Der Kult - Seine Beute bist du - Mariette Lindstein - E-Book

Der Kult - Seine Beute bist du E-Book

Mariette Lindstein

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Beschreibung

Die Fänge des Kults reichen weit, er findet dich überall – Band 3 der Reihe von Schwedens Thrillerkönigin Mariette Lindstein!

Die Zwillingsschwestern Alex und Dani haben Schreckliches erlebt, zweimal entkamen sie nur knapp den Fängen eines bösartigen Kults. Doch ein ruhiges Leben ist ihnen nicht vergönnt: Tilde, die Schwester von Alex‘ Freund Carl, wird entführt! Jemand hat es auf geheime Daten ihrer Firma abgesehen. Verzweifelt versuchen Carl, Alex und Dani sie zu retten. Die Ermittlungen führen von Schweden bis in die USA, und das Trio stößt auf Hinweise, die gleichermaßen bedrohlich wie vertraut wirken … Ist es wirklich möglich, dass der Kult hinter Tildes Verschwinden steckt?

Endlich, die mitreißende Fortsetzung von Mariette Lindsteins Reihe um die Brisell-Zwillinge!

Entdecken Sie außerdem »Die Sekte«, die erste beliebte Reihe der Autorin.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 472

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Die Zwillingsschwestern Alex und Dani haben Schreckliches erlebt, zweimal entkamen sie nur knapp den Fängen eines bösartigen Kults. Doch ein ruhiges Leben ist ihnen nicht vergönnt: Tilde, die Schwester von Alex’ Freund Carl, wird entführt! Jemand hat es auf geheime Daten ihrer Firma abgesehen. Verzweifelt versuchen Carl, Alex und Dani sie zu retten. Die Ermittlungen führen von Schweden bis in die USA, und das Trio stößt auf Hinweise, die gleichermaßen bedrohlich wie vertraut wirken … Ist es wirklich möglich, dass der Kult hinter Tildes Verschwinden steckt?

Autorin

Mariette Lindstein war fünfundzwanzig Jahre lang Mitglied bei Scientology. Sie arbeitete unter anderem im Hauptquartier der Kirche in Los Angeles, bis sie die Gemeinschaft 2004 verließ. Heute ist sie mit dem Autor und Künstler Dan Koon verheiratet. Die beiden leben mit ihren drei Hunden in einem Wald außerhalb von Halmstad. Ihre Debütreihe »Die Sekte« eroberte die Spitzenplätze der internationalen Liste, wurde mehrfach prämiert und wird derzeit verfilmt. Mit »Der Kult« erschafft sie erneut eine bedrohliche Reihe, die die Leser*innen fesselt. Neben dem Schreiben hält Mariette Vorträge über die Gefahren von Sekten.

Von Mariette Lindstein bereits erschienen

Der Kult – Sein Griff hält dich gefangen

Der Kult – Sein Wort ist dein Gesetz

Die Sekte – Es gibt kein Entkommen

Die Sekte – Deine Angst ist erst der Anfang

Die Sekte – Dein Albtraum nimmt kein Ende

Die Sekte – Deine Welt steht in Flammen

Die Sekte – Dein Feind ist dir ganz nah

Die Sekte – Deine Bestimmung ist der Tod

Die Sekte – Dein Erbe ist das Böse

Mariette Lindstein

Der Kult

Seine Beute bist du

Thriller

Deutsch von Stefanie Werner

Die Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel »Förgylld fälla« bei Lind & Co, Stockholm.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright der Originalausgabe © Mariette Lindstein 2025, by Agreement with Enberg Agency

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Joern Rauser

Umschlaggestaltung und -motiv: © Arcangel / Roy Bishop, www.buerosued.de

JS · Herstellung: DiMo

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-32622-7V001

www.blanvalet.de

Kapitel 1

Tilde

Auf dem Bahnsteig ist es nasskalt, ihre U-Bahn hat Verspätung. Warum hat sie sich kein Taxi gerufen, das wäre klug gewesen. Doch gerade jetzt kann sie alles andere als klar denken. Sie weiß ja kaum noch, wie sie die Treppe zur U-Bahn heruntergekommen ist, erinnert sich nur noch, wie sie den Fuß auf die letzte Stufe gesetzt hat. Und dann plötzlich dieser Schreck. Da war ein Lufthauch, ein Atemstoß in ihrem Nacken. Instinktiv ist sie herumgefahren, doch außer vielen leeren Blicken, jeder Menge gehetzter Menschen war da gar nichts.

Das bildest du dir nur ein. Du hast zu viel Stress im Job. Alles ist in Ordnung.

Doch in diesem Augenblick ist sie ganz sicher.

Jemand beschattet sie.

Aus den Lautsprechern ertönen Durchsagen zu Bahnausfällen und Verspätungen. Ein Schneesturm hat Stockholm lahmgelegt, die Stadt mit Schneeregenmatsch überzogen und die Konturen des Umlands verwischt. Ein Anflug von richtig ekligem Aprilwetter. Als ihre U-Bahn endlich einfährt, ist sie völlig durchgefroren. Alle Sitzplätze sind belegt, sie muss stehen. Im Abteil ist es so heiß, dass sie schwitzt. Bis ihre Bahn endlich die Haltestelle erreicht, an der sie aussteigen will, dauert es.

Das Wohngebiet sieht verlassen aus, keine Menschenseele ist unterwegs. Sie blinzelt in die Straßenlaternen, und auf ihrer Netzhaut bleiben Nachbilder, wie Feuerwerkskörper am Himmel. Schnell schlägt sie ihre Kapuze hoch, schiebt die Hände in die Manteltaschen und macht sich auf den Weg nach Hause, den Hang hinauf. Sie geht mit hängenden Schultern, vornübergebeugt, als hätte sie permanent gegen die Schwerkraft zu kämpfen. An ihren hochroten Wangen schmilzt der Schnee und läuft ihr den Hals hinab. Der Boden unter ihren Schuhsohlen ist eine heimtückische Mischung aus Schneematsch und Erde. Nur wenige Schritte – und schon haben die Schuhe ihr Gewicht verdoppelt, Klumpen aus nassem Schnee und Lehm.

Alles ist dunkel, nur die Schneeflocken tanzen im Straßenlaternenlicht. Im Schatten einer kaputten Lampe meint sie zu erkennen, dass sich etwas bewegt. Sie wird das mulmige Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Dicht am Ohr hört sie ein Flüstern. Sie fährt herum, versucht, durch den dicht fallenden Schnee irgendetwas zu erkennen, doch da ist nichts.

Ihr Haus ist aus weißem Backstein gebaut und hat ein schwarzes Schieferdach, nun über und über von Schnee bedeckt. Die großzügigen Fenster sind in Bleiruten eingefasst. Wenn man hineinschaut, sieht es so dunkel aus wie ein Grab, während der Wind das menschenleere Gebäude peitscht. Einen Zaun gibt es nicht, und die Hecke ist niedrig. Plötzlich fällt ihr auf, wie ungeschützt sie hier eigentlich ist.

Auf einer eisglatten Stelle gerät sie ins Rutschen, stolpert die letzten Schritte auf die Haustür zu. Kaum hat sie den Schlüssel ins Schloss gesteckt, ist da wieder dieses deutliche Gefühl, nicht allein zu sein. Wie ein kalter Hauch bläst es ihr in den Nacken. In Windeseile huscht sie ins Haus und schließt hinter sich die Tür.

Drinnen ist es ruhig und warm. Sie macht Licht. Systematisch tastet ihr Blick die leeren, dunklen Räume ab. Da ist niemand. Sonst würde sie das spüren. In diesem Haus herrscht ein besonderes Schweigen, eine Art Atemrhythmus, an den sie sich inzwischen gewöhnt hat. Sie zieht den Mantel aus, trägt ihre Schuhe in die Waschküche und stellt sie in den Ausguss. Ihr Körper ist steif und empfindlich. Sie geht ins Badezimmer, dreht den Wasserhahn an der Wanne auf und streut Badesalz mit Blütenaroma hinein. Kaum ist die Badewanne halb voll, lässt sie die Kleider auf den Boden fallen und steigt hinein. Es dauert nicht lange, da kommt die Entspannung – sie fühlt sich matt und leicht schwindelig. Schließlich beendet sie ihr Bad, trocknet sich ab und wirft einen Morgenmantel über. Dann geht sie in die Küche, kurz darauf mit einem geschmierten Brot und einem Glas Bier weiter ins Wohnzimmer. Sie schaltet Musik ein, lässt sich aufs Sofa sinken und nimmt das Tablet in die Hand.

