Die Sekte - Deine Welt steht in Flammen - Mariette Lindstein - E-Book

Die Sekte - Deine Welt steht in Flammen E-Book

Mariette Lindstein

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Sekte wurde besiegt, doch ihr Feuer brennt heißer denn je ... Die Fortsetzung der Bestsellerreihe aus Schweden!

Das Herrenhaus auf der Nebelinsel Dimö steht leer. Zwei Jahre sind vergangen, seit Sektenführer Franz Oswald seinen eigenen Sohn geopfert hat, um die junge Julia zu retten, und selbst einen Schlaganfall erlitt. Nun ist er zurück und entschlossener denn je – wären da nur nicht all jene ungewohnten Gefühle, die Franz bislang nicht kannte. Hat der Schlaganfall einen anderen Menschen aus ihm gemacht? Julia selbst arbeitet bei einer Zeitung – als das Blatt ein Interview mit Franz in Auftrag gibt, will dieser mit niemand anderem als Julia sprechen. Und obwohl ihr alle abraten, den gefallenen Sektenführer zu treffen, sagt Julia aus Neugierde zu. Noch weiß sie nicht, was Franz im Schilde führt: nämlich nach Dimö zurückzukehren und ein Experiment durchzuführen. Und Julia ist bereits Teil davon …

Der vierte Teil der packenden »Sekten«-Reihe!

Alle Bände der Bestsellerserie aus Schweden:
Die Sekte – Es gibt kein Entkommen
Die Sekte – Deine Angst ist erst der Anfang
Die Sekte – Dein Albtraum nimmt kein Ende
Die Sekte – Deine Welt steht in Flammen
Die Sekte – Dein Feind ist dir ganz nah
(Alle Bände sind unabhängig voneinander lesbar)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 654

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Das Herrenhaus auf der Nebelinsel Dimö steht leer. Zwei Jahre sind vergangen, seit Sektenführer Franz Oswald seinen eigenen Sohn geopfert hat, um die junge Julia zu retten, und selbst einen Schlaganfall erlitt. Nun ist er zurück und entschlossener denn je – wären da nur nicht all jene ungewohnten Gefühle, die Franz bislang nicht kannte. Hat der Schlaganfall einen anderen Menschen aus ihm gemacht? Julia selbst arbeitet bei einer Zeitung – als das Blatt ein Interview mit Franz in Auftrag gibt, will dieser mit niemand anderem als Julia sprechen. Und obwohl ihr alle abraten, den gefallenen Sektenführer zu treffen, sagt Julia aus Neugierde zu. Noch weiß sie nicht, was Franz im Schilde führt: nämlich nach Dimö zurückzukehren und ein Experiment durchzuführen. Und Julia ist bereits Teil davon …

Autorin

Mariette Lindstein war fünfundzwanzig Jahre lang Mitglied bei Scientology. Sie arbeitete unter anderem im Hauptquartier der Kirche in Los Angeles, bis sie die Gemeinschaft 2004 verließ. Heute ist sie mit dem Autor und Künstler Dan Koon verheiratet. Die beiden leben mit ihren drei Hunden in einem Wald außerhalb von Halmstad. »Die Sekte – Es gibt kein Entkommen« war ihr erster Roman und wurde in Schweden mit dem Crimetime Specsavers Award für das beste Debüt ausgezeichnet und für den CWA Dagger Award 2019 nominiert. Aktuell wird ihre Reihe für das Fernsehen verfilmt. Neben dem Schreiben hält Mariette Vorträge über die Gefahren von Sekten.

Von Mariette Lindstein bereits erschienen

Die Sekte – Es gibt kein Entkommen

Die Sekte – Deine Angst ist erst der Anfang

Die Sekte – Dein Albtraum nimmt kein Ende

Die Sekte – Deine Welt steht in Flammen

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet.

MARIETTE LINDSTEIN

DIE SEKTE

DEINE WELT STEHT IN FLAMMEN

THRILLER

Aus dem Schwedischen

von Kerstin Schöps

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel

»Requiem på Dimön« bei HarperCollins Nordic AB, Stockholm.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright der Originalausgabe © Mariette Lindstein 2020

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Blanvalet

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Joern Rauser

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: Arcangel Images

(Laura Kate Ranftler; Collaboration JS);

Will Immink; www.buerosued.de

BL · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-27100-8V001

www.blanvalet.de

Vorwort

Die drei Bände über die Sekte auf Dimö sind stark von meinen persönlichen Erfahrungen als Sektenmitglied geprägt. Fünfundzwanzig Jahre habe ich in einer Sekte gelebt und dort die Sektenmentalität kennengelernt.

Die Sekte – Deine Weltsteht in Flammen beginnt dort, wo die Trilogie über ViaTerra aufgehört hat.

Meine literarische Rückkehr nach Dimö gestaltete sich zu Beginn noch mit einem gewissen Zögern, aber nachdem so viele Jahre seit meiner Flucht aus der Sekte vergangen waren, hatte ich eine neue Perspektive auf diesen Abschnitt meines Lebens bekommen. Ich bekam die Gelegenheit, die geschlossene Gesellschaft, in der ich gelebt habe, mit der wirklichen Welt zu vergleichen. Und musste feststellen, dass die Überschneidungen zahlreich und beängstigend sind.

Meine Leser haben mir viele Fragen zu der Figur von Franz Oswald gestellt. Viele kannten Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung, die eine ähnliche Persönlichkeitsstörung zeigten. Diese Offenheit berührte mich zutiefst. Der gemeinsame Nenner der Berichte bestand vor allem darin, dass diese Beziehungen immer kompliziert sind. Denn nicht alle Menschen sind automatisch böse. Außerdem gab es familiäre Verbindungen, häufig waren auch Kinder involviert. Oder ein Job stand auf dem Spiel. Viele hatte man als naiv oder dumm bezeichnet, weil sie sich nicht aus dieser Beziehung lösen konnten. Ihre Geschichten haben mich letztlich davon überzeugt, das Kapitel Dimö noch ein weiteres Mal aufzuschlagen.

In den vergangenen Jahren habe ich viele Schulen besucht und mich so mit Hunderten von Schülern im ganzen Land unterhalten. Diese Gespräche haben mir Hoffnung gegeben und mich dazu inspiriert, etwas über diese neue Generation zu schreiben.

Hier kommt eine kleine Zusammenfassung der Handlungen und Figuren der ersten Bände – für alle, die hier erst einsteigen und die Trilogie über ViaTerra noch nicht kennen.

Franz Oswald wurde als Fredrik Johansson geboren und wuchs auf der Insel Västra Dimö an der Bohusküste auf. Er war der uneheliche Sohn des dortigen Grafen, der in dem großen Herrenhaus auf der Insel residierte. Seine ersten Lebensjahre verbrachte Franz auf dem Anwesen, doch als seine Mutter bemerkte, dass der Graf ihren dreijährigen Sohn im Keller misshandelte, floh sie mit Franz in eine kleine Hütte im Wald.

Bald darauf verließ der Graf mit seiner Familie die Insel und zog nach Frankreich. Im Alter von dreizehn Jahren inszenierte Franz seinen eigenen Tod und reiste ihm hinterher. Der Vater nahm ihn auf, und Franz besuchte eine Privatschule in Südfrankreich. In dieser Zeit änderte er seinen Namen und nannte sich von nun an Franz Oswald. Er war zwanzig Jahre alt, als das Anwesen seiner Familie abbrannte und alle Familienmitglieder in dem Feuer umkamen. Alle, außer Franz. Er erbte ein riesiges Vermögen, zog zurück nach Schweden, kaufte das Herrenhaus auf Dimö und gründete eine New-Age-Bewegung – ViaTerra –, die das Ziel verfolgte, den Seelenfrieden und das körperliche Gleichgewicht des Einzelnen wiederherzustellen. Die Bewegung erfuhr einen großen Zulauf, vor allem von jungen Menschen, Prominenten, Machthabern und Persönlichkeiten in bedeutenden Positionen.

Eines der neuen jungen Mitglieder ist Sofia Baumann, eine zweiundzwanzigjährige Frau, die gerade ihr Studium beendet hat. Anfangs ist sie eine glühende Anhängerin, beginnt aber zunehmend, Franz Oswalds Führungsqualitäten und Methoden zu hinterfragen. Er lenkt seine Organisation mit harter Hand, wird zunehmend paranoid und lässt einen Elektrozaun um das Anwesen errichten.

Erst nach Monaten wird Sofia klar, dass sie von der Sekte vereinnahmt wird, und sie flieht schließlich mit ihrem Geliebten Benjamin Frisk, der ebenfalls ein Mitglied ist, von der Insel.

Sofias und Benjamins Weg zurück in die Normalität erweist sich als schwieriger als gedacht. Denn Sofia äußert sich öffentlich über die Vorfälle auf Dimö und wird von Franz Oswald mit schonungslosen Angriffen und Schikanen bestraft – die sie allerdings erfolgreich abwehren kann.

Es folgen fünfzehn Jahre Waffenstillstand zwischen den beiden. Benjamin und Sofia haben in Henån auf der Insel Orust ein Zuhause gefunden und eine Tochter bekommen. Wild entschlossen, Julia aus der ganzen Sektengeschichte herauszuhalten, hat Sofia ihrer Tochter kaum etwas von dieser Zeit erzählt. Julia wächst behütet auf, hat aber schon früh den starken Drang, das beschauliche Leben auf Henån so schnell wie möglich hinter sich zu lassen.

