Die Sekte - Dein Feind ist dir ganz nah - Mariette Lindstein - E-Book

Die Sekte - Dein Feind ist dir ganz nah E-Book

Mariette Lindstein

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Beschreibung

Ein neuer Kult erhebt sich, und nur einer kann ihn aufhalten ... Die Fortsetzung der Nr.-1-Bestsellerreihe aus Schweden!

Franz Oswald hat einst eine mächtige Sekte angeführt – und hat alles verloren: seine Anhänger, sein Herrenhaus, sogar seinen Sohn. Nach einem Schlaganfall ist der charismatische wie intrigante Oswald nicht mehr er selbst. Doch dann sucht ihn die Journalistin Julia auf. Ein Rechercheauftrag hat sie zu einem neuen Kult geführt: eine religiöse Bruderschaft, die mit höchst grausamen Methoden Frauen unterdrückt. Julia, deren Mutter als Anhängerin Oswalds Entsetzliches erlebt hat, will die neue Sekte stoppen. Doch um deren fürchterliche Machenschaften aufzudecken, braucht Julia jemanden, der versteht, wie eine Sekte denkt – und der genauso skrupellos ist wie sie: Franz Oswald. Aber kann Julia es wagen, in dessen Netz gezerrt zu werden? Der fünfte Teil der packenden Reihe »Die Sekte«!

Alle Bände der Bestsellerserie aus Schweden:
Die Sekte – Es gibt kein Entkommen
Die Sekte – Deine Angst ist erst der Anfang
Die Sekte – Dein Albtraum nimmt kein Ende
Die Sekte – Deine Welt steht in Flammen
Die Sekte – Dein Feind ist dir ganz nah
(Alle Bände sind unabhängig voneinander lesbar)

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Seitenzahl: 648

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Buch

Franz Oswald hat einst eine mächtige Sekte angeführt – und hat alles verloren: seine Anhänger, sein Herrenhaus, sogar seinen Sohn. Nach einem Schlaganfall ist der charismatische wie intrigante Oswald nicht mehr er selbst. Doch dann sucht ihn die Journalistin Julia auf. Ein Rechercheauftrag hat sie zu einem neuen Kult geführt: eine religiöse Bruderschaft, die mit höchst grausamen Methoden Frauen unterdrückt. Julia, deren Mutter als Anhängerin Oswalds Entsetzliches erlebt hat, will die neue Sekte stoppen. Doch um deren fürchterliche Machenschaften aufzudecken, braucht Julia jemanden, der versteht, wie eine Sekte denkt – und der genauso skrupellos ist wie sie: Franz Oswald. Aber kann Julia es wagen, in dessen Netz gezerrt zu werden?

Autorin

Mariette Lindstein war fünfundzwanzig Jahre lang Mitglied bei Scientology. Sie arbeitete unter anderem im Hauptquartier der Kirche in Los Angeles, bis sie die Gemeinschaft 2004 verließ. Heute ist sie mit dem Autor und Künstler Dan Koon verheiratet. Die beiden leben mit ihren drei Hunden in einem Wald außerhalb von Halmstad. »Die Sekte – Es gibt kein Entkommen« ist ihr erster Roman und wurde in Schweden mit dem Crimetime Specsavers Award für das beste Debüt ausgezeichnet und für den CWA Dagger Award 2019 nominiert. Aktuell wird ihre Reihe für das Fernsehen verfilmt. Neben dem Schreiben hält Mariette Vorträge über die Gefahren von Sekten.

Von Mariette Lindstein bereits erschienen

Die Sekte – Es gibt kein Entkommen

Die Sekte – Deine Angst ist erst der Anfang

Die Sekte – Dein Albtraum nimmt kein Ende

Die Sekte – Deine Welt steht in Flammen

Die Sekte – Dein Feind ist dir ganz nah

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MARIETTE LINDSTEIN

DIESEKTE

DEINFEINDISTDIRGANZNAH

THRILLER

Aus dem Schwedischen

von Kerstin Schöps

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel

»Striden om Dimön« bei HarperCollins Nordic AB, Stockholm.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © Mariette Lindstein 2020

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Blanvalet

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Joern Rauser

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotive: Miguel Sobreira/Arcangel Images;

Will Immink; www.buerosued.de

BL · Herstellung: sam

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-28485-5V002

www.blanvalet.de

Prolog

Dezember

FRANZ

Ich werde lügen.

Das ist kein leichtfertiger Entschluss, sondern ein verantwortungsbewusster. Die Vergewaltigung ist zwanzig Jahre her, das fühlt sich wie eine Ewigkeit an. Damals bin ich noch ein anderer Mensch gewesen. Wie kann man von mir erwarten, dass ich Rechenschaft für etwas ablege, das von jemandem verübt wurde, der mir so vollkommen fremd ist? Sofia hätte mich damals anzeigen sollen. Jetzt ist es zu spät. Ich habe weder Zeit noch Lust für eine Auseinandersetzung mit ihr. Ich bin den Menschen gegenüber verpflichtet, die sich auf mich als Anführer verlassen. Einer einzigen Person Genüge zu tun, wenn ich Millionen helfen kann, das wäre kurzsichtig. Diese Gedanken begleiten mich, während ich an dem Panoramafenster in meiner Wohnung in Göteborg stehe. Ich werde alles leugnen. Ich werde die Sache unter den Teppich kehren.

Es ist später Nachmittag an diesem düsteren Dezembertag, die Leute sind auf dem Nachhauseweg. Schon lange ist es dunkel. Die grellen Neonfarben in den Schaufenstern leuchten um die Wette. Die Lichterketten schaukeln im Wind. Die nassen Straßen glänzen nach heftigem Regen.

Das Display meines Handys leuchtet auf. Mein Anwalt Johan Ström ruft mich an.

»Ich habe gute und schlechte Neuigkeiten, Franz«, sagt er. »Aber hauptsächlich gute«, fügt er hinzu, weil er weiß, wie ich solche Floskeln hasse.

»Ja, schieß los«, sage ich wachsam.

»Du bist vorgeladen worden, allerdings ist das keine Überraschung. Aber der Leiter der Ermittlungen hat beschlossen, das Verhör erst nach Neujahr anzusetzen.«

»Sollen das die guten Nachrichten sein?«, frage ich skeptisch. »Ich erwarte, dass diese Angelegenheit so schnell wie möglich überstanden ist. Ich habe Pläne und ein Unternehmen auf Dimö, dem ohne meine Führung der Stillstand droht.«

»Da gibt es noch etwas anderes«, sagt Johan ein bisschen geheimnisvoll. »Aus verlässlichen Quellen habe ich erfahren, und das muss unbedingt unter uns bleiben, dass Sofia Baumann nicht aussagen wird, falls es zu einer Gerichtsverhandlung kommen sollte.«

Ich bin sprachlos.

»Hallo, Franz, bist du noch dran?«

»Ja, das muss ein Irrtum sein. Warum sollte sie keine Aussage machen?«

»Das weiß ich nicht. Vielleicht hatte sie keine Lust mehr auf diesen Kampf. Meine Quelle allerdings vermutet, dass es mit der Beziehung von Sofias Tochter und Ihrem Sohn zu tun hat. Ein Gerichtsverfahren wäre für die beiden ganz sicher aufreibend. Ich kenne ihre Absichten nicht, aber es ist auf jeden Fall zu unseren Gunsten.«

»Bist du dir da ganz sicher?« Ich kann es nicht fassen.

»Ja, meine Quelle ist verlässlich«, bestätigt Johan. »Vielleicht ist das auch der Grund für die Verschiebung des Verhörs. Ohne Sofias Zeugenaussage kann der Staatsanwalt nicht beweisen, dass ein Verbrechen stattgefunden hat. Es gibt weder Beweise noch Zeugen, und der angebliche sexuelle Übergriff hat vor zwanzig Jahren stattgefunden. Die Polizei wird kein Budget dafür freimachen. Verstehst du, was das für uns bedeutet?«

»Eigentlich nicht«, antworte ich. Mir ist schwindelig. Das hat mich ein bisschen kalt erwischt. »Wie verhalte ich mich bei der Vernehmung?«

»Du musst eigentlich gar nichts sagen. Bei einem polizeilichen Verhör kannst du nicht zu einer Aussage gezwungen werden. Aber du hast zu dem Termin zu erscheinen.«

»Dann setze ich mich da einfach hin und schweige?«

»Ganz genau. Ich spreche für dich. Ich werde anführen, dass du dich zu diesen absurden Beschuldigungen aus guten Gründen nicht äußern wirst. Du hast dich erst vor Kurzem von einem schweren Schlaganfall mit Lähmungserscheinungen erholt und bist noch immer in tiefer Trauer um den tragischen Verlust deines Sohnes. Das würde dich viel zu viel Kraft kosten und eine große psychische Belastung darstellen. Ganz einfach.«

Damit hat mir Johan die Lösung meines Dilemmas geschenkt.

Ich muss nicht lügen.

Ich muss mich nicht erniedrigen.

Ich kann schweigen und mein Leben so weiterführen wie bisher. Das richtige Leben. Und das sollte Sofia auch tun.

Nachdem wir das Telefonat beendet haben, bleibe ich ganz still am Fenster stehen. Es regnet. In diesem verdammten Göteborg regnet es immer. Im Haus gegenüber ist ein Zimmer erleuchtet. Ein Mann steht am Fenster, mit dem Rücken zu mir, er redet wild gestikulierend mit einer Frau. Die hat Lockenwickler im Haar. Benutzen Frauen das auch heute noch? In der Ecke des Zimmers steht ein trauriger, blinkender Weihnachtsbaum. Und im Fenster hängt ein billiger Adventsstern. Ob dieser Mann auch manchmal den Wunsch hat, sein bedeutungsloses Leben hinter sich zu lassen und noch einmal ganz von vorn anzufangen?

