch nicht genau, was mit Vergewaltigung gemeint war. Ich ahnte zwar, dass es etwas Fürchterliches sein musste, habe aber trotzdem nur den Kopf geschüttelt. Umgehend hat sie nach einem der Bewaffneten im Flur verlangt und ihm angeordnet: »Zieh sie aus! Nimm sie dir!« Da stotterte ich nur noch: »J-j-ja, i-ich sag den Satz.«

Noch mehrmals mussten wir Mädchen dieses Bekenntnis auf Arabisch wiederholen. Daraufhin schien jene Person endlich mit uns zufrieden zu sein. »Somit seid ihr jetzt Muslimas, und es gibt keinen Weg mehr zurück.« In der Nacht weckte uns eine der drei Frauen. Sie stammte aus Saudi-Arabien, wie ich später zufällig von einer Küchenhelferin mitbekommen habe. »Los, ihr müsst beten!«, bellte sie. Das war für mich ungewöhnlich, da wir als Jesiden in der Nacht nicht aufgestanden sind. Und auch sonst hatten wir zu Hause kaum gebetet. Die drei Frauen, aber auch alle anderen Menschen im Haus behandelten uns wie Schmutz. »Teufelsanbeter!«, zischten sie uns zu. Ihre Blicke waren so finster wie die Stoffe ihrer Kleider. Bei jeder Gelegenheit erniedrigten sie uns und diktierten uns, was zu tun sei. »Betet!«. Putzt!«. »Schneidet Gemüse!« …

Sobald wir allein im Zimmer waren, setzten wir uns auf den Boden, rückten nah zusammen und flüsterten. »Was haben sie bloß mit uns vor?« Die 15-jährige Zeinat* blickte uns mit ihren großen graublauen Augen fragend an, doch wir zuckten bloß die Schultern. In Mossul hatte ich zwar mitbekommen, wie einige Frauen öfter voller Angst das Wort »Vergewaltigung« benutzt hatten. Und ich wusste natürlich, was Sexualität ist, nur was genau damit gemeint war, war mir unklar. Wie soll man sich so etwas vorstellen? So etwas Unvorstellbares?!

Uns allen fiel nur eine Lösung in dieser ausweglosen Lage ein: »Wir müssen davonlaufen!« Nur wie sollten wir hier herauskommen? Wir befanden uns in der zweiten Etage eines großen Gebäudes, das von einer mächtigen Mauer umgeben war. Jede Gelegenheit haben wir genutzt, um durch das Fenster im Garten nach Fluchtwegen zu spähen. Durften wir zum Putzen mal das Zimmer verlassen, haben wir uns unauffällig umgeblickt. Wo gab es ein Schlupfloch? Wir hatten Angst davor, getötet zu werden, wenn wir wegliefen. Aber die Angst, von irgendwelchen Männern angefasst zu werden, war größer.

Für die drei Frauen im Haus war es jeden Tag aufs Neue wichtig zu prüfen, ob wir uns als Muslima betrachteten. Sie hatten uns auch am Laptop ein Video gezeigt, auf dem man einen amerikanischen Journalisten und einen IS-Kämpfer sah, ganz in Schwarz gekleidet. Er hat dem Journalisten den Kopf abgeschlagen. »Zum Islam konvertieren oder sterben, so wie der da«, stellten sie uns vor die Wahl. Die eine Frau aus Saudi-Arabien bedrängte uns ständig. »Glaubt ihr nun wirklich, dass ihr Muslima seid?« Verschreckt nickten wir alle mit den Köpfen. »Ja, wir sind Muslima, wir glauben daran.« Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, versicherten wir uns flüsternd gegenseitig: »Nein, wir bleiben, was wir sind.«

Erst später habe ich mitbekommen, dass es sich bei den drei Drachen um Abu Bakr al-Baghdadis Ehefrauen handelte. Die zwei anderen stammten aus Syrien und dem Irak. Jede hatte Kinder, aber ich habe keine Ahnung, wie viele es genau waren. Am nächsten Tag habe ich die Frauen nach dem Gebet vorsichtig zur Rede gestellt: »Wir sind doch jetzt Muslime, dann könnt ihr uns doch wieder freilassen. Wieso haltet ihr uns noch fest?« Die Frauen schauten sich an und lachten, als ob das ein besonders guter Witz gewesen sei. »Ja, ihr seid Muslime, aber ihr seid ein großes Geschenk!,« meinte die eine und zog ihre bemalte Augenbraue hoch. Die andere fügte spottend hinzu: »Und ihr werdet schon sehen, welch große Ehre euch noch erwartet.« Ich habe damals noch nicht verstanden, was sie damit meinte …

