Dilan - Ein Wimpernschlag für die Ewigkeit - Jan Ilhan Kizilhan - E-Book

Dilan - Ein Wimpernschlag für die Ewigkeit E-Book

Jan Ilhan Kizilhan

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Beschreibung

Dilan ist Kurdin. Sie wächst in der Türkei auf, wo die Unterdrückung gegen ihr Volk und der Krieg der IS herrschen. Ihr großer Bruder zieht für die PKK in den Krieg und kämpft gegen die Islamisten - dadurch und durch viele Geschichten ihres Vaters und der Älteren im Dorf erfährt sie viel über die Unterdrückung der Bevölkerung, Vertreibung, Verwüstung, Folter und Krieg. Als Dilan realisiert, dass sie Frauen liebt, wachsen Wut und Widerstand in ihr, da ihre Gemeinschaft verbietet, gleichgeschlechtliche Menschen zu lieben. Dilan entscheidet sich, sich als kurdische Freiheitskämpferin der Fraueneinheit LGBTIQ anzuschließen und gegen den Daesh in den Heiligen Krieg zu ziehen und für die Freiheit und die Rechte ihrer Gemeinschaft zu kämpfen. Doch der Heilige Krieg und die Daesh-Kämpfer sind erbarmungslos …

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Seitenzahl: 370

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Inhaltsverzeichnis

Impressum 2

Vorwort 3

Es begann mit einem Schlag 4

Dilan – lieber sterben als Gefangene des IS zu sein 8

Der traumatisierte Journalist 11

Der Student, der dem IS entfliehen konnte 16

Die Kämpferin, vor der IS-Terroristen wegliefen 21

Eine tödliche Gewohnheit 24

Leben im Dorf und Widerstand gegen die Unterdrücker 30

Eine Schule, eine Stadt mit Verrätern und Patrioten 35

Sofi, der Mullah und Erzähler 38

Am Vorabend der Zerstörung meines Heimes 41

Schulkinder bekriegen sich wie ihre Väter 46

Der Schrei der Mutter und die Zerstörung der Stadt 49

Die Zerstörung meiner Gasse zerstörte meine Kindheit 53

Der Bruder und Kämpfer in den Bergen 57

Leben im Internat 63

Ich bin anders 68

Sommerferien in Istanbul und die LSBTIQA* 71

Widersprüche des Lebens 86

Verstörende Kriegsbilder im Fernsehen 91

Der Kontakt 95

Warten 99

Der Grenzübergang 106

Die Fraueneinheit in den Bergen 112

Das Todesdreieck 121

Angekommen in Rojava, Nordsyrien 127

Die LSBTIQA* Einheit kämpft an der Front gegen die Islamisten 135

Erste Berührung mit dem Krieg 140

Jiyan bedeutet Leben 147

Die Flucht der Frauen aus der Hand der IS 151

Aus dem Leben gerissen 155

Frauen kämpfen gegen die Islamisten, die unbedingt ins Paradies wollen 160

Der Rückzug 167

Wenn es beginnt, normal zu werden 174

Der Krieg kennt keine Liebe und kein Erbarmen 180

Die Gefangenschaft 190

Der Kadi, der Richter der Daesh 198

Gefangenschaft 203

Das Licht, das dich am Sterben hindert 215

Eine unklare Zukunft 219

Gefangen in bösen Träumen 229

Lesbische Kämpferin in Irakisch-Kurdistan 235

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2020 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-99064-816-2

ISBN e-book: 9783990648179

Lektorat: Mag. Eva Reisinger

Umschlagfotos: Swevil, Vladimir Cheberkus | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Vorwort

Scham vor dem Gestern, Angst vor dem Morgen,

Quälend arge Daseinssorgen

Können das Leben nicht vergällen,

Nur Liebe, Freude, Lachen zählen.

(Omer Hayyam)

Den Terror entzaubern, wie ist das möglich? Indem man denjenigen zuhört, die durch die Hölle der Terrorgeiselhaft gegangen sind, über sie berichtet, auch wenn es einen selbst an die Grenzen des Verstehbaren bringt, die Gräueltaten enttabuisiert, auch wenn es die eigene Kultur und Religion manchmal in Frage stellt, indem man die direkten und indirekten Unterstützer, auch einige Staaten, benennt, dass sie hoffentlich vor Scham erblassen, einen Funken Menschlichkeit in ihrer Seele spüren und erkennen, dass eine Politik der Interessen niemals vor die Interessen der Menschen gestellt wird, damit so etwas endlich nie wieder geschieht.

Es begann mit einem Schlag

Mit einem langen Knüppel in der Hand, in gekrümmter Kampfhaltung, sieht er das Tier. Er ist aufgeregt, höchst angespannt, aber alle seine Sinne sind hellwach. Er hat Hunger und die Angst ist in diesem Fall noch nur noch ein Nebenprodukt seiner biologischen Prozesse. Er muss jagen. Ganz gleich wie groß oder gefährlich das Tier ist. Er spürt die Angst, denn die gejagten wilden Tiere könnten ihm in einem unbedachten und falschen Moment mit ihren riesigen Zähnen und Krallen in Stücke reißen. Das weiß er, aber der Hunger ist so groß, dass dies in diesem Moment keine Bedeutung hat. Tier gegen Tier, fressen oder gefressen werden. Er bringt sich in Stellung, atmet so leise wie möglich, sein Herz pocht vor Aufregung, die Muskeln sind angespannt von den Waden bis an die Stirn. Dann schlägt er mit aller Kraft zu. Beim ersten Mal zuckt er noch etwas zusammen als das Tier einen Schmerzensschrei ausstößt. Auch beim zweiten Mal, er empfindet für den Bruchteil einer Sekunde so etwas wie Mitleid, aber das zählt in diesem Moment nicht. Das Adrenalin ist ausgestoßen, die Aufregung ist weg. Er muss das Tier erlegen, koste es, was es wolle. Das Tier windet sich vor Schmerz und versucht zu fliehen, doch da kommt schon der nächste Schlag, welcher das Tier auf den Boden schlägt. Er schlägt wieder zu und das Tier kämpft immer noch, irgendwie stirbt es nicht. Aber der Hunger nimmt ihm den Verstand und beraubt ihn seines Mitgefühls. „Entweder es oder ich“, denkt der Jäger. Er schlägt und schlägt auf das Tier ein. Er ist so rasend, so betäubt, voller Aggression und Energie. Das Blut des Tiers spritzt wie ein Wasserstrahl und trifft sein Gesicht. Kein Ekel, kein Schritt zurück. Das Blut auf seinem Gesicht löst eine unbeschreibliche und merkwürdige Wärme aus, die ihn leicht entzückt. Er spürt das Lebendige des Blutes. Dieser betäubende, aber auch euphorisierende Zustand gefällt ihm und er schlägt immer weiter zu, obwohl das Tier schon lange tot ist. Sein Herz hämmert in der Brust als würde es gleich rausspringen und seinen Atem kann er fast nicht mehr kontrollieren. Außer Atem aber zutiefst befriedigt lässt er sich endlich sinken. Er lässt sich Zeit, genießt diesen Moment, als habe er gerade eine sexuelle Paarung hinter sich, als hätte er seit einer Woche Coca-Blätter ohne Unterbrechung gekaut; ein Gefühl als würde er schweben und halluzinieren.