Ich drehe mich um und lasse den Blick durch meine Wohnung wandern. Mich bedrücken die großen, leeren Flächen. Die Schatten wirken lebendig, dieser Raum ist von alten Erinnerungen vergiftet – an den Menschen, der ich früher einmal gewesen bin. Bilder mit erotischen Motiven, eine Skulptur in Form eines Phallus. Was habe ich mir dabei nur gedacht? Ich sollte diese lächerliche Wohnung verkaufen.

Im Flur begegne ich meinem Spiegelbild. Es ist so verschwommen und kraftlos, wie ich mich in letzter Zeit fühle. Ein Schatten meiner selbst, der ich noch vor ein paar Wochen war. Die Erleichterung, die das Telefonat mit meinem Anwalt hätte auslösen können, will sich nicht so recht einstellen.

Hat Sofia wirklich die Streitaxt begraben? Warum verzichtet sie auf eine Aussage? Das wäre unglaublich. Ich muss sofort auch an Julia denken und frage mich, ob sie meine Sehnsucht nach ihr spüren kann. Wie in einem Reflex greife ich nach meinem Handy, um meinen unerträglich schwer erreichbaren Sohn Thor anzurufen. Er kennt als Einziger Julias Pläne und Vorhaben. Aber er wird trotzdem nicht mit mir sprechen wollen. Nach wie vor bin ich in Ungnade gefallen. Deshalb rufe ich meine treue Assistentin Elyssa an, die auch sofort an den Apparat geht.

»Ich komme morgen mit der ersten Fähre nach Hause«, verkünde ich.

»Für immer?«, fragt sie hoffnungsvoll.

»Davon gehe ich aus. Ich muss nur nach Neujahr noch einmal kurz aufs Festland.«

»Und ich dachte, du würdest in Kumla einfahren, Franz.«

Elyssas Galgenhumor ist eins der vielen Dinge, die ich an ihr schätze und liebe.

»Da kommen doch nur Schwerverbrecher hin, Elyssa, Sexualverbrecher landen in Skogome. Aber ich habe weder das eine noch das andere vor.«

»Bist du dir sicher, dass du keine Gefängnisstrafe bekommst?«

»Das geht die ganze Zeit so hin und her«, blaffe ich sie an. »Aber ich bin ziemlich überzeugt, dass nicht.«

»Das freut mich aber, Franz.«

»Holst du mich morgen ab?«

»Selbstverständlich.«

Wir verabschieden uns.

Im Spiegel sehe ich einen Mann, der einen unbeugsamen Überlebenswillen hat. Trotzdem bemerke ich etwas, was bisher noch nie zu sehen war – eine Spur von Sentimentalität. Ich spüre, wie der Kloß im Hals wächst. Für einen kurzen Moment bin ich mir fremd.

»Was willst du?«, flüstere ich meinem Spiegelbild zu. »Wer bist du?«

Die Erinnerung an meinen Schwächeanfall vor ein paar Wochen läuft mir wie geschmolzenes Eis den Rücken hinunter. Ich zittere am ganzen Körper, keuche. Ich nehme tiefe und lange Atemzüge, um wieder zu mir zu finden. Meistens gelingt mir das auch. Mittlerweile weiß ich ja, dass dieser Zustand nur temporär ist, die Nachwehen eines schweren Schlaganfalls. Aber das geht nun schon seit zwei Jahren so. Ich entscheide mich dafür, dieses kleine Problem zu bekämpfen, als wäre es mein größter Feind. Und vielleicht stimmt das sogar.

Endlich hebt sich der Schleier der Verletzlichkeit, und mein Blick erhält seine alte, zuverlässige Entschlossenheit zurück.

Meine Welt ist wieder so, wie sie sein sollte.

Plötzlich fühlt sich auch alles wieder echt an.

Ich stehe in der dunklen Wohnung, bin von den Schatten meiner Vergangenheit umgeben und sehe in eine strahlende Zukunft.

Veränderung liegt in der Luft.

1

April des folgenden Jahres

JULIA

Als sie aufwachte, wurde es gerade hell. Thors Bettseite war leer, und sie brauchte einen Augenblick, bis sie sich daran erinnerte, dass er nach Dimö gefahren war, um seine Familie zu besuchen. Sie hatte keine Zeit gehabt, ihn zu begleiten, ihr Job bei der Onlinezeitung MODA erforderte ihre Anwesenheit. Eine allgemeine Hysterie bezüglich der Frühlingsausgabe hatte sich ausgebreitet, und sie musste das Wochenende durcharbeiten.

Sie stand auf, ging in die Küche und schaltete ihre morgendliche Playlist an. Der Fußboden war kalt. Der Himmel wurde immer heller. Immerhin war es schon Frühling. Fast zumindest. Aber das konnte man mitten in der Großstadt gar nicht sehen. Dort war man gezwungen, tagein, tagaus auf die öden Häuserfassaden zu starren. Nur ab und zu zeigte sich ein schmaler hellblauer Streifen Himmel, wenn er nicht grau in grau aussah und eins wurde mit den Hochhäusern. Sie hörte die Geräusche der Stadt nicht mehr, den Verkehr, die Sirenen und den ununterbrochenen Lärm der Bauarbeiten.

Während der Kaffee durch die Maschine lief, steckte sie eine Scheibe Brot in den Toaster. Aber sie bekam keinen Bissen herunter, und auch der Kaffee schmeckte scheußlich. Dieser Tag fing also schon mal schrecklich an.

Sie ließ sich aufs Sofa im Wohnzimmer fallen, zog die Knie ans Kinn und schlang ihre Arme um die Schienbeine. Auf Dimö würde Thor seinen Vater wiedersehen, das erste Mal seit drei Monaten. Diese bevorstehende Begegnung schlug ihr aus einem unerfindlichen Grund auf den Magen.

Sie wollte nicht an Franz denken, trotzdem tat sie das immer wieder. Bei ihrer letzten Begegnung hatte er gestanden, ihre Mutter vor zwanzig Jahren vergewaltigt zu haben. Julia hatte einen Stuhl nach ihm geworfen und geschworen, dass er sie nie wiedersehen würde. Dieses Versprechen hatte sie bisher auch halten können. Die Ermittlungen in der Vergewaltigungssache waren wegen Mangels an Beweisen eingestellt worden. Franz hatte in der Vernehmung einfach die Aussage verweigert. Und Sofia hatte ihre Zeugenaussage zurückgezogen, weil sie Thor und Julia schonen wollte. Aber Julias Hass auf Franz war ungebrochen. Trotzdem hatte sie Sehnsucht nach Dimö. Sie liebte den Augenblick, wenn die Konturen der Insel aus dem Nebel traten und die funkelnde Bucht und die kleine Ortschaft auftauchten. Sie liebte die Bootshäuser, an denen die Farbe nach einem unermüdlichen Kampf gegen Wind und Salzwasser abblätterte. Sie liebte auch die schier unendlich weite Heidelandschaft, in der einem nachts nur die Sterne Gesellschaft leisteten und das Meer im Hintergrund ein glitzernder Silberstreif war.

Die Ereignisse auf der Insel standen in einem starken Kontrast zu ihrem jetzigen Leben in der Großstadt. Sie hatte sich den Winter über wie eine richtige Journalistin gefühlt, weil sie die einzige Vertreterin der Medien gewesen war, die Franz’ Experiment auf der Insel begleiten durfte. Ein Experiment an einer Handvoll Persönlichkeiten, die von der Gesellschaft verstoßen worden waren. Er hatte sie gezwungen, vollkommen irrwitzige Dinge zu veranstalten, und hatte das alles auch noch filmen lassen und innerhalb eines Blogs veröffentlicht. Am Ende hatte Franz allen die Show gestohlen und war wieder in aller Munde.

Aber da war noch etwas anderes gewesen, das sie nun beschwerte. Er hatte sich ihr anvertraut und von seiner schweren Kindheit erzählt. Dass sein Vater ihn als Dreijährigen misshandelt hatte und er sich an jedes Detail erinnere. Wie kann man jemanden hassen, der so etwas Schreckliches hat erleben müssen? Sie hatte ihn wirklich verstehen wollen, aber daraus wurde jetzt nichts. Vielleicht war das sogar besser so. Sich in der Nähe von Franz Oswald aufzuhalten war, als würde man auf einem Seil balancieren. Atemberaubend, aber auch schwindelerregend.

Monatelang hatte sich Thor ihr gegenüber loyal verhalten und seinen Vater nicht getroffen. Aber jetzt hatte er beschlossen, doch wieder Kontakt aufzunehmen. Julia konnte ihm das nicht vorwerfen. Die Tat lag zwanzig Jahre zurück, und Franz hatte sich nach seinem Schlaganfall sehr verändert. Außerdem hatte man in der Regel nur einen Vater. Julia liebte ihren über alles. Wenn Thor anfing, seinen Vater wieder regelmäßig zu sehen, würde das einiges schwieriger machen. Denn Julia musste ihm kategorisch aus dem Weg gehen. Sie wusste zwar, dass es richtig war, sich von ihm fernzuhalten, fand es aber ungerecht und nicht richtig, dass sie nicht wie eine ganz normale Familie zusammen sein konnten.

