Der Kürbismann - Patrik Bruna - E-Book

Der Kürbismann E-Book

Patrik Bruna

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Beschreibung

Im fiktiven Ort Jevenrode werden jährlich die Festlichkeiten rund um Halloween ausgelassen zelebriert. In diesem Jahr jedoch verwandelt sich das Dorf, das bislang nur eine Halloweenkulisse darstellte, zu einem wahrhaftig grauenvollen Ort voller Angst und Schrecken. Kann der Mann, der dies verursacht, gestoppt werden? Der Kurzroman streckt sich dabei über die vier Tage der Halloweenfeier bis zu Allerseeligen und erzählt, wie aus einem eigentlich so harmlosen Zelebrieren des Halloweentages wahrer Horror entstehen kann. Horror, Spannung, Blut, Humor, Gore und Kürbisse dürfen dabei natürlich nicht fehlen...

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Seitenzahl: 163

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Der Kürbismann: Eine Halloweengeschichte

Texte: © Copyright by Patrik BrunaUmschlaggestaltung: © Copyright by Patrik Bruna

Verlag:Patrik BrunaMasch 7a38154 Königslutter am [email protected]

Vertrieb: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Für Essie

Halloween: Die Nacht des Schreckens

Es jährt sich die Nacht

voller Dunkel und Schrecken,

Wenn Angst und Macht

sich nicht einander verstecken.

Zwischen Schlaf und Wach

verlieren wir uns in der Nacht.

als wandelnde Tote, Vampire,

Werwölfe, Geister und unmenschliche Tiere

werden um die Häuser ziehen

in dieser Nacht an Halloween.

Mit dem Erlöschen des letzten Lichts

verschwindet aber unsere Sehnsucht nicht.

Teil I: Kürbis Kral oder

Am Vorabend vor Halloween

When the seasons change, we are not the same /

We put on strange names and head to the graves

In keinem anderen Ort freute man sich mehr auf die Festlichkeiten und Gebräuche von Halloween als in Jevenrode, einem abgelegenen Dorf im Norden Deutschlands. Matthias Langer hat maßgeblich, eigentlich im Alleingang, dazu beigetragen, dass sich die Einwohner der Achthundertseelengemeinde schon Wochen zuvor dem amerikanisierten Festtag entgegensehnten, der das Dorf für wenige Tage in eine Besuchermetropole und Horrorstadt verwandelte. Erneut sollte sich dieses Jahr zutragen, was sich zum fünften Mal seit 2018 jährte: Jevenrode gelangte in die überregionalen Tageszeitungen und deren Onlineausgaben; nur war dieses Mal der Anlass ein gänzlich verschiedener.

Ѽ

Mit einem Maßband in der einen Hand und einer Schaufel in der anderen ging Matthias Langer seinen Garten entlang. Heute würde es endlich geschehen. In seinen Gedankenworten schwang weit mehr mit als nur ein lang erwachsener und niemals vergessener Wunsch. Es gesellten sich zu diesem Schweiß, Ausdauer, Verlangen und natürlich ebenso eine gesunde Portion Glück im Fällen von kleineren sowie größeren Entscheidungen hinzu. Offenbar zahlte sich dies alles aus. Der aus seinem wohlgepflegten Garten entsprungene Kürbis umfasste gut fünf Meter und knapp siebenhundert Kilogramm. Das Messen stellte sich als eine kleine Herausforderung dar, erst recht die Schätzung des Gewichts. Aber es war nicht sein erster Kürbis, der Ausmaße sprengte und für Aufsehen in Jevenrode und Umgebung sorgen sollte.

Wenn ihm bei der seiner Tätigkeit der Ausdruck Garten in den Sinn kam, mit welchem er sein hinteres Hausgrundstück bewusst von seinem anliegenden Ackerland zu begrenzen suchte, fühlte er sich manchmal nicht als der Landwirt, für den er gehalten wurde, vielleicht durch sein eigen verschuldetes Image gehalten werden sollte. Dennoch war er hier ganz anders als auf der landwirtschaftlich genutzten Fläche im Traktor und seiner ausgeblichenen Arbeitsbekleidung, wenn er Fläche für Fläche mähte, aufwirbelte, säte und schließlich erntete. In seinem Garten – er trug eine saubere Jeans, ein blauweißkariertes Hemd und teure Gartenhandschuhe – ging er nämlich mehr als nur einem Beruf oder gar einer Berufung nach; in seinem Land verfolgte er eine Passion, die ihn zu einer regionalen Berühmtheit machte und von welcher er bereits als Junge träumte: Langer züchtete seit Kindestagen Riesengemüse.

