Der Kristallkönig - Ria Radtke - E-Book

Der Kristallkönig E-Book

Ria Radtke

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Beschreibung

Amsterdam, 1898. Seit dem Verschwinden seiner Mutter ist Kornelian van Leeuwen den Launen seines Vaters ausgeliefert. Als er auf die Antwerpener Diamantenmesse geschickt wird, sieht er seine Chance gekommen, endlich das Vertrauen des kaltherzigen Edelsteinhändlers zu gewinnen: Dazu muss er nur den Dieb aufspüren, der die Kundschaft bestiehlt und das Unternehmen seiner Familie in Verruf bringt. Anstatt sich auf das Leben als Ehefrau vorzubereiten, verbringt Juwelierstochter Beryl ihre Zeit lieber damit, Diamanten aus den Villen gutbetuchter Familien zu stehlen. Die makellosen Steine rufen förmlich nach ihr, bergen allerdings ein grausames Geheimnis. Beryl ist entschlossen, für Gerechtigkeit zu sorgen, bis sie auf Kornelian trifft und einsehen muss, dass ihr Herz andere Pläne hat. Beide ahnen nicht, dass sie im Begriff sind, übernatürliche Kräfte zu entfesseln, die mehr als nur ihr Leben in Gefahr bringen.

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Seitenzahl: 512

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Der Kristallkönig

RIA RADTKE

Copyright © 2022 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

https://www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Stephan R. Bellem

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout Ebook: Stephan R. Bellem

Umschlagdesign: Alexander Kopainski

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-942-5

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Prolog

Hellendoorn

Amsterdam

Amsterdam

Beryl

Kornelian

Beryl

Kornelian

Beryl

Kornelian

Beryl

Kornelian

Beryl

Kornelian

Beryl

Kornelian

Beryl

Kornelian

Beryl

Kornelian

Beryl

Kornelian

Beryl

Kornelian

Beryl

Kornelian

Beryl

Kornelian

Beryl

Kornelian

Beryl

Kornelian

Beryl

Kornelian

Beryl

Kornelian

Beryl

Kornelian

Beryl

Kornelian

Beryl

Kornelian

Beryl

Kornelian

Beryl

Kornelian

Beryl

Kornelian

Antwerpen

Beryl

Kornelian

Danksagung

Drachenpost

Für Elina und für Erna

Manchmal ist Wasser doch dicker als Blut.

Prolog

Vertrau mir.«

Jasper holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Die Schwefeldämpfe, die aus dem Nebenzimmer in den Kellerflur drangen, brannten in seiner Lunge. Hier, in der Nische zwischen den Baderäumen und dem Lager mit den deckenhoch aufgestapelten Fässern voller Vitriolöl, hatte er sein kleines Labor eingerichtet. Er konnte in dem Gewölbe gerade noch aufrecht stehen. Emerald, der größer war, musste allerdings den Kopf einziehen. Der Ältere hatte sich zwischen den Waschtisch und das Regal mit den Apothekergläsern gezwängt und war nahe an ihn herangerückt, um einen Blick auf das Pergamentblatt zu erhaschen, das ausgebreitet auf der hölzernen Tischplatte lag. Als Jasper schwieg, packte Emerald ihn an der Schulter. Das Zittern seiner Finger drang durch den Stoff seines Hemds. »Du vertraust mir doch?«

Jasper beugte stumm den Kopf.

Im nächsten Moment hallte ein merkwürdiges flatterndes Geräusch durch den Keller: Jasper wandte seinen Blick zu Boden und erspähte einen Vogelkäfig, der neben dem Tisch stand. Das Tier war in Panik und schlug hektisch mit den Flügeln gegen das gusseiserne Gefängnis. Seine Instinkte mussten ihm verraten haben, dass Gefahr drohte. Eine Gänsehaut breitete sich über Jaspers Körper aus, aber seine Stimme war fest, als er seinem Freund in die Augen sah. »Bitte sag mir, dass das nur ein Scherz ist.«

Emeralds Pupillen weiteten sich in den trüben blauen Iriden. »Habe ich etwa schon mal gescherzt, wenn es um unser Vorhaben ging? Wir haben so viele Entbehrungen ertragen – aber diesmal nicht, Jasper. Diesmal werden wir nicht versagen!«

»Wie gut kennst du diesen Willem überhaupt?« Jasper musterte die attraktiven Züge des Mannes, mit dem er seit Monaten jede freie Minute verbracht hatte.

Emerald schüttelte hastig den Kopf. »Vergiss Willem. Sieh auf das Papier!« Er strich sich eine lange blonde Haarsträhne aus dem Gesicht, kniff die Augen zusammen und fuhr mit einem schlanken Zeigefinger über die Buchstaben, während er las: »Gott ergießt sein Licht in die Seele, bis das Licht so groß wird in dem Wesen, dass es überfließt und aus ihm hinausströmt.«

Jasper unterdrückte ein Schmunzeln. »Willem sollte Theologie studieren, wenn er so gern deutsche Predigten übersetzt.«

Jetzt wurde Emeralds Berührung energischer. Mit beiden Händen packte er seinen Freund, als wollte er ihn schütteln. Dabei leuchtete in seinen Augen ein Glanz, den Jasper noch nie bemerkt hatte. »Wir haben alles probiert, was die Wissenschaft zu bieten hat. Aber haben uns die Kräuter und Tinkturen und all die stinkenden Experimente etwas genützt?« Bevor Jasper antworten konnte, fuhr der andere fort: »Das haben sie nicht! Weil wir mit toter Materie experimentiert haben. Aber schon die Völker des Altertums haben Tiere auf den Altären geschlachtet. Ohne den Funken, der nur in der Seele eines lebendigen Wesens wohnt, kann man nichts Göttliches erreichen.« Wieder zuckte sein Finger über das Pergament. »Die Seele macht Gott sich so gleich, dass er sich in sie geben kann. So ist eine Kraft in der Seele, die mit Gott vereint wird: Das ist der Funken der Seele.«

Jasper zog die Augenbrauen zusammen. »Und wie kommen wir an die Seele des Kanarienvogels von Herrn Direktor Verhoeven, Gott hab ihn selig?«

Emerald fischte ein Skalpell aus dem Becher auf dem Waschtisch. »Ich denke, die Stoiker haben recht, wenn sie sagen, das Hegemonikon habe seinen Sitz im Herzen.«

Zögerlich nahm Jasper das Seziermesser aus den Händen seines Freundes und betrachtete die feine Klinge, die selbst im schwachen Licht der Petroleumlampe glänzte. »Du hast wirklich zu viele philosophische Schriften gelesen. Ich soll den armen Vogel töten?«

Emerald stieß zischend die Luft aus. »Der alte Direktor ist tot! Wenn du es nicht tust, verhungert das Tier – oder möchtest du vielleicht einen neuen Hausgenossen? Vögel am Himmel gibt es wie Sand am Meer. Was zögerst du noch?«

Jasper hob den Käfig hoch und stellte ihn auf dem Tisch ab. Das Tier regte sich nicht, es starrte ihn nur aus dunklen Augen an, während sich der flaumig gefiederte gelbe Brustkorb hastig hob und senkte. Fast schien es sich in sein Schicksal ergeben zu haben. Oder war es bloß erschöpft von dem aussichtslosen Kampf um die Freiheit?

»Und dann?«, fragte Jasper leise und wunderte sich selbst darüber, dass er die Stimme ehrfürchtig gesenkt hatte. Während seines Medizinstudiums hatte er genug Leid und Tod gesehen, sollte ihm da etwa das Hinscheiden eines bedeutungslosen Tieres an die Nieren gehen, noch dazu, wenn sein Ableben der Wissenschaft diente?

Emerald zwängte sich ein Stück vor, öffnete die Tür des Käfigs und hob den Vogel heraus, den er mit einer Hand umschloss. »Dann fügen wir Natriumcarbonat als Materia Prima hinzu und Salpetersäure als Elementum. So wird es in der Tabula Smaragdina beschrieben, und so haben es alle großen Alchemisten vor uns versucht – erfolglos, weil ihnen der göttliche Funken fehlte.« Er hob die Faust mitsamt dem Vogel hoch. »Denk doch nur: Dann kannst du alle Krankheiten heilen, Jasper! Blei in Gold verwandeln und noch viel mehr, denn dem Azoth wohnt göttliche Macht inne.«

Jasper schluckte und streckte langsam eine Hand nach dem Vogel aus. Emerald war nervös und ungeduldig, geradezu euphorisch. So hatte er seinen Freund noch nie erlebt.

Dieser schien sein Zögern zu bemerken, denn plötzlich lag in seinen Augen Spott. »Soll ich es tun?« Mit der freien Hand griff er nach dem Skalpell.

Jasper hielt dem herausfordernden Blick stand. Er öffnete die Lippen und wollte widersprechen. Ja, es war nur ein Singvogel, der auf seinem Labortisch den Tod erwartete, aber er musste plötzlich die Vorstellung abschütteln, dass es auch ein Hund oder gar ein Mensch hätte sein können. Emeralds Forderung wäre deshalb nicht weniger nachdrücklich gewesen.