Den Rest des Tages verbrachte sie damit, den Artikel über den neuen Shootingstar fertigzuschreiben, der auch bei dem jährlichen Melodiefestival auftreten würde. Das Interview bestand aus typischen, oberflächlichen Standardfragen, die sie furchtbar fand. Obwohl ihre Chefin mit ihrer Arbeit zufrieden war, gefielen Julia ihre eigenen Artikel schon lange nicht mehr. Kein Vergleich zu der Zeit draußen auf Dimö, als ihre Finger nur so über die Tastatur geflogen waren und die Lippen gelächelt hatten.

Als sie hörte, wie die Wohnungstür geöffnet wurde und wieder ins Schloss fiel, hüpfte ihr Herz vor Freude. Thor legte seine Hände auf ihre Schultern und drückte seine Nase in ihr Haar. Dann küsste er sie auf die Wange.

»Arbeitest du noch?«, fragte er.

»Ja, aber das ist nichts Wichtiges.«

Sie stand auf und umarmte ihn. Sein Pullover roch nach Nadelwald und Meer. Dann schob sie ihn liebevoll von sich, um ihn besser sehen zu können. Seine Wangen waren zwar vom kühlen Frühlingswind ganz rosig, aber er sah müde aus. Als Kind hatte Thor kaum Ähnlichkeit mit seinem Vater gehabt – zart, rothaarig und sommersprossig. Er hatte jetzt zwar nach wie vor rote Haare, sonst aber fand Julia, dass sich Vater und Sohn immer ähnlicher wurden. Das breite Kreuz, die markante Kieferpartie, die hohen Wangenknochen, die gerade Nase und die Form der Lippen. Thor war eine mildere und weichere Kopie seines Vaters. Äußerlich jedenfalls. In ihrem Wesen aber waren sie vollkommen verschieden. Thor hatte nicht die Ausstrahlung und auch nicht die natürliche Autorität von Franz. Sein Charme bestand aus der Wärme, die er weitergab. »Ätherisch«, hatte ihn Julias Mutter genannt. »Wie eine niemals erlöschende Flamme.«

»Du duftest nach Dimö«, sagte Julia.

»Ich hatte den Pullover an, als wir bei Großmutter waren«, sagte er. »Sie lässt dich grüßen.«

»Wie geht es ihr?«

»Gut. Sie wünscht sich, dass wir sie besuchen kommen.«

Julia wich seinem Blick aus, um die Frage stellen zu können, die jetzt kommen musste.

»Und wie war euer Treffen?«

»Komm, lass uns uns hinsetzen«, sagte Thor.

»Warum? Ist etwas passiert?«

»Nein, oder doch. Ich möchte mich nur setzen, um in Ruhe mit dir sprechen zu können.«

Sie setzten sich auf ihr zerschlissenes Sofa im Wohnzimmer, in ihre Kuschelecke. Julia legte den Kopf an Thors Schulter und eine Hand auf seine Brust. Er wickelte ihre Haare um seine Finger.

»Warum antwortest du nicht?«, fragte sie. »Ihr habt euch doch getroffen, oder nicht?«

»Nur ganz flüchtig.«

»Hat er sich denn gefreut?«

»Ja, er hat sich sogar sehr über meinen Besuch gefreut.«

»Hast du ihn gefragt, warum er bei der Polizei gelogen hat, als sie ihn zu der Vergewaltigung vernommen haben?«

»Das auch. Seine Antwort darauf war, dass er nicht gelogen, sondern lediglich die Aussage verweigert hätte. Er wollte nicht wieder ins Gefängnis gehen. Mehr hatte er dazu nicht zu sagen.«

»Habt ihr noch über etwas anderes …?«

Sie wartete, dass er ihr das sagen würde, womit sie sich die ganze Zeit beschäftigte.

»Ja, Julia«, seufzte er. »Wir haben natürlich auch über dich gesprochen. Er hat nach dir gefragt. Was du machst, wie es dir geht und so.«

»Und was hast du gesagt?«

»Was wir besprochen hatten. Dass du ihn nie wiedersehen möchtest.«

»Und was hat er dazu gesagt?«

»Dass er deinen Wunsch respektiert, es ihn aber sehr traurig macht.«

Sie streckte sich, drückte sich gegen Thor, und dann entspannte sie sich wieder. In der Nachbarwohnung spielte jemand leise auf dem Klavier. Eine ungewohnte, angespannte Stille entstand. Thor sah sie mit einem Gesichtsausdruck an, den sie nicht leiden konnte.

»Gibt es etwas, was du mir verheimlichst?«, fragte sie.

Er löste sich aus der Berührung, stützte den Kopf in die Hände. Sie sah, dass sein Körper zitterte. Er weinte.

»Was ist denn los, Thor?«, fragte sie.

»Es ist … alles«, murmelte er mit belegter Stimme.

»Mein Herz, bitte sag es mir.«

»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Entschuldige, dass ich mich so komisch benehme.«

»Das macht überhaupt nichts. Erzähl, was passiert ist.«

»Mama und Simon bekommen ein Kind«, flüsterte er.

Elvira, Thors Mutter, hatte Thor und seinen Zwillingsbruder Vic mit fünfzehn Jahren bekommen. Sie war Mitglied in Franz’ Sekte ViaTerra gewesen und hatte dort die Kinder großgezogen. Eines Tages aber war sie geflohen und hatte die Kinder zurückgelassen. Das hatte Thor seiner Mutter nie verziehen. Mittlerweile leitete Elvira eine Pension auf Dimö, zusammen mit Simon, der ebenfalls ein Sektenaussteiger war. Dass die beiden ein Kind bekamen, schockierte Julia nicht so wie Thor. Elvira war schließlich erst fünfunddreißig.

»Vielleicht ist das eine ganz gute Idee, wenn die beiden ein Kind bekommen«, sagte sie vorsichtig.

Er hatte sich gegen die Rückenlehne gesetzt und die Augen geschlossen.

»Du verstehst das nicht«, sagte er wütend. Er spuckte die Worte förmlich aus. »Vic und ich, wir haben sie kein bisschen interessiert, als wir klein waren. Sie hat uns immer bei Großmutter und bei meinem Vater geparkt. Um dann später mit Simon abzuhauen und jahrelang unterzutauchen. Und jetzt redet sie davon, dass ich ein Geschwisterchen bekomme. Wie soll das mit zwanzig Jahren Altersunterschied gehen? Wie sieht das aus? Wird sie dadurch plötzlich zu einer besseren Mutter? Ich hatte keine Familie, als ich klein war. Und ich kann mich nicht für sie freuen.«

Julia nahm seine Hand und drückte sie.

»Ich verstehe, dass sich das komisch anfühlt. Aber vielleicht könntest du …«

»Lass mich bitte aussprechen«, sagte Thor feindselig und zog seine Hand weg. »Außerdem nervt mich das! Ich muss mich heimlich mit meinem Vater treffen. Ich fühle mich dir gegenüber schlecht, wenn ich bei ihm bin, und ich fühle mich ihm gegenüber schlecht, wenn ich den Kontakt zu ihm meide. Ich bin ein Verräter. Ganz gleich, was ich tue. Dabei will ich, seit ich ViaTerra verlassen habe, doch nichts anderes als ein ganz normales Leben führen. Ich möchte Dinge tun, die normale Menschen tun.«

Seine Worte trafen Julia wie Pfeile, deren Spitzen in Schuldgefühle getunkt wurden. Warum musste das alles so kompliziert sein? Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Thor ein ganz normales Leben führen konnte.

»Vielleicht solltest du dir dann eine Freundin suchen, deren Mutter nicht von deinem Vater vergewaltigt wurde«, sagte Julia in dem misslungenen Versuch, einen Witz zu machen. Denn er hatte den entgegengesetzten Effekt. Thor fing an zu schluchzen.

»Oh, das tut mir so leid, Thor«, sagte sie. »Ich hab das nicht so gemeint. Das war doof von mir. Bitte Thor, sei nicht traurig.«

Sie wollte ihn umarmen, wollte ihm ganz nahe sein, doch er wich vor ihr zurück. Sie ließ ihn in Ruhe, bis er sich etwas beruhigt hatte.

»Wird es immer so sein, Julia?«, fragte er. »Hast du dir darüber auch mal Gedanken gemacht?«

»Nein, ehrlich gesagt nicht.«

»Da ist noch etwas anderes«, sagte Thor. »Mein Vater hat vorgeschlagen, mit mir im Herbst in den Urlaub nach Frankreich zu fahren. Er hat dort lange gelebt. Wir sind noch nie irgendwo zusammen hingefahren, und ich habe Schweden auch noch nie verlassen. Aber als er mir das gesagt hat, ist etwas ganz Schreckliches passiert.«

»Was denn?«

»Ich habe geweint. Vor ihm. Ich stand in seinem Büro und habe geheult. Er kam und hat mich in den Arm genommen. Ich kann mich nicht erinnern, dass er mich jemals getröstet hat. Vielleicht, als ich noch sehr klein war. Und dann fing er auch an zu weinen. Das war so furchtbar peinlich und gleichzeitig so wunderschön.«

»Hat er wirklich geweint?«, fragte Julia.

Es fiel ihr schwer, sich das vorzustellen.

»Ja, ich habe ihn noch nie so gesehen. Noch niemals.«

»Und was ist dann passiert?«

Er zuckte traurig mit den Schultern.

»Wir haben uns die Tränen weggewischt, haben uns verabschiedet, und ich bin zur Fähre gegangen. Findest du, dass ich jetzt vollkommen gestört bin?«

Sie schmiegte sich in seine Arme, dieses Mal ließ er es zu.