Franz zieht sich auf die Insel Dimö zurück und entwickelt neue Thesen und Leitsätze. Als ein gewaltiger Sturm die Westküste von Schweden erfasst und verwüstet, tritt er aus dem Dunkel ans Licht, präsentiert eine nachhaltige Version von ViaTerra und erfährt einen nie da gewesenen Zulauf. Auf dem Anwesen gründet er eine Schule, die er Kinder der Erde nennt. Auch seine Zwillingssöhne Vic und Thor besuchen diese Schule und werden nach den Lehren der Sekte erzogen.

Was sich allerdings nicht verändert hat, ist Franz’ Besessenheit von Sofia. Es stellt sich heraus, dass er ihren Freundeskreis infiltriert und sie und ihre Familie jahrelang ausspioniert hat. Als der Verdacht in ihm aufkommt, dass Julia seine Tochter sein könnte, meldet er sich bei Sofia und fordert einen DNA-Test. Kaum liegt ihm das Ergebnis vor, das bestätigt, dass er nicht der leibliche Vater ist, beginnt er, ihr hinter dem Rücken ihrer Eltern flirtend näherzukommen. Und Julia erliegt seinem Charme. Am Ende lockt er sie zu sich auf die Insel. Der Besuch endet in einer Tragödie. Vic, den Franz zu seinem designierten Nachfolger ernannt hatte, ist rasend eifersüchtig auf Julia und will sie von der Klippe stürzen. Franz kommt in letzter Sekunde dazu, kann Julia retten, stößt dabei aber Vic unabsichtlich den Teufelsfelsen hinunter. Der verunglückt tödlich, und Franz erleidet einen schweren Schlaganfall, der ihn am ganzen Körper lähmt und ihm die Stimme nimmt.

Julia lernt den anderen Zwilling kennen. Von Anfang an besteht eine enge Bindung zwischen ihr und Thor, sie werden enge Freunde.

Die Sekte – Deine Welt steht in Flammen setzt zu dem Zeitpunkt ein, als Franz sich auf wundersame Weise von seinem Schlaganfall erholt hat, gelangweilt und rastlos in der Rehaklinik sitzt und über die Zukunft nachdenkt. Julia und Thor sind nach Göteborg gezogen und wohnen zusammen. Thor holt sein Abitur nach, weil sich der Unterricht in der Sektenschule an keine Lehrpläne gehalten hatte. Er ist in der 12. Klasse. Julia hat gerade ihren ersten Job als Redaktionsassistentin bei einem Webmagazin angefangen.

Prolog

Am Anfang war ein Wille zu existieren.

Darum erschuf er Raum und Dimensionen.

Und so entstanden Licht, Energie und Leben.

Das ist immer meine Auffassung von der Entstehung des Universums gewesen.

Es wurde nicht von einem Gott erschaffen, sondern von einer einsamen Seele, die verloren und gelangweilt war.

Wie ein Spiel.

Während ich in meinem Körper gefangen war, beschäftigte ich mich mit dieser Hypothese, um mein Leben überhaupt auszuhalten. Das Krankenhauspersonal schob mich jeden Tag an ein Fenster, und eines Tages gelang es mir, dass sich mein Bewusstsein auch in Regionen außerhalb meines Gefängnisses erstreckte. Ich lernte, die Menschen wahrzunehmen, die sich auf der anderen Seite des Fensters wie die Gezeiten durch die Straßen bewegten. Hin und zurück zwischen ihrem Zuhause und den sinnlosen Arbeitsplätzen. Ich spürte ihre Traurigkeit und das verzweifelte Bedürfnis, ein Ziel zu haben. Ihr Leiden hat mich angetrieben, meinen Kampf nicht aufzugeben.

Eigentlich bin ich ein geborener Anführer. Und die Pflicht eines Anführers ist es, Menschen zu führen.

In einer stürmischen Nacht vor zwei Jahren habe ich meinen Sohn umgebracht. Es war … ein Versehen.

Er griff mich an, und ich habe mich verteidigt. Wie ein wahnsinnig gewordener Kampfhund hat er sich auf mich gestürzt. Bevor er ins Straucheln geriet, rückwärtsstolperte und vom Felsen stürzte, hatte er mich mit einem sonderbaren Gesichtsausdruck angesehen. Als hätte er schon immer gewusst, dass genau dies einmal eintreten würde. Und doch wirkte er überrascht. Zum ersten Mal machte mir danach niemand Vorwürfe, keiner freute sich über mein Unglück. Ich hatte eine hilflose Frau vor dem sicheren Tod bewahrt. Ich habe nie bereut, was ich an diesem dunklen Tag getan habe. Aber sein überraschter Gesichtsausdruck hat mich seitdem nicht mehr losgelassen – es war das Letzte, was ich gesehen habe, bevor ich in eine stumme Welt verbannt wurde – in das Innere meines Körpers.

Mein erster Psychologe war der Auffassung, dass ich die Ereignisse verdrängen und vergessen wollte. Weil mir das aber nicht gelang, wurde ich als traumatisiert eingestuft. Dabei bin ich das gar nicht gewesen. Ich war bloß gelähmt.

Ich frage mich, ob sich die Leute überhaupt vorstellen können, was für eine Willensstärke jemand aufbringen muss, der vom Hals abwärts gelähmt ist, und das nur, um einen Zeh zu bewegen. Zuerst passiert gar nichts, wie ein Idiot starrt man auf seinen reglosen Fuß. Minuten, Stunden, Tage. Dann sieht man eine winzige Bewegung, oder zumindest bildet man sich das ein und ist am Boden zerstört, solange sie sich nicht wiederholen lässt. Aber wenn es dann endlich doch funktioniert, ist es trotzdem ein niederschmetterndes Gefühl. Denn was ist schon ein Zeh im Vergleich zu einem ganzen Körper?

Aber ich habe mich geweigert aufzugeben. Eine Niederlage zu akzeptieren liegt nicht in meiner Natur. Einige haben mich als grausam bezeichnet, viele sagen, ich sei hart. Dabei habe ich nur versucht, meinen Prinzipien treu zu bleiben, und das habe ich mit großer Hartnäckigkeit und Offenheit getan. In unzähligen Nächten – allein in der Dunkelheit – habe ich meine Muskeln gezwungen, mir zu gehorchen. Mir ist es gelungen, die Stimmbänder in Schwingung zu versetzen und meine Lippen zu bewegen. Am Ende bin ich wieder Herr über meinen Körper gewesen.

Dann hat es aber anderthalb Jahre gedauert, bis ich erneut ganz hergestellt war. Die Ärzte nannten es ein Wunder, dabei war es lediglich reine Willenskraft. Zu diesem Zeitpunkt hatte der sogenannte Skandal, in den ich verwickelt gewesen war, längst an Aktualität verloren. Einige Dinge werden schneller verziehen als andere. Manche aber können niemals verziehen werden.

Mittlerweile herrsche ich über die Reha-Klinik, in der ich seit meinem Schlaganfall untergebracht bin. Ich wohne in einer geräumigen Suite mit Zugang zum Garten und einem großen Fenster, das zur Straße geht. Geöltes Parkett mit Fußbodenheizung. Seidene Bettwäsche. Sonderverpflegung und ein Personal Trainer. Der erforderliche Geldtransfer, um diesen Luxus zu finanzieren, war sowohl anhaltend als auch kompliziert. Die gierigen Mäuler der Klinik verschlangen mit Freude einen Großteil meines Vermögens. Manchmal ist private Pflege ein wahrer Segen.

Zurzeit versorgen mich dauerhaft lächelnde Krankenschwestern, die sich hervorragend um mich kümmern. Am besten nähere ich mich ihnen zaghaft, wie bei einem Tanz, bis sie endlich das unwiderstehliche Verlangen haben, mir ihre intimsten Geheimnisse zu verraten. Denn das haben sie bisher alle getan: Elyssa, Bettina und Sara. Sie alle sind Teil meines kleinen Imperiums hier geworden. Ergeben und zuvorkommend.

Einige Leute behaupten, machthungrige Männer seien emotional abgestumpft. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Ich habe zum Beispiel bemerkt, dass ich Sinneseindrücke in meiner unmittelbaren Umgebung intensiver empfinde als andere Menschen – die Farben des Sonnenuntergangs, den kleinsten Windhauch, den Geruch einer Frau. Wenn eine Pflegerin den Raum betritt, weiß ich sofort und ohne mich umdrehen zu müssen, wer es ist. Ich kann sie an dem Geruch ihres Parfums erkennen. Oder ihres Schweißes.

Aber in letzter Zeit hat etwas ganz anderes mein Gefühlsleben befallen. Ein dunkler Schmerz in meinem Herzen. Eine ganz merkwürdige, bittersüße Sentimentalität, die ich nicht wahrhaben will, aber auch nicht abstreiten kann. Zum ersten Mal hat der salzige Geschmack von Tränen meine Lippen berührt. Und manchmal spüre ich einen Kloß im Hals. Aber das sind wahrscheinlich nur die Spätfolgen meines schweren Schlaganfalls.

Ich drehe den Kopf und spähe aus dem Fenster hinaus auf die Straße und die Menschen, die im Dämmerlicht kaum zu erkennen sind. Nach und nach werden die Personen deutlicher, sie stehen in Toreinfahrten und unter Straßenlaternen herum. Verlorene Seelen, die kein Zuhause haben und sich im Schatten verbergen.

Wie leicht wäre es, in der dunklen Stadt unterzutauchen und zu verschwinden. Ich habe einen unstillbaren Hunger nach Veränderung, sobald sich neue Dinge auftun und andeuten, während sich die ausgenutzten und vertrauten gerade auflösen. So gut habe ich mich schon sehr lange nicht mehr gefühlt. Ich hätte diesen öden Ort bereits vor langer Zeit verlassen sollen, aber bevor ich nach Hause zurückkehren kann, brauche ich noch einen Plan. An meinen Zielen und meiner Zielstrebigkeit habe ich nie gezweifelt. Der Weg dorthin darf nur manchmal von Ungewissheit gesäumt sein. Alles muss stimmen. Und dann ist da noch diese eine – alles entscheidende – Frage: Habe ich meine Stärke, die mich so sehr auszeichnet, zurückgewonnen?