Am Morgen herrschte in den Fluren großer Tumult, und alle Angestellten waren damit beschäftigt, das Haus von oben bis unten zu polieren und alles an den richtigen Platz zu rücken. In der Küche klapperten die Töpfe. Nur selten hatte ich gleichzeitig eine solche Aufregung und eine solche Angst unter Leuten gesehen. Von oben aus dem Fenster beobachteten wir Mädchen das Treiben. Wie die Ameisen verteilten sich sehr viele Kämpfer, ganz in Schwarz, und kontrollierten jedes Eck. Fast genauso schnell, wie sie auftaucht waren, verschwanden sie auch wieder. Einige Stunden später haben wir verstanden, vor wem sich alle fürchteten.

Ein Mann trat in unser Zimmer. Braune Augen, olivfarbener Hautton, kräftige Augenbrauen, schwarzer Vollbart. Normale Kleidung, wie die IS-Anhänger sie auch auf der Straße trugen. Eine lange Pluderhose mit einem Hemd, das bis zu den Knien reichte. Er wirkte nicht irgendwie ungewöhnlich oder besonders. »Steht auf!«, gebot er streng. Vom Alter her hätte er unser Vater sein können. Verzagt stellten wir uns nebeneinander auf, während er im Zimmer auf und ab lief und vom Islam redete. Wie wichtig der Islam sei und dass die ganze Welt das wisse. Und dass es für uns eine große Ehre bedeute, nun auch zur »Umma«, zur Gemeinschaft der Gläubigen, zu gehören. Wenn wir uns an die Vorschriften des Islams hielten, würden wir ein gutes Leben haben. Wir müssten all das befolgen, was er uns befehle. Er musterte jede von uns wie ein Lehrer, der seinen Schülerinnen erklärte, wie die Welt beschaffen sei. Doch seine Blicke waren so unangenehm wie sein Lächeln.

Der Reihe nach fragte er unsere Namen ab und wollte von uns bestätigt haben, dass wir Muslime seien. Wir wagten nicht, uns zu rühren oder gar aufzusehen. Wir schwiegen zunächst, da fragte er noch einmal harsch nach. Und im nächsten Augenblick verpasste er mir einen so harten Schlag ins Gesicht, dass ich nach hinten umfiel und mit dem Kopf aufschlug. Das Haar im Gesicht, stützte ich mich auf und hielt mir auf dem Teppich liegend die Wange. Bevor er hinausging, warf er mir noch einen letzten Blick zu und befahl einem seiner Untergebenen, mich in das andere Zimmer zu bringen. Dann drehte er sich um und verschwand. Der Wächter packte mich am Handgelenk und zog mich in den Nebenraum, der nur ein paar Meter weiter entfernt war. Fast wie einen Ball hat er mich in das Zimmer hineingeworfen und die Tür hinter sich abgeschlossen.

Schnell rappelte ich mich wieder hoch und lief zur Tür. Angespannt lauschte ich, mit dem Ohr nah am Holz, nach Geräuschen. Keine Schritte. Nur mein Herzschlag. Stunde um Stunde verstrich. Langsam beruhigte sich mein Puls wieder, zerschlagen ließ ich mich auf das Bett sinken und fiel betäubt in den Schlaf. In der Nacht hörte ich auf einmal, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte, und ich erkannte diesen Mann mit dem schwarzen Bart und den weißen Strähnen darin, der wieder irgendetwas über Religion redete. Und ich solle keine Angst haben, er werde mich gut behandeln … Doch seine Stimme klang sehr böse dabei.