An Ort und Stelle häutet er das Tier, nimmt das Fleisch, um es endlich zu verzehren. Er kann seinen Hunger kaum noch bändigen. Einen Teil des Fleisches versteckt er gut, als Reserve für den Notfall. Er setzt sich auf eine Anhöhe, genießt die Landschaft, nimmt ein Stück Fleisch und will gerade mit seinen großen und kräftigen Zähnen das rohe Fleisch durchdringen.

Noch die Zähne im Fleisch und den blutigen Geschmack spürend auf seiner Zunge, fühlt er ein Schlag. Er dreht sich noch kurz um und sieht noch, wie ihm jemand einen Schlag versetzt. Er sackt in sich hinein, die Angst tötet jedes Gefühl, das er noch vor einer Sekunde hatte. Das Fleisch fällt ihm aus dem Mund. Er weiß nicht, was mit ihm geschehen ist. Die pure Panik zu sterben durchdringt seinen ganzen Körper. Noch bevor er sich orientieren kann, folgt ein weiterer Schlag. Er erstarrt und kann sich nicht bewegen, obwohl er innerlich den Reflex zu fliehen verspürt, aber der Körper macht nicht mit. Er kann sich nicht bewegen, nicht schreien und nicht weglaufen. Die Furcht hat ihn gepackt …

So oder so ähnlich stelle ich mir die ersten traumatisierten Menschen der Menschheitsgeschichte vor. Hunger, Angst, Kälte beherrschten die Menschheit, die ihre Instinkte zum Überleben nutzte und dabei beinahe tierisch agierte. Katastrophen, Kriege, Verletzungen, Flucht und die Angst zu sterben haben die Menschen in ihrer Kultur, ihrer Religion, ihrem Verhalten, ihrem Denken und ihren Emotionen stark geprägt, haben dafür gesorgt, dass sie sich weiterentwickelten und ihr Wissen von einer Generation auf die nächste übertrugen. Die Ängste drangen tief in das Bewusstsein der menschlichen Kultur ein und wurden verfeinert und wissenschaftlich, gesellschaftlich und kulturell in die Gemeinschaft integriert. Ob Krieg oder Arbeitsplatzverlust, ob Flucht oder Beendigung einer Beziehung, ob Fremde oder Nachbarn, sie können uns heute noch in Angst und Schrecken versetzen, die alten Traumata unserer Vorfahren aktivieren und uns in Ausnahmezuständen zu den Tier-Menschen werden lassen, wie sie einst unsere Vorfahren waren.

Solche Dinge gingen mir durch Kopf als ich mich im Flugzeug auf dem Weg in den Irak befand. Ich hatte zwei Wochen Unterricht vor mir und bereitete mich darauf vor, Traumafolgestörungen von Menschen in Kriegsgebieten zu behandeln und dachte darüber nach, wie ihnen geholfen werden konnte. Die Studierenden vor Ort sollten von mir so gut ausgebildet werden, dass sie selbst in der Lage wären, Traumabetroffene vor Ort helfen.

In den letzten Jahren meiner Reisen in den Irak war und bin ich immer wieder mit Fragen konfrontiert, die um folgende Inhalte kreisen: „Warum können Menschen andere Menschen töten und warum können sie all ihre erlernte Kultur, Religion, Ethik, und ihre Menschlichkeit beiseitelegen um zu einem brutalen Monster zu werden? Wie können sie plötzlich so grausam sein und anderen Menschen, auch Kindern und Frauen gegenüber, so gefühllos und kalt werden, ihnen Dinge antun, die wir uns nicht vorstellen können und wollen?“ Ich bin mir sicher, dass diese Monster nicht etwa psychisch krank sind, was ihr Verhalten zumindest zu einem gewissen Maß entschuldigen würde. Noch tiefer wollte ich diesen Gedanken nicht verfolgen, weil es mich zu dem Ergebnis bringen könnte, dass das Böse in uns ist, und ausbricht, wenn nur die äußeren Umstände wie Raum, Zeit und Ort geeignet sind, dem Bösen in uns Nahrung zu bieten. Dann beginnt es sich auszuweiten wie ein Krebsgeschwür, aus schlimmen Gedanken und bösen Verhaltensweisen, deren Ziel es ist, die Menschlichkeit in uns zu töten wie das Krankheitsbild Krebs die gesunden Zellen abtötet. Ich war froh als ich endlich in Erbil im Nordirak, oder wie es die Kurden nennen, in Kurdistan, landen konnte.

Dilan – lieber sterben als Gefangene des IS zu sein

Der „Islamische Staat“ oder Daesh, wie sie genannt werden, behauptete, wir, die Frauen, gefährdeten die Ordnung. Wir müssten gemäßigt und kontrolliert werden. Ich bin anderer Meinung, zumindest was mich und mein Volk betrifft. Ich habe nichts mit Religion und Staat gemein, da ich die gleiche Religion wie meine Täter habe und als Kurdin habe ich keinen Staat. Dass ich hier gelandet bin, begründet sich im Schicksal meiner Geographie und meiner Liebe nach Freiheit. Während einer Gerichtsverhandlung des sogenannten „Islamischen Staates“ mit einem Richter, der keiner war, wollte ich meine Geschichte erzählen. Ich wusste nicht, ob die Folter und Vergewaltigungen endlich aufhören und ich getötet werden würde. Sterben, nein, sterben wollte ich nicht, aber ich bin schon so oft in diesem Gefängnis gestorben. Andere Tode. Tode, die schlimmer sind als der echte, der endgültige Tod. Ich saß in einem Raum mit vielen Frauen, Christen, Jesiden, Schiiten oder Freiheitskämpferinnen wie ich und schaute von meinen Gitterfenstern aus in den Himmel. In meinen Gedanken war ich auf der Suche nach Freiheit und Liebe, die ich verloren hatte. Ich bereute nichts und würde wieder für mein Volk kämpfen, nur diesmal würde ich meine letzte Kugel, um diesem Elend ein Ende setzen zu können, nicht mehr vergessen. Die Frauen geben mir Halt. Ohne sie hätte ich es nicht geschafft. Wir alle waren Opfer und Überlebende, vereint in unseren Schmerzen, der Demütigung und dem Leid, und diese Gemeinschaft machte uns zugleich stark wie nie zuvor in unserem Leben. Wir wollten kämpfen, auch wenn wir nicht überlebten.