»Nein, Thor. Du wünschst dir nur eine ganz normale Familie. Was kein Wunder ist, wenn man deine Geschichte kennt.«

»Aber dafür gibt es keine einfache Lösung, oder? Wenn wir beide nach Dimö fahren, wirst du ihm immer aus dem Weg gehen? Darf er denn dabei sein, wenn ich Abitur mache? Muss ich mich immer zwischen dir und ihm entscheiden? Was wird, wenn wir mal Kinder bekommen? Verbieten wir ihm dann auch den Kontakt zu seinen Enkelkindern?«

»Thor, darüber habe ich bisher noch nicht nachgedacht. Versuch dich bitte in meine Lage zu versetzen. Ich habe das, was er meiner Mutter angetan hat, noch nicht verarbeitet.«

»Ich auch nicht. Aber ich finde, dass wir beide die Leidtragenden sind. Reicht es denn nicht, dass Sofia aus Rache das Herrenhaus in Brand gesteckt hat? Mein Vater hätte in den Flammen umkommen können. Ich weiß, dass ich egoistisch klinge, aber ich ertrage diese Situation einfach … nicht mehr.«

»Meine Mutter hat bloß geschildert, was passiert ist«, sagte Julia. »Wir sollten ihr zuliebe aushalten können, die Wahrheit zu hören. Aber sie hat dir zuliebe darauf verzichtet, vor Gericht auszusagen.«

»Ich weiß«, sagte Thor und seufzte. »Mir wird ganz schwindelig davon, Richtiges von Falschem zu unterscheiden. Das Schlimmste aber ist, dass mein Vater nach wie vor eine unfassbare Macht über mich hat. Ich will ihn loswerden, gleichzeitig halte ich diesen Gedanken aber kaum aus. Es fühlt sich manchmal an, als würde ich in Stücke gerissen werden.«

»Wir schaffen das, versprochen«, sagte sie, obwohl sie sich da nicht mehr so sicher war.

»Nein, am besten reden wir einfach nie wieder darüber«, sagte er. »Das macht mich nur traurig. Ich muss es so akzeptieren, wie es ist. Ich werde niemals ein normales Leben haben. Ich bin ein verdammtes Sektenkind, und das werde ich auch immer bleiben.«

2

FRANZ

Die Demütigung nach Thors Besuch schwang noch lange in mir nach. Ob er mich jetzt verachtet? Ich konnte ihn nicht einfach stehen lassen, als er in Tränen ausbrach. Es fühlte sich vollkommen natürlich an, ihn in den Arm zu nehmen. Sein Geruch, der so rein ist und sich seit seiner Kindheit kaum verändert hat, hatte etwas Wohltuendes. In diesem Augenblick, als ich ihn in meinen Armen hielt – und er sich entspannte –, war alles gut. Und richtig. Bis mein Kinn plötzlich anfing zu zittern und mir die brennenden Tränen über die Wangen liefen. Mein Gesicht wurde heiß und rot vor Scham. Als Thor mein Büro verließ, entstand eine unsagbare Leere. Ich habe mich noch nie in meinem Leben so leer gefühlt. Ich lauschte der Stille, die immer größer wurde. Mich aushöhlte, erschöpfte. Und einsam macht, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf.

Bis vor ein paar Tagen hatte ich dieses Problem noch im Griff. Jetzt ist die Hölle über mir zusammengebrochen. Ich habe nicht vor, das länger als notwendig auszuhalten, und habe kurzerhand meine Psychologin Magdalena Grip herbestellt. Nicht, dass ich besonders große Hoffnungen habe, dass sie mir helfen kann, aber ich habe ein paar Fragen, auf die ich Antworten brauche.

Magdalena stöhnt und schwitzt, als sie mein Büro betritt. Es befindet sich im dritten Stock, und das Gebäude verfügt nicht über einen Fahrstuhl. Denn Fahrstühle sind verkleidete Mörder, die Herzinfarkte verursachen. Magdalena ist ein bisschen korpulent, was sie unter sehr weiten Walla-Walla-Kleidern verstecken will.

»Bitte, setzen Sie sich doch«, sage ich. »Vielen Dank, dass Sie den weiten Weg hierher auf sich genommen haben.«

»Kein Problem. Ich war neugierig, wollte mir Ihre Wirkungsstätte ansehen«, sagte sie zwischen keuchenden Atemzügen. »Und Ihre Angestellten sind alle hier oben untergebracht?«

»Ja, alle, die sich nicht um die Ländereien kümmern, arbeiten hier.«

»Wie lösen Sie das, wenn Sie jemanden mit Behinderung einstellen?«, fragt sie und sieht mich mit gerunzelter Stirn an.

»Ich stelle niemanden mit Behinderung ein.«

»Oh, das könnte man Ihnen aber als Diskriminierung auslegen. Was machen Sie denn mit Übergewichtigen, die Schwierigkeiten haben, die vielen Treppenstufen hochzusteigen?«

»Die stelle ich auch nicht ein. Aber Treppensteigen ist doch der geeignete Sport für Menschen, die an Übergewicht leiden«, erwidere ich und lächele sie herausfordernd an.

»Da haben Sie wohl recht, Franz«, sagt sie und lässt sich schnaufend auf meinen Besucherstuhl sinken. »Ich persönlich bevorzuge da allerdings humanere Alternativen.«

Ich habe absichtlich einen Stuhl gewählt, der besonders tief ist, damit sie zu mir aufschauen muss.

»Ich hoffe doch sehr, dass Sie nicht den weiten Weg zu mir auf sich genommen haben, um mir zu erzählen, wie ich mit meinem Personal umgehen soll?«

Amüsiert hebt sie eine Augenbraue.

»Nein, nein. Ich finde es nur immer wieder spannend, meine Klienten in ihrer natürlichen Umgebung, an ihrem Arbeitsplatz zu besuchen. Ich gehe davon aus, dass dieses wunderschöne Herrenhaus unter Denkmalschutz steht?«

»Nein, leider nicht. Das ursprüngliche Gebäude ist vor zwanzig Jahren abgebrannt. Aber ich behandele es wie ein Kulturerbe und betrachte es als meine Pflicht, es in seinem ursprünglichen Zustand zu bewahren. Deshalb gibt es auch keine Fahrstühle.«

»Verstehe«, sagt sie und verzieht den Mund.

Sie lässt ihren Blick über die kahlen Wände gleiten und wirkt nicht besonders beeindruckt. Aber dann bleibt sie bei einem Bild hängen. Es ist eine Zeichnung von der Felsenlandschaft in der Heide, eingehüllt in Schneerauch. Die hat Thor als kleiner Junge gezeichnet.

»Das ist aber ein schönes Bild«, sagt sie. »Wer hat das denn gezeichnet?«

»Mein Sohn Thor.«

Ich habe mich noch nicht ganz daran gewöhnt, dass es hier bei mir hängt. Manchmal löst es unangenehme Gefühle aus. Dann erfüllt es mich wieder mit großer Ruhe, manchmal sogar mit Stolz.

»Wollen wir uns jetzt meinem kleinen Problem widmen?«, frage ich.

»Ja, gern. Erzählen Sie mir doch bitte, wie es Ihnen geht«, sagt Magdalena mit ihrer vertrauenerweckenden Stimme und holt ihr Handy aus der Tasche. »Sind Sie damit einverstanden, wenn ich unser Gespräch für Ihre Akte aufzeichne?«

»Wenn es sein muss.«

Ich bin wachsam und misstrauisch.

Sie tut so, als würde sie meinen Zweifel nicht bemerken, und startet die Aufnahme.

Magdalena ist zusammen mit ein paar Kolleginnen an einer Studie beteiligt, die sich mit antisozialen Menschen beschäftigt. Obwohl allgemein bekannt ist, dass es nach einem Schlaganfall zu einer Persönlichkeitsänderung kommen und man unter Umständen auf ein größeres Gefühlsspektrum zurückgreifen kann, scheint das bei jemandem wie mir offenbar noch nicht festgestellt worden zu sein. Damit ist nämlich jemand gemeint, den man als Psychopathen, Narzissten und noch mit einer ganzen Menge anderer Begriffe beschimpft. Deshalb ist sie besonders daran interessiert, unser Gespräch aufzuzeichnen.

»Sie hatten am Telefon davon gesprochen, dass Sie sich unwohl gefühlt haben?«, sagt sie und fordert mich mit einem Nicken auf zu erzählen.

»Ich würde am liebsten keine Details nennen, aber DAS ist wieder passiert.«

DAS. Ein undefinierbares, allumfassendes neues Etwas, das Einzug in mein Leben gehalten hat. Wie sehr ich mich auch bemüht hatte, es zu verdrängen, mit seinen scharfen Krallen lauert es unter der Oberfläche. Manchmal ist es so schwach, dass ich es leicht ignorieren kann. Aber manchmal reißt es auch auf, wie eine nicht verheilte Wunde, und pumpt Sentimentalität in mein System. Mit wem kann ich darüber sprechen? Magdalena hat mir damit bisher nicht helfen können, Thor löst in mir sowieso die stärksten Reaktionen aus, und Julia darf ich nicht wiedersehen.

Also kann ich mit niemandem darüber sprechen.

»Können Sie das ein bisschen genauer beschreiben?«, bittet mich Magdalena.

»Es wird schlimmer, wenn ich mit Thor zusammen bin. Ich werde von Gefühlen überwältigt, die nicht Teil meiner eigentlichen Persönlichkeit sind. Als würden sie jemand anderem gehören. Ich will die einfach nur loswerden.«

»Was macht Sie so sicher, dass diese Gefühle nicht Ihre eigenen sind?«

»Ich bin so nicht.«

»Wie sind Sie nicht?«

»Ich weiß nicht …« Mir fällt es sogar schwer, das Wort auszusprechen. Weil es in keiner Weise mich als Person beschreibt. »Rührselig nennt man das wohl.«

Magdalena neigt ihren Kopf zur Seite und mustert mich ausgesprochen lange. Ihr Blick ist nicht abwertend, ihr Interesse strahlt unverhohlen aus ihren Augen. Sie ist von meinem kleinen Dilemma fasziniert.