Während er den Weg um den exorbitanten Kürbis für seinen Minibagger freilegte – anders könnte er diesen Riesen niemals fortbewegen können –, lief eine Erinnerung in seinem Inneren ab. Wie oft hatte er diese Bilder schon gesehen? Wie häufig noch wollten sie ihn zurückführen zum Damaligen? Er fuhr als Vierjähriger auf dem Schoße seines Vaters im alten Fendt Favorit-Traktor mit, der hinter sich den Acker aufgrub und für die nächste Aussaat vorbereitete, als sich Gerit Moser mit seinem silbernen Golf 1 G60 dem Feld näherte und mehrfach hupend zum Erliegen kam. Er stieg mit strahlendem Lächeln aus seinem Wagen und winkte Matthias und seinem Vater Franz fröhlich zu sich. Dann wandte er sich wieder seinem Fahrzeug zu, klappte den Fahrersitz nach vorne und griff auf die Hinterbank. Als Vater und Sohn am Ende einer Bahn anhielten und dem Gast entgegentraten, hielt dieser ihnen eine überdimensionale Gurke entgegen. Sie füllte den Zwischenraum seiner weit gespreizter Arme und war dicker als ebenjene. Langer erstarrte in diesem Moment, als Faszination Kontrolle über ihn erlangte. Er vernahm kein Wort in seinem hypnotischen Zustand, hätte sich ansonsten einige schmutzige Witze und noch schmutzigere Kommentare über Gurken anhören müssen, die er gewiss ohnehin nicht verstanden hätte. Aber dieser Anblick der überdimensionalen Gurke entfache einen Wunsch in ihm, den er vierzig Jahre später immer noch spüren konnte.

Lächelnd von seinem Verweilen in der Vergangenheit blickte er auf das orangerote Ungetüm, dass sich vor ihm ausbreitete: Du kommst heute auf die Waage, freute sich der Landwirt. So ausgesprochen, würden seine Worte gewiss unspektakulär ertönen. Das würde man natürlich genauso für seine Tätigkeit annehmen. Wenn man allerdings sähe, mit welchem frenetischen Jubel Tomate für Tomate, Wassermelone für Wassermelone und schließlich in der Königsdisziplin Kürbis für Kürbis gemessen und verglichen würden, nähme man diese voreilige Annahme bereitwillig zurück. Aber selbstredend ist dies alles schwer vorzustellen, wenn man nicht selbst bei so einem Wettbewerb anwesend ist, wie Matthias bestens zu berichten wusste. Denn es war im Grunde genommen Zufall, dass er jemals an solch einem Contest teilnehmen wollte. Nun galt er aber als gesetzter Teilnehmer, der als Kürbis Kral Jahr für Jahr als Sieger hervorging.

Er wandte sich von seiner Zucht ab und kehrte wenig später mit seinem Bagger zurück, der vorne eine Gabel mit einer verkleinerten Europalette mit sich führte. Diese legte er ab und grub die langen Stahlpfeiler unter den Kürbis. Langsam und mit größter Vorsicht hob er das schwere Gemüse, das alsbald auf der Palette landete und mit Seilen befestigt wurde. Anschließend gelangte die Gabel erneut in die Europalette, die wiederum samt der wertvollen Fracht auf seinen Amarok geladen wurde. Normalerweise machte Langer keinen Aufriss um solch einen Arbeitsvorgang, der zu seinem täglich Brot gehörte. Unmittelbar aber vor dem Wettbewerb, bei welchem ebenjener Kürbiskoloss das Aushängeschild und gewiss Titelaspirant war, erging es ihm ganz anders. Hätte er sich währenddessen nicht mit seiner Zunge über die Lippen geleckt, würde ihm der Schweiß auf seinem Haupt nicht auffallen, so konzentriert bediente er seine Maschine und ließ seinen Blick nicht vom Kürbis ab. Als es allerdings geschafft war und die Ladefläche seines Pickups geschlossen, atmete er dankbar und erleichtert auf.