Der Gefängniswärter des Kalifats, einst einfacher Bauer aus dem Irak, war ein vorsichtiger Mann. Er teilte mir mit, er werde fragen, ob ich den neuen Richter sprechen dürfe. Er selbst sei ein Diener des Kalifats und könne keine Entscheidungen treffen. Nur die da „oben“ können entscheiden, was mit mir geschehe. Der Gefängniswärter war alt und wurde Emir genannt, nutzte jede Gelegenheit uns zu zeigen, dass er nur eine kleine Schraube in der großen Maschinerie des „Islamischen Staates“ war. Er sei auswechselbar, jederzeit.

„Ich habe keine Macht und muss Befehle befolgen. Ich habe es nicht leicht in diesem Land“, beteuerte der Emir, der Bauer von einst. Ich weiß nicht, ob er lebt oder an einer der Fronten gestorben ist. Ich hoffe zumindest, dass er gestorben ist.

Für so eine Stellung muss man normalerweise viele Fähigkeiten besitzen. Man muss sich gut bücken können, man muss auch gut kriechen können, und man darf keine eigene Meinung haben, damit die Neuronen immer schön empfänglich sind für die Wünsche der hohen Emire, die ja nur nach dem Koran leben. Vor allen Dingen muss man jede Eigeninitiative meiden wie die Pest. Unser Emir befolgte diese goldenen Regeln geradezu buchstäblich. Wenn es sein musste, dann folterte und vergewaltigte er uns. Wenn er uns nicht vergewaltigen konnte, dann warteten schon diese bösartigen Frauenbrigaden des Kalifats, die wie widerwärtige Tiere über uns herfielen. Und wenn das nicht reichte, dann schickten sie die Männer wie dreckige Hyänen, die auf Befehl von oben über uns herfielen. Und wenn der Befehl kam uns einige Tage in Ruhe zu lassen, dann machte er es. Er war ein kluger Mann. Ich war überzeugt, er würde es noch weit bringen.

Mir war das Gerede von dem Emir und den Frauen in Niqab, Frauen ohne Gesichter, und ihr Geschwafel über die Religion vollkommen gleichgültig. Wären meine Eltern nicht selbst Muslime, dann würde ich diese Religion hassen und glauben, dass es die Religion des Teufels ist. Aber ich bin selbst religiös erzogen worden und habe von meiner Familie, dem Imam und unserem Dorf gelernt, dass der Islam eine Religion der Barmherzigkeit, der Menschlichkeit und des Friedens ist. So haben wir auch gelebt. Aber der Gefängniswärter und seien Gefolgsleute gehörten zu den Männern, die mal dies, mal jenes faselten, je nachdem, was ihren eigenen Wünschen in eben diesem Moment zu pass kam. Zweifellos war an dieser Einstellung ihr Instinkt schuld, der ihnen eingab, in diesem System zu überleben, ganz gleich wie.

Ich war unschuldig, wobei ich zugebe, gegen den Daesh gekämpft zu haben. Es war und ist Krieg und sie müssen bekämpft werden, ich halte das nach wie vor für richtig, aber wen interessiert was ich denke? Ich wollte in diesem Gefängnis sterben und hatte keine Hoffnung auf Freiheit.

Der traumatisierte Journalist

Es war spät am Abend als ich im Januar 2018 mit einigen Freunden in Duhok im Hotel Dilshad saß. Für Januar war es recht warm. Es lag kein Schnee und wir hatten an diesem Tag 14 Grad. Duhok ist eine alte kurdische Stadt in Kurdistan im Irak, das Kurden aus ihrem geteilten Land des Iraks, Syrien und der Türkei immer verband. Eine wunderschöne Stadt mit vielen Bergen und seit einigen Jahren das Zentrum von zahlreichen Flüchtlingscamps für die tausenden von Menschen, die vor dem Terror fliehen mussten. Für einige der Anwesenden war es die Möglichkeit andere Kurden aus den anderen Ländern zu sehen und sich auszutauschen, da in dem Hotel Politiker, UN-Mitarbeiter, NGOs oder kurdische Persönlichkeiten aus den anderen Ländern anzutreffen waren. Ein Umschlagsplatz für Informationen und offizielle Kontakte.

Im Foyer schwebte Zigarettendunst gemischt mit orientalischem Kaffee, Tee und alkoholischen Getränken aller Art. Einige Teile des Iraks waren immer noch nicht von dem Daesh befreit, die Menschen wollten nicht zurück nach Shingal, auch Sindjar gennant oder Ninive nahe Mosul, weil sie Angst hatten, dass der Daesh wiederkam. Es herrschte eine düstere Stimmung: der Krieg in Syrien, die Trauer und Angst in den Flüchtlingscamps und die Verzweiflung der Runde, die sich als Kurden von der Welt im Stich gelassen fühlten. Die meisten ertränkten diese Gefühle in Alkohol und Zigaretten. Die irakische Armee und die schiitischen Milizen hatten mithilfe des Iran gerade Kirkuk, „das Herz Kurdistans“, wie es in der kurdischen Literatur oft geschrieben steht, erobert, sodass es für die Kurden verloren war. Das Trauma des Daesh in Shingal gegen die Jesiden war noch nicht überwunden. Während die Wunden noch weit offen standen und sich auf den ganzen Körper auszuweiten begannen, marschierte die türkische Armee in die kurdischen Gebiete von Syrien und besetzte Afrin, weil sie angeblich Terroristen jagten.

Die Kurden benutzen das Wort Terroristen nicht und schütteln nur den Kopf. „Wer mächtig und stark ist, hat Recht und die Unterdrückten und Schwachen sind immer schuld“, klagte ein kurdischer Schriftsteller in Duhok und nahm einen satten Schluck türkischen Raki.

„Wisst ihr“, sagte Hesen, ein Kurde aus Diyarbakir, der Journalist war und an vielen Orten gearbeitet hatte. Er war mir menschlich nahegekommen als er mir anbot, einen Artikel über mich zu verfassen, was ich ausschlug, doch er blieb unbeugsam und begann mich in eine Unterhaltung zu verwickeln.

„Wisst ihr“, fragte Hesen, „wer vor einigen Wochen auch in diesem Hotel war?“ Ein paar Anwesende blickten ihn fragend an. Er kostete ein paar Sekunden die Stille aus. Er hatte, wie viele Menschen, die so viele legale und illegale Kontakte hatten, den Ehrgeiz, nicht nur etwas zu wissen, sondern es dann auch etwas länger zu wissen als die anderen. „Kämpfer aus Afrin“, sagte er nach einer Weile. Die einen waren verwundert und die anderen uninteressiert und in ihrem Selbstmitleid über die ungerechte Welt mit ihren Getränken beschäftigt.