Jasper spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Die Haut auf seiner Stirn war selbst in dem kalten Keller feucht und heiß geworden und sein Brustkorb zitterte unmerklich. Aber gleichzeitig schwoll in ihm ein Gefühl, das alle Bedenken vertrieb: Er hatte Emerald bewundert, seit sie sich vor zwei Jahren das erste Mal getroffen hatten. Wohin er ging, zog er alle Blicke auf sich. Die Menschen lauschten ihm gebannt, wenn er von Abenteuern erzählte, die fast zu farbenprächtig schillerten, um wahr zu sein – und das, obwohl er ursprünglich aus einem Adelsgeschlecht stammte. Es schien, als wäre das Glück immer auf der Seite dieses Goldjungen, der sich wie der Baron von Münchhausen am eigenen Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen vermochte. Wieso sollte es diesmal anders sein? Wieso sollte er, dem als Erbe einer Schifffahrtsgesellschaft alle Privilegien des wohlhabenden Bürgertums in den Schoß gelegt worden waren, nicht ein wenig in diesem Glanz baden? Es gab nicht viel, was ihm, abgesehen von den Patienten, im Leben wichtig war. Mit der Universalmedizin könnte er sie alle retten: Männer und Frauen, deren Herkunft sie zu einem Leben in Elend und Armut verdammt hatte, und Kinder, die zum Tode verurteilt waren, noch bevor sie das Licht der Welt erblickten.

Jasper streckte den Arm nach dem Vogel aus und drückte ihn entschlossen auf die Tischplatte. Mit zwei gespreizten Fingern presste er den Rumpf des Tieres, das sich kaum noch rührte, auf das Holz, mit der anderen Hand führte er das Skalpell, bis die Klinge auf die Brustfedern traf. Er spürte Emeralds aufmerksamen Blick auf sich, und es kostete ihn alle Mühe, das nervöse Zittern seiner Rechten zu unterdrücken und die Bewegungen sauber auszuführen. Das Metall schnitt in das weiche Fleisch, das Tier gab einen letzten, schrillen Aufschrei von sich und helles Blut spritzte auf Jaspers Finger. Er atmete tief ein, schluckte die Übelkeit hinunter, die in ihm aufstieg, und ließ die Klinge tiefer in den Brustkorb sinken. Zwischen den Rippenbögen öffnete er den Torso und durchtrennte das Muskelgewebe, dann schob er mit der stumpfen Seite des Skalpells den Kehlsack und die Leber beiseite, bis er das kirschkerngroße Organ freigelegt hatte, das immer noch hektisch pulsierte und vergebens Leben durch den sterbenden Vogelkörper pumpte.

Einen Moment lang hielt Jasper inne. Er sah verunsichert zu Emerald hoch, der an den Apothekergläsern herumhantierte. »Ein Teil Liquor Hepatis, ebenso viel Pulvis Solaris Ruber und Niger.« Er ließ eine Prise des roten und schwarzen Puders nach unten rieseln. »Das, was oben ist, muss nach unten.« Eilig fügte der Mediziner das Natriumnitrat hinzu und goss einen Tropfen Schwefelsäure aus einer Phiole, die zischend auf den Vogelkörper traf. »Und das, was unten ist, muss nach oben steigen.«

Noch während Jasper seinen Freund gebannt beobachtete, nahm Emerald ihm das Skalpell aus den blutbefleckten Fingern. In einer eiligen Bewegung zog er die Schneide über seine Handfläche. Er sog zischend die Luft ein und kniff die Augen zusammen, aber als er sie gleich darauf wieder öffnete, lag ein triumphierender Ausdruck auf seinem Gesicht. Das Blut perlte hellrot über seinen Handballen und tropfte schließlich vom Daumen auf ihre Opfergabe hinab. »Jetzt du«, forderte er.

Jaspers Gedanken überschlugen sich. Wie oft hatten sie ihr Experiment durchgesprochen? Sie baten um eine Kraft, die dem Menschen von Natur aus nicht zugedacht war, um Weisheit und Erkenntnis. Dafür mussten sie bereit sein, etwas von sich selbst zu geben. Für Emerald stand außer Frage, dass das Wertvollste, was er zu geben hatte, sein eigenes Lebenselixier war, das wusste Jasper. Aber was war mit ihm? Auch seine Handfläche war von feinen Narben überzogen, die allesamt aus den letzten erfolglosen Monaten stammten. Er fürchtete sich nicht vor Schmerzen und er hing auch nicht am Leben, so wie Emerald. Aber trotzdem musste er opfern, was ihm am teuersten war.

Noch immer sah Emerald ihn an. Sein Blick war jetzt eindringlicher, beinahe zornig. Die Sekunden verstrichen. Das Herz glänzte dunkel im Lampenschein und zuckte nur noch schwach. Bald wäre das Lebenslicht des Vogels gänzlich erloschen – und mit ihm der Funke, der den Unterschied zwischen einem Häufchen kalter Asche und einem prasselnden Inferno bedeuten könnte. Es war ein schmaler Grat zwischen Versagen und Erfolg, zwischen Genie und Wahnsinn, dessen war sich Jasper bewusst. Er griff unter dem Kittel in seine Westentasche und zog eine Taschenuhr hervor. Auf der Innenseite des schlichten Erbstücks, das schwer in seiner vernarbten Handfläche wog, war ein Medaillon eingearbeitet. Mit flinken Fingern öffnete er die Schließe und nahm ein einzelnes schwarzes Haar heraus, das eingerollt darin lag.

Er dachte daran, wie er es vor wenigen Monaten von einem Damenmantel gezupft hatte, einem Paletot aus rotem Samt. Dann ließ er es fallen. Eine fremde Macht schien in diesem Moment Besitz von ihm zu ergreifen, denn ihm war, als stünde er neben sich und beobachtete alles. Er konnte sein Gesicht lesen, als das Haar auf den Vogel fiel, in dessen Mitte eine frische, grausame Wunde klaffte; er sah seine verbittert zusammengepressten Lippen und den von Entsetzen erfüllten Blick. Ein unwirklicher Schmerz zuckte heiß durch seinen Brustkorb, als sein wertvollster Besitz sich in einer Säule aus Feuer und Rauch auflöste. Durch den dichten, beißenden Qualm starrten ihn Emeralds Augen selig an, dann begann der Boden unter seinen Füßen zu beben.

Jasper streckte die Arme aus, um sich festzuhalten, aber die kahlen Steinwände des Kellers drehten sich schwindelerregend, und das Letzte, was er wahrnahm, war ein dumpfes Geräusch, das wohl bedeuten musste, dass sein Kopf soeben auf dem gefliesten Boden aufgeschlagen war. Er spürte, wie etwas Nasses sein Haar umfloss, dann umgab ihn die Dunkelheit still und regungslos. Emerald, dachte er mit letzter Kraft. Er musste zu ihm …

Mit einem Mal verdrängte blendendes Licht die Schwärze. Jasper sah sich um: Statt der feuchten Steinwände des Kellers umgab ihn ein prächtiger Glanz. War er tot? War das etwa der Himmel?

Da erblickte er auch Emerald. Er kniete, nur ein paar Meter entfernt von ihm, und hatte die gefalteten Hände wie zum Gebet erhoben. Jasper rang um Luft und wünschte sich in sein Labor zurück. Angst presste seinen Brustkorb zusammen. Er war noch nicht bereit, seinem Schöpfer entgegenzutreten. Bitte, lass es ein Traum sein, dachte er.

Eine überlaute Stimme drang an sein Ohr, grollend wie Donner und gleichzeitig so sanft, als würde jemand flüstern. Bist du bereit, alles zu opfern?

Obwohl die Worte nicht an ihn gerichtet waren, breitete sich eine Gänsehaut über Jaspers Körper aus. Fröstelnd und starr vor Entsetzen beobachtete er, wie Emerald nickte und antwortete: »Ja, ich gebe alles, was ich habe.«

Und auch das, was du noch bekommen wirst?

»Alles, was Ihr wollt.«

Dein Kind, forderte die Stimme. Es wird ein Sohn sein.

Jasper zuckte zusammen und beobachtete, wie Emerald einen winzigen Augenblick lang zögerte. Nein! Er konnte doch nicht, er durfte nicht …

Aber in diesem Moment sprach Emerald wieder. »Wie ich sagte: alles.«

Deine Treue soll reich belohnt werden. Ich werde dir mehr geben, als du je zu träumen gewagt hast.

Jasper zitterte inzwischen am ganzen Körper. Er schlang die Arme um sich selbst und wünschte bloß noch, aus diesem Albtraum zu erwachen. Nur ein Traum, nichts weiter, nur ein Traum. Er klammerte sich an diesen Gedanken und gleichzeitig war ihm, als hielte er mit aller Kraft an seinem Verstand fest, der ihm langsam zu entgleiten schien.

Dann, endlich, wurde es wieder dunkel. Jaspers Zunge klebte trocken an seinem Gaumen und ein dumpfer Schmerz pochte hinter seinen Schläfen. Er versuchte sich aufzurichten, aber der Schwindel überwältigte ihn, sodass er an der kühlen Mauer zusammensackte und im Sitzen den Kopf hob, um nach Emerald Ausschau zu halten. Die kleine Nische war noch von Rauchschwaden erfüllt, trotzdem erkannte er seinen Freund sofort: Er tanzte mit geschmeidigen, federleichten Schritten durch den Flur. Emerald tanzte! Japser rang nach Luft und sah auf seine Hände herab, die blutrot gefärbt waren.

Jetzt kamen die Schritte näher. »Jasper! Mein Freund, mein Freund«, säuselte der Ältere. »Wir haben es geschafft! Schau, was aus unserem Vögelchen geworden ist.« Eine Hand streckte sich durch den lichter werdenden Nebel.

Japser starrte erst in Emeralds glänzende Augen und dann auf dessen Finger hinab, in denen ein gelber Edelstein das Licht der flackernden Lampe zurückwarf.