»Haben Sie schon einmal erwogen, ob das, was Sie da fühlen, Empathie sein könnte, Mitgefühl?«, fragt sie schließlich. »Oder vielleicht sogar Liebe?«

»Fühlt sich das denn unangenehm an?«

»Liebe kann weh tun. Wen man liebt, den kann man auch verlieren.«

»Aber ich kann das nicht kontrollieren. So soll es doch wohl nicht sein? Ich muss bald an einer Fernsehsendung teilnehmen. Stellen Sie sich das doch mal in einer Liveschalte vor.«

Meine Stimme bricht, aber ich verberge es mit einem Räuspern.

»Sie wären nicht der Erste, der in einer Fernsehsendung emotional wird«, sagt sie mit weicher Stimme. »Dafür muss man sich nicht schämen.«

»Das wäre wahnsinnig demütigend.«

»Darf ich Ihnen etwas erzählen, Franz?« Sie senkt die Stimme, will mir Vertrauen einflößen. »Vielleicht kann Ihnen das eine neue Perspektive darauf geben.«

»Ja, natürlich«, sage ich und unterdrücke ein Gähnen. Mich langweilt unsere Unterhaltung schon jetzt. Ganz offensichtlich ist sie nicht mit der Absicht gekommen, mir zu helfen.

»Wir haben eine neue Studie mit Probanden durchgeführt, die antisoziales Verhalten zeigen. Und die Ergebnisse sind geradezu revolutionär.«

»Sie können ruhig Psychopathen sagen, ich nehme Ihnen das nicht übel.«

»Aber psychopathisches Verhalten ist weder eine Krankheit noch eine psychiatrische Diagnose, es geht lediglich um ein abweichendes und nicht-soziales Verhalten. Ich habe Ihnen doch ausführlich erklärt, dass ich den Terminus Psychopath in unseren Sitzungen nicht verwenden will.«

»Warum sind Sie daran so interessiert?«

»Weil es ein universelles und vor allem akutes Problem ist«, sagt sie ernst. »Viele antisoziale Menschen sind meistens auch kriminell. Ihre Rückfälle in die Kriminalität kosten unsere Gesellschaft viel Geld. Die einzigen Maßnahmen, die bisher ergriffen werden, sehen vor, dass man sie wegsperrt. Aber das ist auf lange Sicht keine Lösung.«

Jetzt verstehe ich. Wenn Magdalena und ihre Kolleginnen ein Heilmittel für Psychopathen finden würden, könnten sie damit steinreich werden. In dieser Welt dreht sich alles immer nur ums Geld. Das ist einfach widerlich.

»Sie wollen die also heilen?«, frage ich.

»Heilen ist in diesem Zusammenhang der falsche Ausdruck, da es sich ja nicht um eine Krankheit handelt. Ich würde eher behandeln sagen. Das wurde lange als ein Ding der Unmöglichkeit angesehen, aber wir haben jetzt – wie gesagt – neue, spannende Entdeckungen gemacht.«

»Erzählen Sie«, sage ich und bin auf einmal Feuer und Flamme. Diese Informationen könnten für mich eines Tages von großem Wert sein.

»Das Forschungsprojekt untersuchte Personen, die eine verminderte Aktivität in den Hirnregionen zeigen, in denen die Empathie lokalisiert wird. Ihnen wurden Filme gezeigt, in denen Menschen sowohl berührenden als auch qualvollen Situationen ausgesetzt waren.«

»Haben Sie diese Experimente in Gefängnissen durchgeführt?«, unterbreche ich sie.

»Nicht ausschließlich. Und das ist für die Auswertung auch nicht von Bedeutung.«

»Mir gefällt nicht, dass Sie mich mit diesen Kriminellen vergleichen, Magdalena«, sage ich mit einer so scharfen Stimme, dass man damit Stahl schneiden könnte. »Widerspricht das nicht dem ethischen Kode der Psychologie?«

Ihr Blick zeigt Erstaunen.

»Aber … ich vergleiche Sie doch nicht. Ich wollte Ihnen nur von den Ergebnissen erzählen.«

Ich seufze, innerlich. Diese Psychologen überschreiten permanent irgendwelche Grenzen. Aber ihr Tonfall klingt so aufrichtig, dass ich beschließe, ihr zuzuhören. Sie lehnt sich etwas vor.

»Die Probanden wurden aufgefordert, einen Knopf zu betätigen, wenn sie von einer Szene emotional angesprochen waren. Am Anfang gab es keine messbaren Reaktionen in den besagten Hirnarealen. Aber je häufiger sie die Filme sahen, desto messbarer nahm diese Aktivität zu und war am Ende sogar fast so ausgeprägt wie bei einer normalen Person. Das ist revolutionär, weil es darauf hindeutet, dass es eine Art Empathieknopf gibt, den man durch Training aktivieren kann. Was wiederum bedeutet, dass man Empathievermögen erwerben und trainieren kann.«

»Ich verstehe nur nicht ganz, wie das auf mich übertragen werden kann?«

»Viele der Probanden beschrieben mit Fortschreiten des Experiments eine große Erleichterung und erzählten, dass die Beziehungen zu ihren Angehörigen sich wesentlich verbesserten.«

»Das haben die doch nur gesagt, damit sie früher aus dem Gefängnis entlassen werden.«

Magdalena gelingt es nicht, ein Lächeln zu unterdrücken.

»Das glaube ich nicht. Worauf ich hinauswill, ist, dass Sie Ihr Anliegen vielleicht gar nicht als ein Problem betrachten müssen. In Ihrem Gehirn ist ein Areal aktiviert worden, was andere als ein Geschenk betrachten würden. Und wir haben mit unserem Experiment versucht, etwas Ähnliches bei den Probanden zu bewirken.«

»Ich kann Ihnen versichern, dass es überhaupt kein Geschenk ist«, sage ich aufgebracht. »Es ist unangenehm und schrecklich peinlich.«

»Oder ist es einfach bloß neu und ungewohnt für Sie?«

Sie hält inne, sieht mich eindringlich an, als würde sie am liebsten in mein Gehirn kriechen.

»Haben Sie denn eine Erklärung dafür, dass es ganz von allein passiert? Was steckt dahinter?«

Sie zögert mit ihrer Antwort.

»Das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Es könnte Ihr verborgenes emotionales Gedächtnis sein, das durch den Schlaganfall an die Oberfläche gekommen ist. Wir könnten versuchen, es mithilfe einer Therapie herauszufinden. Das könnte Ihnen auch dabei helfen, diese Gefühle besser zu beherrschen und mit ihnen umzugehen. Oder Sie akzeptieren sie ganz einfach.«

»Ich werde sie also nicht loswerden?«

»Ich bin mir nicht so sicher, ob es wirklich das ist, was Sie wollen.«

»Ich verfüge über ein eidetisches Gedächtnis, Magdalena.« Das macht mich wütend. »Da gibt es nichts Verborgenes.«

»Auch Menschen mit einem hervorragenden Erinnerungsvermögen können Dinge erlebt haben, die ihr Gehirn verdrängt hat. Vielleicht erinnert Sie Thor an etwas aus Ihrer Vergangenheit.«

»Ich bezweifle trotzdem, dass mir eine Therapie helfen würde.«

Magdalenas Blick wird ganz weich und milde.

»Warum haben Sie bloß eine so große Angst vor einer Therapie, Franz?«

»Das habe ich überhaupt nicht.«

Sie lehnt sich zurück, gegen die Stuhllehne.

»Wissen Sie, was ich glaube?«, sagt sie leise.

»Nein.«

»Dass Sie eine panische Angst davor haben, die Kontrolle zu verlieren. Sie halten Ihre eigenen Zügel ganz kurz, um sich zu schützen. Weil Sie nicht darauf vertrauen, dass Ihnen jemand hilft, denn das ist Ihnen selbst nicht gelungen. Ich unterliege der Schweigepflicht, und ich werde Sie für das, was Sie sagen, weder verurteilen noch bestrafen.«

Obwohl ihre Worte mir weh tun, verziehe ich keine Miene. Es stimmt, dass ich mich seit Kindesbeinen an um mich selbst kümmern musste. Und das habe ich sehr gut gemeistert. Aber gegen dieses Problem bin ich machtlos. Ich starre auf einen Baum vor dem Fenster, bis meine Augen nicht mehr brennen.

»Wir werden niemals herausfinden, ob es funktioniert, wenn wir es nicht ausprobieren«, sagt Magdalena.

»Ich werde darüber nachdenken«, verspreche ich.

Einen kurzen, fahrlässigen Augenblick lang bin ich versucht, ihr von meinen Qualen zu erzählen, die ich im Keller dieses Gebäudes erlitten habe. Es kann keine Erinnerungen geben, die schrecklicher sind als das, was mir damals angetan wurde. Aber eine Therapie? Nein, allein der Gedanke daran, Magdalena von meiner Kindheit zu erzählen, löst großes Unbehagen in mir aus. Deshalb sage ich dazu nichts mehr.

Und dennoch ist unser Gespräch von unschätzbarem Wert für mich. Denn ich habe eine Erkenntnis gewonnen.

Wenn es einen Knopf gibt, mit dem man Gefühle aktivieren kann, dann muss es doch auch einen geben, mit dem man sie wieder ausschalten kann.

Es gibt also einen Knopf.

Ich muss ihn nur finden.