Bis dahin hatte ich eine neue Predigt über den Islam erwartet, nun aber verlangte er plötzlich: »Zieh dich aus!« Das hat mich zutiefst schockiert. Ich hatte mich noch nie vor einem Mann ausgezogen und habe nur gehaspelt: »Das mache ich nicht!« Mit einem Satz bin ich aus dem Bett gesprungen und habe mich in einer Ecke gegen die Wand gedrängt. Nichts wünschte ich mir mehr, als hinter dieser Mauer zu verschwinden. »Das nützt dir nichts«, hat er sehr nachdrücklich gesagt. Ich sei jetzt seine Frau und müsse mich den Regeln entsprechend verhalten. »Entweder ich schlage dich, oder du ziehst dich freiwillig aus.« Er schritt auf mich zu und schnappte nach mir, aber ich wehrte ihn mit beiden Händen ab. Die Wucht seines Schlages verdrehte mir den Hals. »Du sollst das machen, was ich sage!,« brüllte er und wiederholte ständig, »du weißt wohl nicht, wer ich bin?!« Doch zu dem Zeitpunkt wusste ich wirklich nicht, wer dieser Mann war. Er hat mir noch ein-, zweimal ins Gesicht geschlagen, bis mir die Nase blutete, dann auf den Rücken und den Kopf. Ich bin mehrmals hingefallen und wieder aufgestanden und am Ende bin ich auf dem Boden liegen geblieben.

Aus Leibeskräften hat er mir die Füße in meine Rippen, meinen Magen, meine Schenkel gerammt. Die Schmerzen habe ich nicht wirklich gespürt. Ich hatte einfach nur schreckliche Angst, dass er gleich mit mir etwas machte, was ich nie im Leben wollte. Das hat regelrechte Panik in mir ausgelöst, stöhnend fuhr ich hoch, war so aufgewühlt, dass alles an mir schlotterte. Was tun? Wohin? Mir grauste vor dem Anblick dieses großen Mannes, aber ich starrte dorthin, von wo er kam. Wieder hagelten seine Schläge auf mich ein, und ich geriet erneut ins Taumeln. Diesmal aber wurde mir schwarz vor Augen. Für kurze Zeit war ich ohnmächtig. Als ich aufwachte, merkte ich, wie er mich auf dem Boden auszog und meine Kleider wie Papier zerriss. Sein Gewicht erdrückte mich fast. Das alles war so furchtbar. So würdelos. Und ich konnte mich nicht dagegen wehren. Irgendwann hatte ich nur noch Schmerzen, mein Unterleib brannte wie glühende Kohlen, und ich heulte die ganze Zeit.

Als er fertig war, zog er seine Hose hoch, verschloss die Tür wieder hinter sich und ließ mich so am Boden liegen. Die drei Frauen lachten, als sie mich morgens mit blau verschwollenem Gesicht vorfanden. »Na, wie geht’s dir?«, lästerten sie. »Jetzt gehörst du zu uns.« Sie gaben mir den Rat, dass ich mich nicht länger wehren solle, da das ohnehin keinen Sinn ergebe. Ungeduldig klatschten sie in die Hände, »hopp-hopp«, denn ich sollte in der Küche sauber machen und die Räume wischen. Jeder Schritt tat mir entsetzlich weh. Als ich mich zufällig in einer Scheibe spiegelte, schaute ich weg. Ich schämte mich so sehr.

Überall in den Fluren spürte man die Angst der Leute. Sobald einer der drei Drachen unversehens um die Ecke bog, arbeitete das Personal noch schneller als zuvor. Keiner wagte es, einen falschen Ton von sich zu geben. Am nächsten Tag mussten die anderen Mädchen dasselbe Schicksal wie ich erleiden. Schläge und Vergewaltigung. Insgesamt blieb ich zwei Wochen in dem Haus dieses Unmenschen. Seine Ehefrauen wussten genau, dass ihr Mann uns vergewaltigte. Bevor er bei uns auftauchte, haben sie uns jedes Mal befohlen: »Geht euch waschen! Und wartet auf ihn!« Und ich schrubbte mich ab, bis ich rot und wund war. Am liebsten hätte ich so lange geschrubbt, bis nichts mehr von mir übrig war.