Und schließlich googelt sie seinen Namen. Eine bewährte Methode, ihre innere Unruhe zu dämpfen und sich abzulenken. Seit sie ihren ersten Computer bekam, checkt sie regelmäßig, was er macht. Eigentlich spielt er keine so große Rolle, inzwischen ist es zur Gewohnheit geworden, sie kann es nicht lassen. Halbherzig hat sie verfolgt, wie er Karriere gemacht, Psychologie studiert und einen Bestseller geschrieben hat. Doch bisher hat sie sich strikt geweigert, sein Buch zu lesen. Als er eine Datingagentur gründete, hat sie ihn leise ausgelacht, doch auch die wurde – und ist noch immer – überaus erfolgreich. Wie oft hat sie Fotos von ihm in Begleitung irgendeiner Schönheit in der Boulevardpresse gesehen, dann aber jedes Mal nur kurz das Gesicht verzogen. Sie hat sich einen Spaß daraus gemacht, mit ihm zu wetteifern, was nicht immer leicht war. Er trägt keine Designerklamotten, fährt keinen teuren Sportwagen. Aber immerhin ist ihr Unternehmen wertvoller als seines, sofern man nach den Aktienkursen geht. Und das ist es auch schon immer gewesen.

In den letzten zwei Jahren verlief sein Leben turbulent. Seine aktuelle Freundin Alex Brisell scheint wie ein Orkan durch sein Leben gefegt zu sein. Erst hatte eine Sekte Alex’ Zwillingsschwester in einer Krypta im Wald bei Lund gefangen gehalten. Dann hat er sie befreit und war der große Held. Aber im letzten Winter wäre er beinahe selbst draufgegangen, da hat sich in seinem Haus ein echtes Drama abgespielt. Ein Model mit schweren Psychosen und Verbindungen zu jener Sekte hat ihn in den Brustkorb geschossen, eine Zeit lang schwebte er zwischen Leben und Tod. Erstaunlicherweise ging ihr das sehr nahe. Zum allerersten Mal kamen Zweifel auf. Sie recherchierte seine Handynummer, ließ es zwei Mal klingeln, legte dann aber wieder auf.

Um ein Haar wäre er gestorben. Bei dieser Vorstellung wurde sie fast weich – sie hasst ihn, ja, aber wünscht sie ihm den Tod?

Im Internet ruft sie ein aktuelles Bild von ihm auf. Die Jahre haben ihn nur attraktiver gemacht, er hat etwas Urwüchsiges, auf das Frauen stehen. Sein lässiger Kleidungsstil, der Dreitagebart als Kontrapunkt zu den symmetrischen Gesichtszügen und den so herzlichen, stahlgrauen Augen. Er macht einen bescheidenen Eindruck, doch sie unterstellt ihm, dass das nur Show ist.

Carl Asher.

Nenn dich, wie du willst. Ich werde dir nie verzeihen, dass du mich damals im Stich gelassen hast. Als ich dich so gebraucht habe.

Eine Erinnerung blitzt auf, seine warmen Hände um ihr Gesicht. Sie blinzelt eine Träne im Augenwinkel fort. Es gab eine Zeit, da hat er ihr mehr bedeutet als ihr eigenes Leben. Seine Präsenz, mit der er einen Raum vollkommen einnehmen konnte. In seiner Nähe wurden die banalsten Dinge wertvoll. Auch wenn sie es nur höchst ungern zugibt, später hat sie sich nie mehr so geliebt gefühlt wie damals. Doch als es ernst wurde, hat er das Weite gesucht. Wenn Menschen unehrlich sind, holt es sie ein, das bleibt nicht ohne Folgen. Sie selbst überlässt nichts dem Zufall, keine Bewegung ist spontan, sie überlegt genau, wie sie Dinge platziert und wen sie an sich heranlässt. Behält man die Kontrolle und organisiert sein Leben minutiös durch, so fügt sich alles. Dann wird man von solchen Arschlöchern wie Carl Asher nie abhängig.

Von draußen erklingt ein Geräusch. Reflexartig springt sie auf und geht ans Fenster. Im Garten ist es stockdunkel, doch sie erkennt einen Schatten. Er verschwindet, taucht wieder auf, bleibt stehen. Eine dunkle Gestalt zwischen zwei Bäumen. Ihre Knie werden weich, vor Schreck kann sie sich nicht rühren. In ihrem Kopf tobt ein Rauschen, wie das Meer. Die Gestalt entfleucht. Hektisch sucht sie nach ihrem Handy und findet es in der Handtasche. Sie will gerade 112 wählen, da klingelt es an der Tür. Als sie in den Flur geht, stolpert sie über ihre eigenen Füße und kann einen Sturz gerade noch verhindern. Als Erstes blickt sie durch den Spion in der Haustür.

Dann die ungeheure Erleichterung. Sie wickelt sich den Morgenmantel um den Körper und öffnet einen Spalt. Der Mann, der vor ihr steht, lächelt. Nervös lacht sie auf.

»Du bist das?«, sagt sie. »Mein Gott, hast du mich erschreckt.«

Kapitel 2

Alex

Vollkommen verspannt erwachte ich von einem leichten, traumlosen Schlaf. Im Bett war es kalt, Carls Seite leer. Ich rollte mich auf den Rücken und ließ meinen Blick über das Zimmer wandern. Das Licht fiel fleckig auf den Boden, ich stand auf und ging zum Fenster. Zwischen den Baumkronen hing ein wunderbarer Vollmond. Noch nie hatte ich einen so gleichbleibend tief indigoblauen Himmel gesehen – kein Schwarz, kein Azurblau, seine Färbung blieb immer dieselbe. Vom Mondlicht bekam alles ungewöhnlich klare Konturen, die Wölkchen hatten Goldkanten, die Schatten der Bäume waren scharf umrissen. Dieser wunderschöne Anblick berührte mich sehr. Ich öffnete das Fenster. Draußen war es vollkommen still.

Erst spät im Jahr war es in Lund Frühling geworden. Doch nun hatte ein Hoch mildere Temperaturen gebracht, und überall grünte und blühte es. Der Duft von feuchtem Gras stieg auf, mischte sich mit dem Chlorgeruch vom Pool. Sommerdüfte. Alles war ganz still. Die Natur hielt den Atem an. Die Welt schien zu schlafen, im Gegensatz zu Carl.

Wie so oft fand ich ihn auf dem Balkon. Er lehnte sich übers Geländer, ließ den Kopf hängen, schien ganz in seine Gedanken vertieft. Gefährlich weit beugte er sich vor. Ich machte ein paar Schritte auf ihn zu, da knarrte eine Holzdiele, und er fuhr herum. Das Mondlicht warf seinen Schatten genau auf mich. Carl ist groß, fast einen Meter neunzig, und er hat breite Schultern. Meine Augen gewöhnten sich gerade noch an das veränderte Licht, ich konnte sein Gesicht nicht gleich erkennen.

Dann fiel mir auf, wie sehr er sich verändert hatte, seit ich ihn vor zwei Jahren bei meinem Bewerbungsgespräch zum ersten Mal gesehen hatte. Damals hatte er ein bemerkenswertes Selbstbewusstsein an den Tag gelegt, ich hätte ihn sogar fast als arrogant bezeichnet. Jetzt sah er müde und niedergeschlagen aus. Eigentlich hatte ich damals den Assistentinnenjob bei Ash & Coal wider besseres Wissen angenommen. Nach außen hin war es eine Datingagentur. Tatsächlich stellten wir Kontakte zwischen Schwedinnen und attraktiven Herren im Ausland her, die ihnen ihre heißesten sexuellen Wünsche erfüllten. Eigentlich war das nichts für mich, doch damals befand ich mich in akuter Geldnot und verliebte mich Hals über Kopf in Carl. Es begann mit großartigem Sex, und nachdem uns einige traumatische Erlebnisse fest zusammengeschweißt hatten, wurde eine richtig tiefe Liebe daraus.

»Wie gehts dir?«, fragte ich ihn.

»Geht so. Bald dreh ich durch, wenn ich nicht endlich mal richtig schlafen kann.«

»Vielleicht solltest du den Mond anheulen«, schlug ich vor.

»Schlechter Witz«, sagte er. »Du kannst ruhig drinnen bleiben, wenn du mich nur ärgern willst.«

»Es ist aber so kalt im Bett. Lieber sehe ich mit dir zusammen zu, wie die Sonne aufgeht.«

Ich trat näher an ihn heran, legte den Kopf in den Nacken und ließ meine Lippen über seine Wange wandern. Seine Haut schien mir klamm, offenbar hatte er da schon seit einer ganzen Weile gestanden. Als ich mit der Hand über seinen Brustkorb fuhr, merkte ich, dass sein ganzer Körper ausgekühlt war.

»Ich könnte dir den Rücken massieren, oder vielleicht fällt uns auch noch irgendwas anderes Nettes ein«, sagte ich.

»Gern«, erwiderte er und lachte.