Wenn ich an Dimö und die Urkräfte der Natur denke, empfinde ich so etwas wie Sehnsucht. Die salzige Luft und der Wind. Die grasbewachsene Heide, die im August ausbleicht und dem lila Schimmer des Heidekrauts Platz macht. Die imposanten Felsen. Der Nebel, der nachts vom Meer aufsteigt und die Insel verschluckt. Das ist mein Platz auf der Welt, meine Heimat.

Natürlich denke ich dann auch an das Anwesen, an mein Zuhause. Dort habe ich vor langer Zeit ein Imperium gegründet, das sich inzwischen über die ganze Welt erstreckt.

Ich denke an meine Mutter, ihre fest aufeinandergepressten Lippen und ihren vorwurfsvollen Blick.

An Thor denke ich auch oft, meinen mittlerweile einzigen Sohn – an den abgeklärten Gesichtsausdruck, wenn er bei seinen Besuchen meine Fragen einsilbig beantwortet. Ich ärgere mich, dass es meine Eitelkeit kränkt, weil ich will, dass er zu mir aufschaut.

Und an Julia muss ich viel denken. Nach dieser langen Pause ist sie zu mir zurückgekommen. Ich weiß noch genau, wie sie sich an mich geklammert hat, mit zärtlicher Entschlossenheit. Ich erinnere mich an das Gefühl, ihre Hand bei dem Spaziergang über die Insel in meiner zu halten. Und auch an das warme Gefühl, das sich in meinem ganzen Körper ausgebreitet hat. Sie strahlte eine unfassbare sinnliche Wärme aus. Der Erinnerung folgt nur Bruchteile einer Sekunde später der Klang ihrer Stimme: Warum erzählst du mir das eigentlich alles? Und meine Antwort darauf: Wem sollte ich es denn sonst erzählen?

Schon wieder spüre ich diesen vertrauten, feuchten Schmerz in den Augen.

In mir bewegt sich etwas.

Als ich auf meine Hände starre, sehe ich, wie mein kleiner Finger zittert.

1

JULIA

Sie stieg aus dem überfüllten Zug und sah ihm hinterher, wie er nach Osten weiterfuhr, in die Innenstadt. Wie so oft überkam sie das Gefühl von Einsamkeit. Tagsüber verschwand es wieder, aber in der Dämmerung packte es sie und ließ sie nicht mehr los. Es hatte einen Puls und scharfe Krallen. Und war ziemlich bedrohlich. Sie sehnte sich nach Thor und hoffte inständig, dass er schon zuhause war.

Abends meldete sich immer die Traurigkeit, die ihr neuer Job in ihr auslöste. Wie ein Nachbeben. Nach dem Abschluss der Schule mit dem Schwerpunkt Sprache hatte sie sich ins Berufsleben gestürzt. Zwei Monate hatte sie jetzt schon bei dem Webmagazin MODA gearbeitet, das hauptsächlich von jungen Karrierefrauen gelesen wurde. Nachdem sie durch Zufall erfahren hatte, dass die Redaktion eine Assistentin suchte, hatte sie sich beworben. Und irgendetwas schien sie auch richtig gemacht zu haben, denn sie boten ihr sofort den Job auf Probezeit an.

Am Anfang hatte es sich wie ein Traumjob angehört, mit einem angemessenen Einstiegsgehalt und attraktiven Zusatzleistungen wie gratis Make-up und Klamotten. Aber das war, bevor sie ihre Chefin Susanna Asker kennengelernt hatte. In kürzester Zeit bestand Julias Aufgabe nun darin, ihr wie ein Lakai nicht von der Seite zu weichen. Der Kaffee hatte noch keine Gelegenheit gehabt abzukühlen, da verlangte Susanna bereits einen neuen. Und wenn sie ihn verschüttete – was ihr wegen der ausladenden Gesten ziemlich häufig passierte –, erwartete sie, dass Julia auf dem Boden herumkrabbelte und die Pfütze wegwischte. Aber auch diese Erniedrigung hätte sie ertragen und wegstecken können, wenn nicht die Überzeugung in ihr gewachsen wäre, dass sie einfach nicht in diese Redaktion passte. Sie schminkte sich kaum. Mode interessierte sie auch immer weniger. Und in einer Arbeitsumgebung, die ausschließlich aus Frauen bestand, fühlte sie sich sowohl verloren als auch deplatziert. Sie hatte sich bei MODA beworben, weil sie schreiben wollte. Viele Themen interessierten sie, menschliche Schicksale, Klimawandel, sogar Politik fand sie spannend. Außerdem war sie von Natur aus neugierig und scheute nicht davor zurück, Fragen zu stellen. Nicht einmal die unangenehmen.

Ein kalter Wind riss an ihren Haaren und trieb ihr die Tränen in die Augen. Es fing an zu regnen, kleine messerscharfe Tropfen fielen ihr in den Nacken. Es war erst Ende August, aber der Herbst hing schon in der Luft. Sie schüttelte sich das Wasser aus den Haaren, ging die Treppe hoch und schloss die Wohnungstür auf. Es roch nach Thor, aber die Leere, die ihr entgegenschlug, verriet, dass er noch nicht zuhause war. Die Wohnung gehörte Thors Großmutter, die sie ihm untervermietet hatte. Als Julia ihren Job in Göteborg antrat, waren sie zusammengezogen und teilten sich die Miete.

Thor und Julia waren beide zu schnell erwachsen geworden, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Julia hatte sich immer reifer und weiter als ihre gleichaltrigen Freunde gefühlt. Sie war früh in die Pubertät gekommen und auch damit aufgezogen worden. Und dann, später, als die anderen Mädchen auch so weit waren und Julia zu hören bekam, dass sie dankbar für ihr Aussehen sein sollte, war es praktisch unmöglich, den Leuten zu klarzumachen, dass das unmöglich war. Es war schlicht und einfach zu spät. Thor hingegen hatte in der Sekte ein sehr rigides und diszipliniertes Leben geführt und war genötigt gewesen, sich früh um sich selbst zu kümmern. Während Julia in Uddevalla ihre Schule beendete, besuchte sie Thor in Göteborg so oft es ging. Seit sie sich eine Wohnung teilten, waren sie sich noch nähergekommen. Ihre Freundschaft hatte sich weiterentwickelt und eine Tiefe bekommen, die keiner von beiden so richtig greifen konnte.

Seit Julia ihn vor zwei Jahren kennengelernt hatte, hatte sich Thor sehr verändert. Physisch betrachtet war aus dem Jungen ein Mann geworden. Obwohl Thor rote Haare hatte und sein Vater pechschwarze, konnte Julia eine große Ähnlichkeit zwischen den beiden erkennen. Vor allem in der Körpergröße und dem kräftigen Körperbau, aber auch die ausgeprägte Kieferpartie, die hohen Wangenknochen und die gerade Nase ergaben Übereinstimmungen. Sogar in der Art und Weise, wie er manchmal die Worte fast unerträglich deutlich aussprach, ähnelte er seinem Vater. Ansonsten aber hatten sie kaum etwas gemeinsam. Franz besaß eine Ausstrahlung, die Julia so noch bei keinem anderen Menschen erlebt hatte. Bei ihrer ersten Begegnung war ihr sofort aufgefallen, dass seine Augen im Sonnenlicht bernsteinfarben leuchteten. Er hatte den Blick eines Raubtieres, dem aber die Wärme nicht fehlte. Das war verwirrend. Seine Person und seine ganze Erscheinung hatten etwas Überirdisches. Er schien über allem zu schweben, erhöht und unbeeindruckbar.

Thor dagegen besaß eine fast unwiderstehliche Kombination aus physischer Robustheit und seelischer Verletzlichkeit. Eine schwere Kindheit und familiäre Tragödien hatten ihn schneller erwachsen werden lassen als Gleichaltrige und tiefe Spuren in seinen schönen Augen hinterlassen, die einem wesentlich älteren Menschen zu gehören schienen. Allerdings hatte sich in ihrer Beziehung ein Problem herauskristallisiert. Es gab mittlerweile eine magische Zeitspanne, die Julia seinem Blick standhalten konnte. Wenn sie diese allerdings überschritt, war sie von dem Gedanken besessen, mit ihm zu schlafen. Dann blieb sie an seinen Lippen hängen und stellte sich vor, wie es wohl wäre, ihn zu küssen, oder sie warf verstohlene Blicke auf seine langen schmalen Hände.

Es war nicht so einfach. Man bricht nicht das Herz seines besten Freundes, und das würde sie, wenn sie ein Paar wären, wahrscheinlich eines Tages tun. Julia war rastlos, entwurzelt und fühlte sich meistens zu sehr viel älteren Männern hingezogen. In dem verzweifelten Versuch, den emotionalen Abstand zwischen ihnen zu vergrößern, hatte sie Thor schon empfohlen, andere Mädchen zu daten. Als er aber zu Julias großer Verwunderung tatsächlich ein Mädchen kennenlernte, wurde sie wahnsinnig eifersüchtig. Sie redete hinter ihrem Rücken schlecht über sie und unternahm alles Mögliche, um die Beziehung zu zerstören. Thor durchschaute es sofort und machte sich lustig über sie. Vor kurzem hatte er tatsächlich mit der Begründung Schluss gemacht, dass er sich auf seine Noten konzentrieren wollte. Und auf ihre Freundschaft.