Er schaute sich sein Gefährt und sein Zuchtergebnis von Weitem an und prüfte dabei auch seinen Fahrzeugaufkleber: Matthias Langer als Comicfigur mit übergroßen Armen – hier wurde deutlich übertrieben – und flachem Bauch – hier wiederum untertrieben – hielt über seinem grinsenden Kopf seinen gigantischen Kürbis. Seitlich davon las man Kürbis Kral. Warum ausgerechnet Flammen um den Schriftzug versehen waren, wusste nicht Matthias und wohl erst recht nicht der Gestalter, aber es gefiel dem Landwirt dennoch. Auf seinem Smartphone öffnete er Instagram, schoss ein Foto und lud es mit einem verheißungsvollen Text hoch: Kürbis Koloss und Kürbis Kral machen sich auf dem Weg zum Sieg beim heutigen Messwettbewerb vom Riesengemüse in Jevenrode. Sei auch Du dabei! Ich freue mich auf Euch alle und habe eine große Überraschung dabei… Kürbis- und weitere Gemüse-Emojis fügte er an seinen Schriftzug und setzte den Beitrag ab.

Der Amarok hatte er für den Verladevorgang hinter dem Haus neben seinem Gartenschuppen geparkt. Obwohl sein großes Grundstück samt Ackerland weitab vom Schuss war und seine Nachbarn gut zweihundert Meter entfernt lebten, wollte er nicht riskieren, dass irgendjemand – außer seinen Followern auf den diversen social media-Plattformen – bereits den Kürbis erhaschen konnten.

Er öffnete die Beifahrertür und brachte aus der Garage eine Kiste mit vierundzwanzig orangenen Glasflaschen. Kürbisbier. Auf dem Kronkorken war sein Alter Ego abgebildet. Er nahm sich eine Flasche aus der Kiste, prüfte, ob alle Aufkleber sauber gedruckt und gut angebracht waren und stellte das Getränk mit einer noch größeren Zufriedenheit zurück. Das war sein genialer Einfall, der ihm noch mehr Ruhm und sicherlich gutes Geld bringen würde. Eintausend Flaschen mit seinem Bier – einem Unikat – hatte er bereits zum örtlichen Rewe geliefert. Spätestens nach seinem heutigen Triumph würden alle Flaschen verkauft und eine Nachfrage entstehen, die er zukünftig gut würde decken können. Er, der Lokalheld, der dann nicht nur einmal im Jahr, sondern durchgehend präsent im Ort wäre. Verdammt, es war ein so guter Tag heute.

Weitere Bierkisten landeten im Pickup, die als kleine Werbegeschenke beim Wettbewerb verteilt würden. Jetzt würde sich Langer selbst gerne eine der Flaschen aufmachen, aber er wusste, dass er sich noch etwas gedulden musste. Er schloss sein Fahrzeug und blickte nochmals auf den herrlichen Anblick seines Gefährts und der kostbaren Ladung. Dafür stand Matthias manchmal noch früher auf, als er es eigentlich müsste und investierte den Großteil dessen, was die allermeisten als Freizeit bezeichneten.

Er hatte nun noch einige Stunden zu überbrücken, bis spätnachmittags die Teilnehmenden und Gäste zum Dorfplatze Jevenrodes kämen. Gerüchten zufolge wäre heute sogar ein Fernsehteam vom NDR anwesend, um über das Geschehen zu berichten – und wahrscheinlich auch über den Sieger: Matthias Langer. Mit diesem Gedanken ging er in sein Haus zurück, um sich für das Publikum – und womöglich Fernsehteam – zurechtzumachen.

Während er sein Spiegelbild beobachtete, wie es Haargel in sein akkurat geschnittenes und dichtes Haar schmierte und mit einem Kamm schräg nach hinten formte, konnte Matthias eigentlich gar nicht glauben, wie gut alles in seinem Leben lief. Sogar sein Haar gehorchte ihm und machte ihn keinen Tag älter, sondern im Gegenteil jünger. Er schien das Glück gepachtet, vielleicht ja sogar ganz erworben zu haben. Denn es reichte keineswegs für alle in Jevenrode. Er hörte die Stimme seines Vaters sagen, dass jeder seines Glückes Schmied sei, aber Langer glaubte dies nicht. Er war überzeugt, dass man Glück nicht wie ein Metall schmieden oder herbeirufen konnte. Und erst recht konnte man Glück nicht stehlen oder es erzwingen, wie er nun verächtlich dachte und dabei Markus Freising vor sich sah.