Viel konnte ich nicht tun, um ihm zu helfen. Außer ihn wieder ins Bett zu locken, mit ihm zu plaudern, seinen Rücken zu kraulen, bis ihn der Schlaf übermannte. Manchmal dauerte das Stunden. Wir hatten schon alles versucht: heiße Milch, Atemübungen, Yoga, einschläfernde Meditationen mit Meeresrauschen. Manchmal griff er zu Schlaftabletten, doch dann war er tagsüber so müde, dass er kaum arbeiten konnte. Und allmählich wurden ihm die Sachen auf seinem Schreibtisch zu viel. Als der Ordnungsfanatiker und Pedant, der er war, hasste Carl es, wenn er die Dinge nicht unter Kontrolle behielt.

Er nannte sie »Flashbacks«, die Schreckensbilder, die ihm den Schlaf raubten. In der Nacht holten sie ihn ein, am Tage wurden sie wieder schwächer, doch sie konnten ihn auch dann plötzlich überfallen, wenn er am wenigsten damit rechnete. Die Erinnerung an den Augenblick, als Andrea Zander die Kugel auf ihn abfeuerte, quälte ihn, seit wir nach Lund zurückgekommen waren. Erst hatten wir noch ein paar Monate in San Francisco verbracht und dort Projekte abgeschlossen. In der Zeit hatte er die Erinnerungen in Schach halten können, bei den Bergen von Arbeit war nicht genug Zeit für andere Dinge gewesen. Carl nahm an, dass ihn die Flashbacks jetzt einholten, weil wir in unserer Villa in Lund gerade bei der Arbeit gewesen waren, als sich der Mordanschlag ereignet hatte.

»Sprich doch mit mir darüber«, bat ich ihn.

»Was willst du wissen?«

»Sag mir, was dir durch den Kopf geht, wenn du nicht einschlafen kannst.«

»Was mich so aufregt, ist, dass der Schlaf oft schon zum Greifen nah ist, ich bin dann ganz kurz davor. Ich weiß doch, wie sehr ich meinen Schlaf brauche und dass ich bald durchdrehe, aber es nützt alles nichts. Die Erinnerungen sind einfach stärker.«

»Und deine Flashbacks sind immer nur diese eine Szene?«, fragte ich.

»Im Großen und Ganzen ja. Das ist ein Wirrwarr aus Bildern, wie ich da auf dem Boden liege und fast verblute. Diese irre Hitze in meinem Brustkorb. Dein Gesicht, wie es über mir schwebt. Ich bin völlig machtlos. Hab das Gefühl, ich will schreien, doch meine Stimme versagt.« Dann geht ein Schatten über sein Gesicht. »Aber die Schuldgefühle sind noch viel schlimmer. Dass ich wie gelähmt war und dich nicht beschützen konnte. Ich fühle mich wie … eine feige Memme, das ist so erniedrigend.«

»Aber du hast doch auf dem Boden gelegen – mit einer Kugel in der Brust. Wie hättest du mich da beschützen sollen?«

»Ich schäme mich so, weil ich dich da überhaupt hineingezogen habe.«

Womit er tatsächlich recht hatte. Sein Seitensprung mit Andrea Zander war der Auslöser gewesen, allerdings war es mit den Katastrophen in unserem Leben schon viel früher losgegangen. Hätte es mich nicht gegeben, hätte Carl wohl geschlafen wie ein Murmeltier. Als ich zwei Jahre zuvor auf der Bildfläche erschienen war, hatte ich sein schön geordnetes Leben völlig auf den Kopf gestellt. Kurz zuvor war meine Zwillingsschwester Dani von einer Sekte entführt worden. Sie nannten sich die Wächter des Wanderfalken, doch wir sprachen nur von der Mördersekte – und sie waren wie die Ratten. Man wurde sie einfach nicht los. Sie vermehrten sich mit rasender Geschwindigkeit. Ihre Mitglieder waren rechtsradikale, religiös fanatische Männer in einflussreichen Positionen, die über ein weites Netz Gleichgesinnter auf der ganzen Welt verfügten. Sie verfolgten das Ziel, alle, die sie »Pöbel« nannten und für schwach hielten, auszurotten und gleichzeitig mit einigen korrupten Unternehmen eine Menge Geld zu scheffeln. Sie waren davon überzeugt, Supermenschen zu sein, die bald die Herrschaft über den ganzen Planeten innehätten, und beschrieben sich selbst als »eine Elitegruppe ohne Adresse, die nirgendwo gemeldet ist, jedoch einflussreiche Mitglieder auf der ganzen Welt hat. Komplett inkognito, aber unglaublich mächtig«.

Als Dani an einem Mittsommerabend verschwand, wollte ich die Suche nach ihr nicht aufgeben, und schließlich fanden Carl und ich ihr Gefängnis. Das war eine Kirche, tief im Wald, ganz in der Nähe von Lund. Unglaubliche Dinge passierten dort, und schließlich konnten wir Dani befreien, in einem Drama, bei dem sie selbst den Anführer der Sekte tötete. Damit hätte es vorbei sein können, wäre sie nicht von ihm schwanger gewesen. Gemäß den kranken Statuten der Sekte war ihr Kind aber göttlich und gehörte ihnen. So benutzten sie Andrea Zander als Lockvogel, um an uns heranzukommen. Aber sie begriffen einfach nicht, wie sehr sie von Carl besessen war. Als Andrea schließlich einsehen musste, dass er keine Beziehung zu ihr wollte, schoss sie auf ihn, und mich hätte sie auch erschossen, wäre mir Dani nicht zu Hilfe gekommen.

Am Ende hatten wir es unseren besten Freunden zu verdanken, dass wir die Sekte loswurden. Sie hackten sich in ihr Netzwerk und entlarvten ihre kriminellen Machenschaften. Zurzeit lief in den USA ein langwieriger Prozess gegen die Köpfe der Sekte, was hieß, dass sie nun wirklich erhebliche Probleme und das Interesse an uns hoffentlich ein für alle Mal verloren hatten. Jetzt ging es nur noch darum, dass Carl wieder der Alte wurde.

Nun schob ich ihn vorsichtig von mir weg, um ihm in die Augen sehen zu können. Wenn wir zusammen waren, war er immer offen und ehrlich, doch nun vermied er den Blickkontakt zu mir.

»Carl, gibt es etwas, was du mir verheimlichst?«, fragte ich.

»Nicht direkt.«

»Nicht direkt? Was ist los?«

»Ich denke über etwas nach, lass uns morgen darüber reden.« Er gähnte laut. »Weißt du was, ich glaube, jetzt kann ich schlafen. Wir sehen uns noch den Sonnenaufgang an, und dann legen wir uns noch mal hin.«

Wir gingen zum Balkongeländer. In der Luft lagen süße Düfte. Jetzt kam die kälteste Stunde der Nacht, kurz bevor der Tag anbrach. Inzwischen war der Himmel taubengrau geworden. An Lunds Skyline tauchte die Sonne auf, ein schmaler, glühender Streifen. In den Bäumen vor dem Haus hatte ein Vogel zaghaft zu trällern begonnen. Wir blieben stehen, bis die Sonne, eine zittrige, feuerrote Kugel, den Horizont erklomm.

Kapitel 3

Tilde

Als Cesar Rivera vor ihrer Tür steht und den Schnee von den Schuhen stampft, schlägt ihr eine Wolke seines würzigen Aftershaves entgegen. Seit dem Herbst wohnt er in dem Haus gegenüber. Der sorgfältig getrimmte Balbo-Bart und die markante, leicht gekrümmte Nase lassen sein Gesicht ausgesprochen sympathisch wirken. Seine Augen sind bernsteinfarben, die Wimpern schwarz und dicht. Er ist nicht nur athletisch gebaut, sondern achtet auch auf eine gute Körperhaltung. Und dazu dieser nahezu unwiderstehliche Charme.

Sie hat ihn nie nach seinem Alter gefragt, schätzt ihn jedoch auf vierzig bis fünfundvierzig. Sie selbst ist erst Anfang dreißig, aber das macht ihr nichts aus. Sie hat schon wesentlich ältere Männer gedatet. Was ihr nicht gefällt, ist sein Job.

Cesar ist Pressesprecher des US-Unternehmens Superior Management, das Coachings für Führungskräfte anbietet. Als sie ihn auf diesen sonderbaren Firmennamen ansprach, erklärte er, dass man dabei das englische und lateinische Wort für »überlegen« gewählt habe, weil sich ihre Methoden hundertfach bewährt hätten. Erst kürzlich war eine Dependance in Stockholm eröffnet worden, und innerhalb weniger Monate wurden ihre Kurse sowohl von Mittelständlern als auch von Konzernen stark nachgefragt. Superior Management hat einige Speaker, die rund um den Globus reisen, aber Cesar ist ihr Aushängeschild, er füllt die richtig großen Säle. Dass er ausgerechnet nach Stockholm kam, erschien ihr eigenartig, doch er hat erklärt, dass Schweden sein Zuhause sei und er einen Ort brauche, wo er hingehört. Einmal hat sie ihn gefragt, warum gerade die Fortbildungskurse von Superior Management so unglaublich beliebt sind. Als sie dann seine auswendig gelernte Standardantwort bekam, wurde sie sauer.