3

JULIA

An dem Tag nach Thors Gefühlsausbruch hatte sich Julia krankgemeldet, obwohl sie kein bisschen krank war. Sie hatte schon seit Langem vor, mit ihrer Mutter unter vier Augen zu sprechen. Und jetzt wusste sie, dass sie es Thor zuliebe nicht länger aufschieben konnte. Also rief sie Sofia an und bat sie, erst später zur Arbeit zu fahren. Dann fuhr sie mit Thors Auto nach Henån raus.

Es war ein kalter, wolkenverhangener Frühlingstag. Der Himmel konnte sich nicht entscheiden, ob er der Sonne oder dem Regen den Vorrang geben wollte. Als sie vor ihrem Elternhaus parkte und ausstieg, schlug ihr ein eisiger Wind entgegen. Trotzdem sah sie zum See hinunter, in dem sie schwimmen gelernt hatte. Ihr Vater hatte es ihr beigebracht und sie im Wasser gehalten, bis er sie schließlich losließ und sie von ganz allein schwebte. Das Glücksgefühl konnte sie noch heute spüren. Der See war ihr Lieblingsort, sie sprang so oft es ging ins Wasser, bis spät in den Herbst hinein und manchmal sogar im Winter. Wenn sie traurig war, fand sie dort Trost. Es hatte etwas Beruhigendes, wenn sich das Schilf im Wind bog, wenn jeder Halm der Bewegung des anderen folgte. »Das Schilf tanzt«, hatte sie als Kind dazu gesagt. So hatte es für sie ausgesehen, das Schilf tanzte im Wasser, und das war dunkelblau, fast schwarz.

Eine Haarsträhne peitschte ihr ins Gesicht, sie fröstelte, zog den Kragen ihrer viel zu dünnen Jacke bis zum Kinn hoch und rannte ins Haus. Sofia war in der Küche und wartete schon auf sie. Der Tisch war gedeckt, Sofia hatte alles hingestellt, was Julia gern frühstückte. Selbstgebackenes Brot, Aufschnitt, Rohkost und Orangensaft. Sie aßen schweigend. Sofia sah ungewöhnlich erschöpft aus. Sie war blass, ihr Blick müde, und sie machte den Eindruck, als würde sie sich über etwas Gedanken machen.

»Mama, was ist los? Hast du Sorgen? Ist etwas passiert?«

»Wir haben einen Aussteiger mit einer sehr unangenehmen Familie. Es gab schon Drohungen und Belästigungen. Aber das ist nichts, was ich nicht schon früher erlebt habe.«

Sofia hatte eine Einrichtung für Sektenaussteiger gegründet und war dabei hart im Nehmen. Trotzdem geschah es selten, dass sie ihre Arbeit mit nach Hause nahm. Aber dieser Fall schien sie doch mehr mitzunehmen als sonst.

»Was ist das für eine Sekte?«, fragte Julia.

Sofia verzog das Gesicht.

»Die nennen sich Bibelgemeinschaft. Vollkommen verrückt! Nein, ich will nicht darüber sprechen. Heute soll es nur um dich gehen. Worüber wolltest du mit mir reden? Etwas Ernstes?«

»Ach, eigentlich nicht.« Julia zögerte. »Obwohl, ein bisschen ernst ist es schon.«

Sofias Ausdruck veränderte sich schlagartig. Ein Schatten huschte ihr übers Gesicht, das Lächeln wirkte gezwungener.

»Bist du schwanger?«

Julia lachte und winkte ab.

»Nein, Mama, natürlich nicht.«

Sofia atmete erleichtert auf.

»Aber es geht um Thor«, sagte Julia.

Sofia hörte ihr aufmerksam zu, als sie von Thors Fahrt nach Dimö erzählte und wie er sich nach seiner Rückkehr verhalten hatte.

»Ich weiß nicht, wie wir das lösen können«, sagte Julia, nachdem alles gesagt war. »Mir tut Thor schrecklich leid, aber ich weiß auch nicht, wie wir das in Zukunft handhaben sollen.«

Sofia nickte nachdenklich.

»Mir war nicht klar, dass Thor so sehr an Franz hängt.«

»Wirklich nicht? Als Kind hat er seinen Vater vergöttert. In den Wochen, bevor wir von der Vergewaltigung erfahren haben, hatten sich die beiden richtig angenähert. Und als sie sich gestern gesehen haben, hat Franz vor ihm geweint. Kannst du dir vorstellen, wie es Thor damit geht?«

»Das schon – was ich mir allerdings nicht vorstellen kann, ist, dass Franz weint«, sagte Sofia nüchtern.

»Thor hat geackert wie ein Irrer, um sein Abitur zu machen, und er wird einen Hammerdurchschnitt schaffen. Und jetzt soll er sich entscheiden, ob ich oder sein Vater zur Zeugnisverleihung kommen soll. Warum ist das immer alles so kompliziert?«

Sofia seufzte und zog die Schultern hoch, bis zu den Ohren.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Aber eins weiß ich ganz sicher. Wir können nicht auf alle Meinungen und Konventionen Rücksicht nehmen, wie man sich angeblich in einer solchen Situation zu verhalten hat. Wir müssen eine Lösung finden, die alle Beteiligten mittragen können. Diese Lösung kenne ich aber leider nicht. Würdest du gern mit Franz Kontakt haben?«

»Nein, am liebsten nicht. Seit ich weiß, was er dir angetan hat, würde ich nur wahnsinnig wütend auf ihn werden. Mama, ich weiß, dass du nicht über die Vergewaltigung sprechen willst, aber kannst du mir sagen, warum er es getan hat? Was ist damals passiert?«

Sofia presste die Zähne aufeinander, ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen.

»Das war eine sadistische Demonstration von Macht«, sagte sie verächtlich. »Er hatte Macht über mich, und das wollte er mir zeigen. Zumindest habe ich das so erlebt. Ich habe mich nicht gefügt, deshalb hat er mir das denkbar Schlimmste angetan, um mich zu erniedrigen. Ich hatte jahrelang Albträume davon. Und meine Brandstiftung hat mir bei der Verarbeitung auch nicht wirklich geholfen. Hass und Scham sind eine ungute Kombination.«

»Du Arme. Ich will Franz hassen. Aber als er uns unten im Keller erzählt hat, was sein Vater ihm als Kind angetan hat, hatte ich doch großes Mitleid mit ihm.«

»Was er als Kind erleiden musste, ist ganz fürchterlich«, sagte Sofia. »Aber findest du es nicht auch unangemessen, diese Geschichte einer Neunzehnjährigen anzuvertrauen? Er sollte sich lieber professionelle Hilfe holen.«

»Es ist doch nichts Falsches daran, über seine Vergangenheit zu sprechen?« Julia sah sie irritiert an. »Die Leute reden alle nur über oberflächliches Zeug. Mit Franz war das immer ganz anders. Ich fühlte mich jedes Mal richtig und okay, wenn ich mit ihm zusammen war. Bis ich von der Vergewaltigung erfahren habe.«

»Der Franz von früher war überhaupt nicht okay. Er konnte nett und freundlich sein, solange man ihn nicht irgendwie anzweifelte oder Sachen von ihm forderte. Das Gefühl von Geborgenheit und Akzeptanz, das er ausstrahlte, war trügerisch. Im Grunde seines Wesens ist er exzentrisch, fordernd und tyrannisch.«

»Aber wir sind uns doch einig, dass er sich nach dem Schlaganfall verändert hat, oder?«, sagte Julia.

Sofia sah aus dem Küchenfenster. Der Wind fegte kleine Äste über den Rasen.

»Ja, das sind wir. Allerdings frage ich mich manchmal, ob ihn diese Veränderungen nicht noch viel gefährlicher gemacht haben.«

»Wie meinst du das?«

Sofias Blick verdunkelte sich.

»Als ich damals für ihn gearbeitet habe, konnte ich leichter voraussehen, wie er reagieren würde. Das geht jetzt nicht mehr. Mir fällt es schwer, jemandem zu vertrauen, der so manipulativ ist.«

»Du hast natürlich recht«, sagte Julia. »Ich rede nochmal mit Thor darüber. Vielleicht ist es möglich, mit Franz in einem Raum zu sein, wenn wir nicht miteinander sprechen.«

Sofia wedelte abfällig mit der Hand.

»Die Wahrscheinlichkeit, dass er dir kein Gespräch aufzwingt, wenn ihr zusammen in einem Raum seid, geht gegen null. Aber versuch, mit Thor zusammen eine Lösung zu finden.«

»Da ist noch etwas, über das ich schon lange mit dir reden wollte«, sagte Julia und schob ihren Teller von sich. »Können wir ins Wohnzimmer gehen?«

»Klar. Ich mach uns frischen Kaffee.«

Julia ging vor und setzte sich aufs Sofa. Denzel, der Hund der Familie, trottete ihr hinterher, sprang aufs Sofa und legte sich auf ihre Beine. Er war ein Terrier, sehr alt, und schlief die meiste Zeit.

Sofia setzte sich zu ihr, griff nach ihrer Hand. Schweigend saßen sie nebeneinander.

»Ich habe schon hundert Mal versucht, dich über deine Zeit in der Sekte auszufragen. Aber du machst immer sofort dicht. Oder du erzählst jedes Mal dieselben Geschichten, wie schlimm es war und so – aber dann erwähnst du auch ein paar coole Sachen. Und am Ende sagst du jedes Mal, dass Franz ein Psychopath ist. Das Komische ist dabei, dass deine und Papas Version fast identisch sind. Als hättet ihr euch auf eine Story geeinigt, die ihr mir erzählen wollt. Und vor allem auf das, was ihr nicht erzählen wollt. Und es fühlt sich so an …«

»Wie fühlt es sich an?«

»Als würdet ihr mir etwas verheimlichen.«

Sofia schweifte mit ihren Gedanken ab, dann runzelte sie die Stirn. Julia hatte diesen Gesichtsausdruck schon so oft gesehen – jedes Mal, wenn sie was über die Sekte erfahren wollte.