Zum Glück haben wir diesen Mann sonst kaum zu Gesicht bekommen. Die meiste Zeit hockten wir steif auf unseren Zimmern oder mussten in der Küche und anderswo mit anpacken, während sich der Hausherr mit anderen IS-Anhängern in einem großen Raum aufhielt. Mir fiel auf, dass es nirgendwo Handys gab und niemand telefonierte. Ich weiß das genau, weil die drei anderen Mädchen und ich überall nach Telefonen oder Handys suchten, um unsere Familienangehörigen zu verständigen. Aber wir haben nichts dergleichen gefunden, und ich habe nie gehört, dass es irgendwo geklingelt hätte. Der Informationsaustausch bei ihnen lief anders ab. Ständig kamen Männer vorbei, stimmten sich untereinander ab und liefen wieder rasch auseinander.

Al-Baghdadi war auch nicht zwei Wochen durchgehend anwesend. Er stand spät auf, verließ ständig das Haus, kehrte zu unbestimmten Zeiten wieder zurück, und selbst das nicht jeden Tag. Dieser Vergewaltiger hat mit uns kaum ein Wort gewechselt. Er hat nur dauernd dieselben Reden über Religion geschwungen. Dass wir Muslime seien, ab sofort zur islamischen Welt gehörten und uns gefälligst anpassen sollten. Er hat auch betont, dass die Jesiden an den Teufel glaubten. »Das ist falsch, und ihr sollt den richtigen und wahren Glauben anerkennen.« Alle drei Male, als er sich mit seinem hässlichen haarigen Körper auf mich geworfen hat, habe ich mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt. Alle drei Male hat er mir die Haare ausgerissen, mich mit einer Hand an der Kehle gepackt und mit der anderen einen Hagel von Schlägen auf mich niederprasseln lassen. »Und wenn du dich noch mal wehrst, dann bringe ich dich um!« Danach hat er die Tür hinter sich abgeschlossen, damit ich nicht weglaufen konnte.

An einem Abend haben wir mitbekommen, dass al-Baghdadi mal wieder mit einer größeren Zahl seiner Wächter fortgefahren war. Da haben wir Mädchen beschlossen, alles auf eine Karte zu setzen. Unser Fluchtplan stand fest: Wir wollten aus der zweiten Etage unseres Fensters klettern und, unten angekommen, loslaufen, so schnell wir konnten. Leise wie auf Katzenpfoten sind wir über das Dach geschlichen, haben uns von dort aus auf einen nahe stehenden Baum gehangelt und sind mit ein paar Schürfwunden unten im Garten angelangt. Geduckt haben wir uns umgesehen und versucht, jeden Laut zu vermeiden, doch plötzlich schälten sich aus der Dunkelheit die Umrisse der Wachen heraus. In der nächsten Sekunde packten sie uns schon an Nacken und Armen. Aus! Vorbei! Alles verloren! Es war ein Hin und Her, wir haben geschrien, und die Stimmen um uns herum wurden immer lauter. »Wir werden euch gleich hier erschießen!«, herrschten sie uns an. Die Ehefrau aus Saudi-Arabien stürmte in den Garten, prügelte auf uns ein und befahl den Wächtern, uns umgehend wieder ins Haus zu schaffen. Mit Hieben und Tritten trieben sie uns wieder hinein.

Diesmal aber brachten sie uns in ein anderes Zimmer und fesselten uns dort. Mit pochenden Handgelenken und schmerzenden Gliedern saßen wir bis zum nächsten Morgen gekrümmt an der Wand. Bei Sonnenaufgang flog die Tür auf, und al-Baghdadis Ehefrauen beugten sich zeternd so dicht über uns, dass ihre Spucke uns ins Gesicht sprühte. »Ihr seid eine Schande für den Islam! Ihr solltet getötet werden!« Sie wollten damit allerdings noch abwarten, bis der »Sheikh« zurück sei. Er sollte entscheiden.

Ich habe damit gerechnet zu sterben und versucht, mich innerlich darauf einzustellen. Es ist dennoch eine schreckliche Situation, auf etwas zu warten, besonders auf so etwas Schreckliches wie den Tod, wenn man gerade 14 Jahre alt ist. Was würde er mit uns machen? Ganz plötzlich hat mich die Angst vor dem Tod erfasst und mir die Luft genommen. Wie feiner Sand in einem Sandsturm, der das Licht verdunkelt, durch jede Ritze dringt, tief in die Atemwege hinein, die Augen verklebt, jede Orientierung nimmt. Und je schneller man atmet, desto schneller erstickt man daran. Obwohl ich nicht mehr leben wollte, hatte ich dennoch so furchtbare Angst vor dem Sterben.