Es wurde rege diskutiert und jeder hatte seine eigene politische Analyse über den Einmarsch der Türkei und die Gräueltaten des „Islamischen Staates“, den sie verächtlich Daesh nannten.

Ich wollte mehr über Afrin wissen, ich hatte viel in der Presse über den Widerstand der Menschen in Afrin und Kobane und den Kampf gegen den Daesh gehört. Die kurdischen Kämpfer waren berühmt geworden für ihren Kampf gegen den Daesh, weil nicht einmal die irakische und syrische Armee sie aufhalten konnten. Der Daesh war so grausam und beängstigend, dass die komplette irakische Armee aus Mosul regelrecht weglief und ihnen die Stadt und die Menschen überließ. Besonders berühmt wurden die weiblichen Kämpferinnen, die genauso oder noch härter als die Männer kämpften und den Tod nicht fürchteten. Der Daesh hatte Angst vor Ihnen, weil sie glaubten, dass wenn sie von einer Frau im Kampf getötet werden, sie dann nicht ins Paradies kommen würden. Mich hat es sehr gewundert wie sie, nachdem sie für den Tod von Kindern, Männern und Frauen, Vergewaltigungen und Massenhinrichtungen verantwortlich waren, überhaupt daran denken konnten, ins Paradies zu kommen. Aber sie glauben sich im Jihad, im Heiligen Krieg, zu befinden und für das Töten von Menschen, die sie als Ungläubige bezeichneten, das Himmelreich zu erlangen und mit 72 ewig jung bleibenden Jungfrauen belohnt zu werden. Was für eine Vorstellung in der heutigen Zeit!!! Aber mich interessierte die Motivation der Frauen, die bereit waren gegen diese Unmenschen zu kämpften. Wie kommt es, dass so viele junge Frauen, die alles hätten werden können, sich entschlossen mit der Waffe gegen den Daesh zu kämpfen? Als ich Hesen meine Gedanken mitteilte, wurde er nach einem erneuten und kräftigen Schluck Raki hellwach.

„Wenn du willst, kann ich dich mit einer dieser Frauen bekannt machen“, bot er an und trank diesmal seinen Raki auf ex und bestellte gleich nach.

„Wirklich?“, frage ich erstaunt.

„Ja, ich kenne eine kurdische Kämpferin. Sie kommt aus der Türkei und hat für die YPG, die kurdische Volksverteidigungseinheit gekämpft. Ich habe sie als sie über den Irak nach Syrien wollte, kurz interviewt.“

„Wo ist sie jetzt?“

„Ach, ja, natürlich. Sie ist jetzt in Dohuk. Ich sehe sie oft.“

Ich wollte mehr wissen und Hesen versprach mir ein Treffen mit dieser Kämpferin zu organisieren. Er redete viel, aber nicht von Dingen, die mich wirklich interessierten. Ich wollte wissen wo diese Frau ist und wer sie ist, ich wollte sie sprechen. Ich war mir auch nicht sicher, ob Hesen es mit der Wahrheit wirklich so ernst nahm, oder der Raki ihn befeuerte zu erzählen, was ich seiner Meinung nach hören wollte. Er war mein Gast, und möglicherweise wollte er diese Gastfreundschaft noch möglichst lange auskosten um so viele Gläser Raki wie möglich auf meine Kosten trinken zu können. Daher redete er ununterbrochen. Schließlich gab er weitere interessante Informationen preis: „Die Frau heißt Dilan. Sie lebt in Khanike, nicht weit von Duhok“ und nahm gleich wieder einen kräftigen Schluck als wollte er all seine schrecklichen Erinnerungen aus dem Gedächtnis löschen.

„Ich möchte sie sehen“, sagte ich erneut und schaute ihm direkt in die Augen, um sicher zu sein, dass er mich trotz seines hohen Alkoholspiegels verstanden hatte. Sein Blick aber war starr und glasig, er dachte an etwas anderes, an den Krieg wahrscheinlich, und Angst und Schrecken mischten sich in seine Augen. Er wirkte abwesend, nach innen gerichtet, wie jemand, der zwischen dem Diesseits und dem Jenseits wandelt. „Hesen!“, rief ich, er reagierte nicht. Ich packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn, doch er reagierte nicht. Er dissoziierte, war in seinen Erinnerungen irgendwo in einem schrecklichen Geschehen gefangen. Ich rief noch lauter: „Hesen, schau mich an. Schau mich an. Ich bin es. Es ist alles gut!“

Er reagierte immer noch nicht. Ich hielt ihn mit beiden Händen an seinem Kopf fest und drehte ihn zu mir, damit er mir in die Augen schauen konnte. Aber die Augen blickten nach innen, in eine eigene Welt und sie bewegten sich zuckend und rasant hin und her. Ich konnte die Angst, die er in diesem Augenblick nochmals erlebte, obwohl er in Sicherheit war, spüren.

„Komm zurück. Ich bin bei dir, komm zurück“, rief ich erneut und merkte, dass uns die Leute alle anschauten. Das war mir aber egal. Hesen musste wieder zurück in unsere Realität, die zwar traurig war, aber ganz offensichtlich wesentlich besser als der Ort, an dem er sich im Augenblick geistig befand. Er kam langsam zu sich, schaute mich an und sagte fast beschämt: „Es tut mir leid. Das passiert mir seit einiger Zeit. Es ist alles gut. Was hast du gesagt?“, und suchte nach seinem Glas.

„Wir sprachen über Dilan, die junge Kämpferin. Aber lass uns über Dohuk sprechen, wie lange lebst du denn schon hier?“ Ich wollte ihn ablenken, damit er sich von diesen Erinnerungen, die ihm so zusetzten, erholen konnte.

„Es ist alles ok. Es ist nicht das erste Mal.“ Er nahm wieder einen Schluck, „ich glaube wir Journalisten in den Kriegsgebieten brauchen auch eine Therapie“, und lachte. „Aber das bringt nichts, wir sind sowieso alle etwas verrückt. Wer geht schon freiwillig in Kriegsgebiete? Aber das ist eine andere Geschichte.“ Er stand auf, schlug mir freundschaftlich auf die Schulter: „Übermorgen hole ich dich vom Hotel ab“, sagte er und ging. Er drehte sich nicht einmal um. Er verabschiedete sich nicht, wie es eigentlich üblich war. Ich nahm es ihm nicht übel, denn er war wohl noch nicht ganz über das hinweg, was er wohl gesehen hat.

Ich war noch in Gedanken und versuchte zu erahnen, was Hesen wohl vor seinem inneren Auge gesehen hatte, aber mein weiterer Gedanke war bei der jungen Kämpferin. Wer war sie, was hat sie erlebt? Ich wollte unbedingt ihre Geschichte hören.