Julia selbst hatte zwei kurze Beziehungen mit Männern gehabt, die beide schon Ende zwanzig gewesen waren. Die Bindungen waren aber zerbrochen und hatten sie enttäuscht und voller unerfüllter Erwartungen zurückgelassen. Sie dachte an Thor und vermisste ihn, wenn sie mit anderen Typen zusammen war. Dann fragte sie sich, was er gerade tat, mit wem er Zeit verbrachte und ob er an sie dachte. Am Ende hatte sie ganz aufgehört, Männer zu treffen.

Thor war in seinem letzten Jahr vor dem Abitur und hatte vor, in Göteborg Journalismus zu studieren. Ursprünglich wollte er Lehrer werden. Dann aber hatte er von einem jungen Mann gelesen, der allein auf Weltreise gegangen war, darüber einen Dokumentarfilm gemacht und diesen medial verwertet hatte. Seitdem wollte Thor Gesellschaftsreportagen schreiben. Und ihm gelang alles, was er sich vornahm. Diese Zielstrebigkeit hatte er von seinem Vater geerbt. Auch Julia war talentiert, wenn es darum ging, sich mit Worten auszudrücken, und diese Leidenschaft verstärkte das Band zu Thor noch zusätzlich.

Sie machte im Flur Licht an, ging in Thors Zimmer und schaltete das Radio ein. In der Wohnung war es stickig, sie zog die Gardinen im Wohnzimmer auf und sah aus dem Fenster hinunter auf die Taxis, die wie wütende Wespen durch die Straßen fuhren, und auf die Passanten, die nach Hause hetzten. Der Regen hatte zugenommen. Am Himmel türmten sich dunkle Gewitterwolken. Unter dem schweren Ballast der Einsamkeit fühlte sie sich immer furchtbar alt. Als würde ihr Leben vorbei sein, noch bevor es richtig begonnen hatte. Sie legte sich aufs Sofa und umklammerte eines der Kissen. Seit sie ein kleines Mädchen war, liebte sie es, nachts etwas Weiches, Warmes in den Armen zu halten. Sie drückte ihre Nase in das Kissen und atmete den schwachen Duft des Waschmittels ein, das Thor und sie benutzten. Und plötzlich, ganz überraschend stand er im Wohnzimmer.

Er trug einen Wollpullover mit viel zu langen Ärmeln und eine ausgeblichene Jeans. Seine Haare waren nass und die Wimpern schwer von Regentropfen. Julia setzte sich auf.

»Wo bist du gewesen?«, fragte sie und war von ihrer durchdringenden Stimme selbst überrascht.

»Ich habe meinen Vater besucht.«

Vater. Das Wort nahm den ganzen Raum ein. Jedes Mal, wenn sie es hörte, wurde sie in die Vergangenheit katapultiert.

Thor setzte sich neben sie.

»Aha. Und wie geht es ihm?«, fragte sie.

»Hervorragend«, antwortete er und verdrehte die Augen. »Er hat den Laden dort praktisch übernommen. Die Krankenschwestern finden ihn niedlich. Er sollte sich lieber eine anständige Arbeit besorgen, aber mit seinem Blutgeld lebt er dort offensichtlich ganz gut.«

»Thor …«, sagte sie mit vorwurfsvollem Blick. »Warum gehst du da immer wieder hin? Danach bist du immer wütend …«

»Er ist doch mein Vater.«

»Ja, und?«

»Er hat mich nie im Stich gelassen, anders als meine Mutter. Er hat mir zwar immer furchtbare Angst eingejagt, aber er hat mich nie geschlagen. Manchmal hat er mich sogar verteidigt.«

»Natürlich hat er dich geschlagen.«

»Aber nicht als Kind«, betonte Thor. »Nur ein einziges Mal, und damals war er in der Funktion eines Vorgesetzten. Da war ich auch schon lange kein Kind mehr und wusste genau, was passieren würde, wenn ich ihn provoziere. Wir wussten immer, wo der andere steht. Bei meiner Mutter war das ganz anders, sie war da viel unzuverlässiger.«

Elvira, Thors Mutter, hatte ihn und seinen Bruder Vic mit fünfzehn bekommen. Sie war später vor Franz und der Sekte geflohen und hatte ihre Kinder zurückgelassen. Sie verließ sogar das Land und tauchte in den USA unter. Vic starb, ehe sie wieder Kontakt zu ihren Kindern hatte aufnehmen können, was ihr Thor bis heute nicht verziehen hatte.

»Aber Elvira hat wirklich gute Gründe gehabt abzuhauen«, widersprach Julia. »Franz hat sie wie ein Stück Dreck behandelt.«

»Ja, am Anfang war ich auch der Meinung, dass es richtig für sie war, von Vater wegzukommen. Aber ich hatte immer gedacht, dass sie zurückkommen und uns holen würde. Nur … das hatte sie nie vor. Lass uns jetzt nicht mehr darüber sprechen. Du weißt, dass ich es nicht leiden kann, die alten Geschichten aufzuwärmen.«

Julia schob ihre Hand in seine kalte und feuchte. Sie verflochten ihre Finger ineinander und spielten mit ihren Händen. Wie immer. Nur dieses Mal bekam sie eine Gänsehaut davon.

»Und hat Franz noch etwas gesagt?«, fragte sie.

Sie hasste sich dafür, wie neugierig das klang. Das Schlimmste war, dass sie sich für die Situation verantwortlich und schuldig fühlte. Franz hatte den Schlaganfall bekommen, als er ihr das Leben rettete. Sie wäre in jener Nacht umgekommen, wenn er ihr nicht geholfen hätte. An ihrer Stelle war dann Thors Zwillingsbruder den Felsen hinuntergestürzt. So war die Geschichte ausgegangen. Aber wie groß war ihre Schuld an Franz’ Schlaganfall, wenn das – der unbeabsichtigte Todesstoß vom Felsen – der Auslöser dafür gewesen ist? Wäre es unter diesen Umständen nicht mehr als angemessen und zumutbar, sie würde zu einem Besuch bei ihm einwilligen? Nur zu einem einzigen, ganz kurzen Besuch, um ihr Mitleid und ihre Dankbarkeit zu bekunden?

Julia vermied ihren Eltern zuliebe eine Begegnung mit Franz. Er hatte als Sektenführer wie ein Tyrann auf Dimö geherrscht. Sofia und Benjamin hatten ihn beide als einen Diktator beschrieben, der seine Angestellten wie Sklaven behandelt hatte. Eines Tages hatte Sofia keine Lust mehr auf Julias drängende Fragen gehabt, wie es in der Sekte gewesen sei. Hör endlich auf, immer danach zu fragen. Das ist doch alles altes Zeug. Das Einzige, was du wirklich wissen musst, ist, dass er ein Psychopath ist.

Einmal hatte Sofia sie sogar richtig angefahren, als sie etwas über Franz wissen wollte.

»Es reicht, Julia! Er hat versucht, dich zu verführen. Du warst sechzehn! Und er hat uns jahrelang schikaniert. Das sollte doch eigentlich ausreichen, damit du begreifst, dass er ein schlechter Mensch ist. Ich möchte nicht mehr über ihn sprechen. Am liebsten würde ich sogar seinen Namen hier nicht mehr hören.«

Seitdem hatte Julia das Gefühl nicht mehr verlassen, dass ihre Mutter ihr etwas verheimlichte. Sie musste sich ein eigenes Bild von ihm machen, sie hatte gar keine andere Wahl. Thor hatte gesagt, dass er sich verändert hätte, dass er emotionaler geworden sei. Wie konnte Sofia also so sicher sein, dass er nach wie vor hinterhältig und böse war? Sollte sie nicht wenigstens ein kleines bisschen dankbar sein, dass er ihrer Tochter das Leben gerettet hatte? Und dafür seinen Sohn verloren hatte. Das war ein hoher Preis gewesen. Julia fand Sofias Hass auf Franz so … fremd. Es passte gar nicht zu der Persönlichkeit ihrer Mutter, denn in ihrem Inneren war sie ein herzlicher Mensch.

»Aber hat er was gesagt?«, bohrte sie weiter.

Ein Schatten huschte über Thors Gesicht. Dann wandte er sich ab. »Nichts Besonderes.«

»Was verheimlichst du mir?«, insistierte sie.

»So ein Quatsch. Nichts. Er hat nur nach dir gefragt.«

»Das ist ja nicht das erste Mal.«

»Stimmt, aber dieses Mal war es anders. Er hat gesagt, dass er dich sehen und dir etwas erzählen will. Nur dir. Er klang ziemlich resolut.«

»Auch das tut er immer. Und das kann er vergessen. Mich zu treffen.«

»Das habe ich ihm auch gesagt.«

Er verbarg das Gesicht in seinen Händen – und dachte an … was? Obwohl sie so viel Zeit mit Thor verbracht hatte, wusste sie oft nicht, was ihn beschäftigte.

»Möchtest du ihn denn treffen?«, fragte er schließlich.

»Nein«, sagte sie. »Nein, nein.« Und kurz darauf: »Was hat er denn genau gesagt?«

2

FRANZ

Das Phänomen der Macht beschäftigt mich sehr. Kompetente Führung baut sich angeblich auf Demut auf, deshalb habe ich mich einer mir ganz untypischen Selbstprüfung unterzogen. Wenn man bedingungslose Macht hat, sollte man sie mit seinen Untergebenen teilen. Aber nur ein bisschen. Nur so viel, dass sich die Untergebenen bedeutungsvoll fühlen. Das habe ich nie getan. Als ich mein Imperium auf Dimö gründete, war ich viel zu jung dafür, viel zu idealistisch.