Ein- oder zweimal blickten die Frauen zu uns herein, beleidigten uns als »Huren« und schlossen danach die Tür wieder ab. Wir starrten vor uns hin, schluckten nur und schluckten, als könnten wir die Angst herunterwürgen. Relativ spät in der Nacht hörten wir anfahrende Fahrzeuge und Männerstimmen, die jedoch langsam wieder verebbten. In den frühen Morgenstunden fegte der Sheikh mit wehendem Bart ins Zimmer. »Warum seid ihr geflohen?«, verlangte er erregt zu wissen. »Ihr gehört mir! Ihr seid meine Frauen! Ihr könnt nirgendwo mehr hin!« Mit unruhig flackernden Augen wiederholte er seine immer gleichen Forderungen: Wir müssten das befolgen, was man uns sagte. Sein Gesicht lauernd wie das eines Raubtiers kurz vorm Sprung. Ohne es noch länger unterdrücken zu können, schluchzte ich laut auf: »Ich will sterben und nur weg von hier!« Da ist er derart außer sich vor Zorn geraten, dass er auf uns losging wie ein beißwütiger Hund und auf jede von uns eingeschlagen hat. Erst mit Händen, dann mit seinem Gürtel. Die drei Frauen haben es ihm nachgemacht. So viele Hände und Füße, die überall, wo sie uns erwischten, traktiert und gepeitscht haben. So lange, bis wir uns nicht mehr rührten. Al-Baghdadi schnaubte vor Wut. »Ich will sie nicht mehr länger hier haben. Schickt sie weg!« Wir würden schon noch sehen, was wir davon hätten.

Am nächsten Tag haben IS-Wachen mich und Zeinat* mit dem Wagen abgeholt und in die etwa 270 Kilometer entfernt liegende syrische Stadt al-Shadadiya gebracht. In diesem Haus führte eine andere Frau das Kommando. Es war Umm Sayyaf, die Ehefrau von Abu Sayyaf, einem Kommandanten al-Baghdadis. Später erst habe ich erfahren, dass dieser »Ölminister« und Leiter von Militäreinsätzen war. Zwölf andere weibliche Gefangene haben sie mit mir in einem Zimmer im Hause Sayyafs wie Tiere in einem Käfig gehalten. Darunter auch zwei Ausländerinnen. Die Ältere war 58. Keine Ahnung, ob Amerikanerin oder Engländerin. Sie verstand kaum Arabisch. Die andere war 26 Jahre alt und hatte von den IS-Milizen einige Brocken Arabisch gelernt. Ihr Name war Kayla Mueller. Sie war Amerikanerin, hatte als Entwicklungshelferin in Aleppo gearbeitet und war im August 2013 von IS-Milizen entführt worden. Mit ihr konnten wir uns ein wenig verständigen. Wir erklärten ihr, dass uns dieser Mann mit dem langen schwarzen Vollbart hergebracht habe. »Ich kenne ihn«, sagte sie. Sie werde von ihm auch sehr schlecht behandelt. Wir sprachen dann nicht mehr darüber, aber ich habe verstanden, dass sie genau das Gleiche erlebt hatte wie wir. Kayla hatte ein rundes gutmütiges Gesicht, dunkle kurze Haare, traurige Augen. Jedes Mal, wenn al-Baghdadi im Haus auftauchte, nahm er Kayla mit in ein anderes Zimmer. Und das war oft der Fall. Sie weinte, wenn sie aus dem Zimmer kam.

In diesem Haus haben sich unterschiedliche Männer an uns vergangen. Es waren Al-Baghdadis engste Mitarbeiter, vorwiegend ältere Emire, die offiziell Umm Sayyaf einen Besuch abstatteten. Sie waren sehr alt, zwischen 40 oder 50 Jahren, und haben uns immer wieder vergewaltigt. Immer wieder. »Hör auf zu heulen«, zischten sie und pressten mir die Hand auf die Lippen, »sonst bringe ich dich um.« Überall Bisswunden und Striemen. Ich konnte mir nicht vorstellen, jemals wieder glücklich zu sein. Sehr oft habe ich daran gedacht, mir das Leben zu nehmen, aber die anderen hielten mich davon ab.