»Die meisten Leadership-Kurse kranken daran, dass man zu viel Gewicht auf eine starke Führung legt. Unser Schwerpunkt ist es also, die Manager darin auszubilden, das Potenzial ihres Personals zu erkennen und weiterzuentwickeln. Andere Institute setzen vor allem auf das Ego-Boosting der Leader. Was eigentlich nicht im Interesse des Unternehmens ist.«

Da war reines Marketinggeschwätz. Sie braucht keine Management-Kurse. Sie hat sich mit eigener Kraft hochgearbeitet, in einer Welt, die von Männern dominiert wird. Doch Cesar hat es sich in den Kopf gesetzt, dass sie sich einen seiner Einführungsvorträge anhören soll, und vermutlich ist das auch der Grund, warum er jetzt vor ihrer Tür steht und sich den Schnee von den Schuhen schüttelt.

Cesar hat ein Problem. Sein Beruf passt überhaupt nicht zu seiner Persönlichkeit. Er ist weder von sich überzeugt noch arrogant. Er zeigt aufrichtiges Interesse an allem, was sie sagt. Seit sie sich auf einem Fest kennengelernt haben, geht sie auf seine Annäherungsversuche nicht ein. Und doch kann sie nicht leugnen, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlt. Die Chemie zwischen ihnen stimmt, es knistert gewaltig.

»Und wie gehts? Ich meine, gehts dir gut?«, fragt er jetzt. »Du machst ein Gesicht, als hättest du ein Gespenst gesehen.«

Sie schüttelt den Kopf.

»Alles gut, ich dachte nur gerade, da ist jemand im Garten. Hast du auf der Straße wen gesehen?«

»Nein, nur den Nachbarn mit dem Hund. Also auf der Straße, nicht in deinem Garten.«

Cesar trägt einen Anzug und schwarze Schuhe, die noch voller Schneematsch sind. Wie Puder hat sich der Schnee auf sein rabenschwarzes Haar gelegt. Durch den Garten fegt ein heulender Wind. Cesar zwinkert ein paar Schneeflocken von den dichten Wimpern.

Sie verzieht den Mund.

»Nun komm schon rein, für dieses Wetter bist du ja völlig falsch angezogen«, sagt sie und öffnet die Tür ganz.

Er macht einen Schritt in den Flur.

»Geht es dir wirklich gut, Tilde?«

»Ja, sicher. Ich hab mir das wahrscheinlich nur eingebildet. Oder es war der Nachbar, wie du sagst.«

Überzeugt wirkt er nicht, davon zeugen die Falten auf seiner Stirn. Kurz kommt ihr in den Sinn, ihm zu erzählen, was sie quält, doch die Sache ist viel zu kompliziert. Dann spielt sie mit dem Gedanken, mit ihm den Abend zu verbringen, ein bisschen zu plaudern und in seiner Gesellschaft wieder zur Ruhe zu kommen. Auf der anderen Seite hat sie einen miserablen Tag hinter sich und braucht dringend ihren Schlaf.

»Was wolltest du eigentlich?«, fragt sie.

»Ich würde dich gern in den nächsten Tagen zum Essen einladen. Es wäre schön, ein bisschen Zeit mit dir zu verbringen«, bemerkt er und sieht sie mit großen Augen an.

Sie kämpft gegen den Impuls an, den Blick abzuwenden. Cesars Augen wirken geradezu hypnotisch. Zwischen ihnen entsteht sofort diese latente Spannung. Sich allein im selben Zimmer mit ihm aufzuhalten, erscheint ihr zu intim.

Noch nie hat sich ein Mann so viel Zeit genommen, sie zu erobern. Öfter stand er schon mit einer Flasche Wein vor ihrer Tür. Einmal haben sie Schach gespielt, und er hat gewonnen. Erst versetzte das ihrer Eitelkeit einen kleinen Stich, doch dann mochte sie ihn dafür umso mehr. Er ist anders als die Männer, die sie kennt. Manchmal berührt er sie leicht, ganz beiläufig, und dabei spürt sie ein herrliches Prickeln. Mehr nicht. Aber sie ist in Versuchung geraten. Um die Wahrheit zu sagen: Ihr Liebesleben gleicht einer Wüste. Dennoch zögert sie. Ihr Alltag ist vollkommen durchgetaktet, und außerdem weiß sie noch nicht, ob sie das überhaupt will.

»Kann ich dir vielleicht morgen Bescheid geben, wenn ich meine Termine vor mir habe? Ich muss früh raus, also sollte ich jetzt lieber schlafen gehen«, sagt sie und zieht den Morgenrockgürtel fester.

Er legt seine Hand ganz sanft auf ihren Arm. Die Feuchtigkeit von draußen verstärkt das Aroma seines Parfüms.

»Ja, natürlich. Entschuldige, ich wollte mich nicht aufdrängen. Gib mir doch morgen Bescheid.«

Mit seinem kalten Finger fährt er ihr über die Wange, und sie genießt es.

»Du weißt, dass du mich zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen kannst, wenn du jemanden zum Reden brauchst?«, fragt er und wird auf einmal ernst. »Pass auf dich auf.«

Als er sich umdreht und geht, spürt sie die Enttäuschung darüber, wie leicht es war, ihn abzuschütteln. Sie blickt ihm hinterher, als er mit energischen Schritten und betont aufrecht die Straße überquert. Inzwischen liegt der Frühling in der Luft. Der Schnee ist in Nieselregen übergegangen.

Sie geht wieder ins Haus und empfindet einen kalten Schauer, kaum dass sie das Wohnzimmer betritt.

Ein lautes, kratzendes Geräusch erklingt aus dem Garten. War da nicht etwas vor dem Fenster? Unter Hochspannung und wie in Zeitlupe macht sie ein paar Schritte voraus. Dabei nimmt sie die Geräusche, die sie selbst verursacht, plötzlich haargenau wahr, ihre Atemzüge und die Holzdielen, die unter ihr knarzen. Sie bewegt sich weiter auf das Fenster zu. Draußen ist es still, nur das Tropfen des Schmelzwassers vom Dach ist zu hören.

Bis in die letzten, dunklen Winkel tastet ihr Blick den Garten ab. Unter einem Baum meint sie die Umrisse eines Menschen zu erkennen. Erst verhält er sich still, so wie die Schatten, dann setzt er sich in Bewegung und verschwindet in der Finsternis. Jeder Muskel schreit, sie muss fliehen, alle Nerven senden Panikmeldungen an ihr Hirn. Doch wie festgenagelt steht sie da. Dann merkt sie, dass man vollen Einblick in ihr hell erleuchtetes Haus hat, und hastig lässt sie die Jalousien hinunter. Langsam weicht sie zurück. In den Augenwinkeln stehen schon die Tränen, die Angst brennt, doch sie mag nicht weinen.

Da kommt ihr ein Gedanke. Wer soll sich um alles kümmern, wenn mir etwas passiert?

Kapitel 4

Alex

Das letzte Wegstück zurück nach Simlångsdalen glich einem hellgrünen Blättertunnel. Lange hatten wir nur still im Wagen gesessen. Ich mochte Carls Schweigen, er hatte nicht das Bedürfnis, ständig reden zu müssen. Ich sah ihn kurz an, und er lächelte.

An Carls Gesicht erinnerte man sich gut, auch wenn man es nicht gerade vor Augen hatte. Besonders eindrucksvoll waren sein kupferfarbenes Haar und die stahlgrauen Augen. Seine Persönlichkeit schien voller Widersprüche. Er war ordentlich, zugleich jedoch sehr impulsiv, dickköpfig, aber auch zugänglich. Eigentlich konnte ich mich auf ihn verlassen, mit Ausnahme der Phase, als er mit Andrea fremdging, da wich er mir aus und verstrickte sich in Lügen. Doch das lag nun hinter uns. Nachdem er monatelang um mich geworben hatte, hatte ich ihm schließlich verziehen.

Er nahm eine Hand vom Steuer und streichelte mich im Nacken.

»Wollen wir am Frauenhaus vorbeifahren?«, fragte ich.

»Heute nicht.«

Vor gar nicht langer Zeit hatte Carl entschieden, eine größere Summe von seinen Gewinnen aus Ash & Coal für den Bau und Betrieb einer Einrichtung zu verwenden, die Frauen einen geschützten Raum bieten sollte. Sie befand sich in Simlångsdalen, dem Heimatort seiner Mutter. Das Haus wurde von einem Geschäftsführer geleitet, also wurden wir dort nur selten gebraucht. Daher fragte ich Carl jetzt nicht, wo er hinwollte, vermutlich würde ich sowieso keine Antwort bekommen.

Auf einmal brach ein heftiger Regen herein und klatschte gegen die Windschutzscheibe. Carl griff wieder ans Lenkrad.

»Sorry, die Sicht ist schlecht«, sagte er.