Der Student, der dem IS entfliehen konnte

Die Nacht verging schnell und am nächsten Tag musste ich um 09.00 Uhr an der Universität meine Studierenden unterrichten. Ich war noch gefesselt von der möglichen Geschichte Dilans. Was könnte ich durch die Erlebnisse lernen, was hat sie erlebt und wie geht sie mit diesen Erinnerungen um?

Aber jetzt stand ich vor 28 Studierenden, die ebenfalls persönlich betroffen waren von dem Krieg gegen den Daesh. Jeder von ihnen war direkt oder indirekt davon betroffen. Die jesidischen und christlichen Studierenden waren unmittelbar selbst betroffen oder hatten Verwandte, die in Gefangenschaft waren, fliehen mussten oder ermordet worden waren. Die Männer von einigen Studentinnen kämpften als kurdische Soldaten, als Peshmerga an der Front gegen den Daesh und hatten ständig Angst, dass ihre Liebsten nicht mehr heimkommen würden. Andere arbeiteten bereits als Psychologen in den Flüchtlingscamps oder Krankenhäusern und waren ständig in Kontakt mit den Überlebenden und hörten tagtäglich unerträgliche Geschichten von Terror und Grausamkeit.

Shero hatte gerade noch die Flucht vor dem Daesh geschafft als sie im August 2014 in die Stadt Shingal einmarschierten. Er war gerade mit seinem Psychologiestudium in Mosul fertig geworden und wollte Schulpsychologe werden. Er hatte sein Leben noch vor sich.

„Was ist ein Trauma und wie kann es ausgelöst werden?“, fragte ich die Studierenden. Es meldeten sich einige Studierende, einige sagten fast im Chor „Krieg löst es aus“.

„Tatsächlich?“, fragte ich und fügte hinzu, „also jeder, der Krieg erlebt, ist traumatisiert?“

Samir, einer der sich immer meldete, sprach, ohne aufgefordert zu werden: „Nein, das nicht, aber es kann dazu führen, dass einige traumatisiert werden.“ Ich wollte auf die Statistiken eingehen und ausführen, dass ca. 50 Prozent aus den Kriegsgebieten nicht traumatisiert werden, aber die andere Hälfte schon. Dies hängt sehr häufig von den persönlichen Einstellungen, der Schwere des Traumaereignisses, dem Umgang mit diesem Ereignis und der sozialen Unterstützung zusammen. Da sah ich aber, dass Shero sich meldete und unterbrach mich selbst, weil mich interessierte, was er ganz persönlich zu dem Thema beizutragen hatte. Ich wollte von den Studierenden wissen, wie sie unmittelbar vom Krieg betroffen sind und wie sie damit umgingen. „Ich habe den Daesh-Kämpfern in die Augen gesehen. Sie waren voller Hass. Kaum hatten sie meine Familie und mich gesehen, da zeigte einer von ihnen auf meine 14-jährige Schwester und sagte: Die gehört mir, nachher lege ich sie flach.“ Voller Scham blickte Shero nach unten, legte eine Pause ein und schaute mich fragend in die Augen. Ich signalisierte ihm, dass er weiterreden sollte. Die Studierenden waren plötzlich still, nichts war mehr von ihnen zu hören. Die einen schauten aus dem Fenster nach draußen, die anderen saßen mit gesenkten Köpfen da, sie wollten niemandem in die Augen schauen. Ich sah ihre Trauer und ihre Traumata von Hilflosigkeit, Scham und Furcht.

„Wir mussten wieder in unsere Wohnung und unsere Namen wurden aufgeschrieben. Meine Schwester versteckte sich hinter meinem Vater und hatte Angst, mitgenommen zu werden. Ich war ärgerlich, wütend und hilflos, da wir uns nicht wehren konnten. Mein Vater versuchte ruhig zu bleiben, sprach mit ihnen und sagte: „Ihr könnt alles haben, Geld, Schmuck, alles was wir haben.“

Der Daesh-Kämpfer lachte: „Es gehört sowieso alles dem Islamischen Staat. Auch ihr gehört jetzt uns.“

Er schien belesen zu sein und hat nicht zugelassen, dass wir geschlagen werden. Die Männer hinter ihm schauten uns böse und dreckig an. Ich wusste, dass sie nichts Gutes im Schilde führten.

Ich bin der Älteste von meinen fünf Geschwistern und versuchte sie mit meiner Mutter gemeinsam zu umarmen, um sie zu schützen und ihnen das Gefühl zu geben, dass sie keine Angst zu haben brauchten, auch wenn selbst meine Kehle vor Panik zugeschnürt war. Es war die Verzweiflung, die mich dazu trieb, meine kleine Schwester festzuhalten, ihren Körper und ihr verängstigtes Herz zu spüren.

Wir blieben zwei Tage im Haus und mein Vater versuchte mit seiner Familie im Dorf zu telefonieren. Sie sollten ein Taxi schicken, um uns in der Nacht rauszuholen. Doch sie fanden niemanden.

Unsere Nachbarn waren Muslime und ich bin mit ihnen groß geworden. Es gab keinen Unterschied zwischen ihnen und uns. Wir waren bis zum Einmarsch des Daesh wie eine Familie. Doch die Nachbarn mieden uns jetzt. Sie hatten Angst und einige hatten sich schon wie der Daesh gekleidet. Ich hatte jetzt Angst vor meinen Nachbarn, die einst zu uns nach Hause gekommen waren, mit uns gegessen, getrunken und gelacht hatten. Bei Krankheiten waren wir füreinander da gewesen und Feste wurden zusammen gefeiert. Was hatte sich plötzlich geändert? Wir sind doch immer noch die gleiche Familie. Mein Vater hatte als Lehrer alle ihre Kinder in der Schule unterrichtet und war besorgt, wenn es einem von ihnen nicht gut ging.

Wir konnten nicht länger im Haus bleiben, entschied mein Vater. Er hatte über Fernsehen und Telefonate von den Grausamkeiten der Daesh gehört. Sie konnten jeden Augenblick in unsere Wohnung stürmen und uns mitnehmen. Mein Vater wusste es und ich auch, dass sie auf jeden Fall meine Schwestern mitnehmen würden.

So ging mein Vater auf die Straße und machte den Wächtern des Daesh vor, Lebensmittel zu besorgen, da wir nichts mehr hatten. Er sagte dem Daesh, dass er sich mit seiner Familie zum Islam bekehrt habe und nun zu ihrer Gemeinschaft gehöre. Da er Lehrer war, perfekt Arabisch sprach und sich im Koran sehr gut auskannte, glaubte man ihm.