Sofia Baumann, Julias Mutter, hatte ein einzigartiges Potential. Schon bei unserer ersten Begegnung, bei einem Vortrag von mir, habe ich erkannt, wie außergewöhnlich sie ist. Eine Zeit lang war sie sogar meine rechte Hand, aber auch ihr habe ich nie etwas von meiner Macht abgegeben. Was dazu führte, dass sie sich gegen mich gestellt hat. Über meine Reaktion darauf möchte ich lieber nicht sprechen oder auch nur nachdenken. Nicht, weil ich mich dafür schäme, sondern vielmehr, weil ich vollkommen die Kontrolle verloren habe. Und es gibt Dinge, die kann man einfach nicht verzeihen.

Wenn man seine Machtposition aufgibt, muss man einem anderen die Macht übertragen. Dann sein Konto auffüllen und irgendwo im Ausland untertauchen, wo man unerreichbar ist und einen niemand aufspüren kann. Sonst setzen einem die alten Feinde bis in alle Ewigkeiten zu. Ich hatte keine Zeit, die Macht über ViaTerra weiterzureichen. Dafür aber ist es mir gelungen, für niemanden erreichbar zu sein. Keine Stellungnahmen, keine Interviews, auch keine Besuche. Außer von Familienangehörigen. Bis heute erhalte ich Anfragen von Journalisten, und bis heute lehne ich dankend ab.

Wenn ich mich in meinem Zimmer umsehe, überkommt mich eine erdrückende Leere. Ich weiß, dass man die Zeit nicht zurückdrehen kann. Ich weiß auch, dass ich eine Transformation durchgemacht habe und jetzt ein anderes Leben führe, das heller und wahrscheinlich auch unbarmherziger ist. Für meine Rückkehr nach Dimö benötige ich deshalb einen Plan. Jeden Morgen wache ich mit der Überzeugung auf, dass sich mir die Lösung eines Tages von selbst offenbaren wird. Und jeden Morgen erkenne ich, dass es ein Irrtum war. In der Tat warte ich sehnsüchtig darauf, dass sich in meiner tristen Fassade, die sich jetzt mein Zuhause nennt, ein Riss auftut. Meine Rückkehr nach Dimö wird der Auftakt einer neuen Lebensphase sein. Aber die Wartezeit und diese Ödnis hier machen mich fertig.

Ich öffne die Terrassentür und genieße die kühle Luft, die da hereinströmt. Hinter mir tritt Elyssa ins Zimmer und lächelt kokett. Sie ist meine Lieblingspflegerin. Auf den ersten Blick sieht sie gewöhnlich aus. Blond, blauäugig, mit weichen, fast kindlichen Gesichtszügen. Aber unter dieser sanften Oberfläche verbirgt sich ein eigensinniges, tatkräftiges Mädchen mit einem tiefschwarzen Humor. Außerdem ist sie während meiner Rehabilitierungsphase nicht von meiner Seite gewichen.

»Guten Morgen, Franz, wie geht es Ihnen?«, fragt sie.

»Wie immer, danke. Und wie ist es mit Ihrem Date gelaufen?«

»Er hat nicht wieder angerufen«, antwortet sie und lässt die Schultern sinken.

»Dann sollten Sie ihn sofort aus Ihrem Adressbuch streichen. Er verdient Sie gar nicht.«

»Recht haben Sie«, sagt sie und reckt sich. »Ich wollte Ihnen aber auch mitteilen, dass vorhin ein Journalist vom Aftonbladet angerufen und um ein Interview mit Ihnen gebeten hat.«

»Und was haben Sie geantwortet?«

»Dass Sie keine Interviews geben.«

»Sehr gut.«

»Ja, und dann wollte ich Ihnen sagen, dass Ihre Psychotherapeutin da ist.«

»Lassen Sie sie zehn Minuten warten, und schicken Sie sie erst dann rein.«

Elyssa lächelt verschmitzt.

»Soll ich vorher noch Ihr Bett machen?«

»Nein, es ist besser, wenn es hier unordentlich aussieht. Dann begreift sie vielleicht endlich, dass sie in mein Privatleben eindringt.«

»Soll ich Ihnen für die Therapiesitzung Kaffee bringen?«

»Auf keinen Fall.«

Sie muss ein Lachen unterdrücken.

»Franz, Sie sehen heute müde aus«, sagt sie und beißt sich auf die Unterlippe.

»Das liegt an diesem Termin. Es ist so ermüdend, immer das Opfer zu spielen.«

Elyssa bricht in schallendes Gelächter aus und verlässt mein Zimmer wieder.

Meine Psychotherapeutin heißt Magdalena Grip. Sie sieht wie eine richtige Kulturtante aus. Sie trägt ihr graues Haar kurz, Klamotten aus Leinen in grellen Farben und Medaillons, die so groß wie Suppenlöffel sind. Da sie sich selbst als jung geblieben empfindet, ist sie auch gegen meinen Charme nicht gefeit. Ich habe zwar kein gesteigertes Bedürfnis nach einer Therapie, aber mir gefallen unsere kleinen Wortduelle. Und auf das kommende habe ich mich bestens vorbereitet. Auf meinem Schreibtisch liegt ein Zettel, auf dem ich in gut lesbaren Druckbuchstaben fünf Punkte notiert habe. Ich stelle den Besucherstuhl auf die andere Seite des Schreibtisches, setze mich und warte. Kurz darauf schiebt sie die Tür einen Spalt breit auf und steckt ihren Kopf hindurch.

»Sind Sie anständig angezogen, Franz?«, erkundigt sie sich.

Die Frage bezieht sich auf das eine Mal, als ich nur Boxershorts anhatte, als sie die Tür öffnete. Offensichtlich hat sie sich von diesem Zwischenfall noch immer nicht erholt.

»Ja, kommen Sie herein«, sage ich und zeige auf den leeren Stuhl.

Sie setzt sich, wobei ihr Blick sofort auf meinen präparierten Zettel fällt. Sie hebt eine Augenbraue.

»Was ist das?«

»Ich möchte heute über meine Diagnose sprechen«, sage ich leise.

»Ich habe nie eine Diagnose gestellt, Franz.«

»Das stimmt, aber Sie haben Narzisstischer Psychopath in Ihr Notizbuch geschrieben.«

»Sie haben meine Notizen gelesen?«, fragt sie bestürzt.

»Nein, ich besitze lediglich die Fertigkeit, anhand der Handbewegung lesen zu können, was die Leute schreiben.«

»Dann müssen Sie sich geirrt haben«, entgegnet sie abwehrend. »Aber Sie sollten wissen, dass Sie selbstverständlich jederzeit Zugang zu Ihrer Krankenakte haben, allerdings nicht zu meinen persönlichen Aufzeichnungen.«

Ich ignoriere ihren vorwurfsvollen Ton. »Wollen wir unser Gespräch jetzt beginnen?«

Sie fliegt mit den Augen ein zweites Mal über meinen Zettel.

»Sie möchten also … über das da mit mir diskutieren?«

»Ja. Ich habe ein bisschen recherchiert, um mir die Zeit zu vertreiben. Im Moment ist mein Kalender nicht gerade vollgespickt mit Verpflichtungen, müssen Sie wissen. Psychopathen und Narzissten haben ein paar übereinstimmende Persönlichkeitsmerkmale. Ich glaube, es könnte ganz nützlich sein, die einmal zu besprechen.«

Sie zögert, ich spüre das genau. Da ich in unseren Sitzungen bisher nicht besonders redselig war, fragt sie sich bestimmt, ob das hier der Auftakt für die Veränderung in meinem Verhalten ist, auf die sie schon so lange wartet.

»Wir raten den Patienten dringend davon ab, sich in Selbstdiagnosen zu versuchen«, sagt sie.

»Sie haben die Diagnose gestellt, nicht ich.«

Sie seufzt und wirft die Hände in einer ergebenen Geste in die Luft. »Worüber wollen Sie mit mir reden, Franz?«

»Wir können doch gleich mit dem ersten Punkt auf meiner Liste anfangen.«

»Verzerrtes, überhöhtes Selbstbild«, liest sie vor.

»Ganz genau.«

»Sehen Sie da Übereinstimmung mit sich selbst, Franz?«

Sie hat diese irritierende Angewohnheit, mich beim Vornamen anzusprechen, um unser ungleiches Machtverhältnis zu betonen.

»Nein, Magdalena«, sage ich. »Mein Selbstbild stimmte schon immer mit meinen Leistungen überein. Es hat eine Zeit gegeben, da hatte ich einen nicht unerheblichen Einfluss – weltweit. Jetzt gerade empfinde ich mein Dasein als eher lächerlich«, sage ich und mache eine ausladende Geste in den Raum hinein.

»Und, vermissen Sie das? Diese Glanzzeiten?«, fragt sie.

»Würde das denn sofort einen Psychopathen aus mir machen?«

»Das habe ich mit keinem Wort gesagt.«

»Wollen wir uns den nächsten Punkt ansehen?«, schlage ich ungeduldig vor.

»Fehlendes Empathievermögen?«

An dieser Stelle werde ich ihr ein bisschen was zum Fressen vorwerfen.

»Ich empfinde Empathie für meinen Sohn«, sage ich.

Tatsächlich überkommt mich eine Welle von Trauer, während ich diese Worte ausspreche. Das ist zwar verblüffend, aber in letzter Zeit geschieht es häufiger, wenn ich an Thor denke. Manchmal habe ich das Gefühl, er ist das Einzige, was von mir noch übrig ist. Aber wenn er mich besucht, fühlt es sich an, als würde er durch mich hindurchsehen.

»Inwiefern?«, fragt Magdalena neugierig.

»Ich bin stolz auf ihn. Er ist integer und zielstrebig.«

»Und wie ist es, wenn Sie mit ihm zusammen sind? Wie fühlt sich das an?«

»Mir fällt es schwer, Nähe zu ihm aufzubauen, und ich fühle mich ziemlich unzulänglich.«

Und genervt. Und frustriert.