Dann bog er vom Riksväg 25 ab. Rechts und links des schmalen Schotterweges stand dichter Wald. Hinter den hohen Bäumen erhoben sich große Felsen, hin und wieder versteckten sich dort auch ein paar Häuser. Ich merkte, dass wir uns jetzt tief im Tal befinden mussten. Als rechts und links wieder Wiesen auftauchten, bog Carl noch einmal ab, auf einen ganz schmalen, nahezu unpassierbaren Weg. Der Untergrund wurde immer schlechter, bis wir an einem roten Haus mit Schuppen vorbeikamen, das offenbar leer stand. Am Straßenrand blühten die Apfelbäume. Wieder folgte dichterer Wald, dann waren wir am Ende des Weges angelangt und blieben vor einem weißen Haus stehen. Carl parkte den Wagen, und wir stiegen aus. Auf dem Grundstück kämpften die Margeriten gegen Unmengen von Unkraut.

»Meinst du das?«, fragte ich skeptisch, denn dieser Ort entsprach eigentlich nicht Carls Geschmack.

»Ja, genau, Alex. Das möchte ich dir zeigen.«

Der Regen hatte ebenso schnell aufgehört, wie er losgebrochen war. Als wir dastanden, kehrte auch langsam das Licht zurück. Der Himmel wurde sekündlich heller, bis sich hinter den Wolken eine blasse Sonne abzeichnete. In dem großen Ahorn vor dem Haus raschelten die Blätter im Wind. Ein starkes Rauschen erklang von weiter unten. Ich machte ein paar Schritte auf das Haus zu, und da sah ich den Fluss. Etwa zehn Meter unterhalb des Grundstücks schlängelte er sich entlang, er tanzte und sprudelte, er schäumte und zischte, es war ja Frühjahr, nach der Schneeschmelze. An der Stirnseite des Hauses befand sich auf dicken Pfosten eine Dachterrasse, die zum Teil übers Wasser hinausragte. Carl stellte sich hinter mich und legte mir die Hände auf die Schultern. Er erklärte, dass sich dieser Fluss durchs ganze Dorf schlängelte, um dann in mehrere Seen zu münden und sich am Ende wieder zu einem Fluss zu vereinen und ins Meer zu fließen.

»Aber warum sind wir hier, Carl?«, fragte ich.

»Komm, ich zeige dir das Haus von innen.«

Wir stiegen die Treppe zum Eingang hinauf, die mit Plastikfolie voller Farbkleckse abgedeckt war. Carl hatte einen Schlüssel und öffnete die Haustür. Drinnen roch es nach Farbe, das Haus stand leer. Es gab zwei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, Küche und Bad. Auf die kahlen Wände fiel das Licht richtig hübsch. Gemütlich war es hier, sogar ohne Möbel. Der Boden, die Türen und Fenster waren aus hellem Holz, die Wände altweiß gestrichen. In der Mitte des Wohnzimmers stand ein Kachelofen, zwei Fenster gingen zum Fluss hinaus. Obwohl sie geschlossen waren, hörte man das Wasser rauschen. Carl nahm meine Hand und zog mich zur Kellertreppe. Das Untergeschoss bestand aus einem einzigen Raum mit Badezimmer und Kochnische. Aufgrund der Hanglage des Hauses gab es auch dort Fenster zum Fluss hinaus. Eine Glastür führte zu einer großzügigen Terrasse. Wir öffneten und standen dort mit einem einzigartigen Blick auf den Fluss. Carl zeigte auf ein kleines Wäldchen, das auch zum Grundstück gehörte, und erklärte, dass sich dort noch ein komplett eingerichtetes Gästehäuschen befand.

Er nahm mich wieder an den Schultern, drehte mich zu sich herum und sah mir in die Augen. Mein Herz machte einen Satz, denn es war nicht zu übersehen, wie sehr er dieses Haus mochte.

»Das Haus ist eine Oase und liegt an einem ganz besonderen Ort«, sagte er.

»Mir gefällt es auch … besonders.«

»Die Eigentümer haben gerade alles renoviert, aber es wird noch mindestens ein Jahr dauern, bis sie einziehen können. Bis dahin wird es vermietet.«

Ich begriff noch immer nicht, worauf er eigentlich hinauswollte.

»Das versteh ich nicht. Wofür brauchst du denn noch ein Haus?«

»Ich glaube, ein Tapetenwechsel und etwas Abstand zur Arbeit täten mir gut, nur für eine gewisse Zeit. Ich hätte Lust, etwas Neues anzufangen.«

»Wie? Hier draußen?«

»Ich spiele mit dem Gedanken, ein Buch zu schreiben.«

»Oh, und worüber?«, fragte ich.

»Keine Ahnung. Aber du kennst das ja, ich schleppe wirklich schweres Gepäck aus meiner Kindheit mit mir herum, und als Psychologe ist man immer ziemlich geschickt darin, die Traumata von anderen zu bearbeiten, um die eigenen aber einen großen Bogen zu machen. Ich glaube, für mich wäre es eine therapeutische Aufgabe zu schreiben.«

Ich wusste, dass Carl eine schlimme Kindheit gehabt hatte, doch nur selten sprach er darüber, und dass er seine Erlebnisse jetzt aufschreiben wollte, war wirklich neu. Und es klang gut.

»Dann möchtest du an den Wochenenden hier sein? Wie soll es sonst mit der Agentur weitergehen?«

»Ich glaube, damit bin ich jetzt durch«, sagte er und klang wirklich überzeugt.

»Wie? Ein für alle Mal?«

Das konnte ich kaum glauben. Niemals hätte ich gedacht, dass Carl sich von Ash & Coal trennen könnte, schließlich war diese Firma doch sein Lebenswerk.

»Ja, ich dachte, ich könnte sie Brett ganz überlassen. Allerdings muss ich für den Übergang wohl noch eine Weile im Vorstand bleiben.«

Brett war Carls Geschäftspartner und leitete ihr Büro in San Francisco. Er gehörte zu unserem engsten Freundeskreis. Brett hatte eine goldbraune Haut, und zwar im Kontrast zu verblüffend hellen Augen, die intelligent funkelten. Carl hatte ihn auf einer Reise nach San Francisco kennengelernt, und dort war ihnen auch die Geschäftsidee für die Datingagentur gekommen. In vielerlei Hinsicht unterschieden sie sich vollkommen. Während Carl ganz anspruchslos war, stand Brett auf Designerkleidung und hatte bei allem einen teuren Geschmack. Neben Brett wirkte Carl wie ein tapsiger Bär. Doch Brett war einer der witzigsten und fürsorglichsten Menschen, die ich überhaupt kannte. Als Carl mich betrog und ich ziemlich am Ende war, war Brett für mich da und kümmerte sich rührend – so half er mir durch die schlimmsten Tage. Und wenn ich jemanden zum Reden brauchte, wusste ich gleich, wen ich anrufen konnte, auch wenn er sich auf der anderen Seite des Großen Teichs befand.

»Aber möchte Brett dann nach Schweden umziehen?«, fragte ich.

»Da bleibt ihm wohl keine Wahl«, sagte Carl und zuckte mit den Schultern.

Er sagte das so gelassen, dass ich mich aufregte und laut wurde.

»Und was ist mit mir? Was soll ich anfangen?«

»Das kannst du frei entscheiden. Du kannst weiterhin in der Agentur arbeiten und mit mir die Wochenenden verbringen, oder wir nehmen uns gemeinsam ein paar Monate Auszeit.«

Langsam bekam ich das Gefühl, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Was er sagte, klang, als sei alles bereits beschlossene Sache.

»Aber, Carl, wie kommst du denn plötzlich auf diese Ideen?«

»Manchmal ist es eben Zeit, den nächsten Schritt zu tun«, erwiderte er vollkommen ruhig. »Sieh dich doch mal um. Kannst du dir nicht vorstellen, dass ich hier endlich wieder schlafen könnte?«

Damit hatte er vermutlich recht, dennoch fühlte ich mich übergangen. Schließlich war das ein vollkommen neuer Lebensentwurf.

»Okay. Und wann wirst du umziehen?«, fragte ich säuerlich.

Carl seufzte.

»Meine liebe Alex. Ich habe gedacht, du freust dich, weil ich endlich etwas gegen meinen unsäglichen Zustand unternehme.«

Damit hatte er recht, tatsächlich freute ich mich, ich hatte nur noch nicht weitergedacht.

»Weißt du …«, sagte er. »Es wäre so schön, wenn wir in diesem Sommer einfach hier Urlaub machen könnten. Nur wir zwei. Um zu allem, was passiert ist, ein bisschen Abstand zu gewinnen.«

Ich überlegte, versuchte, Carls Drehung um hundertachtzig Grad nachzuvollziehen, diesen Schritt von einem hektischen Berufsleben unter lauter einflussreichen Menschen zu einem Leben als Eremit tief im Wald. So schwer war es gar nicht zu verstehen. Es war offensichtlich, dass Carl nach dem Attentat die Freude an seiner Arbeit verloren hatte und sich nun irgendwie im Leerlauf befand. Seine Impulsivität war auch gar nicht neu. Als wir uns kennenlernten, war er fast unangenehm selbstbewusst und durch nichts aus der Ruhe zu bringen gewesen. Ich ertappte mich dabei, dass ich diese Seite an ihm vermisste, denn nun quälte ihn die Selbstverachtung. Wenn er glaubte, dieser Ort konnte ihm helfen, dann würde ich mich nicht sträuben.