Auf dem Markt konnte er einen Taxifahrer finden, der bereit war, uns aus der Stadt Shingal rauszufahren. Er wollte allerdings 400 Dollar. Noch einige Tage bevor der Daesh da war hätte eine solche Fahrt vielleicht 10 Dollar gekostet. Mein Vater konnte und wollte nicht verhandeln. Er war damit einverstanden.

Wir warteten bis es Nacht wurde und der Taxifahrer am Hintereingang auf uns wartete. Ich schaute mich noch in der Wohnung um. Mein Leben hatte ich in diesen Wänden verbracht und wir hatten es uns gemütlich eingerichtet und keine Sorgen gehabt. Jeder von uns nahm nur eine kleine Tasche mit und wir ließen alles liegen, alles was unser Leben bis jetzt ausgemacht hatte. Mit Tränen in den Augen verließ ich die Wohnung, drehte mich noch einmal um, und wusste, dass ich nie wieder hierher kommen würde. Entweder werde ich verhaftet oder wie wir über Telefongesprächen von anderen Jesiden gehört hatten, einfach erschossen. Sie wollten die Frauen versklaven und Männer haben sie einfach erschossen.

Der Fahrer war genauso aufgeregt wie wir, aber die Belohnung von 400 Dollar, die Gier, die ihn trieb, überwog seine Angst. Kurz vor der Ausfahrt aus der Stadt wurden wir von Daesh angehalten. Meine Mutter und Schwestern waren voll verschleiert. Nicht mal ihre Augen konnte man hinter der Verschleierung sehen. Mein Vater befahl meiner Mutter und Schwestern immer nach unten, niemals den Daesh-Kämpfern direkt anzuschauen.

Der Taxifahrer grüßte sie ganz herzlich und versuchte Smalltalk. Doch der Daesh-Kämpfer, der uns begutachtete, hatte keine Lust auf sinnloses Gerede. Er erkannte meinen Vater, denn er war ein ehemaliger Schüler von ihm.

„Herr Lehrer, was machen Sie in der Nacht mit Ihrer Familie hier? Es ist gefährlich.“

„Gott segne dich und deine Familie, mein Sohn. Wir sind jetzt Muslime geworden und du brauchst dir keine Gedanken machen. Wir wollen nur unsere Familie im Dorf Hardan besuchen. Das Dorf gehört auch zum Islamischen Staat“, sagte mein Vater ruhig und fragte wie es seinen Eltern gehe. „Ich habe sie schon lange nicht gesehen. Ich hoffe es geht ihnen gut.“

Der Daesh-Kämpfer, ein Kurde von ca. 24 Jahren, nickte. „Gut, gut“ und schaute auf die anderen Daesh-Kämpfer, die einige Meter hinter ihm an beiden Seiten der Straße mit Maschinengewehren in unsere Richtung blickten.

„Dann geht und Gott sei mit euch.“

Er gab den anderen Kämpfern ein Zeichen und sie machten Platz, sodass wir weiterfahren konnten.

Ich atmete tief aus und war so erleichtert wie nie zuvor in meinem Leben. Die Angst hätte mich fast verrückt gemacht. Ich hatte meine Hand zu einer Faust geschlossen und so sehr zusammengepresst, dass sich meine Fingernägel ins Fleisch gebohrt hatten. Meine Handinnenflächen bluteten, aber vor Aufregung spürte ich den Schmerz nicht. Ich fühlte nur unendliche Erleichterung. Der Weg war frei und wir erreichten nach einer Stunde das Dorf unserer Verwandten.

„Von dort aus würden wir gleich nach Duhok fahren können“, dachte ich. Es waren weniger als zwei Stunden Autofahrt.

Aber so kam es nicht. Die Straßen waren gesperrt und der Daesh auf dem Vormarsch, auch in diesem Dorf. Die Dorfbewohner und meine Eltern entschieden in Richtung der Berge zu fliehen. Einfach nach oben, so hoch, dass es unwahrscheinlich sein würde, dass der Daesh uns verfolgte. Da es nicht so viele Autos gab, stiegen wir mit 14 weiteren Personen in ein anderes Auto, das bereit war, uns mitzunehmen. Wir waren alle wie Sardinen im Auto gestapelt, aber niemand sagte etwas. Die Dankbarkeit, überhaupt eine Fluchtmöglichkeit gefunden zu haben, war größer als die Unbequemlichkeit, der Gestank und die Enge.“

Die Kämpferin, vor der IS-Terroristen wegliefen

Die Nacht im Hotel verging schnell und mir ging die Geschichte vonShero durch den Kopf. Ich bewunderte ihn und die anderen Studenten, die trotz aller Widrigkeiten die Hoffnung nicht verloren hatten und sich nun diesem schwierigen Studium widmeten, um für eine bessere Zukunft zu kämpfen.

Früh am Morgen stand Hesen tatsächlich vor dem Hotel und grüßte: „Guten Morgen, haben Sie gut geschlafen?“

„Ja, Danke. Und Sie?“

„Der Alkohol hilft etwas, aber schlafen kann ich schon lange nicht mehr. Kommen Sie, gehen wir zum Auto. Es ist auf dem Parkplatz.“

„Wieder eine Vermeidung, um nicht über sein Trauma sprechen zu müssen“, dachte ich. Aber es ging heute nicht um Hesen. Ich wollte endlich die junge Kämpferin kennenlernen.

Wir fuhren nach Khanike, einem Ort ca. 30 Minuten Fahrzeit von Duhok entfernt. Wir fuhren durch einige Straßen, die für mich alle gleich aussahen. Wir kamen an dem Flüchtlingscamp vorbei, bogen einmal rechts ab und waren schon in Khanike angekommen. Dann stiegen wir vor einem kleinen Haus aus und gingen durch einen Hof mit hohen Mauern und einem kleinen, ungepflegten Garten. Das Haus war schon lange nicht mehr restauriert worden. Einige Risse an den Wänden und Schimmel zeigten, dass das Haus lange unbewohnt gewesen sein musste. Die vier Zimmer im Inneren hatten sicherlich auch schon bessere Zeiten erlebt. Ein junges, dunkelhaariges Mädchen mit dunkelbraunen, großen Augen kam heraus und grüßte uns. Sie trug blaue Jeans und ein weißes T-Shirt, ihre langen Haare trug sie offen und sie wehten in einer leichten Brise.