Als ich wieder in unser Zimmer zurücktaumelte, waren Zeinat* und fünf andere Mädchen verschwunden. Irgendwie waren sie an den Schlüssel gelangt. Außerhalb von Aleppo entdeckten sie ein Haus und baten eine arabische Frau um Hilfe. »Kommt rein, kommt rein!« Statt der versprochenen Hilfe aber hat sie al-Baghdadi und seine Männer herbeigerufen, ausgestattet mit Kabeln und Holzstöcken. Einem Mädchen haben die Männer den Unterarm gebrochen, der anderen das Jochbein. Die letzten Hiebe hatte al-Baghdadi selbst verabreicht, und zwar mit einem Gartenschlauch. Als die Mädchen zurückkehrten, waren sie schwarz von den Prügeln.

Und weiter kamen die alten Männer ins Haus. Ich spürte einen immer größeren Druck im Gehirn, als ob mein Kopf bald platzen würde. Erneut habe ich da mit Zeinat* und einem weiteren Mädchen beschlossen zu fliehen. Ich wollte nicht mehr leben, und vor dem Tod hatte ich keine Angst mehr. Mehrmals habe ich Kayla und der anderen Ausländerin angeboten: »Kommt mit uns mit! Wir sprechen Arabisch und versuchen es einfach.« Aber sie trauten sich nicht und glaubten fest, dass sie bald von ihren Landsleuten befreit würden. Wie ich gehört habe, wurde Kayla im Februar des nächsten Jahres bei einem Luftangriff im Hause Abu Sayyafs unter Trümmern verschüttet. Die amerikanische Regierung hat ihren Tod bestätigt, aber nicht die Umstände, unter denen sie gestorben ist.

Leise sind wir gegen 1 Uhr morgens aus einem Fenster gestiegen. Etwa eine Stunde lang irrten wir in den Straßen umher, sind aber von niemandem angesprochen worden. Da wir wie Muslime unter langen schwarzen Gewändern verhüllt waren, konnte keiner sehen, wer sich unter diesen Stoffen verbarg. In unserer Verzweiflung wussten wir bald nicht mehr weiter, so haben wir uns dafür entschieden, an der nächsten Haustür anzuklopfen. Aber wer würde uns diesmal öffnen?

Furchtsam haben sich uns mehrere Köpfe einer arabischen Familie entgegengereckt. Unsere Stimmen haben sich fast überschlagen. »Wir sind geflohen! Wir kommen aus dem Irak!« Die Mutter, der Vater und die Kinder waren sehr durcheinander, haben uns schnell zu sich hereingewunken. Noch am selben Abend haben sie Kontakt mit einem kurdischen Bekannten aufgenommen, der uns am nächsten Morgen zu sich nach Hause holte und uns in unserem Dialekt auf »Kurmandschi« beruhigte: »Ihr braucht keine Angst zu haben.« Wir hatten aber trotzdem Angst, weil dieser Mann wie ein IS-Kämpfer gekleidet war. Er hatte zwar nicht so einen langen Bart, aber er redete genauso wie sie dauernd über Religion und Islam. Er hat uns aber sehr respektvoll behandelt und klargestellt, dass er genau wisse, was mit uns passiert sei. »So etwas ist ein Verbrechen. Das hat mit dem Islam nichts zu tun.« Deswegen wolle er uns helfen.