Emerald lachte. »Es ist kein Gold, mein Guter, sondern ein Juwel. Das ist noch viel besser! Sieh dir an, wie die Seele des Tieres strahlt. Sein Seelenstein … nimm ihn. Bald werden wir in Edelsteinen baden können!«

Jasper betrachtete verzückt das Farbenspiel des Steins, dann nahm er ihn zaghaft aus der Hand seines Freundes. Aber sobald er das Juwel berührt hatte, schwand alles um ihn herum – sein Labor, der Keller und sogar das ganze Ziekenhuis. Ihm war, als fiele er in einen bodenlosen Abgrund, immer tiefer bis in den Schlund der Hölle selbst.

Mit einem Mal stand er in der Bibliothek der Universität, die erst kürzlich in das prunkvolle Bogenschützenhaus an der Singel umgezogen war. Von den hohen, vertäfelten Wänden hallten die schwermütigen Klänge eines Klaviers wider. Jasper erkannte die Mondscheinsonate, noch bevor er die Pianistin erblickte, die auf der Stirnseite des langen Raumes an dem Instrument saß. Auch sie war ihm nicht fremd.

Endlich, dachte er, endlich traf er sie allein an. Vielleicht würde er sogar den Mut aufbringen, mit ihr zu sprechen, statt nur stumm danebenzusitzen wie sonst, wenn Emerald von seinen Heldentaten erzählte. Der blaue Satin ihres Kleides schimmerte im Kerzenlicht, das von den Wandleuchtern herabfiel und dünne Schatten auf den Boden zeichnete. Jaspers Herzschlag beschleunigte sich, seine Hände wurden kalt und feucht. Mit unsicheren Schritten ging er auf sie zu. Er zögerte einen unerträglichen Augenblick lang, dann streckte er seine Hand zaghaft nach ihrer Schulter aus. Es war das erste Mal, dass er sie berührte. Ihre bloße Haut fühlte sich unter seinen Fingerspitzen ungewohnt kühl an.

Sie drehte sich zu ihm um, wobei ihr langes schwarzes Haar über eine Schulter fiel. Ihre Lider waren geschlossen und auf ihren Zügen lag ein schwaches Lächeln. Jasper spürte, wie ein warmes Gefühl ekstatisch durch seine Adern floss. Sein Glück war fast perfekt, doch gleich darauf stieg ihm ein penetranter Geruch in die Nase: stechender Salpeter und süßliches Blut. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber bevor er die richtigen Worte finden konnte, sah sie ihn an. Im selben Moment wandelte sich sein Hochgefühl in Entsetzen. Dort, wo ihre schönen braunen Augen hätten sein müssen, klafften nur zwei leere Höhlen.

Jasper stieß einen hilflosen Schrei aus und tastete mit den Händen nach einem Bücherregal, weil er plötzlich taumelte. Sein Blick wanderte haltlos an der Frau hinunter, die vor ihm auf dem Klavierhocker saß. Erst jetzt bemerkte er, dass ihr Kleid über der linken Brust zerrissen war und dunkles Blut durch den schimmernden Stoff sickerte.

»O Gott! Vergib mir«, presste er atemlos zwischen den Lippen hervor.

Aber die Solistin antwortete mit der Stimme seines Freundes: »Jasper, Jasper, komm zu dir!«

Jasper schreckte hoch und öffnete die Augen. »O Gott«, keuchte er wieder. »Das ist Blasphemie! Was haben wir getan?«

Emerald griff nach seiner Hand, die er immer noch zur Faust geschlossen hatte. »Du redest ja wirres Zeug! Gib mir den Stein!«

»Nein«, entfuhr es Jasper plötzlich. »Wir haben … wir haben einen schrecklichen Fehler gemacht. Du weißt nicht, was ich gesehen habe.«

Emeralds Augen funkelten zornig. »Ein Fehler wäre es, jetzt den Verstand zu verlieren, wo wir es endlich geschafft haben. Du hast eine Platzwunde und Blut verloren. Geh etwas trinken. Und gib mir den Stein solange!«

Jasper ließ geschehen, dass Emerald mit geschickten Bewegungen seine Finger einen nach dem anderen auseinanderbog. Aber als er auf die Handfläche hinuntersah, war der gelbe Kristall verschwunden. Stattdessen starrte ihn aus dem geschändeten Vogelkörper ein leeres, glasiges Augenpaar an. Die verätzten Federn kitzelten kalt und weich seine Handfläche. Das Gefühl des Verlusts war bedrückend und beängstigend zugleich – als wäre ein Teil seiner selbst abhandengekommen. Und gleichzeitig schien etwas im Raum zu sein, unsichtbar, aber dennoch präsent, das zuvor nicht da gewesen war.

Reue stieg bitter in Jasper auf. Er schwor sich, nie wieder einen Edelstein, gleich welcher Art, anzufassen. Und im selben Moment wusste er auch, dass er diesen Schwur über kurz oder lang brechen würde.

Hellendoorn

IN DER NÄHE VON AMSTERDAM

Beryl

Es war leicht gewesen, über die Glyzinie auf den Balkon zu klettern, aber jetzt saß Beryl fest.

Sie wusste durchaus, wie absurd ihre Lage war: Wurde eine junge Dame aus gutem Hause eingeladen, erwartete man, dass sie ihrer Gastgeberin ein Kompliment machte, zum Beispiel über die stilvolle Einrichtung, und ihr zum Abschied ein kleines Präsent überreichte. Es entsprach hingegen nicht der Etikette, dass die junge Dame in verschlissenen Kleidern – Mantel und Hosen! – vom Balkon der Gastgeber hing und versuchte, an dem hölzernen Rankgitter Halt zu finden. Noch weniger geziemte es sich, dass sie ein Diamantcollier aus dem Herrenschlafzimmer stahl, das mehr wert war, als die meisten Amsterdamer Bürger im Jahr verdienten. Andererseits war es auch nicht die feine Art, Hunde auf den Besuch zu hetzen. Nicht einmal dann, wenn es sich um einen ungebetenen Gast handelte, der sich genau genommen selbst eingeladen hatte. Das Rascheln im Gebüsch aber ließ vermuten, dass es mehrere große Tiere waren.

Besagtes Schmuckstück wog schwer in Beryls Manteltasche. Durch den derben Stoff hindurch spürte sie, wie die Steine sich erwärmten. So, als hätten sie auch ihre Anwesenheit bemerkt und riefen nach ihr. Atemlos starrte Beryl in den wolkenlosen Himmel und versuchte, die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Sie musste an Dondy denken, die ihr das Täuschen und Stehlen beigebracht hatte. Angst war ihr ein Fremdwort gewesen.

Das Gebell der Hunde dröhnte überlaut durch die Nacht und der Abendwind strich sacht über Beryls feuchte Stirn. Sie schloss die Augen und ließ sich von der Balustrade des Balkons ins Gras fallen. Ihr Knöchel knackste und gab unter ihrem Gewicht nach. Sie fluchte leise – nicht nur, weil der Schmerz in einer heißen Welle durch ihr Bein fuhr, sondern weil sie sich bis morgen früh eine Erklärung für die Verletzung ausdenken musste. Ein verstauchter Knöchel war nichts im Vergleich zu der Standpauke, die ihr ihre Mutter sonst halten würde.

Mit zusammengebissenen Zähnen rappelte sich Beryl auf und rannte auf den hohen Jägerzaun zu, der das Grundstück begrenzte. Bis dorthin waren es höchstens dreißig Meter – etwa fünfzig große Schritte. Die Kapuze rutschte von ihrem Kopf und einzelne Haarsträhnen wirbelten in ihr Sichtfeld.

Egal, dachte Beryl, nur weiterlaufen. Wenn du es bis zum Zaun schaffst, kannst du die Hunde abhängen.

Sie wagte nicht, sich umzudrehen, aber sie hörte das Hecheln der Tiere, ihr Knurren und durchdringendes Gebell. Selbst ihre windschnittigen Körper schienen ein zischendes Geräusch zu verursachen, als sie hinter ihr über den Rasen fegten. Noch dreißig Schritte.

Beryl hatte einen kleinen Vorsprung, weil das Haus des Gutsverwalters und der Zwinger hinter dem Garten der Villa Eelerberg lagen, aber die Hunde würden bald aufgeholt haben. Sie ruderte mit den Armen durch die Luft, während ihre Beine sich wie von selbst bewegten. Die Absätze ihrer Halbstiefel schlitterten über den taufeuchten Boden. Beryls Herz pumpte den Schmerz und die Erschöpfung immer schneller durch ihren Körper, bis ihre Ohren dröhnten und der Schwindel sie beinahe überwältigte. Sie schnappte nach Luft. Noch zwanzig Schritte.

Das Collier in der Manteltasche schlug gegen ihren Oberschenkel und sie wusste nicht, was sie mehr fürchtete: es zu verlieren oder beim Stehlen erwischt zu werden. Bis heute hatte sie geglaubt, dass jedes Abenteuer besser wäre, als bei endlosen Kaffeekränzchen vor Langeweile zu verrotten. Aber jetzt erkannte Beryl, dass sie falschgelegen hatte. Das hier war kein Spiel, sondern bitterer Ernst. Wenn die Wachhunde sie erwischten, hätte sie keine Chance – die Tiere würden sie zerfleischen.

Je näher die Hunde kamen und je angestrengter Beryl um Luft rang, desto deutlicher regte sich ein trotziges Gefühl in ihrer Brust: Sie wollte leben. Um alles in der Welt wollte sie leben. Zehn Schritte.