In den Räumen waren keine Sitzgelegenheiten, nur einige Matratzen, die auf dem Boden lagen, auf denen wir Platz nahmen. Von dort aus konnte man in den anderen Raum schauen, und sah einen kleinen Herd, ein Wasserbecken, einen Schrank und eine kleine Arbeitsplatte mit einigen Gläsern darauf. Wir grüßten uns erneut in dem Zimmer, wie es sich hier gehört, und das Mädchen stand auf und bot uns gleich Tee an, den sie schon vorbereitet hatte. Wir saßen dann zusammen, schlürften an unserem Tee und redeten über das Leben in Duhok, das Flüchtlingscamp in Khanike und die Türkei im Allgemeinen. Ich wollte mich ihr vorstellen, doch sie ließ mich nicht aussprechen: „Ich kenne Sie vom Namen her, die Leute hier im Camp, die Sie besuchen, haben mir von Ihnen erzählt und Hesen hat mich vorgestern spät angerufen. Sie wollen mich sprechen.“

Ich war überrascht, dass Sie so gut informiert war und fragte vorsichtig: „Wollen Sie denn auch mit mir sprechen? Wollen Sie mir ihre Geschichte erzählen?“

Sie nickte und blieb ein Moment still. Hesen und ich sagten nichts und warteten. Ein magischer Moment, in dem man nicht weiß, was kommt. Sie holte tief Luft und ich spürte wie die Bilder ihres Lebens vor ihrem geistigen Auge Gestalt annahmen. Sie begann zu erzählen.

Ich nahm mir vor, jedes einzelne Wort in meinem Gedächtnis zu bewahren, um es weiter erzählen zu können.

An diesem Tag wurde Dilan nicht damit fertig, ihre ganze Geschichte zu erzählen. Sie erzählte sie noch am nächsten Tag und am drittnächsten. Aber bereits am zweiten Tag verschwand Hesen und ich hörte ihr alleine zu. Hesen hatte seine eigene Last zu tragen. Vielleicht hatte er auch schon so viele Geschichten gehört, dass sie ihn nicht mehr erschütterten, weil es für ihn alltäglich geworden ist, Krieg, Mord, Vergewaltigung und Totschlag, tausende, jeden Tag eine Geschichte wie die andere. Nicht nur die, die Beobachter schrecklicher Dinge werden, stumpfen irgendwann ab, sondern auch die Satten, die zufriedenen und reichen in Freiheit und Sicherheit Lebenden, wissen nicht, was sie an der Freiheit haben. Alles wird für sie normal und selbstverständlich. Auch wenn sie satt sind, ohne Angst und Furcht sagen können was sie wollen, durch die Straßen gehen, ohne gleich das Schlimmste zu befürchten, sind sie unzufrieden, sie wollen mehr und bleiben dennoch unzufrieden, bleiben ständig ängstlich und verlieren ihre Empathie gegenüber den Unterdrückten und Leidenden, gegenüber den Flüchtlingen und der Menschen, die nicht wissen, ob es einen Morgen für sie und ihre Familien gibt. Aber auch die Leidenden und Unterdrückten, wenn sie genug geschunden, gefoltert und geschlagen wurden, wenn sie hungern und ums Überleben kämpfen mussten, verlieren ihre Empathie, denn der Tod und die Unterdrückung sind Alltag wie jeder andere Tag, an dem die Sonne auf- und untergeht.

Ich beschloss bei Dilan zu bleiben, denn ich wollte ihre ganze Geschichte hören. Es ist eine Geschichte, aber was für eine Geschichte. Eine Geschichte, wie ich sie bisher nicht gehört hatte. Es beschäftigte mich Tag und Nacht. Die Studierenden hätte ich fast vergessen, denn diese Geschichte war eine besondere Geschichte und sie durfte nicht vergessen werden.

Ich erzähle hier Dilans Geschichte wie sie mir damals erzählt worden ist. Lediglich einige Merkmale, die zu einer Identifizierung Dilans führen könnten, verschweige ich hier, um Dilans Identität zu verschleiern. Auch soll die Familie Dilans, die heute noch in der Türkei lebt, nicht gefährdet werden.

Die Lebensgeschichte Dilans hat ebenso wenig eine aktuelle Tendenz wie irgendeine andere. Sie ist kein illustrierendes Beispiel für politische Anschauung – höchstens eines für die alte und ewige Wahrheit, dass der Einzelne und die Schwachen immer unterliegen.

Eine tödliche Gewohnheit

Ich bin in einem Dorf nahe der Stadt Sirnak geboren.Ich bin Kurdin. Ich bin an einem warmen Julitag 2002 in dem Dorf als letztes Kind von insgesamt fünf Kindern zur Welt gekommen. Meine Eltern sind Bauern und haben die kurdische Guerilla, wo immer sie nur konnten, unterstützt, schon immer. Und da es früher keine kurdischen Kämpfer in der Türkei gab, hat meine Familie, vor allem mein Großvater und sein Vater, die Kurden um den legendären kurdischen Führer Barzani im Irak gegen die irakische Regierung unterstützt. Ihnen war die Gefahr von Haft und Tod durch das Militär bekannt, glaube ich zumindest, doch sie taten es dennoch. Vielleicht, weil es im Dorf so üblich war. Das Dorf war immer kurdisch und das bedeutete Kampf, im Winter gegen den meterhohen Schnee, im Sommer gegen die Hitze und das ganze Jahr hindurch gegen das türkische Militär. Ich kenne es nicht anders. Eine tödliche Gewohnheit seit Ewigkeiten.

Das ist unsere Wahrheit, von der die Welt nichts weiß.

Ja, ich bin gestorben, viele Male und lebe irgendwie doch weiter. Es gab immer einen inneren Impuls in mir weiterzukämpfen, obwohl mir mein Kopf sagte: „Hör auf, es ist Zeit, sich von diesem Leben, das kein Leben ist, zu verabschieden.“ Ich war verletzt, durch eine Schussverletzung, erlitt Folter als Geisel des Daesh. Während der Geiselhaft lag ich auf dem Boden und wartete, dass sich meine Augen schlossen und endlich alles aufhörte. Kein Schmerz, kein Leid, nicht mehr diese stinkenden Islamisten auf meinem Körper spüren, mit ihrem giftigen Schleim in meinem Gesicht. Ich entschloss mich, zu sterben. Die Schuss- und Schnittverletzungen waren dieses Mal auf meiner Seite. Sie waren vereitert und machten eine Reise über meinen Körper, bis der Fäulnisgeruch so stark war, dass ich mich sogar vor mir ekelte. Mein ganzer Körper schmerzte bei jeder Bewegung. Dabei waren die Schläge und Tritte die harmlosesten Dinge, die ich erleben musste.

Ich habe viel geschrien und geweint, aber niemanden kümmerte es. Es war die schlimmste Zeit meines Lebens und mir fehlen immer noch die Worte um beschreiben zu können, was ich alles erlebt habe, wie ich mich gefühlt habe in dieser Einsamkeit, ohne Hoffnung, mit immer mehr düsteren Gedanken, dass das Leben nicht lebenswert ist.