Nach zwei Tagen hatte er ein Auto organisiert. Erst mussten wir noch verschiedene Straßenkontrollen überstehen. Jeder Checkpoint konnte unser Ende bedeuten. Doch jedes Mal, wenn die schwer bewaffneten IS-Milizen fragend auf uns tief verschleierte Mädchen deuteten, gab uns der Kurde als seine Töchter aus. Er hatte sogar die Ausweispapiere seiner eigenen Kinder mitgenommen, die aber keiner der Wachposten sehen wollte. Ich fror, obwohl es so heiß war. 60 Kilometer weiter, in Heseka, hat unser Retter uns schließlich einer kurdischen Einheit der Volksverteidigungseinheiten »YPG« (Yekînêyên Parastina Gel) übergeben, die den IS bekämpften. Kurz darauf haben uns jesidische Familien aus den Camps abgeholt und an die irakische Grenze gebracht. Dort hat uns mein Onkel in seine Arme geschlossen. Mit allen Mitteln hat er später versucht herauszufinden, wohin meine Eltern und meine Geschwister verschleppt worden sind, allerdings bisher ohne Erfolg.

Nach Deutschland bin ich ausgereist, weil ich in meiner Heimat nicht mehr länger leben konnte. Ich habe Angst, dass der IS noch stärker wird, dass al-Baghdadi mich findet und tötet. Die anderen Emire haben gedroht, mir die Kehle durchzuschneiden. Sie hatten mir gesagt, dass ich alleine al-Baghdadi gehörte. Und niemand dürfe jemals erfahren, dass sie mich vergewaltigt hätten. Deswegen habe ich Angst, dass mir im Irak etwas zustoßen könnte. Außerdem schäme ich mich so sehr, wenn ich meinen Landsleuten begegne. Sie sehen mir bestimmt an, was mit mir passiert ist. Zeinat* ist auch in Deutschland. Wir leben in geheimen Unterkünften. Aus Sicherheitsgründen hat man uns angewiesen, mit niemandem sonst über unsere Geschichte zu sprechen.

Abu Bakr al-Baghdadi: Herr der Finsternis, Herr der Komplexe

Als »gewöhnlich« und »nicht besonders« schildert Amina ihren ersten Eindruck von al-Baghdadi. Nie wäre sie darauf gekommen, dass dieser Mann mit dem »breiten Gesicht eines Bauern« der Kopf der IS-Terrormiliz ist. Ähnlich überrascht äußerte sich den Medien gegenüber seine erste Ehefrau, die ausgerechnet im vom IS verachteten »dekadenten« Europa Zuflucht gesucht hat. Sadscha al-Dulaimi, die den damaligen Religionslehrer 2008 nach nur drei Monaten Ehe schwanger wegen seiner zweiten Ehefrau verlassen hatte, bekräftigte, dass er ein »ganz normaler Mann« gewesen sei. »Wie er der Emir der weltweit gefährlichsten Terrororganisation werden konnte, ist mir ein Rätsel.« Auf den Straßen Bagdads oder Mossuls würde jener Menschenschlächter in der Menge kaum auffallen.

Ibrahim Ibn Awad Ibn Ibrahim Ibn Ali Ibn Muhammad al-Badri al-Samarra, Jahrgang 1971, der sich Abu Bakr al-Baghdadi nennt und selbst zum Kalifen des Islams erklärt hat, stammt aus Samarra, nördlich von Bagdad. Sein neuer Name soll an die Blütezeit des Islams erinnern. An Abu Bakr, der einst Gefährte des Propheten Mohammed und nach dessen Tod der erste Kalif war. Der Junge aus dem Irak ist der drittgeborene von vier Söhnen, kommt aus einfachen Verhältnissen, ist überzeugt, dem Stamm der Kureish und damit der Familie des Propheten Mohammed zu entspringen, was allerdings Hunderttausende Muslime im Nahen und Mittleren Osten gerne von sich behaupten. Seine Familie lebte unauffällig, war religiös, und der Vater gab Religionsunterricht in der lokalen Moschee.

Bereits in der Kindheit und Jugendzeit fiel auf, dass al-Baghdadi gerne andere tadelte und in Beziehungen das Sagen haben wollte. Eine Nachbarin erinnert sich, wie sich der junge Mann einmal laut darüber erregte, dass er auf einer Hochzeit Männer und Frauen zusammen tanzen gesehen habe. Einheitlich berichten ehemalige Mitschüler und Bekannte, dass der junge al-Baghdadi jedoch weder aus der Menge besonders herausgestochen noch gewalttätig gewesen sei. In der Schule dreht er eine Ehrenrunde und glänzt nicht gerade durch gute Leistungen.