Natürlich hatte Freising neidvoll auf Matthias geblickt, der jünger war und von einem unbedeutenden Landwirt – als dreckigerBauerwurde er von ihm gehässig bezeichnet – über Nacht zu einem Prominenten, einem regelrechten Star in Jevenrode geworden ist. Freilich stellte damit aber Freising keine Ausnahme dar. Es stimmte zwar, dass sich Langer immer schon mit Riesengemüse beschäftigte und diesen kindischen Wettbewerb – einem Schwanzvergleich mit ungenießbarem Grünzeug, wie Markus so gerne sagte – ins Leben rief, aber wenn es nach ihm ging, war es nicht gerecht und erst recht nicht verdient. Außerdem könne er das, was Langer da so passioniert mache, sicherlich viel besser. Und schneller. Das jedenfalls sagte er zu seinen Mitverschwörern, die sich bei Bier bereits ausmalten, wie der Titelverteidiger im Folgejahr krachend versagen würde.

Dass Markus dazu aber nicht rechte Mittel verwendete und auf verboten konzentrierte Düngemittel zurückgriff, führte nicht nur zu einem Ausschluss vom Wettbewerb, sondern auch zu einer saftigen Geldbuße sowie einem Imageverlust, der ihn ganze Aufträge platzen ließ. Anstatt sein Vorhaben umzusetzen und ebenfalls riesenhafte Kürbisse, Kohlrabis oder Tomaten zu züchten, war Freising froh, wenn er überhaupt sein Geerntetes loswurde. Außerdem – und das war eigentlich das Allerschlimmste – verriss sich die gesamte Dorfgemeinde das Maul über seinen Fehltritt – sogar diejenigen, die ihn gar dazu animierten, zuprosteten und einen Fall Langers unbedingt miterleben wollten. Freising wusste das alles. Genauso wie er wusste, dass Matthias Langer es selbst sein musste, der ihn anonym anzeigte und dadurch zu seinem Gespött, einem Verächtlichen, in der Gemeinde machte. Matthias tat dies aber nicht leid. Er war der festen Überzeugung, dass sich Ehrlichkeit und Fleiß und natürlich ein wenig Glück immer auszahlen würden.

Matthias betrachtete sich nochmals im Spiegelbild, setzte sein schönstes Lächeln auf und befand sich für hübsch genug, um im Fernsehen ausgestrahlt zu werden. So sah definitiv kein Bauer aus, sprach er sich gedanklich zu. Er warf einen Blick auf sein Smartphone und erhaschte mehrere Meldungen der Instagram-App. Mehr als fünfzig Personen haben sein Bild bereits geliket; einige Kommentare befanden sich unter seinem Post.

Eine Benutzerin mit dem Namen Edel_Julie_2001 schrieb ihm, wie toll das Foto aussehe und dass bestimmt alles an ihm groß sei. Er hätte nun lächeln müssen, womöglich einen anzüglichen Kommentar ergänzen sollen, aber Langer machte sich nichts aus solchen Dingen. Er schaute sich kurz das Profilbild der jungen Dame an, die gemeinhin als Schönheit gelten würde, aber es ließ ihn kalt. Frauen, genauso wie Männer. Niemals spürte er so etwas wie Aufregung oder Verlangen nach Berührungen oder Nähe. Seine wenigen körperlichen Erfahrungen änderten nichts an diesem Zustand. Es bedeutete ihm schlicht nichts. Anstatt also verwegen auf den doppeldeutigen Ausspruch zu antworten, schrieb er ihr ein aufrichtiges Danke und legte sein Handy beiseite. Denn das war für ihn bedeutsam: Anerkennung von anderen für seinen Verdienst zu erhalten.

Bevor er in wenigen Stunden aufbrechen würde, wollte er noch weiteres Riesengemüse ernten. Es war nicht für den Wettbewerb bestimmt, sondern sollte als Dekoration dienen und seinem Image gerecht werden, dass tatsächlich alles groß an ihm war. So ging er erneut in seinen Garten und suchte den Schuppen auf, um sich Gartenwerkzeug holen.