Ihre Unterarme prallten hart gegen den Zaun. Mit beiden Händen packte sie die Holzlatten, setzte erst den unversehrten Fuß zwischen die Streben und zog dann den anderen hinterher. So kletterte Beryl bis nach oben. Der Schmerz brachte das Halbdunkel, das sie umgab, zum Flimmern, und trotz der kühlen Nacht brannte der Schweiß in ihren Augen. Das Rauschen in Beryls Ohren übertönte alles andere. Sie glaubte schon, die Hunde hätten aufgegeben. Da packte etwas ihren Mantel und zerrte daran.

Beryl musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, was das hieß: Die Hunde hatten sie eingeholt. Mit letzter Kraft stieß sie sich vom Zaun ab und streckte die Hände aus, bevor sie durch die Luft segelte. Sie spürte mehr, als dass sie hörte, wie der Stoff ihres Mantels riss. Auf dem morastigen Boden rollte sie sich über die Schulter ab. Die Landung verpasste ihr einen so heftigen Stoß in den Rücken, dass ihr für einen Moment die Luft wegblieb. Feuchtigkeit sickerte durch ihre Kleider. Erst dachte Beryl, es wäre Blut, aber dann wurde ihr klar, dass sie in einen Straßengraben gerollt war – denselben, in dem sie bei Einbruch der Dämmerung darauf gewartet hatte, dass Sjoerd Vening Meinesz und seine Frau mit der Kutsche davonfuhren.

Mehrmals rang Beryl nach Luft, bis sie wieder zu Atem kam und ihr Blick sich klärte, sodass sie den nachtschwarzen Himmel sehen konnte. Das Gebell der Hunde hatte nachgelassen, aber sie liefen immer noch aufgeregt winselnd am Zaun entlang. Von ihrem Versteck aus war schwaches Licht im Haus des Gutsverwalters zu erkennen. Sie drückte sich flach in den nassen, kalten Schlamm. Kurz darauf dröhnte eine behäbige Männerstimme über die Lichtung, gefolgt vom Schrillen einer Pfeife, und sogleich trotteten die Hunde wie eine gutmütige Schafherde zum Haus zurück.

Beryl stieß einen Seufzer aus. Erst jetzt wagte sie, nach ihrer Manteltasche zu tasten. Ihre Fingerspitzen trafen auf das kühle Edelmetall – das Collier war noch da. Am liebsten hätte sie es hervorgezogen und im schwachen Mondlicht ausgiebig betrachtet, aber das war zu gefährlich. Nicht weil sie jemand hätte sehen können – in dem Nest Hellendoorn war zu dieser Stunde niemand mehr vor der Tür – sondern weil sie nicht wusste, ob sie dann dem Ruf der Steine widerstehen und ihre Kräfte beherrschen könnte.

Stattdessen stellte Beryl sich das Schmuckstück vor: An einer goldenen, doppelt geführten Kette, in die ovale Amethyste eingelassen waren, baumelte ein Anhänger aus vier kreuzförmig angeordneten Diamanten, umringt von mehreren kleinen Rubinen. Die Steine funkelten, als wollten sie mit ihrem Glanz alle Sterne des Himmels übertreffen. Trotzdem schnürte Beryl die Vorstellung, dass die Frau des Bürgermeisters dieses Collier zum Geburtstag geschenkt bekommen und dann um ihrem Hals zur Schau getragen hätte, die Kehle zu. Ja, es war ein kunstvolles Stück; als Juwelierstochter wusste sie das nur zu gut. Aber es war frevelhaft, sich mit diesen Diamanten zu schmücken, selbst wenn man nichts von dem dunklen Zauber wusste, der sie umgab. Bei diesem Gedanken wurde Beryls Unruhe beinahe unerträglich. Etwas regte sich in ihr und wurde immer stärker; ein Gefühl, das herauswollte, magisch angezogen von dem warmen Flüstern der Steine.

In der Nähe ertönte der melancholische Gesang eines Rotkehlchens. Beryl schloss die Augen, nur um sie gleich darauf mühsam wieder zu öffnen. Sie durfte diesem Gefühl jetzt noch nicht nachgeben. Sie musste weg, und zwar schnell. Es war nicht ausgeschlossen, dass der Bürgermeister und seine Frau früher von ihrer Soiree zurückkehrten und sie entdeckten. Oder dass ihre Tante Annelien trotz der zwei Gläser Wein und etlichen Runden des Kartenspiels Klaverjassen früher aus ihrem Nickerchen erwachen und nach ihr suchen würde. Bis dahin musste sie umgezogen und gewaschen sein: Am frühen Morgen, gleich nach seinem Treffen mit dem Schifffahrtsunternehmer, der von der Goldküste zurückgekehrt war, wollte ihr Vater sie abholen und mit ihr den Zug nach Antwerpen nehmen. Ganz sicher ahnten weder er noch Beryls Mutter, dass ihr kleines Mädchen gerade einen Coup vollbracht hatte, der jeden Meisterdieb vor Neid erblassen ließe. Nur dass ihr die Beute viel mehr bedeutete, als man mit Geld aufwiegen konnte.

Beryl lächelte bei diesem Gedanken in sich hinein, schloss die Hand fester um den schweren Diamantanhänger und sah ein letztes Mal in den sternenklaren Himmel hinauf. Fast glaubte sie, Dondy lachen zu hören. Welch perfekte Nacht für Wegelagerer, Schurken … und Diebinnen.

Amsterdam

ACHT JAHRE ZUVOR

Kornelian

Wer nicht weg ist, wird gesehen – ich komme!«

Mit großen Schritten hechtete Kornelian die Treppe am Ende des Flurs hinauf. Marje war noch nie besonders gut darin gewesen, schnell die Stufen zu erklimmen, was ihm einen Vorteil verschaffte. Oben angekommen, sah er, dass die Tür offen stand. Nicht irgendeine Tür, sondern die Tür zu dem verbotenen Zimmer. Kornelian war nur wenige Male zuvor hier oben gewesen, und nie hatte er sich getraut, auch nur einen Finger auf die Klinke zu legen. Er hatte immer angenommen, dass der Raum ohnehin verschlossen sei – aber nicht heute.

Kornelian zögerte noch einen Augenblick lang, dann berührte er sacht den Griff der Tür und drückte sie weiter auf.

Es fühlte sich unwirklich an, über die Schwelle zu treten. So als stünde er neben sich und beobachtete einen Fremden. Etwas Märchenhaftes haftete dem Ort an: Die Luft roch muffig, Sonnenstrahlen fielen matt durch die pastellfarbenen Leinenvorhänge und wirbelten Staub auf, der in tanzenden Flocken durch das Zimmer flirrte. Durch das Zimmer seiner Mutter.

Mit gierigen Blicken sog Kornelian die Eindrücke in sich auf: das Licht und die verblassten Farben, den Frisiertisch mit den Spitzendeckchen, die Trockenblumen in der Porzellanvase auf dem Sekretär, die ihre Blütenblätter zu verlieren schienen, wenn man sie nur ansah. In einer Ecke stand ein Flügel, der trotz der dicken Staubschicht etwas Ehrwürdiges ausstrahlte. Selbst ihr Himmelbett war noch bezogen. Vielleicht rochen die Decken nach seiner Mutter.

Was für ein absurder Gedanke! Sie war ja seit Jahren nicht mehr hier gewesen.

Kornelians Blick wanderte zu den Bildern an der Wand, aber zu seinem Bedauern waren es nur Aquarelle von Landschaften. Es gab kein einziges Porträt von ihr.

Neben den Blumen stand ein kunstvoll bestickter Polsterstuhl, auf dessen Sitzfläche ein Damenhut lag: ein schlichter grauer Fedora mit schwarzem Hutband und schmaler Krempe. Kornelians Finger streckten sich wie von selbst danach aus. Er nahm den Hut und drückte ihn an seine Lippen. Dann setzte er ihn kurz entschlossen auf und drehte sich zum Kleiderschrank um. Der Spiegel an der Tür war ein wenig blind, aber es genügte, um ihm seine Reflexion zu zeigen. Obwohl noch ein wenig zu groß, stand der Hut ihm so gut, als wäre er für ihn angefertigt worden.

Jemand kam eilig die Treppe heraufgestapft – Marje. Kornelian erstarrte und sah sich nach einem geeigneten Versteck um. Er öffnete die Schranktür, aber bevor er hineinklettern konnte, packte ihn bereits eine unbarmherzige Hand am Kragen.

Allein der harte Griff ließ ihn erkennen, dass es nicht das Dienstmädchen war. Sein Herz pochte ihm bis zum Hals, als er über die Schulter blickte. Sein Vater starrte ihn aus zornigen Augen unerbittlich an.

Was dann folgte, geschah so schnell, dass Kornelian bald nicht mehr wusste, ob er wach war oder träumte. Emerald zog ihn vom Schrank weg, um ihn gleich darauf mit Wucht gegen den Spiegel zu stoßen. Sein Gesicht war rot angelaufen und die Ader auf seiner Stirn pochte bedrohlich.

»Eine Bitte hatte ich an dich – nur eine einzige! Nur die, meine Anweisung zu befolgen und dieses Zimmer nicht zu betreten, nachdem du sonst tun und lassen kannst, was du willst. Ist das etwa zu viel verlangt?«

Kornelian schüttelte zaghaft den Kopf, aber im nächsten Moment landete die Hand seines Vaters mit einem lauten Klatschen auf seiner Wange. Der Schmerz breitete sich heiß in seinem Gesicht aus. Trotzdem fror Kornelian plötzlich, so als trüge er in sich eine Kälte, die nichts jemals vertreiben konnte.