Ich selbst hatte mich immer wieder in riskante Situationen gebracht, seit dem Tag, an dem wir uns begegnet waren. Wie oft war ich mir wie ein Beutetier vorgekommen und immer auf der Flucht gewesen, weil die Sekte es auf Dani und mich abgesehen hatte. In den letzten Jahren war mein Kopf nie zur Ruhe gekommen, das Gedankenkarussell hielt mich pausenlos auf Trab. Doch an diesem Ort, wo das Wasser so heimelig rauschte, konnte ich mir vorstellen, dass auch ich endlich wieder Kraft schöpfen konnte. Womöglich bedeutete Carls verrückte Idee auch eine Gelegenheit für mich, mein Leben genauer unter die Lupe zu nehmen. Denn ich hatte nicht die geringste Ahnung, wo ich eigentlich hinwollte.

»Ich denk drüber nach«, versprach ich, und damit gab er sich zufrieden.

Ich stieg die Kellertreppe wieder hoch und ging in den Garten hinaus. Carl folgte mir und schloss wieder ab. Die Sonne hatte sich jetzt durch die Wolken gekämpft und blendete. Aus dem Wald drang der Laut von schlagenden Flügeln, und dann sah ich einen Starenschwarm abheben und hoch in den Himmel fliegen.

Irgendwie fühlte es sich gut und richtig an, hier zu sein. So als wäre man tagelang durch die Wüste gewandert und konnte nun endlich die Oase sehen. Doch egal, wie schön ich diese Idylle hier fand und mit dem Gedanken spielte, seinem Vorschlag zuzustimmen, ich wurde das Gefühl nicht los, dass es hier längst nicht so friedlich werden würde, wie Carl sich das vorgestellt hatte.

Kapitel 5

Tilde

Rickard Wallin, der IT-Manager ihres Unternehmens HELP!, sieht ungewöhnlich ernst aus.

»Bist du ganz sicher?«, fragt sie ihn.

»Hundertprozentig. Jemand hat sich in deinen Laptop gehackt. Es sei denn, du hast dich in der Zeit geirrt und bist am Freitagabend um sieben doch zu Hause gewesen.«

»Nein, da war ich im Büro«, sagt sie und versucht, den Kloß im Hals loszuwerden.

Rickard ist einer ihrer besten Mitarbeiter und hat ihr volles Vertrauen. Anfangs hielt sie ihn für einen spießigen Buchhalter, mit seinem akkuraten Kurzhaarschnitt, der Nickelbrille und den kindlichen Gesichtszügen. Doch dann musste sie ihre Meinung revidieren. Er ist energiegeladen und clever. Und vor allem beherrscht er seinen Job.

»Warum ist dein Computer nicht passwortgeschützt?«

»Ich nutze ihn nicht beruflich, mir schien das einfach nicht notwendig.«

»Du meinst, da sind rein private Daten drauf?«

»Ja, außer meinem Fahrtenbuch, und das ist ja nicht geheim.«

»Das gehört doch eigentlich auf deinen Job-Computer.«

»Ja, stimmt, aber es war praktischer so, denn nach den Kundenbesuchen fahre ich meist direkt nach Hause.«

»Und wieso sollte ich mir deinen Computer näher ansehen?«

»Als ich nach Hause gekommen bin, hatte ich den Eindruck, dass er nicht mehr genau da war, wo ich ihn hingelegt habe, aber das war nur so ein Gefühl. Er lag im Wohnzimmer. Vielleicht hat mich jemand beobachtet und gesehen, dass ich nicht zu Hause war.«

»Mmh«, sagt Rickard und verzieht das Gesicht. »Dann ist also jemand in dein Haus eingestiegen.«

»Aber wie hat er das geschafft?«

Rickard zieht ein Gesicht, ihm fällt nichts ein, was sie aufheitern könnte.

»Keine Ahnung, Tilde.«

»Kannst du nachverfolgen, was der auf meinem Computer gemacht hat?«

»Jemand hat sich deine Chronik angesehen und einige Dateien geöffnet. Gibt es da auch sensible Daten?«

»Ach, du kennst mich doch. Mein Privatleben ist so gut wie nicht existent.«

Was den Nagel auf den Kopf trifft. Sie hat nicht einmal Profile in den sozialen Medien, verspürt keinerlei Bedürfnis, sich mit anderen Menschen zu vernetzen, mit fremden schon gar nicht.

Noch hegt sie die Hoffnung, dass es das Werk eines Einzeltäters war. Vielleicht hat er auch versucht, sich in ihr Bankkonto zu hacken.

»Könnte es nicht sein, dass jemand die Dateien per Fernzugriff aufgerufen hat?«, fragt sie.

»Nein, eine Remote-Verbindung hätte ich gesehen. Das muss jemand direkt auf deinem Laptop gemacht haben. Ein Glück, dass ich kein Virus gefunden habe.«

Bienenschwarmartig surren ihr die Gedanken durch den Kopf. Was kann sie tun, um sich besser zu schützen? Es spannt in ihrer Brust. Eigenartigerweise mischt sich ein Gefühl von Erleichterung in ihre Angst. Sie ist also nicht paranoid. Mit ihrem Gefühl, verfolgt zu werden, hat sie richtig gelegen. Doch dann holt die Realität sie wieder ein. Jemand war in ihrem Haus.

»Rickard«, sagt sie nervös. »An die Finanzdaten und Interna unserer Kunden kommt keiner ran, die sind safe, oder?«

Er nickt energisch.

»Keine Sorge. Da sind Firewalls und Sicherheitssoftware installiert, das ist unmöglich. Aber wenn dich das beruhigt, kann ich alle Systeme sicherheitshalber noch einmal checken.«

»Ja, bitte.«

»Hast du in deinem Privathaus Überwachungskameras installiert?«

Sie schüttelt den Kopf und beißt sich auf die Lippe, um nicht in Tränen auszubrechen.

»Nein, das habe ich nie für nötig gehalten. Schließlich bin ich ja keine Antiquitäten- oder Kunstsammlerin.«

»Dann würde ich vorschlagen, dass du dich sofort um eine Alarmanlage und Kameras kümmerst.«

Er gibt ihr die Telefonnummer eines Unternehmens für Sicherheitstechnik, das er empfehlen kann. Sie speichert sie in ihren Kontaktdaten.

»Sag ihnen, du brauchst auch neue Schlösser. Am besten mit Zifferncodes. Und falls ihn jemand wider Erwarten knackt, gibt es ein Protokoll von allen Entsperrungen. Dann hast du Gewissheit.«

Angestrengt überlegt sie, was in letzter Zeit passiert war, was also der Auslöser dafür sein könnte. Ein neuer Kunde, den sie suspekt fand, eine Geschäftsbeziehung, die aufgrund von Differenzen beendet wurde. Aber ihr fällt nichts ein.

»Es muss mit der Arbeit zusammenhängen, oder?«, fragt sie Rickard.

»Vermutlich schon. Oder jemand stalkt dich.« Er sieht sie mit einem unergründlichen Gesicht an, fast lächelt er. »Vielleicht solltest du dir einen Hund anschaffen. Oder gleich einen Mann«, sagt er und grinst breit.

»Das ist wirklich nicht witzig, Rickard!«

Sein Lächeln gefriert.

»Sorry. Wir werden sofort Anzeige erstatten. Ich kann dir helfen. Eigentlich würde ich dir sogar gern anbieten, vorübergehend bei uns zu wohnen, aber mit dem Baby ist es so furchtbar eng geworden.«

Seine Fürsorge rührt sie. Rickard ist seit Kurzem Vater, bei ihm unterzuschlüpfen, kommt nicht infrage.

»Von wegen«, sagt sie und winkt ab. »Ich werde doch nicht gleich aus meinem Haus fliehen.«

Auf dem Weg zur U-Bahn ist sie ängstlich und fühlt sich richtig allein.

Der Frühlingsabend ist mild. Süßliche Düfte liegen in der Luft. Sie ruft ihre SMS auf und sieht, dass Cesar ihr Informationen zu seinem Vortrag in der nächsten Woche geschickt hat, Ort und Zeit. Sie sagt zu. Eigentlich weiß sie selbst nicht, warum sie ihn noch auf Distanz hält. Schließlich ist er eine gute Partie. Zudem wohnt er gegenüber und könnte ihr in gewisser Weise sogar Schutz bieten. Als sie in der Bahn sitzt, telefoniert sie mit der Securityfirma und beauftragt sie mit der Installation einer Alarmanlage und neuer Türschlösser. Sie erhält die Zusage, dass sie den Auftrag bereits am nächsten Tag ausführen werden.