»Wie alt ist Ihr Sohn jetzt?«, fragt sie.

»Zwanzig.«

»Ach so, er ist schon erwachsen!«

In meinen Augen ist Thor schon immer erwachsen gewesen, aber das würde sie sowieso nicht verstehen. Und ich habe keine Zeit und auch keine Geduld für Smalltalk.

»Und Ihre Mutter? Wie ist es, wenn Sie sich sehen?«

»Ich möchte nicht über sie sprechen«, sage ich mürrisch.

Sie betrachtet mich einen Augenblick lang nachdenklich, dann fällt ihr Blick wieder auf den Zettel.

»Der nächste Punkt lautet: Manipuliert und lügt. Tun Sie das?«

»Das dürfen Sie entscheiden. Und sollte es stimmen, würde ich Ihnen ja sowieso nicht die Wahrheit sagen, stimmt’s?«

»Und was ist mit: Grenzüberschreitend?«

»Was ist daran falsch?«

»Das hängt ein bisschen davon ab, welche Grenzen man überschreitet.«

»Meiner Ansicht nach sind Menschen, die pausenlos und haufenweise Grenzen errichten, nichts anderes als gestörte und beschränkte Idioten.«

»Das würde ich sehr gern etwas vertiefen«, sagt sie und wird ganz eifrig.

»Aber nicht heute!«

Mich fängt die Unterhaltung bereits an zu langweilen, dabei habe ich mein Anliegen noch gar nicht platziert.

»Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«

»Selbstverständlich«, sagt sie.

»Soweit ich das Diagnosesystem in der Psychiatrie verstanden habe, baut es auf einer Anzahl von Symptomen auf, die der Behandelnde bei dem Patienten feststellt. Welche Symptome haben Sie bei mir festgestellt, die zu Ihrer Diagnose geführt haben?«

»Darüber kann ich leider nicht mit Ihnen sprechen, und ich wiederhole: Ich habe zu keinem Zeitpunkt eine Diagnose gestellt.«

Ihr ist es unmöglich, ihren Ärger zu verbergen. Ich kenne diesen Gesichtsausdruck nur zu gut, die gerunzelte Stirn und die hochgezogene Augenbraue.

»Aber, jetzt mal ganz spekulativ«, sage ich. »Finden Sie es tatsächlich angemessen und gerechtfertigt, eine Diagnose zu stellen, die auf Hörensagen und Zeitungsgeschmiere basiert?«

»Das habe ich nicht getan.«

»Das ist sonderbar, denn soweit ich mich erinnern kann, hatten wir bisher keine tiefgreifende Unterhaltung, aus der Sie diese Symptome hätten ableiten können.«

Auf Magdalenas Wangen haben sich rote Flecken gebildet. Aber sie hält meinem Blick nach wie vor stand.

»Haben wir beide ein Problem, Franz?«

»Ich weiß es nicht. Haben wir das, Magdalena?«

»Nein, meiner Meinung nach nicht. Ich bin sogar der Auffassung, dass Sie große Fortschritte machen.«

»Ich habe eine Theorie zu Ihrer Diagnose. Wollen Sie die hören?«, frage ich.

»Gern, aber ich betone noch einmal, dass ich keine Diagnose gestellt habe.«

Sie lächelt mild und nachgiebig, offensichtlich ziemlich erleichtert darüber, meinen Angriff überstanden zu haben.

»Da bin ich mir nicht so sicher«, sage ich und sehe sie durchdringend an. »Vielleicht hat diese ganze Diagnosegeschichte auch nur etwas mit Neid zu tun? Viele, die den Stempel bekommen, ein Psychopath zu sein, verfügen meistens über sehr viel Macht, sind sozial kompetent, sehen gut aus und haben jede Menge Sex. Sind nicht alle scharf auf so ein Leben?«

»Von dieser Seite kann man das natürlich auch betrachten.«

»Woher wissen Sie, dass es nicht genau andersherum ist?«, frage ich.

»Wie meinen Sie das? Andersherum?«

»Dass Sie, die sogenannten normalen Menschen, die eigentlich Kranken sind und wir die Gesunden.«

»Diese Frage lässt sich so einfach nicht beantworten, Franz. Das hat unter anderem damit zu tun, dass Personen, die als asozial eingestuft werden, anderen Menschen Schaden zufügen.«

»Ist es denn immer falsch, jemandem Schaden zuzufügen, auch wenn es für einen guten Zweck ist?«

»Ohne ein konkretes Beispiel kann ich dazu keine Stellung beziehen.«

Eigentlich möchte ich von ihr nur zu einer ganz bestimmten Sache eine Antwort hören, bevor sie wieder geht. Denn das gärt schon lange in mir. Diese nervigen Gefühlsschwankungen.

»Sind Sie der Meinung, dass mich der Schlaganfall verändert hat?«, frage ich und suche in ihrem Gesicht nach einer unmittelbaren Reaktion. Aber ihr Blick ist nach innen gewandt, und es dauert eine Weile, ehe sie antwortet.

»Das können am Ende nur Sie selbst entscheiden«, sagt sie schließlich. »Aber wenn ich Sie richtig verstehe, dann erleben Sie Gefühle, die Sie vor dem Schlaganfall nicht gekannt haben. Emotionale Veränderungen sind nicht ungewöhnlich. Weit über zwanzig Prozent der Betroffenen sind zum Beispiel hinterher empfindsamer.«

»Und was würden Sie jetzt sagen? Bin ich jetzt zu achtzig Prozent Psychopath und zu zwanzig Prozent normal?« Ich starre sie auffordernd an.

Sie kann ihr Lächeln kaum unterdrücken.

»Ich habe nicht vor, mich dazu zu äußern. Aber mir hat es ziemlich gut gefallen, dass Sie über Ihre Gefühle zu Thor gesprochen haben. Darauf können wir aufbauen.«

»Wollen wir uns den letzten Punkt noch ansehen?«, frage ich.

»Problematische und scheiternde Beziehungen?«

»Ich habe keine Beziehungen.«

»Noch nie gehabt?«

»Noch nie.«

Erneut hebt sie ihre Augenbraue, sieht mich fragend an. »Und was war das mit Julia?«

Es durchfährt mich wie ein Blitz, als sie ihren Namen ausspricht. Ich balle meine Hand zur Faust. Für einen kurzen Moment verschwimmt Magdalenas Gesicht vor meinen Augen. Das Bild der langen Wellen, die sich an den Klippen von Dimö brechen, taucht plötzlich auf. Ich spüre eine warme kleine Hand in meiner. Und ich erinnere mich an das erhabene Gefühl, dass mir endlich jemand wirklich zuhört.

»Das war keine Beziehung, das wissen Sie doch«, antworte ich kurz.

»Trotzdem würde ich mit Ihnen gern über Julia sprechen. Sie haben Ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um ihres zu retten. Ein solches Verhalten ist für Menschen, denen es ansonsten an Mitgefühl mangelt, höchst ungewöhnlich.«

»Ja, und?«

»Dieses Gefühl, das Sie beschreiben, ist wahrscheinlich das letzte gewesen, das Sie unmittelbar vor Ihrem Schlaganfall erlebt haben. Unter Umständen beeinflusst es auch, was für ein Mensch Sie heute sind.«

»Ich möchte nicht über Julia sprechen. Außerdem bin ich jetzt müde«, sage ich und täusche ein Gähnen vor.

»Darf ich noch eine Frage stellen, bevor wir die Sitzung für heute beenden?«

»Natürlich.«

Sie senkt die Stimme und fährt in einem sehr vertraulichen Tonfall fort: »Ich arbeite zusammen mit mehreren Kollegen an einer Studie über unterschiedliche Aspekte von sozialem und asozialem Verhalten. Unter anderem untersuchen wir, wie sich bei Patienten nach einem Schlaganfall die Gefühlsregister verändert haben. Hätten Sie eventuell Interesse, an dieser Studie teilzunehmen?«

»Sie meinen, als Versuchskaninchen?«

»Nein, absolut nicht«, widerspricht sie vehement. »Sie würden an einer Therapie teilnehmen. Das könnte eine Win-win-Situation werden und Ihnen dabei helfen, Ihre Gefühle besser zu verstehen. Sie verfügen über einzelne Puzzlestücke Ihres Innenlebens. Und ich bin darin ausgebildet worden, Lebenspuzzles zusammenzusetzen.«

Das klingt so überheblich, dass ich eine Gänsehaut davon bekomme. Aber ich möchte ja gerade diesen Höllengefühlen gewachsen sein, die mich manchmal überwältigen.

»Ich weiß nicht …«, sage ich zögernd. »Müssen Sie dafür mein Gehirn röntgen?«

»Voraussichtlich ja«, sagt sie.

Das entscheidet die Sache.

Ich breite die Arme aus, um das Ende unserer Sitzung zu signalisieren.

Sie öffnet den Mund, um noch etwas zu sagen, ändert dann aber ihre Meinung und schließt ihn wieder.

Ich sehe sie ein letztes Mal durchdringend an und sage: »Schluss für heute!«

3

JULIA

Das Unwetter war weitergezogen, und der nächste Morgen legte sich mit einem blassen Licht über die Stadt.

Als Julia die Treppe zur Redaktion hochlief, überkam sie Panik. Diesen Job wirst du nicht für immer und ewig machen, wiederholte sie wie ein Mantra, und das hatte etwas Schmerzlinderndes. Sie war angetreten, um Erfahrungen in der Arbeitswelt zu sammeln. Danach wollte sie eine richtige Journalistin werden. Eine, die man auch auf Auslandseinsätze schicken würde.