Aber Emerald war noch nicht fertig, im Gegenteil: Er hatte gerade erst angefangen. Betont beherrscht trat er einen Schritt zurück, ließ den Blick abschätzig über seinen Sohn gleiten und setzte zu einer seiner ausufernden Reden an. Kornelian hörte nicht zu. Die Worte prasselten auf ihn nieder wie Regen. Manche waren scharf, manche stumpf. Wenige schmerzten, die meisten fühlten sich so taub an wie eine alte Narbe.

Dann sagte sein Vater etwas, was ihn aufhorchen ließ: »Mein lieber Sohn.«

Kornelian schluckte.

»Ich erwarte von dir Loyalität.« Er taxierte ihn mit kritischem Blick.

Kornelian machte sich ganz klein. Am liebsten wäre er unsichtbar gewesen – so wie seine schmerzlich vermisste, für immer verschwundene Mutter.

»Merk dir das: Freundschaft ist vergänglich, Liebe ist zerbrechlich, aber wahre Treue kann nichts zerstören.«

Kornelian nickte. Erst einmal und dann, als der unbarmherzige Ausdruck nicht aus dem Gesicht seines Vaters weichen wollte, wieder und wieder.

»Hast du das verstanden?«

»Ja, Vater.« Seine Stimme war laut und entschlossen, so wie Emerald es mochte. Er schaffte es sogar, den Trotz aus seinen Worten herauszuhalten.

Aber gleichzeitig drückte Kornelian den Hut fest an seine Brust. Etwas in ihm hoffte, dass er den Mut aufbringen würde, ihn morgen wieder zu tragen.

Und als Emerald sich abrupt umdrehte und die Treppe mit wehendem Morgenmantel hinunterstürmte, bereute Kornelian nichts. Blaue Flecken und schmerzende Wangen würden vergehen, aber dieser Hut sollte ihn von jetzt an für immer begleiten.

Ah, da bist du ja. Endlich.

Hast du gesehen, wie leicht es ist,

sich zu nehmen, was man begehrt?

Hast du gespürt, wie sehr es dich erfüllt, etwas zu besitzen?

Niemand kann sich dem Rausch der Macht widersetzen.

Schon Eva verzehrte sich nach dem Apfel.

Aber sie war schwach.

Du hingegen wirst stark sein.

Wenn du tust, was ich sage,

wird uns niemand bezwingen können.

Dann wirst du alles haben, was du dir wünschst.

Und noch mehr.

Bald.

Amsterdam

1898

Das Wasser war dunkel, fast schwarz, und es versprach Vergessen. Die tief hängenden Äste der Kiefern schienen sich nach seiner sanften Berührung auszustrecken, aber nur der frostige Wind ließ ihre Nadeln erzittern. Kornelian saß ab und wickelte die Zügel seines schnaubenden Pferdes um einen Baumstamm, der am Ufer lag. Schaum quoll aus dem Maul des Schimmels und sein Fell war schweißnass.

Sobald er das Zaumzeug losließ, begann das Tier, gierig zu trinken. Kornelian gab ihm einen Klaps auf die Kruppe und warf dann einen Blick auf seine Taschenuhr: Selbst wenn er sofort umkehrte, wäre er nicht rechtzeitig zum Abendessen zu Hause. Und sein Vater hasste kaum etwas so sehr wie Unpünktlichkeit. Aber diese Erkenntnis bedrückte ihn nicht, im Gegenteil: Er wollte seine Grenzen austesten, deshalb war er ja hier. Und weil hier der einzige Ort war, an dem er einfach er selbst sein konnte.

Eilig hängte Kornelian seinen Hut an einen Ast, zerrte sich Mantel, Weste und Hosen vom Körper und ließ die Kleider auf den Waldboden fallen. Daneben stellte er seine Stiefel, an denen so viel Gras und Dreck klebte, dass sie sich kaum vom Untergrund abhoben. Als er sich wieder aufrichtete, wurde ihm für einen Moment schwarz vor Augen. Mit seinen flachen Atemzügen verließen kleine Dunstwölkchen seinen Mund. Er konzentrierte sich darauf, tief einzuatmen, bis sich sein Brustkorb spürbar hob und die kalte Luft seine Lunge füllte. Auf keinen Fall würde er jetzt eine Pause machen; er würde sich überwinden, im See zu schwimmen, wie jeden Abend.

Kornelian watete in den Weiher, bis er nicht mehr stehen konnte, dann tauchte er unter. Das eisige Nass umschloss seinen Körper und nur noch ein trüber Lichtschein drang zu ihm durch. Die Kälte fuhr stechend in seinen Schädel, bis er glaubte, der Schmerz würde ihn zum Bersten bringen. Kraftvoll schoss Kornelian aus dem Wasser und schüttelte den Kopf, bis die sandige Geestlandschaft, die durch den Nadelwald schimmerte, wieder Kontur annahm.

Mit langen Zügen schwamm er weiter hinaus. Das schmerzhafte Pochen seines Herzens verlangsamte sich und sein Blut rauschte nicht mehr so stürmisch durch die müden Glieder. Kornelian spürte sich nicht mehr. Er atmete tief ein: Die klirrend kalte Luft brannte kaum in seiner Lunge.

Obwohl die Sonne inzwischen untergegangen war, war es viel zu kühl für einen Oktoberabend. In ein paar Wochen würde der erste Schnee fallen und der See vielleicht zufrieren. Vor seinem inneren Auge sah Kornelian die spiegelglatte Eisfläche, die er aus seinen Träumen kannte. Obwohl sie nicht real war, konnte er jedes Detail erkennen: Aus den Wassertropfen waren Kristalle geworden, verwebt zu milchigem Marmor. Die Vorstellung erfüllte ihn mit Beklemmung. Eis war brutal, Schnee hingegen tanzte vom Himmel herab wie schwerelose Daunen.

Ein Schauer rieselte durch seinen Körper, dann spürte er etwas Nasses auf der Nase. Das Traumbild wurde real: Federleichte weiße Flocken wirbelten durch die Luft.

Gebannt hielt Kornelian inne, um das Schauspiel zu beobachten. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass es in der Gegend um Amsterdam jemals so früh im Jahr geschneit hätte. Aber ausgerechnet jetzt, wo er sie herbeigesehnt hatte, wurden die pudrigen Kristalle vom Wind über den See bis zu den Bäumen getragen und überzogen sie mit feinem Weiß.

Kornelian lehnte sich zurück, bis er flach ausgestreckt auf dem Wasser trieb. Die Kälte krampfte sich um seinen Brustkorb und nahm ihm fast die Luft zum Atmen, aber er rührte sich nicht. Er dachte nicht mehr an das Abendessen. Über seinem Gesicht wurde der Himmel weit: Kleine Sterne schwirrten durch die Nebelfetzen, die sich auf die Wasseroberfläche senkten. Wie er wusste, waren alle Schneekristalle verschieden. Trotzdem sahen sie für ihn gleich aus. Wenn er nur lange genug suchte, würde er vielleicht die eine vollkommene Flocke finden. Aber er konnte nicht viel dafür tun, außer im schneidend kalten Wasser zu treiben und abzuwarten, bis sie vorbeiwehte.

Das Bild dieser Kunstwerke aus Eis, die wie tausend Diamanten vom Himmel regneten, brannte sich tief in seine Seele.

Spätabends kehrte er heim, durchnässt vom Schnee, der sich bald in Regen gewandelt hatte, und brachte seinen Schimmel in den Stall. Kaum war er die glatten Treppenstufen zur Haustür hinaufgeeilt und eingetreten, dröhnte die Stimme seines Vaters über den Flur. Obwohl Kornelians Ohren vor Kälte zugefallen waren, klangen die Worte harsch. »Wo warst du?«

Marje nahm Kornelian den Mantel ab und folgte ihm bis an die Türschwelle zum Salon. Von seinen Schläfen tropfte Wasser auf die Dielen, das Holz quietschte unter seinen Füßen in den durchgeweichten Strümpfen. Er spürte die aufmerksamen Blicke aus den braunen Rehaugen des Dienstmädchens in seinem Rücken und hörte, wie der Saum ihrer Schürze hinter ihm über den Boden raschelte.

Emerald hingegen sah nicht einmal auf. Er saß in dem Sessel am Kamin und hatte die Ellenbogen auf die Armlehnen gestützt. Sie schienen das Einzige zu sein, was seinen hageren Körper davon abhielt, in dem bestickten Polster zu versinken. Zudem war er so in das Abendblatt vertieft, dass nur seine hohen Wangenknochen und der wirre blonde Haarschopf hervorschauten. Aber Kornelian musste das Gesicht seines Vaters nicht sehen, um zu wissen, dass er aufgebracht war. Trotzdem antwortete er nicht, denn er war sicher, dass Emerald genau wusste, wo er die letzten Stunden verbracht hatte.

Als sein Vater sprach, war sein Tonfall ungewohnt sanft: »Marje, lass dem Jungen ein Bad ein. Und dann hilf ihm, den Koffer zu packen. Morgen früh wird er mit Willem nach Antwerpen reisen.«

Kornelian schnappte nach Luft, aber er wagte nicht, etwas zu erwidern. Antwerpen! Wie oft hatte er davon geträumt, die Edelsteinmetropole zu besuchen, nur ein einziges Mal? Und dann zur jährlichen Diamantenmesse, die Händler, Juweliere und wohlhabende Bürger aus aller Welt anzog.