Als sie von der U-Bahn zu ihrem Haus geht, dämmert es. Unterwegs hört sie eine Amsel singen und das Summen von Insekten. Der Nachbar geht gerade mit seinem Hund spazieren. Manchmal kommt er auf sie zu und möchte plaudern, bislang hat sie das immer seinem Kontaktbedürfnis zugeschrieben. Eigentlich sieht er harmlos aus, mit seinen gut achtzig Jahren und dem schütteren weißen Haar. Seine Bewegungen wirken hölzern. Nun hingegen fragt sie sich, ob an ihm etwas verdächtig sein könnte? Glücklicherweise ist er schon auf dem Heimweg und sieht sie nicht.

Als sie zu Hause ist, setzt sie sich als Erstes an den Küchentisch und richtet auf ihrem Laptop ein Passwort ein, überlegt sogar, ob sie sich besser einen neuen kaufen sollte.

Da fällt ihr ein, dass sie die Haustür nicht abgeschlossen hat, sie steht auf, doch in diesem Augenblick geht das Licht aus. Zuerst denkt sie an einen Stromausfall. Sie will einen Blick aus dem Fenster werfen, doch die Scheibe spiegelt nur ihr Gesicht. Aber auf dem Weg hinter der Hecke bewegt sich etwas. Da ist jemand, der plötzlich innehält. Es könnte der Nachbar mit dem Hund sein oder jemand, der zum Rauchen nach draußen gegangen ist, trotzdem erstarrt sie vor Schreck.

Sie sieht Licht in Cesars Fenster auf der anderen Straßenseite. Vielleicht ist in ihrem Haus eine Sicherung herausgeflogen. Sie benutzt das Handy als Taschenlampe, geht zum Sicherungskasten im Flur, tastet die Schalter ab, doch keiner ist überhitzt. Dann erst merkt sie, dass die Hauptsicherung ausgestellt ist. Sie legt den Kippschalter um. Gerade als sie denkt: Was zum …?, hört sie ein Geräusch direkt hinter sich.

Ein kalter Wind fährt ihr über den Nacken.

Im Flurspiegel sieht sie, dass die Haustür aufgesprungen ist.

Die Panik lähmt sie, sie ist nicht imstande, sich umzudrehen. Steht einfach nur da und lauscht der Stille. Bevor sie sich wieder in Bewegung setzen kann, hört sie, wie die Tür ins Schloss fällt. Sie versucht, ihre Panik zu kontrollieren, zwingt sich mit konzentrierten Atemübungen zur Ruhe. Unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen, sie fühlt sich jenseits von Zeit und Raum. Schließlich schleppt sie sich zur Tür und dreht den Schlüssel um. Sie kontrolliert, ob alle Fenster geschlossen sind, schleicht mit weichen Knien mehrmals durchs ganze Haus, sieht unter Bett und Sofa nach, wirft einen Blick in die Kleiderschränke, doch da ist nichts. Als sie sich wieder gefasst hat, ruft sie die Polizei, dann setzt sie sich hin und wartet.

Sie nimmt ihr Tablet vom Couchtisch und öffnet die Notes-App, in der sie abends hin und wieder ihre Gedanken notiert. Sonst ist ihr Kopf zu beschäftigt, wenn sie ins Bett geht, und das hält sie vom Einschlafen ab. Sie schreibt eine Liste.

Testament

Erbrecht

Firma

Haus

Diese Stichworte starrt sie eine Weile an, dann fügt sie noch ein Wort hinzu: Maude.

Dieser Name gibt schließlich den Ausschlag für ihre Entscheidung. Auch wenn sie in dieser prekären Lage vor Angst fast durchdreht, gibt es Menschen, auf die sie Rücksicht nehmen muss. Menschen, die sie schützen muss, für den Fall, dass …

Ihre Lebensumstände hatten bislang keinen Plan B erforderlich gemacht, doch nun scheint sie dringend jemanden zu brauchen, der ihren Platz einnehmen könnte. Eigentlich fällt ihr nur ein einziger Mensch ein, der sich um alles kümmern könnte, wenn ihr etwas zustoßen sollte. Jemand, der genau diese krankhafte Kontrollsucht hat, die dafür nötig wäre.

Sie greift zum Handy, um ihm eine SMS zu schicken.

Bei der Formulierung versucht sie, möglichst neutral zu klingen. Er hat bestimmt schon hundert Versuche unternommen, mit ihr in Kontakt zu treten, sie um eine Aussprache gebeten, er wird auf jeden Vorschlag von ihr eingehen. Aus diesem Grund fasst sie sich kurz: Was hältst du von einem kurzen Treffen, zu meinen Bedingungen? T

Ein paar Sekunden wartet sie ab, und dann drückt sie auf Senden.

Kapitel 6

Alex

Die ersten Sonnenstrahlen fielen in unser Schlafzimmer. Als Carl bemerkte, dass ich schon wach war, drehte er sich um und legte seine Hand auf meinen Bauch. Dann ließ er seine Fingerspitzen ganz behutsam nach unten wandern. Das tat er immer betont langsam, im Bett war er ein Wunder an Selbstbeherrschung. Ich rekelte mich und seufzte genüsslich.

Genau in diesem Augenblick erklang ein Signal von seinem Handy. Er warf einen Blick aufs Display, und anstatt es auszuschalten, setzte er sich auf. Es war gar nicht seine Art, sich mitten im Vorspiel ablenken zu lassen, und so traute ich meinen Augen nicht. Dann sprang er sogar aus dem Bett, das Telefon in der Hand, und lief ins Badezimmer. Dort blieb er eine Weile, doch ich hörte kein Wasserrauschen, er schien nicht zu duschen oder die Toilette zu benutzen. Als er wieder ins Schlafzimmer kam, wirkte er aufgewühlt.

»Warum gehst du ins Bad, um deine SMS zu lesen?«

»Ich musste nur einen Moment allein sein.«

»Wie bitte? Von wem war denn die Nachricht?«

»Niemand, ich meine, es ist nichts.«

»Also niemand hat dir geschrieben, und in der SMS stand einfach nichts?«

Er zuckte nur mit den Schultern, als wären meine Fragen nicht nachvollziehbar gewesen.

»Das hat weder etwas mit der Firma noch mit uns zu tun, Alex. Darf ich dir das später erklären, wenn ich das alles besser einordnen kann?«

»War es denn wenigstens eine gute Nachricht?«

»Ich hoffe es. Du, ich habe langsam richtig Hunger, ich geh mal in die Küche und versuche, uns ein kleines Frühstück zu machen.«

Ich hingegen verspürte noch einen anderen Hunger, der weniger mit Essen zu tun hatte.

»Dann hatten deine Fingerspitzen gerade kein besonderes Ziel?«

Er ließ die Schultern hängen.

»Ach, tut mir leid, jetzt bin ich mit den Gedanken ganz woanders.«

»Macht nichts, ich habe sowieso keine Lust mehr«, log ich. »Frühstück klingt gut.«

Als Carl das Schlafzimmer verlassen hatte, lag ich da und starrte an die Decke. Seine Ausweichmanöver waren untypisch. Seit er diese SMS bekommen hatte, hatte ich ein ganz ungutes Gefühl, und es wollte nicht vergehen. Auf der anderen Seite … ich würde demnächst sicher ohnehin eine Erklärung von ihm bekommen.

Unsere Wohnung in Lund lag direkt über den Büroräumen der Agentur. Das Haus selbst, eine weiße Holzvilla mit einem großen Garten, befand sich am Stadtrand. Genau genommen bestand unsere Wohnung aus einem einzigen riesigen Raum im Obergeschoss, nur das Schlafzimmer war abgetrennt, und die Tür stand jetzt offen. Inzwischen drang der Duft von gebratenem Ei in meine Nase, doch komischerweise stellte sich kein Appetit ein. Ich fragte mich, ob die SMS heimlich war, weil Carl mich mit etwas überraschen wollte, wenn wir in der kommenden Woche in das Haus in Simlångsdalen umzögen. Wenn sich Carl nämlich etwas in den Kopf gesetzt hatte, musste es schnell über die Bühne gehen. Nur Tage nach unserem Ausflug hatte er schon den Mietvertrag unterschrieben. Von dem Eigentümer würden wir auch seine Möbel mit mieten, die er während der Renovierung eingelagert hatte. Unter anderem ein großes Bett aus Mahagoni, ein Vintagesofa mit Schaffell, das zwar schon bessere Tage gesehen hatte, aber trotzdem äußerst bequem war, und einige dunkle, niedrige Kommoden. Am schönsten fand ich die rustikalen Küchenmöbel aus Rosenholz, die so schön nach Harz dufteten.