»Ich möchte, dass du ehrlich zu mir bist, Mama«, sagte Julia sehr ernst. »Ich will die Wahrheit erfahren.«

»Das ist auch dein gutes Recht«, sagte Sofia und seufzte. »Es war … es war auch nur ein Verdacht, der sich als falsch herausstellte und heute keinen Einfluss mehr auf unser Leben hat. Deshalb ist es nicht wichtig.«

Julia zog sich der Magen zusammen.

»Was für ein Verdacht?«

Sofia schwieg, jetzt wirkte sie wie versteinert.

»Na ja, nach der Vergewaltigung wussten wir nicht … wir wussten nicht, ob Franz oder Benjamin dein Vater ist. Aber jetzt wissen wir es, du bist Papas Kind.«

Vor drei Jahren hatte Thor seine Memoiren geschrieben und ihr geschickt. Das war lange, bevor sie ein Paar wurden, aber sie hatte sie als eine Art Liebeserklärung gelesen. Sie erinnerte sich jetzt, dass Thor Franz’ Verdacht angedeutet hatte, ob Julia nicht doch sein Kind sein könnte. Es waren nur ein paar Zeilen gewesen, und Thor hatte es auch später wieder zurückgenommen. Warum hatte sie damals ihre Eltern nicht gleich dazu befragt? Vielleicht weil direkt im Anschluss so viele schockierende Ereignisse aufeinandergefolgt waren. Vic war gestorben. Franz hatte den Schlaganfall gehabt, und mitten in diesem Chaos kam auch noch raus, dass ihr Vater ihre Mutter betrogen hatte. Plötzlich stand alles kopf, und sie hatte es schlichtweg vergessen zu fragen. Naiv, wie sie damals gewesen war, hatte sie gedacht, dass Franz und ihre Mutter eine kurze Affäre gehabt hatten. Aber so war es nicht, das wusste sie mittlerweile. Franz hatte Sofia vor fast zwanzig Jahren vergewaltigt, und sie selbst war jetzt neunzehn. Alles passte zusammen.

»Aber habt ihr nicht sofort testen lassen, dass ich von Papa bin?«, fragte Julia.

»Nein, das haben wir nicht. Bitte, lass es mich erklären, bevor du dich aufregst.«

»Mama! Wie lange habt ihr gewartet, bis ihr untersucht habt, wessen Kind ich bin?«

Es wurde ganz still. Man konnte das Knacken der Heizkörper hören, so still war es.

»Wir … also, genau genommen haben wir das gar nicht untersucht. Franz hat ein paar Haare von dir genommen und einen DNA-Test machen lassen. Dann hat er uns das Ergebnis geschickt.«

Sofia bekam nervöse Flecken am Hals. Julia spürte, wie die Wut in ihr hochstieg. Ihr wurde plötzlich ganz schlecht.

»Warte, warte«, sagte sie. »Wie lange wusstet ihr nicht, von wem ich bin?«

Sofia senkte den Kopf, sah auf ihre Hände.

»Du warst sechzehn, als wir die Antwort bekamen. Franz hatte erfahren, dass es dich gibt und sich ausgerechnet, dass er der Vater sein könnte. Er hatte uns zu sich auf die Insel gelockt und die vier Worte gesagt, die meine Welt in sich zusammenstürzen ließen: Ist sie von mir? Er verlangte, dass wir einen DNA-Test machen, und fragte uns nach dir aus. Als wir uns weigerten, den Test zu machen, hat er die Sache selbst in die Hand genommen. Das war, noch bevor er anfing, hinter unserem Rücken mit dir zu flirten. Wir hatten keine Ahnung, was er vorhatte.«

Julia spürte, wie sehr sich ihre Mutter beherrschte, aber die Worte purzelten ihr viel zu schnell aus dem Mund. Sie sah ihr in die Augen. Sechzehn Jahre?

»Ihr wusstet es sechzehn Jahre lang nicht? Das ist doch verrückt, Mama. Lügst du mich an?«

»Nein, Julia. Warum sollte ich dich anlügen? Franz hat uns das Testergebnis mit der Post zugeschickt. Danach haben wir zur Sicherheit noch einen eigenen gemacht. Du bist Benjamins Tochter. Es war ein Verdacht, und den gibt es nun nicht mehr. Deshalb ist er nicht mehr wichtig.«

»Habt ihr denn nicht gefunden, dass ich ein Recht auf die Wahrheit habe?«

»Wir wollten die Wahrheit nicht erfahren. Was wäre denn gewesen, wenn sich herausgestellt hätte, dass Franz dein biologischer Vater ist? Ich hätte mir nichts Schlimmeres vorstellen können, als mir mit ihm das Sorgerecht zu teilen. Wir wollten auch dich davor schützen.«

Julia wurde ganz schwindelig vor Wut.

»Ich muss los«, sagte sie und sprang auf.

»Aber warum? Ich habe doch jetzt die Wahrheit gesagt, ich dachte …« Sofias Stimme zitterte.

»Was dachtest du denn? Dass es mir Spaß macht, dir die Sachen aus der Nase zu ziehen? Du hast mir nicht von der Vergewaltigung erzählt und bist dir sechzehn Jahre lang nicht sicher gewesen, wer mein Vater ist und hattest auch nie vor, das herauszubekommen. Ach ja, eins habe ich noch vergessen. Du bist eine Brandstifterin. Was hast du mir noch verheimlicht?«

»Nichts, mein Liebling, ich versprech es dir«, sagte Sofia mit erstickender Stimme.

»Ich muss das erst einmal sacken lassen. Ich melde mich.«

»Geh bitte nicht.«

»Doch, ich muss in Ruhe nachdenken können.«

»Was habe ich falsch gemacht?«, fragte Sofia verzweifelt.

Die Antwort kannten sie beide.

»Weißt du, was das Schlimmste ist? Dass ihr euch das Recht herausgenommen habt, mir nicht zu sagen, wer mein biologischer Vater ist.«

»Er war ein Monster«, sagte Sofia leise und sah ihre Tochter flehend an.

»Das bist du auch«, sagte Julia und stürmte aus dem Haus und zum Auto.

Sie kam nicht weit, ein paar Meter vielleicht, dann bereute sie ihr Verhalten sofort wieder. Sie hielt den Wagen an und beugte sich übers Lenkrad. Die Wut flaute langsam ab.

Jahrelang hatte sie das Gefühl gehabt, dass ihre Eltern ihr etwas verheimlichen. Wären sie von Anfang an ehrlich gewesen, hätte sie sich niemals auf Franz eingelassen, Thor kennengelernt und wäre nicht Teil dieses Wahnsinns geworden. Wie würde ihr Leben dann heute aussehen? Würde ihr das überhaupt besser gefallen? Warum war das alles nur so schrecklich kompliziert?

Sie suchte nach einem Grund, Franz die ganze Schuld zu geben. Das würde sich besser anfühlen, als ihren Eltern Vorwürfe zu machen. Er hatte ihre Mutter vergewaltigt, von dieser Schuld würde sie ihn auch niemals freisprechen. Das warf sie ihm jeden Tag vor. In Gedanken ging sie das Gespräch mit ihrer Mutter durch. Franz hatte sich also mit ihrer Mutter in Verbindung gesetzt und sich nach Julia erkundigt, was nicht weiter ungewöhnlich war. Dann hatte er hinter dem Rücken ihrer Eltern einen DNA-Test gemacht, aber die hatten sich ja auch geweigert, einen machen zu lassen. Das alles hatte sich ereignet – lange, bevor er angefangen hatte, sie zu umwerben. Er hatte ihr davon zwar auch nichts erzählt, aber das wäre schließlich Aufgabe ihrer Eltern gewesen. Wie sie es auch drehte und wendete, sie fand keine Entschuldigung für das Verhalten ihrer Eltern, ihr etwas so Wichtiges vorzuenthalten. Nachdem ihre Wut verklungen war, rief sie ihre Mutter an. Die Erleichterung in Sofias Stimme war nicht zu überhören.

»Entschuldige, Mama. Natürlich bist du kein Monster, aber ich muss in Ruhe über alles nachdenken.«

»Natürlich, mein Herz. Wir lieben dich über alles und wollten immer nur das Beste für dich.«

»Du hörst dich schon an wie Papa. Ich muss aber sagen, dass ihr beide das sehr gut gemacht habt, mich hinters Licht zu führen. Warum habt ihr bloß nie etwas gesagt?«

»Ich weiß das auch nicht. Ich weiß es wirklich nicht.«

»Schämst du dich, Mama? Schämst du dich dafür, dass du Mitglied in einer Sekte warst? Schämst du dich dafür, dass du vergewaltigt wurdest?«

»Nein, das tue ich nicht, schon gar nicht für das Letztere. Aber ich hatte den Wunsch, dass du ein normales Leben führen kannst und mich nicht für durchgeknallt hältst.«

Julia verstand die Beweggründe ihrer Mutter, aber sie fühlte sich dennoch ungerecht behandelt.