»Du wirst nicht hinfahren?«, sagte er halblaut wie zu sich selbst. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

Jetzt sah Emerald doch auf, faltete die Zeitung und bedachte seinen Sohn mit einem gleichgültigen Blick. »Nein. Ich werde hier gebraucht. Sjoerd Vening wurde das Diamantcollier gestohlen, das er seiner Frau zum Geburtstag schenken wollte. Ich werde mich morgen früh mit ihm treffen, um ihm einige Stücke als Ersatz zu präsentieren.«

Kornelian wusste, dass das nichts Gutes verhieß. Der Amsterdamer Bürgermeister war einer der wichtigsten Kunden von Juwelen van Leeuwen. Außerdem würde sein Vater die Diamantenmesse unter keinen Umständen versäumen, es sei denn, das Geschäft erforderte seine Anwesenheit zu Hause. Der Edelsteinhandel ging ihm über alles. Und Kornelian war nicht entgangen, dass es in letzter Zeit Ärger mit Kunden gegeben hatte, die behaupteten, ihre teuer erworbenen Juwelen hätten sich förmlich in Luft aufgelöst – sicher eine Reihe besonders raffinierter Diebstähle.

In diesem Moment zupfte Marje zaghaft, aber beharrlich an seinem durchnässten Ärmel. »Kommen Sie, sonst erkälten Sie sich noch.«

Kornelian wandte den Blick von seinem Vater ab, der ohnehin wieder in seinem Journal blätterte, und folgte dem Dienstmädchen ins Badezimmer. Anstatt sich zu setzen, blieb er vor dem Lehnstuhl neben dem Buntglasfenster stehen, der aus dem gleichen Mahagoniholz gefertigt war wie der Waschtisch und die Vertäfelung der Badewanne. Die Erschöpfung, die Kornelian eben noch verspürt hatte, war bei den aufregenden und zugleich beunruhigenden Neuigkeiten verpufft. Er beobachtete, wie Marje sich vorbeugte und an den Wasserhähnen drehte, bis ein leises Gurgeln erklang. Seit sein Vater vor ein paar Jahren ein neuartiges Rohrsystem und einen beheizbaren Wassertank im Haus hatte einbauen lassen, musste das Dienstmädchen für ein Bad keinen Ofen mehr anfeuern. Sie warf eine Handvoll Badesalz in die Wanne, das angenehm nach Lavendel duftete. Heißer Dampf schlug von innen an die Fensterscheiben.

»Es steht nicht gut um den Ruf des Unternehmens, nicht wahr? Gibt es neue Schlagzeilen?« Kornelian gab sich keine Mühe, seine Neugier zu verhehlen. Er hatte ein Recht darauf, zu erfahren, was vor sich ging. Denn auch wenn er erst achtzehn Jahre alt war, würde das Geschäft irgendwann ihm gehören.

Marje nahm ein großes Handtuch aus dem Wandschrank und reichte es ihm. »Es wird schon alles wieder in Ordnung kommen. Und Sie sollten aufhören, jeden Tag bei solchem Wetter auszureiten. Sie werden sich eine Erkältung holen und dann den Tod.«

Er erwiderte ihre besorgten Worte nur mit einem trotzigen Blick. In ihrem Gesicht lag, wie so oft, dieser mütterliche Ausdruck, der sie älter aussehen ließ, als sie war.

Marje schüttelte langsam den Kopf. »Ihr Vater wird sich darum kümmern. Und Sie fahren morgen nach Antwerpen, daran sollten Sie jetzt denken.«

Kornelian musterte die Frau, die milde lächelnd vor ihm stand und die ihn aufgezogen hatte, obwohl sie kaum ein Jahrzehnt älter war als er. Ein paar rote Haarsträhnen fielen ihr in die Stirn und erinnerten ihn daran, dass er sich als Kind gefragt hatte, ob sie nicht vielleicht eine Hexe aus einem Schauermärchen sei.

»Haben Sie gehört?«

Kornelian nickte und sah ihr nach, als sie durch die Tür verschwand, dann atmete er tief durch. Sie hatte recht: Morgen müsste er sich von seiner besten Seite zeigen. Antwerpen, die florierende Hafenstadt an der Schelde, war auch das Zentrum des Juwelenhandels. Er wusste nicht, ob er jemals in seinem Leben so aufgeregt gewesen war. Mit nervösen Fingern knöpfte er seine Weste auf, zog sich aus und stieg in das dampfende Bad. Dabei glitt er so tief in die wohltuende, duftende Wärme, dass die Schaumkronen sein Kinn berührten, während der Wasserdampf fantasievolle Muster an die Butzenscheiben des Fensters malte, die fast wirkten wie kleine Kristalle.

Ein harsches Klopfen an der Zimmertür schreckte Kornelian aus seinem Dämmerschlaf. Er sprang mit einem Satz aus dem Bett, obwohl er in der Nacht kaum ein Auge zugetan hatte. Einen Moment lang fragte er sich, ob er vielleicht nur geträumt hatte, dass sein Vater ihn nach Antwerpen schickte. Aber vor seinem Bett stand der Koffer, den Marje gestern noch gepackt und zur Durchsicht in sein Zimmer gebracht hatte. Darin befanden sich neben Hemden und Westen mehrere Cutaways, ein Frack und ein Zylinder – dabei wusste sie sicherlich, dass er diesen keinesfalls tragen würde.

Also war es wahr: Er würde tatsächlich nach Antwerpen reisen!

Nach der Morgentoilette schlüpfte Kornelian in lange Unterwäsche und Strümpfe, zog darüber ein Hemd mit Seidenkrawatte und den eleganten schwarzen Straßenanzug. Dann setzte er seinen Fedora auf, den er über Nacht am Kamin getrocknet hatte, und ging ins Speisezimmer, wo Marje ein Frühstück aus Eiern, Schinken, Toast und geräuchertem Schellfisch zubereitet hatte. Sein Vater saß am Kopfende des Tisches vor einem halb leeren Teller und war wieder in die Zeitung vertieft. Im Gegensatz zu Willem, der zu seiner Rechten saß, trug er noch den Schlafrock.

»Guten Morgen, Vater«, sagte Kornelian und setzte sich an den Tisch.

Emerald legte seine Zeitung beiseite und zog sich den Zwicker von der Adlernase. »Bist du ausgeruht?«

»Ja«, log Kornelian, nahm sich eine Scheibe Toast und nickte Marje zu, die mit der Teekanne neben seinem Platz stand. Er beobachtete, wie sie ihm einschenkte, nahm einen Schluck des dampfenden Getränks und musterte seinen Vater über den Rand der Tasse hinweg. Auch Emerald schien eine unruhige Nacht hinter sich zu haben: Einzelne Haare hatten sich aus seinem Zopf gelöst und standen wirr ab, seine blauen Augen waren gerötet und von Schatten umrahmt. Kornelian fragte sich, woran man wohl erkennen konnte, dass er mit dem schlanken Mann im seidenen violetten Morgenmantel, der sich sein Vater nannte, verwandt war. Vielleicht verrieten es die Grübchen, die sich beim Lachen in Kornelians Wangen prägten, aber da sein Vater selten lachte, war das kaum ein Anhaltspunkt. Seine dunklen Locken und die Bernsteinaugen musste er jedenfalls jemand anderem zu verdanken haben – einem Menschen, von dem er sein ganzes Leben lang nicht ein einziges Bild gesehen hatte und der daher in seiner Vorstellung jeden Tag anders aussah.

»Du weißt, wie du dich in Antwerpen zu verhalten hast?«, unterbrach Emerald seine Gedanken. Er zog die Augenbrauen hoch, bis sich tiefe Falten auf seiner Stirn abzeichneten, und sah erwartungsvoll zu ihm herüber.

Kornelian nickte. Hastig fügte er hinzu: »Ja, Vater. Ich weiß, welche Verantwortung es bedeutet, das Familienunternehmen zu repräsentieren, und ich werde dich nicht enttäuschen.«

Die Mundwinkel seines Vaters zuckten, aber seine Augen waren so kalt wie zuvor. Unerträglich langsam und ohne den Blick von Kornelian abzuwenden, nahm er einen Schluck Tee aus seiner Tasse, der längst kalt sein musste. »Dass du mich enttäuschen wirst, stelle ich nicht infrage. Aber ich möchte versuchen, den Schaden zu begrenzen. Einen außerordentlichen Fauxpas können wir uns momentan nicht leisten.«

Kornelian schluckte. Sein Vater hatte recht: Er hatte etwas versprochen, obwohl er es vielleicht nicht halten können würde. »Ich weiß. Ich werde deinen Anweisungen Folge leisten.«

Jetzt streckte Emerald den Arm aus und legte eine Hand auf die Schulter seines Assistenten. »Halte dich an Willem, Junge. Von ihm kannst du noch viel lernen.«

Willem quittierte dieses Lob nur mit einem abgehackten Nicken.

Kornelian nahm schweigend den letzten Bissen seines Toasts, der ihm auf einmal wie ein Stein im Magen lag. Er tupfte sich den Mund mit der Serviette ab. »Wenn du es erlaubst, helfe ich jetzt beim Verladen des Schmucks.« Mit diesen Worten setzte er an, sich zu erheben.

Emerald hob mahnend eine Hand. »Willem verlädt die Waren. Du gehst auf dein Zimmer und wartest, bis man dich holt.«

Kornelian stand auf. Er nickte den Männern zu und verließ den Raum. Die barschen Worte seines Vaters trafen ihn kaum – denn er ließ sie nur selten an sich heran. Worte bedeuteten Emerald ohnehin nichts. Ganz im Gegensatz zu Taten. Trotzdem fragte sich Kornelian manchmal, ob er vielleicht nur noch eine leere Hülle war. Ein Mensch, den nichts mehr wirklich berühren konnte.