Wir hatten vor, tageweise zwischen Lund und Simlångsdalen zu pendeln, bis Brett etwas später im Sommer vor Ort war. Ich hatte noch nicht endgültig entschieden, ob ich bei Ash & Coal bleiben oder eine längere Auszeit vom Job nehmen wollte, doch ich liebäugelte mit Letzterem.

Ich warf meinen Morgenmantel über und ging in die Küche. Carl hatte Omelette mit Champignons und Spinat gezaubert, eins meiner Lieblingsgerichte, doch ich hatte überhaupt keinen Appetit. Wir unterhielten uns eine Weile, aber ich merkte sofort, dass er mit den Gedanken woanders war. Woher kam diese plötzliche Anspannung zwischen uns? Ich konnte es nicht nachvollziehen.

»Magst du nicht ein bisschen von meinem Frühstück probieren?«, fragte er.

»Ich habe keinen Hunger.«

Carls Handy klingelte. Schweigen. Er sah aufs Display und blickte wieder auf. Wir sahen uns an. Dieser Augenblick wollte nicht vergehen, als stände die Zeit still.

»Entschuldige bitte, ich muss rangehen«, sagte er dann.

»Ja, gut.«

»Aber allein.«

»Was?«

»Ich erkläre es dir später«, sagte er, stand auf und ging wieder ins Schlafzimmer.

Da sprach er mit gedämpfter Stimme, ich verstand kein einziges Wort. Schließlich schloss er die Tür.

Als er zurückkam, sah er noch seltsamer aus.

»Alex.« Seine Stimme klang ernst. »Es gibt etwas, um das ich mich jetzt kümmern muss, es ist wirklich wichtig. Ich verspreche, ich erkläre dir hinterher alles ganz genau. Du vertraust mir doch?«

»In der Regel schon.«

Nach seinem Seitensprung mit Andrea Zander war mein Vertrauen noch nicht vollkommen wiederhergestellt. Er ignorierte meine dezente Anspielung darauf und fasste mich sanft an den Händen.

»Ich bin heute Abend mit jemandem verabredet, und das bedeutet mir sehr viel. Wenn es so läuft, wie ich hoffe, dann erzähle ich dir hinterher die ganze Geschichte.«

»Aber mit wem triffst du dich denn?«

»Es ist noch zu früh, darüber zu sprechen, ich möchte den Verlauf dieses Treffens erst abwarten.«

»Und wann fährst du los?«

»Gegen sechs.«

»Wie lange wirst du weg sein?«

»Ein paar Stunden, würde ich sagen.«

»Glaubst du oder bist du dir sicher?«

»Ich glaube es.«

»Mensch, du tust wirklich sehr geheimnisvoll.«

»Du bist sauer, weil ich einfach aufgestanden bin, als ich dich gestreichelt habe. Tut mir leid.«

»Ach was, darum geht es doch gar nicht. Du benimmst dich so komisch.«

»Wenn ich den Eindruck erwecke, dann hat das auch seinen Grund. Ich bitte dich noch einmal, mir einfach zu vertrauen.«

So ganz gelang mir das nicht. Die Sache mit Andrea war noch nicht lange her. Als wir in San Francisco gelebt hatten, hatte sie sich an ihn herangemacht. Sie war intellektuell, klassisch schön, eloquent und ungeheuer manipulativ. Ich habe vom ersten Moment an gespürt, dass mit ihr etwas nicht stimmt, doch Carl hatte meine Warnungen in den Wind geschlagen. Aber es war nicht genug gewesen, dass er untreu geworden war. Es war ihr auch gelungen, ihn auf eine Geschäftsreise nach Schweden zu locken, die nur vorgeschoben war, und so hatte er Dani und mich schutzlos zurückgelassen. Diese Gelegenheit hatte die Mördersekte genutzt, eines Nachts überfielen sie uns und hätten um ein Haar den kleinen Erik, Danis Sohn, gekidnappt. Es hat wirklich nicht viel gefehlt, und wir hätten es nicht überlebt, deshalb saß Carls Unehrlichkeit noch wie ein Stachel in meinem Herzen. Seine Lügen, meine Hysterie und die Streitereien. In Gedanken ging ich all die kleinen Anzeichen noch einmal durch, die ich damals sofort bemerkt hatte: Wie er mir nicht mehr ins Gesicht hatte sehen können, wenn wir uns unterhalten hatten, und wie zugeknöpft er gewesen war, wenn er ging und mir nicht sagte, wohin. Genau wie jetzt.

Er kam zu mir und nahm mich in seine Arme, fuhr mit den Fingern durch mein Haar und wollte mich küssen, doch ich drehte den Kopf weg.

»Ich hasse es, wenn du Geheimnisse vor mir hast.«

»Aber das stimmt doch gar nicht. Bitte, jetzt sei nicht sauer!«

Den restlichen Tag arbeiteten wir ganz normal. Carl saß stundenlang in Besprechungen mit dem Personal von Ash & Coal, um eine Strategie für seinen Rückzug zu überlegen. Alle waren von der Neuigkeit, dass er die Firma verlassen wollte, noch ziemlich erschüttert. Ich saß daneben und protokollierte brav, mit meinem Kopf war ich jedoch ganz woanders.

Gegen fünf Uhr ging ich in unsere Wohnung hoch. Auf dem Couchtisch sah ich Carls Handy, das am Ladekabel hing. Ich rang mit mir. Meine Schwäche, in seinen Sachen zu spionieren, wollte ich eigentlich überwinden, aber in diesem Augenblick war die Neugierde stärker. Vorsichtig nahm ich sein Telefon in die Hand und drückte auf den SMS-Button. Als ich die letzten Mitteilungen überflog, gefror mir das Blut in den Adern.

– Was hältst du von einem kurzen Treffen, zu meinen Bedingungen? T

– Ich tue alles, wenn ich dich sehen kann.

– Morgen habe ich geschäftlich in Malmö zu tun, können wir uns abends in meinem Hotel treffen?

– Kein Problem. Wann und wo? Ich werde da sein.

– Ich ruf an, wenn ich es weiß. Aber glaub nicht, dass ich dir verziehen habe.

– Ich tue alles, um dich wiederzusehen.

Außerdem hatten sie am Morgen telefoniert. Exakt sieben Minuten lang.

Ich zerbrach mir den Kopf, doch mir fiel nichts anderes ein als das, was so offensichtlich war: Die beiden mussten in der Vergangenheit ein Liebespaar gewesen sein. Ich tue alles, um dich wiederzusehen.

Irgendetwas stimmte nicht. Ich wusste, dass Carl mich liebte. Unsere Beziehung war innig und zärtlich. Zwischen uns knisterte es immer noch heftig. Und aus den Ereignissen des letzten Jahres musste er doch etwas gelernt haben. Trotzdem standen da diese Sätze auf dem Display seines Smartphones.

Da erklangen Schritte von der Treppe. Schnell legte ich das Handy wieder hin und ging zur Kücheninsel. Jetzt sofort musste ich eine Entscheidung treffen. Am vernünftigsten wäre es gewesen, ihn zu konfrontieren. Allerdings war mir gleichzeitig klar, dass ein solches Gespräch in einen heftigen Streit ausarten würde. Wahrscheinlich wäre es daher die bessere Taktik, abzuwarten, bis er sich mit seinen Lügen selbst die Luft abschnürte.

Jetzt stand er in der Tür, sah mich und lächelte. Mir stieg die Hitze ins Gesicht. Ich lächelte zurück und dachte mir: Jetzt wird sich zeigen, wie gut du im Lügen bist, Carl Asher.

Kapitel 7

Tilde

Auf dem Flug nach Malmö beschäftigt sie noch der Besuch der Polizei bei ihr zu Hause. Die Beamten haben alle Räume durchsucht, aber keine Spuren von Tätern finden können, dafür haben sie festgestellt, dass das Schloss am Hintereingang aufgebrochen war. Diese Information hatte sie völlig entsetzt.

»Da muss einer im Haus gewesen sein, als ich von der Arbeit kam. Und dann hat er den Strom ausgeschaltet, damit er im Dunkeln entwischen konnte. Da müssen Sie mir doch irgendwie helfen können!«

»Haben Sie denn einen Mann im Haus gesehen?«

»Nein, gesehen habe ich ihn nicht.«

»Sie sprechen aber von einem Mann.«

»Keine Ahnung … das ist mein Gefühl.«

Am Ende sahen die Polizeibeamten ein, dass sie nicht lockerlassen würde, und versprachen, einen Kollegen von der Spurensicherung vorbeizuschicken. Als sie immer noch nicht zufrieden war, boten sie an, einmal täglich einen Streifenwagen zu ihrem Haus zu schicken. Inzwischen sind alle Schlösser ausgetauscht und Überwachungskameras installiert, doch die Angst bleibt. Für sie ist es etwas ganz Normales, unter Menschen zu sein, sie hat sich nie Sorgen gemacht, in Gefahr zu sein. Jetzt vermutet sie hinter allem und jedem eine Gefahr und ist ständig unter Hochspannung.