Als er auf das selbstgebaute Häuschen aus Holzlatten und großzügigen Fenstern zumarschierte, bemerkte er schon von Weitem, dass etwas mit dem Fenster nicht stimmte: Die Sonne wurde nur in Teilen reflektiert. Er ging näher heran und erkannte, dass die Scheibe eingeschlagen war. Glasscherben lagen vor und im Häuschen. Langer guckte sich dies an, merkte, wie seine Laune schlechter wurde und fluchte still vor sich hin. Vorsichtig betrat er die Hütte und prüfte, ob im Inneren alles in Ordnung sei. Tatsächlich lagen dort nur weitere Teile des zerbrochenen Glases, aber es wurde nichts gestohlen oder verwüstet. Während er mit seinem Kehrblech die Unordnung beseitigte, dachte er daran, dass ihm jemand böse mitspielen wollte oder er es tatsächlich selbst irgendwie schaffte, das Fenster zerschlagen zu haben. Letzterem schenkte er aber nur wenig Glauben. Noch bevor er sich weitere Theorien über den Vorfall zurechtlegen konnte, fiel ihm ein, dass er ein Ersatzglas lagerte, das er am Folgetag würde einbauen können. Mit diesem Gedanken verflog sein Ärger, geriet regelrecht in Vergessenheit, und er machte sich auf den Weg zu seinem weiteren Gemüse: Dies würde ihn wieder in eine Hochstimmung bringen. Er wollte keinesfalls sein Lebensglück mit Trübsal und Wut vermischen.

Langer gelangte an das Hochbeet, in welchem übergroße Tomaten auf ihre Ernte warteten. Wieder griff er nach seinem Handy und startete die TikTok-App. Er drehte sich mit seinem Kopf zu den Tomaten und begann die Aufnahme: Willkommen zurück bei Kürbis Kral! Ein neuer Tag, ein neues Harvest-Video. Heute schauen wir uns meine Riesentomaten an! Er beendete den kurzen Clip und guckte sich diesen an. Alles gefiel ihm am Video, er hatte sich gut positioniert und sein Gesicht gelungen zwischen die Tomaten geschoben. Nun würde er noch ein wenig sein Ernten filmen, später alles zu einem Video zusammenschneiden und noch eine Audiospur mit Kommentaren und vielleicht einer passenden Musik darunterlegen. Es war so einfach, solche Videos zu gestalten und der Außenwelt zu präsentieren. Es ist so irre, dachte er, dass gerade diese Ernte-Videos so angesagt sind. Na ja, immer noch besser als tanzende Kinder oder irgendwelche beknackten Sportclips.

Dass seine Fotos und Videos scheinbar wirklich gut aufgenommen wurden, zeigte sich an der hohen Anzahl seiner Follower auf den social media-Plattformen. Matthias war überzeugt, dass daran hauptsächlich seine Erzeugnisse verantwortlich waren, denn: Sah man plötzlich eine Salatgurke, die mehr als siebzig Zentimeter betrug und aus der man jede Menge Salat machen konnte, oder eine Karotte, dessen Gewicht bei fünf Metern Länger mehr als acht Kilogramm betrug, dachte man anders über Gemüse und die Zucht. Er erkannte sich dann selbst wieder, als er als kleines Kind zum ersten Mal die riesenhaften Proportionen erblickte und sofort fasziniert war.

Und nun trug er drei große Behältnisse, aus denen sein Erzeugtes nur so hervorquoll. Ab damit zum Auto! Wieder bei seinem Amarok sah er sich erneut als Comicfigur, als Kürbis Kral. Während er nun den letzten Platz in seinem Fahrzeug mit dem frisch geernteten Gemüse füllte, dachte er an seinen Kosenamen. Kürbis Kral. Was für ein genialer Name.