In seinem Zimmer war es eisig kalt. Marje hatte das Fenster geöffnet und das Bett gemacht. Er ging zum Bücherregal, in dem alle Fachbücher über Edelsteinkunde standen, die man für Geld kaufen konnte. Die meisten waren auf Deutsch, Englisch oder Französisch verfasst – allesamt Sprachen, die Kornelian dank seiner peniblen Ausbildung beherrschte. Er ließ die Finger über die verzierten Buchrücken gleiten, bis er ein Exemplar mit goldgeprägtem Rückentitel hervorzog: Precious Stones von Sir Henry A. Miers. Obwohl die Publikation noch jung war, hatte Kornelian sie schon mehrmals gelesen. Er blätterte eine Weile durch die Seiten, von denen er die meisten auswendig kannte, dann legte er das Buch in seinen Koffer. Er nestelte gerade vor dem Spiegel an seinem Ascot-Krawattenknoten herum, als es an der Tür klopfte.

»Herein.«

Marje trat auf die Türschwelle und deutete einen Knicks an. »Die Kutsche wäre dann so weit.« Sie ging zu seinem Koffer hinüber.

»Danke«, sagte er und griff eilig nach dem Gepäckstück. »Ich trage ihn selbst.«

»Wie Sie möchten. Dann wünsche ich eine gute Reise.«

Kornelian lächelte und nickte ihr zu. »Sag Willem, ich bin gleich da.«

Marje wandte sich ab, drehte sich auf halbem Weg zur Tür aber noch einmal zu ihm um. »Gut sehen Sie aus, wenn ich das sagen darf.«

»Findest du?« Kornelian lachte. Er hatte Marje oft angeboten, ihn ebenfalls zu duzen, aber sie weigerte sich beharrlich.

»Ja. Ihre Mutter wäre stolz.«

Das Lachen blieb Kornelian im Hals stecken und sein Magen verkrampfte sich. Er stellte den Koffer wieder ab. Wie er wusste, war es Marje nicht erlaubt, über dieses Thema zu sprechen. Alles sollte so sein, als hätte es seine Mutter nie gegeben – und Kornelian konnte sich ja selbst nicht mehr an sie erinnern. Das einzige Zeugnis ihrer Existenz war das verbotene Zimmer im Obergeschoss, das er selbst seinen Vater lange nicht hatte betreten sehen. Und natürlich er selbst.

»Aber sie ist nicht hier«, sagte er schließlich.

Kaum merklich schüttelte Marje den Kopf. »Manche Menschen sind nie ganz weg.« Sie trat einen Schritt auf ihn zu und richtete seinen Krawattenknoten. »Haben Sie noch diese seltsamen Träume?«, fragte sie beiläufig.

Kornelian zuckte zusammen. Es musste zehn oder elf Jahre her sein, dass er ihr von seinen Träumen erzählt hatte. Damals war er noch ein kleiner Junge gewesen und sie, abgesehen von seinem Vater und Willem, seine einzige Bezugsperson. Seine einzige Freundin. Er nickte.

Marje legte die Hände auf seine Schultern und drehte ihn sanft um, sodass er sich selbst im Spiegel betrachten konnte. »Vielleicht ist es an der Zeit aufzuwachen. Sie sind nicht mehr derselbe.«

Mit diesen Worten ging sie aus dem Zimmer – zumindest konnte Kornelian sich nicht daran erinnern, ob sie noch einen Knicks gemacht hatte, während er in seine eigenen braunen Augen starrte, die ihm plötzlich so fremd erschienen.

Als die Kutsche vorgefahren war, trat auch Emerald aus dem Haus. Der Morgennebel hing tief über dem Anwesen. Es konnte nicht viel später als fünf Uhr sein, aber Kornelian wusste, dass sein Vater die wertvollsten Schmuckstücke selbst verladen wollte. Er überreichte Willem einen schweren Koffer aus dunklem Leder, den dieser bewachen würde wie seinen Augapfel. Schweigend warf er seinem Assistenten einen vielsagenden Blick zu. Wenigstens Willem genoss das volle Vertrauen seines Vaters.

Dann wandte er sich an Kornelian. »Du wirst gehorsam sein.«

Kornelian nickte. Die sonderbare Mischung aus Aufregung und Übelkeit sorgte dafür, dass ihm ganz flau im Magen wurde. Marje hatte ihnen noch Proviant eingepackt, aber er glaubte nicht, dass er etwas hinunterbekommen würde. Emeralds Blick aus stechend blauen Augen ruhte erwartungsvoll auf ihm.

»Ja, Vater.«

»Lass mich nicht bereuen, dich auf diese Reise geschickt zu haben«, beschwor er ihn.

Kornelian musterte das Gesicht, das ihm so vertraut war. Es schien in den letzten Wochen um Jahre gealtert zu sein. »Du kannst dich auf mich verlassen.« Mit diesen Worten stieg er ein.

Die Fensterscheibe des Kutschenhäuschens beschlug von seinem eigenen Atem, als er hinaussah. Er hatte so lange auf diesen Tag gewartet – auf eine Gelegenheit, das Vertrauen seines Vaters ein für alle Mal zu gewinnen –, dass er alles tun würde, was von ihm verlangt wurde. Und noch mehr.

Nachdem Willem eingestiegen war, schloss sein Vater die Kutschentür mit einem Knall und drehte sich schwungvoll um. Durch das trübe Glas sah Kornelian, wie sein Mantel sich aufbauschte und ein Luftzug durch seinen blonden Zopf wirbelte. Hastig packte er den Griff der Tür und drückte sie wieder auf. »Vater!«

Emerald blieb stehen, aber er drehte sich nicht um. Trotzdem konnte sich Kornelian den Ausdruck vorstellen, der jetzt auf seinen Zügen liegen musste: Die Lippen waren gekräuselt, die Augenbrauen zusammengezogen, und weil er die Zähne zusammenbiss, spannte sich die Haut eng über seine Kieferknochen. Aber Kornelian wollte sich nicht entmutigen lassen. Er hatte nur eine Gelegenheit, und er würde sie nutzen.

»Ich werde dich stolz machen. Und ich finde auch den Dieb. Ich verspreche es dir.«

Jetzt drehte sein Vater sich doch um. Die Pferde scharrten ungeduldig mit den Hufen und Willem beugte sich erwartungsvoll vor, um das Gespräch zu verfolgen. Emerald fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Ein Mundwinkel zuckte spöttisch. Seine Mimik schien zu sagen: Du weißt gar nichts.

Dann zuckte er beiläufig mit den Schultern. »Versprich nichts, was du nicht halten kannst.«

Mit diesen Worten wandte er sich dem Haus zu, hob einen Arm und bedeutete dem Kutscher loszufahren.

Ruckartig setzte sich der Landauer in Bewegung und Kornelian spürte, wie Schamesröte in seine Wangen stieg. Aus dem Augenwinkel sah er zu Willem hinüber, der sich in die Polster zurückgelehnt hatte und aus dem Fenster blickte. Kornelian wusste, dass es nicht die neblige Morgenlandschaft war, die ihn interessierte. In Wirklichkeit hing er seinen Gedanken nach und wälzte irgendwelche Theorien – wahrscheinlich aus dem Werk der antiken Philosophen, die er in letzter Zeit gelesen hatte, wie die Schriften des Dionysius Areopagita.

Kornelian ließ seinen Blick über den Menschen gleiten, mit dem er mehr Zeit verbrachte als mit seinem eigenen Vater und den er trotzdem kaum kannte. Willem trug seinen besten Sonntagsanzug, obwohl nicht Sonntag war, dazu einen dunklen Gehrock und eine schwarze Melone. Aber auch die vornehme Kleidung konnte nichts daran ändern, dass ihm etwas anhaftete, was die Menschen auf den ersten Blick abstieß. Es lag nicht an seiner stämmigen Statur, die einschüchternd wirken konnte, sondern vielmehr an seinem mürrischen Gesicht mit den schmalen Lippen, deren Mundwinkel immer nach unten gebogen zu sein schienen. Und natürlich an der ledernen Augenklappe, die er Tag und Nacht trug. Kornelian wusste nicht, was mit Willems Auge geschehen war. Er konnte nicht einmal sagen, ob er noch zwei Augen hatte oder ob sich hinter dem Leder nichts als eine leere Höhle verbarg, die sein Gesicht entstellte.

Während der Fahrt in die Stadt sprachen sie kaum. Das Schnauben der Pferde mischte sich in den Wind, der heulend um die Kutsche zog. Allmählich wandelte sich die Landschaft aus Feldern und Bächen. Die Wege waren nicht mehr morastig, sondern gepflastert. Die Bauernhöfe standen immer enger beisammen, bis sie den Villen der Fabrikantenfamilien wichen, deren kunstvolle Giebel so hoch ragten, dass sie den Himmel verdeckten.

Instinktiv rückte Kornelian seinen Hut zurecht. Er wusste von Marje, dass auch seine Familie früher im Zentrum von Amsterdam gewohnt hatte; ganz in der Nähe der medizinischen Fakultät, wo sein Vater damals Vorlesungen hielt. Dann waren sie aufs Land gezogen, weit genug, um abgeschieden und ohne direkte Nachbarn zu wohnen, aber so nah an der Stadt, dass Emerald ohne Schwierigkeiten mit den Edelsteinen handeln konnte.