Immer und immer wieder sehe ich die Kampfhandlung, bei der ich meine letzte Kugel nicht nehmen konnte, um mich damit selbst zu erschießen. Ich gehe diese Szene in meinem Kopf wie ein Filmeditor durch und versuche das eine Bild zu finden, dass ich meine Hand noch ausstrecke, die Kugel finde, in die Waffe schiebe und mir in den Kopf schieße. Dann wäre alles vorbei gewesen. Das war es aber nicht. Ich konnte die Kugel nicht nehmen und mich erschießen. Ich habe es einfach nicht geschafft. Wir hatten das in der Fraueneinheit, in der ich kämpfte, so oft besprochen: „Immer eine Kugel aufbewahren!“ Ich tat es nicht, und bin so in die Geiselhaft der Bastarde des Daesh gekommen.

Ich will meine Geschichte so erzählen, dass Sie verstehen, was wirklich passiert ist. Es ist aber nur eine Zusammenfassung und es kann sein, dass ich das eine oder andere vergesse. Mein Gedächtnis spielt mir so manche Streiche, die ich nicht immer durchblicke. Meine Träume, am Tag und in der Nacht, von der Geiselhaft und dem Kampf, sind so realistisch, dass ich Angst bekomme, schreie und versuche wegzulaufen, obwohl ich in Sicherheit bin.

Ich wäre so gern aus der Geiselhaft entflohen, merkte aber, dass es keinen Sinn mehr hat, da sie wie mörderische Wölfe um mich herumstanden. Weswegen sollte ich weglaufen, wenn ich sowieso sterben wollte? Die anderen Kämpferinnen, die mir so viel Mut gaben, meinem Leben einen Sinn gaben, waren tot. Ihre Leichen lagen auf der trockenen und staubigen Erde, so friedlich, als würden sie sich für ein Nickerchen ausruhen und gleich wieder aufstehen. Aber sie bewegten sich nicht mehr und keine von ihnen ist jemals wieder aufgestanden.

Die Kämpfer des Daesh lachten und ich konnte hören, wie sie zu streiten begannen, wem ich gehören sollte. Ein großer und kräftiger vollbärtiger Kämpfer kam von hinten, zog an meinen Haaren und schrie laut: „Euch Kurden, Kommunisten, Ungläubige werden wir ausrotten. Gottlose Schweine …“ Er zog noch stärker an meinen Haaren, zog mich auf der Erde bis zu einem Pickup. Mir waren die Beschimpfungen in diesem Augenblick vollkommen gleichgültig, ich überlegte, wie ich mich töten könnte, aber ich fand keine Gelegenheit dazu. Andere Daesh-Schweine kamen dazu und schlugen mir ins Gesicht und auf meinen Körper. Sie fassten meine Brüste an und lachten.

Von allen Seiten fragten sie:

„Wo sind die anderen Frauen, die wir erst ficken und dann abschlachten werden?“

„Ihr habt sie doch alle getötet.“

Ich wurde wieder geschlagen.

„Du Hure, lass das Theater, wir wissen alles über euch. Ich schwöre beim Propheten und Gott, wenn du nicht sprichst, dann ficke ich dich gleich hier vor all meinen Brüdern.“ Er kam auf mich zu und ein anderer Daesh-Kämpfer legte seine Hand auf seine Schulter: „Nicht so schnell, Bruder, vielleicht ficke ich sie zuerst.“ Alle lachten, stiegen in den Pick-Up und fuhren los. Sie schlugen mich während der ganzen Fahrt. Wir fuhren vielleicht eine Stunde durch den Staub von Nichts bis ich ohnmächtig wurde. Ich wachte erst in einem betonierten, kalten und nassen Raum wieder auf.

Ich merkte, wie Blut von meinen Lippen auf mein dunkelgrünes Hemd tropfte. Mir war klar, was auf mich zukam. Ich hatte nicht gelernt, mit Schmerzen umzugehen. Es tat mir alles weh. Ich hatte keine Kampfausbildung, kein Training, wenn es überhaupt so etwas gab, um die Schmerzen auszuhalten. Ich versuchte mich an die Erzählungen meines Bruders Numan zu erinnern, der von politischen Gefangenen in Diktaturen erzählt hatte und wie sie Widerstand leisteten und trotz der Folterungen lernten zu überleben. Das alles klang für mich in diesem Augenblick wie eine Erfindung der Revolutionäre, um ihren Anhängerinnen die Angst vor einer Haft zu nehmen. Ich hatte einfach nur Angst und jeder Schlag auf meinen Körper war so unerträglich, so unbeschreiblich schmerzhaft, dass auch meine Schreie mir nicht halfen. Ich wollte Widerstand leisten, aber wie? Sie hatten meinen Körper und machten damit, was sie wollten. Wie sollte ich Widerstand leisten? Ich konnte mich nicht wehren, ich hatte nicht die Kraft und hatte keine Hoffnung mehr, vor allem nachdem sie meinen Körper nicht nur schlugen, sondern ihn auch für sich benutzten wie Geier. Ich war gefangen, von Tieren umzingelt, die entschlossen waren, mich zu zerstören.

Wenn ich in Ruhe gelassen wurde, so sah ich meine gefallenen Freundinnen und jammerte in mich hinein. Wäre ich nur bei ihnen, vereint im Tod. Ich fühlte mich schuldig, dass ich überlebt habe. Aber was sollte ich machen? Ich war hier und sie waren tot.

In den folgenden Tagen wurde ich gefoltert und vergewaltigt, jeden Tag. Ich weiß nicht mehr, wer mich vergewaltigt hat. Alle, die da waren, alle diese Unmenschen haben meinen Körper genommen wie ein Stück Fleisch, wie einen Gegenstand. Irgendwann konnte ich mich nicht mehr wehren. Die Schussverletzung und die Folter waren so schlimm, dass mir auch meine Stimme versagte. Ich konnte weder die Fragen richtig verstehen, geschweige denn richtig beantworten.

In Gedanken war ich bei meinen Kameradinnen, bei den Frauen, wir schworen, zu kämpfen bis in den Tod und wir lachten so viel. Nie zuvor hatte ich so viel gelacht wie bei den kurdischen Kämpferinnen. Vielleicht, weil wir wussten, dass wir nicht lange leben werden und daher jede freie Minute nutzten, die wir neben Training und Kampf hatten, um zusammen zu sitzen, zu sprechen, zu singen und zu tanzen. Wir schworen uns, keine Angst vor dem Tod zu haben. Wie merkwürdig, wenn es dann passiert, dann hat man doch Angst. Ich konnte mich nicht dagegen wehren, das was angeboren ist, kommt zum Vorschein, wenn keine Hoffnung mehr besteht. Und ich hatte keine Hoffnung. Ich fühlte mich wie in einem Sumpf von Gewalt, Hoffnungslosigkeit und Schuldgefühlen, weil ich lebte.