Sie betrat die Redaktionsräume und setzte sich an ihren Schreibtisch, auf dem ihr Laptop und ein Kaffeebecher gerade so Platz hatten. Das Büro war winzig. Den Mitarbeitern standen nur minimale Arbeitsflächen zur Verfügung, und sie saßen dicht gedrängt. Die Fenster waren klein, es wurde schnell stickig. Abgesehen von den kleinen Schreibtischen der Angestellten bestand der Raum aus einem Konferenztisch, der kaum benutzt wurde, und dem gläsernen Büro der Chefredakteurin in der Ecke, das Julia immer an ein Aquarium erinnerte. Wahrscheinlich hatte Susanna es absichtlich so gestalten lassen, damit sie alle unter Kontrolle hielt. Julias Tisch stand unmittelbar vor der Glasscheibe. Sie sah Susanna an ihrem Tisch sitzen und meinte ein Lächeln auf ihren Lippen zu sehen.

»Julia, komm mal bitte zu mir«, rief sie.

Ausnahmsweise klang sie nicht angestrengt und genervt. Vielleicht, weil Julia ebenfalls ausnahmsweise mal nicht zu spät gekommen war. Susanna winkte sie so fröhlich und ausgelassen zu sich, dass Julia misstrauisch wurde.

»Ich brauche dich als Ratgeberin für den guten Geschmack«, sagte sie. »Du bist die Jüngste in der Redaktion und kennst dich gut aus. Ich möchte hören, was du von dem Artikel hältst, der in der nächsten Nummer erscheinen soll.«

Obwohl Julia die Ansage übertrieben fand, sagte sie nichts. Sie war misstrauisch. Diese 180-Grad-Wendung kam so unerwartet, und sie wusste, dass Lob meistens nur das Vorspiel von etwas sehr Unangenehmem war.

Susanna gab ihr fuchtelnd zu verstehen, dass sie sich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch setzen sollte.

»Ich will nicht verheimlichen, dass wir Leserinnen verloren haben. Deshalb haben wir eine Umfrage gemacht, um herauszufinden, wie wir die jungen Leserinnen gewinnen können«, erklärte sie. »Dabei hat sich herausgestellt: Viele finden, dass wir zu viel über Mode und Schminke im Heft haben. Sie wollen lieber mehr über Trends und Beziehungskram lesen. Und da wiederum viele von denen Single sind, haben wir uns überlegt, etwas in dieser Richtung zu machen.«

Susanna fuchtelte erneut mit den Händen und zeigte auf ihren gigantischen Monitor, auf dem der Artikel auf einer Doppelseite zu sehen war. Die Überschrift lautete: Hier ist der Mann, über den du schon immer alles wissen wolltest.

»Komm mal rum und sieh es dir an«, sagte sie. »Ich möchte dein Feedback dazu haben. Kritisiere alles daran. Sei ganz ehrlich.«

Julia stellte sich vor den Monitor und betrachtete die Doppelseite, die voller Fotos von Männern in Anzügen war. Bekannte Schauspieler, Finanztypen und Fernsehgrößen. Sie spürte den Blick ihrer Chefin, die versuchte, ihre Reaktion abzulesen. Julia runzelte die Stirn.

»Was ist los?«, fragte Susanna.

»Also, als Erstes, diese Überschrift geht gar nicht«, sagte Julia. »Die ist voll langweilig. Ich würde eher so was machen wie Die Geheimnisse der heißesten Singles. Und dann …«

»Findest du die Typen zu alt?«, unterbrach sie Susanna.

»Nein, überhaupt nicht«, sagte Julia und schluckte. »Das Alter spielt keine Rolle. Das Interesse der Frauen an ihnen endet nicht, nur weil sie grauhaarig und bucklig werden.«

Susanna lachte.

»Stört dich sonst noch was an dem Artikel?«, fragte sie.

»Ja, die Klamotten. Die sehen alle wie langweilige Schlipsträger aus, du weißt schon, wie in so einer Broschüre für Maklerbüros. Es wäre besser, wenn ihr Fotos von denen zuhause hättet, oder in einer Bar oder einem Club, Paparazzibilder oder sogar …«

»Na los, sag es!«, feuerte Susanna sie an.

»Es wäre cool, wenn ihr Aufnahmen finden würdet, auf denen einige von denen leicht bekleidet sind.«

Julia konnte selbst kaum fassen, dass sie das gerade gesagt hatte. Aber es war ihr nicht möglich, ihre Meinung zu diesem öden Artikel zu verschweigen. Der war so spießig und altbacken, passte aber ironischerweise zu ihrer eigenen Verfassung. Außerdem genoss sie das Gefühl, mit ihrer Chefin auf Augenhöhe zu sprechen.

Erstaunt nickte Susanna.

»Ich wusste, dass du mir eine echte Hilfe sein würdest. Und jetzt setzt du dich bitte hier hin und liest den Text durch.«

»Wohin? Auf deinen Stuhl?«

»Ja, wohin denn sonst? Ich schicke mal jemanden los, ich möchte einen Kaffee haben. Brauchst du auch was?«

Julia sah sie mit aufgerissenen Augen an.

»Dann nehme ich auch einen, danke.«

Der Text war, wie die Auswahl der Fotos, wenig inspirierend und vorhersehbar. Die Erkenntnis, dass Susanna doch nicht so klug war, hob ihre Laune ein bisschen.

Als Susanna sich neben Julia auf einen Stuhl fallen ließ, wurde sie von der Parfumwolke ihrer Chefin umhüllt. Susanna war knapp über vierzig und achtete sehr auf ihr Äußeres. Sie kleidete sich in einem leichten, jungenhaften Stil, trug die Haare kurz und hatte meistens Anzüge und dazu High Heels an, praktisch nie Kleider. Ihr einziger Schmuck bestand aus einer dünnen goldenen Halskette. Insgeheim hatte Julia von Anfang an vermutet, dass Susanna bemüht war, taff und maskulin zu wirken, um ihren Angestellten Respekt einzuflößen. Ihre Art, einen zu mustern, hinterließ das Gefühl, permanent geprüft zu werden und durchzufallen. Aber als sie so neben ihr saß, wirkte sie auf einmal verletzlich. Sie lächelte zwar, aber ihr Gesichtsausdruck verriet Verzweiflung. Also war ziemlich offensichtlich, dass es nicht gerade gut lief für MODA.

»Und, was sagst du?«, fragte Susanna.

»Man versteht nicht, worum es gehen soll. Warum veröffentlichen wir das? Der Text braucht einen Aufhänger. Ihr solltet mehr über das Privatleben der Typen schreiben, was sie gerne unternehmen, Details, die sonst niemand kennt. Und dann vielleicht auch mehr über ihre Fitness, wie sie in Form bleiben. Gesundheit ist doch in. Und warum sind das alles Heteros? Das vermittelt ein bisschen den Eindruck, dass wir homophob sind. Es wäre auch cool, wenn man ein paar O-Töne von ihnen bekommt.« Die Worte purzelten nur so aus ihr heraus. »Und dann könnt ihr längere Einzelinterviews in einer späteren Ausgabe veröffentlichen.«

»Sehr gute Ansätze«, sagte Susanna. »Und wie findest du die andere Seite?«

Julia sah sie fragend an.

»Es gibt noch eine Fortsetzung«, sagte ihre Chefin und tippte auf der Tastatur herum.

Eine neue Doppelseite tauchte auf. Die Überschrift hier lautete: Skandalumweht und geheimnisvoll – was machen sie heute? Drei Männer waren abgebildet, aber Julia sah nur den einen: Franz. Sein hypnotischer Blick war in die Kamera gerichtet, und es fühlte sich an, als würde er nur sie ansehen. Sie geriet in den freien Fall, ohne zu wissen, wann und wo er endete. Franz war da, in der Redaktion, aber da hatte er nichts verloren.

»Ich lese das in Ruhe durch, dann sage ich dir, was ich davon halte«, sagte sie fast mechanisch, ohne den Blick von seinem Foto zu nehmen.

»Kein Problem, lass dir Zeit.«

Julia las nur den Text über Franz. Dort stand, dass er vor einigen Jahren eine große Nummer im In- und Ausland gewesen ist. Aber dann sei herausgekommen, dass die Kinder in seiner hauseigenen Schule auf Dimö zu schwerer körperlicher Arbeit gezwungen und einer Gehirnwäsche unterzogen worden waren, damit sie den geistigen Lehren ihres Sektenführers folgten. Nach dem tragischen Unfall seines Sohnes aber verzichteten alle Eltern auf eine Anzeige. Vor dem Skandal hatten ihn viele einflussreiche Personen unterstützt, und in der großen Anhängerschar hatten sich auch jede Menge Promis getummelt. Verlässlichen Quellen zufolge hatte sich Franz Oswald von seinem Schlaganfall wieder erholt, wehrte aber jede Interviewanfrage ab.

Doch auch heute noch war die Legende des charismatischen Sektenführers lebendig. Julia wusste zwar über alles, was sie dort las, schon Bescheid, aber es bereitete ihr trotzdem großes Unbehagen. Nach dem Zwischenfall auf Dimö hatten die Medien ihren Namen zum Glück aus der Berichterstattung herausgehalten. Sie war noch so jung gewesen, das hatte sie vor anderem bewahrt. Es hatte nur geheißen, dass Franz ein junges Mädchen gerettet hatte, die von seinem anderen Sohn angegriffen worden war.