Ѽ

Die Zeit schien für Matthias still zu stehen. Niemals zuvor und niemals mehr danach sollte sich das Herabfallen des Sandes im Stundenglas so langsam anfühlen, als würden sich die Sandkörner gegenseitig den Weg nach unten versperren und dadurch die Zeit anhalten. Das wirklich Einzige, was er wahrnahm und nicht zu überhören konnte, war der Herzschlag in seiner Brust. Nicht einmal als Sechszehnjähriger, der kurz vor der mündlichen Prüfung im Fach Kunst stand, fühlte er sich so aufgeregt. Genauso wenig war es vergleichbar, als er mit zwanzig Jahren am Steuer kurz abgelenkt war und in das Fahrzeug vor ihm knallte; zunächst ohne Reaktion, dann wild gestikulierend stieg ein Mann aus dem Auto und marschierte auf Langer zu, der sich als Freund seines Vaters herausstellte und beim Erkennen von Matthias sogleich die Wut abwarf. Immerhin schlug es noch. Es musste an den Umständen liegen, an der Premiere des Wettbewerbs und vor allem an seiner persönlichen Herzenssache, dem Riesengemüse, das ihn so aufwühlte.

Er sah die Jury von Tisch zu Tisch wandern, das Gemüse beanstandend. Es war bereits die letzte Runde. Die anstehende Entscheidung über den Sieger. Obwohl bereits einige Teilnehmer faktisch ausgeschieden waren, stand der Gewinner noch nicht fest.

Im ersten Durchgang wurden Radieschen miteinander verglichen. Größe, Gewicht sowie Zustand waren die drei Kategorien, die die Preisrichter – der Bürgermeister Jevenrodes, der Pfarrer der Gemeinde und der Wirt Sascha Leifert, dem das einzige Gasthaus gehörte – begutachteten und auf ihren Klemmbrettern niederschrieben. Ausgerechnet im ersten Durchgang musste sich Langer gnadenlos geschlagen geben. Seine immer noch übergroßen Kreuzblütler stachen zwar die beiden anderen Landwirte aus Jevenrode aus, aber die Mitbewerber aus Oberlaue und Groß Steimke hatten deutlich größere und schönere auf ihren Tischen liegen.

Wenig besser wurde es in der darauffolgenden Runde: Zwar hatte Matthias die mit Abstand größte Salatgurke, allerdings war sie von unten angefressen und verlor bereits auf der Fahrt zum Dorfplatz viel Flüssigkeit und damit Gewicht. Ihr Aussehen war nicht wettbewerbsfähig, aber aus der Not heraus, dass die anderen Gurken sogar noch in furchtbarerem Zustand waren, hat er diese trotz größter Bedenken mitgebracht. Immerhin lag sie mit ihrer Länge an der Spitze der zu vergleichenden Kürbisgewächse. Aber auch hier musste er sich geschlagen geben. Spätestens hier begann die Aufgeregtheit Überhand zu nehmen und ihn in einen Zustand der wachsenden Hoffnungslosigkeit zu versetzen. Das war doch eigentlich alles sein Wettbewerb!

Erst als nun Karotten einander gegenübergestellt wurden, ging Langer zweifelsfrei als Gewinner hervor: In allen drei Kategorien überragte er überdeutlich seine Konkurrenz aus dem eigenen oder fremden Dorf. Neidvolle Blicke gelangten zu ihm. Erklang in den ersten beiden Durchgängen hier und da noch Spott, verstummte dieser ohne Aussicht, wiederkehren zu können. Jetzt lag er gleichauf mit Lasse Sammer aus Oberlaue. Die anderen Kandidaten konnten ihnen beiden nur noch theoretisch gefährlich werden, aber daran glaubte niemand am Vorabend vor Halloween.

Endlich – wie konnte sich Zeit nur so verlangsamt anfühlen? – notierten sich die drei Jurymitglieder das Aussehen eines zwar sehr großen, dafür umso deformierteren Riesenkürbisses. Eigentlich waren es nur noch die Farbtöne, die an seine winzigen Pendants erinnerten. Jetzt schritten sie auf Matthias zu, der sich nervös erhob und auf seinen Kürbis hinter sich deutete: Das Gewächs stand auf einer Europalette, die der Landwirt vorgestern noch orange und grün anstrich, um sie für den Wettbewerb zu verschönern. Auf den ersten Blick wirkte der Kürbis irreal: So groß konnte eine Gemüsepflanze doch unmöglich werden! Ungläubig starrte die Jury sein Erzeugnis an. Der Gasthausbesitzer Leifert fasste den Riesen sogar an, um sich zu vergewissern, dass das tatsächlich echt und keine Fälschung war. Der Bürgermeister pfiff vor sich her, während sich der Geistliche bekreuzigte und leise das Vaterunser sprach.