Marje hatte Kornelian nicht gesagt, warum sein Vater so plötzlich das Interesse an der Medizin verloren hatte, nur dass er bald darauf begonnen hatte, stattdessen Juwelen zu importieren. Die Verarbeitung überließ er allerdings alteingesessenen Geschäftspartnern – Juwelieren in Belgien, die über langjährige Erfahrung verfügten. Kornelian selbst konnte sich nicht an die Zeit kurz nach dem Umzug, als seine Mutter noch lebte, erinnern. Dafür aber umso detaillierter an alles, was danach geschehen war. Und vielleicht war das auch besser so, denn allein das Wissen um die verlorenen Erinnerungen beschwor eine Leere in ihm herauf, die unerträglich werden konnte und sich nur dann lindern ließ, wenn er seinen Körper an die Grenzen brachte, bis er das Letzte aus sich herausgeholt hatte.

Die Rufe des Kutschers, der die nervösen Rappen zügeln musste, rissen ihn aus seinen Gedanken. Selbst um diese Zeit herrschte auf den Straßen Amsterdams geschäftiges Treiben. Krämer brachten ihre Waren in Pferdekarren auf den Markt, Dienstmädchen kippten ihr Putzwasser vor die Tür oder wuschen Wäsche in den Gassen, dazwischen streunten Hunde und vom Hafen her dröhnten die Schiffshörner so laut, dass die Vögel in Scharen in die Luft stoben wie aufgewirbeltes Laub.

Als das imposante Bahnhofsgebäude in Sichtweite kam, atmete Kornelian auf. Die dichten Rauchschwaden, die über der verklinkerten Fassade aufstiegen, und das gleichmäßige Rattern der Züge gaben ihm ein beruhigendes Gefühl von Freiheit. Die Welt war groß, und es war unmöglich, sie gänzlich zu bereisen. Ihm gefiel der Gedanke, immer weiterzufahren, ohne überhaupt jemals anzukommen.

Der Schaffner pfiff bereits zur Abfahrt, als sie das Gleis erreichten. Ein Bahnhofsangestellter zog einen schwer beladenen Karren, auf dem die Schmuckwaren in hölzernen Kisten gestapelt waren. Den Koffer mit den wertvollsten Stücken trug Willem selbst. Kornelian bot ihm seine Hilfe an, aber er winkte nur ab und wandte sich an den Schaffner, um die Fahrscheine zu kaufen. Der Uniformierte lochte die Pappkarten und verlangte, die Zollerklärung zu sehen. Als er den roten Löwenkopf auf den Unterlagen entdeckte, nickte er ihnen respektvoll zu. Das Familienwappen hatte seit jeher Eindruck geschunden, selbst in bürgerlichen Kreisen. Dabei war die Familie van Leeuwen im Zuge der französischen Eroberung verarmt und der Adelstitel nur noch ein Überbleibsel aus vergangenen Jahrhunderten. Kornelian wusste, dass sein Vater das Medizinstudium mit Aushilfsarbeit im Krankenhaus finanzieren musste. Jetzt hatte er das Vermögen seiner Vorfahren wohl längst übertroffen, und zwar durch eigene Arbeit. Oder zumindest durch seinen untrüglichen Geschäftssinn.

Die Abteile der ersten Klasse waren geräumig und die Bänke mit Samt gepolstert. Willem führte Kornelian zu ihren Plätzen und setzte sich ans Fenster. Seine Melone und seinen Mantel hängte er an einen Haken neben dem Sitz.

»Wenn wir in Antwerpen sind, legst du den Hut ab.« Mit diesen Worten widmete er sich dem Buch, das er aus seiner Manteltasche gezogen hatte.

Kornelian erwiderte nichts. Auch wenn sie noch nie eine längere Reise zusammen unternommen hatten, sollte Willem inzwischen wissen, dass er seinen Hut nur zum Baden und Schlafen ablegte.

Willem klappte den Buchdeckel auf und blätterte durch die Seiten. »Hast du verstanden?« Selbst während er sprach, schien sein Blick über die Zeilen zu fliegen.

»Ich werde ihn nicht absetzen.« Kornelian verschränkte die Arme und sah zu Boden. Willem konnte ruhig versuchen, ihn dazu zu zwingen. Er würde es nicht schaffen, nicht einmal mit Gewalt. Dabei wusste Kornelian selbst nicht, wieso ihm das Andenken an seine Mutter so wichtig war. Streng genommen war der Hut wohl mehr ein Zeichen für seine Wurzeln, die er ja haben musste, auch wenn er sie nicht kannte, und eine stille Art des Protestes. Nur wogegen, das konnte er nicht genau benennen.

Unsanft legte der Angestellte das Buch beiseite. Es traf mit einem dumpfen Geräusch auf die Tischplatte.

»Ich bestehe darauf. Die Messe wird dein erster offizieller Auftritt als ein van Leeuwen sein. Willst du uns blamieren? Der Fedora ist ein Damenhut und noch dazu ziemlich aus der Mode gekommen. Ich habe Emerald gleich gesagt, dass es ein Fehler wäre, dich mitzunehmen.«

Willem verengte sein verbliebenes Auge, sodass sich ringsum feine Fältchen bildeten.

»Ich setze ihn nicht ab. Ich trage ihn zum Gedenken an Mutter.« Kornelian biss die Zähne zusammen, sobald er die Worte hervorgezwängt hatte. Er wusste, dass Willem ihn provozieren wollte. Er wusste es, weil er diesen Gesichtsausdruck jahrelang studiert hatte. Und was ging Willem seine Mutter an? Er musste sie gekannt haben, aber wie alle anderen schwieg er bei diesem Thema beharrlich.

»Du weißt, was dein Vater gesagt hat.«

»Was liest du da?«, fragte Kornelian in der Hoffnung, ein Themenwechsel könnte die Spannung auflösen.

»Negative Theologie«, antwortete Willem. »Nichts für einen eitlen Jungen, der sich mehr um sein Spiegelbild kümmert als darum, seinem Vater zu gefallen.«

Kornelian versuchte sich seine Wut nicht anmerken zu lassen. »Ich denke, beim Geschäftemachen geht es nicht darum, zu gefallen.«

Jetzt legte sich ein Lächeln auf Willems Gesicht. »Du irrst.«

Kornelian zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Doch irgendwann werde ich bestimmen, wie das Unternehmen geführt wird.«

Er sah Willem weiter an, aber während dieser belustigt wirkte, blieb Kornelian ernst.

»Der Edelsteinhandel ist anders als die Wissenschaft; es geht dabei um Qualität.« Etwas leiser fügte er hinzu: »Und nicht darum, hochgestochene Vorlesungen zu halten. Ich habe hart gearbeitet, um so gut wie möglich auf diese Aufgabe vorbereitet zu sein, wenn ich irgendwann in Vaters Fußstapfen treten werde.«

Die Belustigung wich aus Willems Gesicht. Sein Unterkiefer spannte sich kaum merklich an, als würde er etwas zwischen seinen Zähnen zermahlen. Es verschaffte Kornelian Genugtuung, dass sich Willem über seine Worte ärgerte.

»Das ist noch lange hin«, gab er zurück und sah aus dem Fenster.

Es war nicht leicht, Willem aus der Fassung zu bringen, meist war er kühl und beherrscht. Aber die Wissenschaft war sein Heiligtum, und er schien manchmal zu vergessen, dass er jetzt nicht mehr Emeralds Doktorand war, sondern nur sein Assistent.

Das Gefühl des Triumphs beflügelte Kornelian und ließ ihn seinen Vorsatz, sich mit Willem zu vertragen, für einen Moment vergessen. Ohne seine Genugtuung zu verhehlen, griff er sich an den Hut und nickte einem Passagier zu, der gerade durch das Abteil ging und sichtlich irritiert seinen Gruß erwiderte, während Willem vorgab, wieder in sein Buch vertieft zu sein. Dann richtete auch Kornelian den Blick aus dem Fenster, wo die Rauchschwaden der Lokomotive wie schmutzige Nebelfetzen vorbeizogen, und überlegte, wie er vorgehen sollte, um den Juwelendieb aufzuspüren.

Beryl

Du siehst krank aus!«

Ambrosina eilte auf ihre Tochter zu, kaum dass der Hausdiener ihr den Mantel abgenommen hatte.

Beryl unterdrückte ein Niesen, ließ sich von ihrer Mutter küssen und drängte sich vorsichtig an ihr vorbei, um Hut und Handschuhe auszuziehen. Dabei legte sie ihren bestickten Pompadour kurz auf dem Garderobentischchen ab, ließ ihn aber nicht aus den Augen. Das lange Tageskleid würde die Tatsache, dass sie humpelte, zur Genüge verbergen, trotzdem glaubte sie, die skeptischen Blicke ihrer Eltern in ihrem Rücken zu spüren. Und nachdem sie in der Nacht auf dem Kutschpferd ihrer Tante zurück zu deren Haus in Hellendoorn geritten war und kaum zwei Stunden geschlafen hatte, musste sie wirklich aussehen wie der Tod. Sie konnte nur hoffen, dass sie auch den Pferdegeruch zusammen mit den verschlissenen Kleidern ihres längst verstorbenen Onkels abgelegt hatte. Ihr Vater schien jedenfalls nichts bemerkt zu haben, als er sie am Morgen abgeholt hatte.

Er kam jetzt hinter ihr in den Flur und hängte seinen Homburger Hut an den Haken. »Beryl ist nur erschöpft. Ich bin sicher, dass Annelien sie die ganze Nacht mit Kartenspiel und Geschichten von früher wach gehalten hat, nicht wahr?« Tadelnd zog er die Augenbrauen hoch, aber an seinem zuckenden Mundwinkel erkannte Beryl, dass er nicht wirklich verärgert war.

Ambrosina dagegen stemmte die Hände in die Hüften. »Jasper, ich warte schon den ganzen Vormittag auf euch.«