»Ich war nicht so unschuldig, wie es vielleicht den Anschein hat«, sagte Sofia. »Ich habe in der Zeit als Sektenmitglied Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin. Und zwar ganz ohne Franz’ Zutun. Und die Brandstiftung war auch eine schlimme Sache. Ich wollte dich mit dieser Seite von mir nicht konfrontieren. Ich wollte mich einfach von meinen Schuldgefühlen befreien, einmal tief durchatmen und dir dann alles aus einem neuen Blickwinkel erzählen.«

»Das hat ja großartig funktioniert.«

»Das können wir doch noch klären. Komm mal mit Thor am Wochenende zu uns, dann reden wir in Ruhe und mit Papa zusammen über alles.«

»Mal sehen. Ich melde mich. Ich liebe euch. Sehr.«

Danach blieb Julia noch eine Weile im Auto sitzen und dachte über das Gespräch mit ihrer Mutter nach.

Sie betrachtete ihre Eltern jetzt mit ganz anderen Augen. Vor allem ging es um Schuldgefühle. Wie es aussah, gruben sich die wirklich tief ins Unterbewusstsein und verbargen sich in der hintersten Ecke der Seele. Sie wünschte, dass sie das alles früher erfahren hätte. Eins hatte sie aus der Sache aber schon gelernt. Wenn man von Sofia eine ehrliche Antwort hören wollte, musste man die richtigen Fragen stellen.

4

SOFIA

Meine Hand, die das Telefon hält, baumelt an meinem Oberschenkel. Im Küchenfenster begegnet mir mein farbloses Spiegelbild, ein gespenstisches Gesicht. Der Blick auf den Rasen vor dem Haus, auf die Bäume und ein Stück See verschwimmt. Ich blinzele die Tränen weg. Die Sonne schiebt sich für einen kurzen Moment hinter tiefroten Wolken hervor, lässt die Wipfel der Fichten leuchten und färbt den See orange.

Aber die Dunkelheit im Haus bedrückt mich. Der zarte Duft von Julias Parfum hängt noch in der Luft. Ich bin so froh, dass sie nach ihrem wütenden Abgang wieder angerufen und mir gesagt hat, dass sie mich lieb hat. Und ich bin erleichtert, dass ich ihr endlich die Wahrheit gesagt habe. Aber ich spüre noch das Nachbeben unserer Auseinandersetzung.

Alles, was ich getan habe, habe ich immer für Julia getan. Ich wollte nur ihr Bestes.

Sie war vom ersten Tag an anders, etwas Besonderes. Ihre Augen. So grün wie meine, aber ihr Blick hatte dieselbe Intensität wie seiner. Sie hatte seine langen Wimpern und beobachtete ihre Umgebung wachsam und unter halbgeschlossenen Lidern hervor. Manchmal habe ich ihn in ihren Augen gesehen.

Sie war von allen Lebewesen fasziniert, hatte kein Interesse an Puppen, weil die tot aussahen. Stattdessen verbrachte sie ihre Zeit mit Meerschweinchen, Hamstern und Kaninchen, mit denen sie tiefschürfende Gespräche führte. »Ich versuche zu verstehen, warum sie auf bestimmte Dinge reagieren, Mama.«

Von der Gefahr fühlte sie sich angezogen wie eine Motte vom Licht. Sie liebte die unheimlichsten Märchen, die fürchterlichsten Horrorfilme und die wildesten Fahrgeschäfte im Vergnügungspark Liseberg in Göteborg.

Ich kann kaum beschreiben, was ich alles in Julia habe sehen können. Sie ließ ganze Universen in ihrer Fantasie entstehen, die zum Teil wirklich wurden. Sie sprudelte über vor Leben und zeichnete das Leben in den aufregendsten Farben.

Ich bekam eine Gänsehaut, wenn sie altklug und frühreif genannt wurde. Ihre Grundschullehrerin sagte erstaunt: »Julia ist den anderen weit voraus. Wie eine Siebenjährige, die bald dreißig wird.«

Als sie zwölf wurde, erzählte sie mit sonderbar sachlicher Stimme, ihre Mitschüler würden sie mobben.

»Die finden mich merkwürdig, weil ich groß bin und schon Busen habe.«

Ich war außer mir und kurz davor, ins Auto zu springen, zum Schuldirektor zu fahren und dem die Hölle heißzumachen. Aber Julia wollte meine Hilfe gar nicht.

»Ich hänge einfach mit den älteren Typen ab. Die sind viel reifer.«

»Aber Julia …«, wagte ich mich vorsichtig vor. »Warum willst du keine Freundinnen in deinem Alter haben?«

Sie grinste mich fast süffisant an.

»Das würdest du sowieso nicht verstehen.«

»Versuch doch, es mir zu erklären.«

Ihr Blick wirkte kühl, konzentriert.

»Ich fühle mich einfach schon viel älter als sie.«

Bald darauf fing es an, dass sie sich zu älteren Männern hingezogen fühlte. Und ich hatte eine panische Angst, dass mit ihr etwas nicht stimmt und ich das niemals wiedergutmachen konnte.

Sie hatte so viele seiner Charakterzüge. Die Ausstrahlung, die Impulsivität, eine außergewöhnlich hohe Intelligenz. Ich liebte sie nicht weniger, nur weil sie ihm ähnelte. Aber ich war besessen davon, sie zu beschützen. Wenn ich sie nur genug liebte, würde ich seinen Genen keine Chance lassen. Und wenn ich mir, was selten vorkam, ein ganz normales Kind wünschte, schämte ich mich danach.

Kurz bevor wir mit Sicherheit wussten, dass sie Benjamins Tochter war, sah er mich verblüfft an.

»Du bist ganz offensichtlich nicht in der Lage, dich mit den Augen eines anderen zu sehen. Julia ist zu einhundert Prozent Sofia Bauman.«

Mir war schleierhaft, wie er so etwas sagen konnte. Er war doch der Einzige, der die Unwucht, die Zerbrechlichkeit meiner Liebe zu Julia kannte.

Als wir das Ergebnis des DNA-Tests bekamen, war ich nicht so erleichtert, wie ich es erwartet hatte. Weil es mich überraschte. Ich war mir so sicher gewesen. Benjamin gegenüber ließ ich mir nichts anmerken, schließlich liebten wir sie, wie sie war. Ganz unabhängig davon, wer ihr leiblicher Vater war. Ich habe mir große Mühe gegeben, nüchtern und möglichst unaufgeregt damit umzugehen. Aber kurz darauf habe ich meine Mutter angerufen.

»Wie bin ich eigentlich als Kind gewesen?«, fragte ich sie.

»Wie soll ich dich beschreiben, meine Liebe«, sagte sie nachdenklich. »Den anderen immer ein Stück voraus, zu schlau, um wahr zu sein, was nicht immer nur zu deinem Besten war. Du wolltest die Antworten auf alle Fragen des Universums bekommen, und zwar alle auf einmal. Ehrlich gesagt, ein bisschen wie Julia.«

Mich überkam eine tiefe Wehmut. Sie hatte die Farbe eines wolkenverhangenen Himmels, roch nach Nostalgie und nach etwas schon lange Verlorenem. Erst da wurde mir bewusst, dass ich meine Besessenheit von Franz auf mein armes Kind projiziert hatte.

Und was habe ich davon? Jedes Mal, wenn ich bemerke, wie fasziniert sie von ihm ist, versetzt es mir einen Stich. Als hätte ich wegen meiner Gedanken eine solche Strafe verdient.

Ich kann sie vor allem Bösen in dieser Welt retten und beschützen. Aber gegen die Faszination, die alles Verbotene und Gefährliche auslöst, bin ich machtlos. Einhundert Prozent Sofia Bauman.

Ich löse mich vom Fenster und auch von meinem trostlosen Spiegelbild, dann räume ich planlos den Frühstückstisch ab. Meine Augen brennen. Julia hat ihren eigenen Kopf, hört meinen mahnenden Worten nur mit einem halben Ohr zu. Aber sie wird immer mein geliebtes kleines Mädchen sein.

5

FRANZ

Ich sitze in dem fensterlosen Aufenthaltsraum im Fernsehstudio. Mir gegenüber hat eine ältere Frau Platz genommen, in der Hand hält sie einen Pappbecher. Ihr Blick ist auffallend misstrauisch. Wahrscheinlich ist sie für die nachfolgende Sendung vorgesehen, aber ich kenne sie nicht. Ich schenke ihr ein Lächeln, das sie nicht erwidert.

Dieser Auftritt heute ist seit Jahren mein erster öffentlicher im Fernsehen. Aber ich bin nicht nervös. Ich bin da routiniert, stehe gern im Rampenlicht. Sandra Malik, die Moderatorin, die mich interviewen wird, wird keinen unkontrollierten Gefühlsausbruch in mir auslösen. Sie ist an den Skandalen interessiert, die meine Person umranken, und nicht an meiner Psyche. Ich trage ein weißes Hemd mit offenem Kragen, dazu ein hellgraues Jackett. Außerdem habe ich mich – dem Anlass entsprechend – ausnahmsweise frisch rasiert. Die Visagistin ist mit mir fertig, und in wenigen Minuten gehen wir auf Sendung. Mein Auftritt hier gehört zu meinem Plan, mich an die treuen Anhänger zu wenden.

Ich überbrücke die Wartezeit und rufe Thor an.

»Was ist los, Vater?«, flüstert er kaum hörbar.

»Ich bin gleich im Frühstücksfernsehen. Wach auf! Es würde mir viel bedeuten, wenn du dir die Sendung ansiehst.«

»Ich bin in der Schule«, sagt er mit gedämpfter Stimme. »Ich seh es mir heute Abend in der Mediathek an, okay?«

Noch besser. Bei sich zuhause. Zusammen mit Julia.

»Aber du wirst nicht über mich reden, oder?«, fragt er nervös.

»Nein, keine Sorge. Ich beantworte nur Fragen, sollte ich welche bekommen.«

»Bitte versuch, mich da rauszuhalten.«