Aber warum weigerte sich Franz, ein Interview zu geben? Ihn hatte es doch immer ins Rampenlicht gezogen. Sie vermutete, dass er nur auf den richtigen Augenblick wartete. So wie beim letzten Mal, da hatte er sich jahrelang bedeckt gehalten und dann eine große Medienkampagne über sich und seine Sekte lanciert. Plötzlich tauchte ein Gedanke auf, der so gefährlich war, dass sie ihn sofort weit von sich wies. Aber er meldete sich hartnäckig immer wieder zu Wort. Wie bei der Kruste einer Wunde, an der man nicht kratzen soll, aber die Finger gehorchen einem nicht.

Was wäre denn schon dabei, sich mit Franz zu treffen?

Susanna räusperte sich, um Julias Aufmerksamkeit zu erregen.

»Findest du diesen Artikel auch so langweilig wie den anderen?«, fragte sie.

»Ja, schon. Stimmt es wirklich, dass so viele Leute ausgerechnet Franz Oswald interviewen wollen?«

Susanne sah sie vielsagend an.

»Natürlich. Was denkst du denn? Warum fragst du das?«

»Weil ich mir ziemlich sicher bin, dass er mir ein Interview geben würde.«

Sie erkannte ihre Stimme kaum wieder. Und die Worte klangen wie die einer anderen Person.

Susanna lachte verächtlich.

»Nein, Julia, das würde er niemals tun. Jetzt bist du ein bisschen naiv. Er hat sogar Sandra Malik eine Abfuhr gegeben. Und die hatten ja sogar mal eine Beziehung.«

Sandra Malik war eine bekannte Journalistin, die bevorzugt Prominente interviewte.

»Franz Oswald hatte nie eine Beziehung, mit niemandem«, antwortete Julia. »Er ist sein Leben lang Single gewesen.«

»Du scheinst ja eine Menge über ihn zu wissen«, sagte Susanna und grinste. »Findest du ihn scharf?«

»Nicht besonders. Aber woher kommt das Interesse an ihm?«

Susanna winkte Julias Frage weg, als hätte sie etwas unfassbar Albernes gesagt.

»Im Ernst jetzt? Wir reden von Franz Oswald. Er sieht hammergut aus. Und ist faszinierend. Außerdem war er in Schweden mal eine ganz große Nummer – und auch im Ausland. Um ihn ranken sich viele Mythen, wegen dieser Sekte, die er auf der Insel Dimö gegründet hat. Er ist geheimnisvoll, viele Frauen fühlen sich von diesem Typ von Mann angezogen, auch wenn sie das niemals zugeben würden. Hast du ihn mal in einem Fernsehinterview erlebt?«

»Ja, mehrmals«, sagte Julia und versuchte nonchalant zu klingen.

»Dann weißt du ja, wie charismatisch er ist. Und auch um seine sexuellen Präferenzen ranken sich einige Gerüchte.«

»Ach ja? Und was sind das für Gerüchte?«

»Lass mal, darüber reden wir ein anderes Mal.«

»Ich kann dafür sorgen, dass sich Franz auf ein Interview mit mir einlässt«, betonte Julia mit Nachdruck. »Ich wohne mit seinem Sohn zusammen.«

»Das wusste ich ja gar nicht«, sagte Susanna erstaunt. »Vielleicht kann ja eine von unseren Reporterinnen ihn interviewen. Ist er genauso spannend wie sein Vater?«

»Er ist überhaupt nicht wie sein Vater. Und er würde sich niemals auf ein Interview einlassen. Aber wie gesagt, Franz würde ich dazu bringen können.«

Susanna musterte sie eingehend.

»Gibt es etwas, was du mir … vielleicht lieber erzählen solltest, Julia?«

In den Zeitungen hatte vor allem ihre Mutter Sofia gestanden, nachdem ihr die Flucht aus der Sekte ViaTerra gelungen war. Also wäre es ein Leichtes herauszubekommen, dass sie ihre Tochter war. Aber würde man Julia auch mit Franz in Verbindung bringen können – und dann wissen, dass er sie in der schicksalsschweren Nacht vor zwei Jahren gerettet hatte?

Das Risiko war überschaubar.

»Meine Verbindung zu Franz ist sein Sohn«, sagte sie. »Wie viel würde euch so ein Interview denn wert sein?«

»Wir sollen dich dafür bezahlen? Was? Du bekommst doch schon Gehalt, Julia. Vergiss es. Es wird dir sowieso nicht gelingen.«

»Und wenn doch?«, insistierte Julia.

»Das würde unsere Zeitschrift an die erste Stelle katapultieren. Was willst du denn haben?«

»Ich möchte Artikel schreiben dürfen, und nicht nur dir und den anderen Kaffee holen. Ich will nicht für immer Assistentin bleiben.«

Susanna reagierte überrascht, aber nicht genervt. Noch nicht.

»Aber du bist doch erst seit … seit wann bist du bei uns? Seit zwei Monaten?«

»Ich möchte aber weiterkommen. Außerdem will ich bei den Reportagen dabei sein.«

»Dafür bist du aber noch nicht qualifiziert, Julia. Du hast weder eine Ausbildung als Journalistin noch Erfahrungen auf diesem Gebiet gesammelt.«

»Tatsächlich habe ich schon ein paar Artikel geschrieben.«

»Aha? Was denn, Tagebücher?«, fragte Susanna sarkastisch.

»Nein, Berichterstattungen, eine wurde sogar in der Zeitung Bohusläningen veröffentlicht. Soll ich sie mal mitbringen und dir zeigen?«

»Lieber nicht, Julia«, seufzte Susanne. »Im Moment braucht dich die Redaktion aber als Assistentin.«

»Ich bin sicher, dass sich Franz von mir interviewen lässt. Soll ich mal anfragen?«

»Meinetwegen, aber du wirst hundertprozentig abgewiesen werden. Sei nicht enttäuscht. Trotzdem, mir hat das Feedback zu den beiden Artikeln gut gefallen. Du bist echt schlauer, als ich dachte.«

Julia schluckte die Beleidigung hinunter. Den restlichen Tag verbrachte sie damit, sich das Interview und alles andere auszumalen. Sie würde nur eine Stunde mit ihm benötigen. Sie würde sich superprofessionell verhalten und Franz dazu bringen, ein bisschen von sich zu erzählen. Die Qualität konnte nicht schlechter werden als das Geschmiere, das sie auf Susannas Monitor gelesen hatte. Außerdem schuldete sie Franz noch Dank, weil er ihr das Leben gerettet und in der Folge zwei Jahre seines Lebens verloren hatte. Und seinen Sohn. Seitdem hatte sie ihn weder gesehen noch ein Wort mit ihm gewechselt. Und wenn das Interview gut lief, wäre das ein Sprungbrett für ihre Karriere.

Auf dem Nachhauseweg ließ sie sich Zeit, machte einen Abstecher über den Hauptboulevard der Stadt. Denn plötzlich hatte sich ein erster Zweifel gemeldet. War sie wirklich bereit, Franz zu treffen? Wie würde sie auf ihn reagieren? Vor ein paar Jahren noch hatte sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Aber seitdem war viel passiert, sie war reifer geworden und nicht mehr das naive Kindchen von damals. Trotzdem war es nicht immer einfach, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten.

Die Gebäude an der Straße türmten sich wie gewaltige Riesen vor dem abendlichen Himmel auf. Im nassen Asphalt spiegelten sich die Neontafeln und Schaufenster in grellen Farben. Sie blieb stehen und sah sich um. Die Straße war voller Menschen. Eine Menschentraube schob sich über eine Fußgängerampel, die mit ihrem roten Auge die Autofahrer böse anstarrte. Ein Pärchen mit Kinderwagen ging an ihr vorbei und fuhr ihr fast über die Füße. Weiter hinten schlurfte eine alte, vornübergebeugte Frau und stützte sich auf ihren Gehstock. Vor ihr trippelte ein kleiner Hund an der Leine. Die Geräusche der Stadt drangen erbarmungslos in Julias Ohren. Stimmen, Hundegebell, Hupen, Verkehr und der entfernte Klang von Geigenmusik. Eine Kakophonie von Lärm. Ich gehöre nicht hierher. Der Gedanke traf sie wie ein Peitschenschlag. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah in den Himmel, der hoch über ihr und der Stadt hing.

Und in diesem Moment traf sie eine Entscheidung.

Sie war geradezu erleichtert, als sie die hell erleuchtete Wohnung betrat. Die warme Luft strich ihr über die Beine, umarmte sie und schenkte ihr Ruhe.

Thor kam ihr im Flur entgegen. Er stand im Dunkeln, sie konnte seine Augen nicht sehen.

»Schön, dass du da bist«, sagte er. »Was ist denn jetzt schon wieder passiert?«

»Nichts.«

»Du wirkst so nervös.«

»Ich bin nur müde.«

»Warum bist du nervös?«

»Ach, bloß so Jobkram.«

»Ich habe festgestellt, dass du anfängst, deine Hände zu kneten, bevor du lügst.«

»Ich habe nicht vor zu lügen.«

»Dann erzähl mir, was passiert ist, Julia.«

»Kannst du mir die Nummer von der Klinik geben, in der dein Vater wohnt?«, fragte sie und versuchte, so gleichgültig wie möglich zu klingen.

Thor starrte sie abwartend an.

»Das ist ein Auftrag von der Redaktion«, fügte sie schnell hinzu. »Ich will ihn nicht privat treffen.« Sie spürte ein sanftes Kribbeln auf der Haut und schämte sich dafür. Thor konnte ihr Eifer nicht entgangen sein.

Er lehnte sich vor und gab ihr mit unerwarteter Zärtlichkeit einen Kuss auf die Stirn. Dann zuckte er wortlos mit den Schultern. Er hatte gewusst, dass es eines Tages so kommen würde – entweder weil Franz wie immer seinen Willen bekam oder weil ihre Augen es ihm schon früher verraten hatten.

4

FRANZ