Geschichten aus Nebelhaven II - Patrik Bruna - E-Book

Geschichten aus Nebelhaven II E-Book

Patrik Bruna

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Beschreibung

Zurück nach Nebelhaven - einer fiktiven Stadt im Norden Deutschlands. In vier Kurzgeschichten begeben sich die Protagonisten von Jung bis Alt in die Hafenstadt und versuchen, ihr Leben - geprägt von Verlust, Angst, Trauer, Wut und Verzweiflung - zu bewältigen. Aber neben ihren Lebensherausforderungen da ist noch diese Stadt mit ihrer grauenhaften Geschichte, die zudem eine übernatürliche Kraft innezuhaben scheint und Einfluss auf die Menschen und ihr Handeln nimmt.

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Seitenzahl: 561

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Texte: © Copyright by Patrik BrunaUmschlaggestaltung: © Copyright by Patrik Bruna

Verlag:Patrik BrunaMasch 7a38154 Königslutter am [email protected]

Vertrieb: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Für Dana

Erinnerungen

Kannst du dich noch erinnern?

Weißt du noch, wie wir im vergangenen Jahr den Sommer gemeinsam verbrachten? Du hattest den Ort auserwählt, den wir im August aufsuchen sollten. Wochen und Monate davor hattest du geschwärmt, wie sehr du dich auf den Urlaub freuen würdest. Wie gut es doch täte, endlich einmal wieder rauszukommen, alles daheim für kurze Zeit hinter sich zu lassen, und Neues zu erleben. Einen bislang nur aus Bildern gesehenen und vom Sagenhören vernommenen Ort doch wahrhaftig zu besuchen. Ich stimmte zu, als du mir vorschlugst, zusammen dorthin zu verreisen. Nach Nebelhaven.

Ich kann mir deinen Anblick gut vorstellen, als du meine Fragen hörst und du zunächst ahnungslos tust, als würdest du die Semantik meiner Worte nicht verstehen. Erst nach einem langen Überlegen – deine Augen schweifen in die Ferne, als müsstest du wirklich eine lange Reise ins Vergangene antreten – würdest du mir zustimmen. Aber nur widerwillig, als wolltest du dich nicht gleich erinnern. Als dürfte sich dein Gedächtnis, vor allem wenn es um jene Sommertage ging, verflüchtigen, sich in Luft auflösen. Das lasse ich aber nicht zu. Du erinnerst dich – und solltest du wahrhaftig etwas vergessen haben, so werde ich dir helfen, dass der vergangene Sommer unvergesslich für dich sein wird. Dafür werde ich sorgen.

Nebelhaven. Ich weiß noch ganz genau, was ich dachte und wie ich mich fühlte, als du diesen Namen aussprachst. Mir gefielen der Klang sowie die Wortzusammensetzung mit ihrer Mehrdeutigkeit: Es war offensichtlich, dass es sich um eine Hafenstadt im Norden handeln musste; wo sonst sollte an einem Hafen Nebel so präsent sein? Aber meine Gedanken verharrten bei einer anderen Bedeutung des Kompositums. Ähnlich wie ein Schiffshafen eine Anlaufstelle für Schiffe und ein Flughafen das Pendant für Flugzeuge ist, stellte Nebelhaven also in meinem Kopf den Knotenpunkt für Nebel aller Art dar. Nebel kam und ging und blieb und prägte das Bild dieser Nordstadt. Wenngleich mein Gedankenspiel etwas zu weit ging; wachten wir morgens auf und blickten aus unserer Ferienwohnung zum Sonnenaufgang, sahen wir zumindest leichten Nebel in dieser Stadt. Wie es hier wohl zu kälteren Jahreszeiten aussieht? Dann verwandelt sich dieser Ort gewiss zu seinem Nebelhaven.

Ich war also fasziniert vom Klang des potenziellen Urlaubsziels und habe innerlich bereits zugestimmt, bevor du mir weiter geschildert hast, wo wir nächtigen, was wir unternehmen und wie schön doch alles werden würde. In unserer gemeinsamen Zeit. Wie präsent mir noch diese Tage sind. Dir doch gewiss auch, oder irre ich mich?

Weißt du noch, als wir am Samstag ankamen? Während der gesamten Autofahrt aus Göttingen nach Nebelhaven schien die Sonne an einem wolkenlosen Himmel. Du fuhrst, wolltest du doch, dass ich die Autofahrt genießen und mich besonders vor Ort gut umschauen konnte, ohne mich allzu sehr auf das Steuern des Fahrzeugs konzentrieren zu müssen. Ich ließ auch dies geschehen, wollte dir ein wenig deines Willens gestatten, wenngleich ich dir niemals zustimmen würde, dass es mir so tatsächlich ergehen würde. Aber ich überhörte deinen vermeintlichen, aber irreführenden Wohlgefallen. Vergessen habe ich ihn aber nicht.

Obwohl wir bereits in der Früh losfuhren, lief die Klimaanlage im Volkswagen die ganze Zeit auf Hochtouren. Wir beide trugen Sonnenbrillen, um uns vor den erblindenden Strahlen des Weltraumgestirns zu schützen; trotzdem behinderten sie unser Blickfeld, so durchdringend und unnachgiebig waren sie. Allerdings war es keine allzu lange Anreise; nach drei Stunden auf der Autobahn fuhren wir auf der A27 ab und das Navigationssystem führte uns zu unserer Ferienwohnung im Haus Atlantic, die sich nördlich im vornehmen Stadtteil Siebenmeiler befindet.

Wir fuhren dabei entlang des Deiches, dessen Gras von Schafen heruntergefressen und niedergetrampelt zugleich war, genossen das Panorama, dem Ausblick aufs offene Meer, und ließen uns mit weit geöffneten Fenstern vom Nordwind durchpusten. Keine technische Anlage der Welt kann ersetzen, was dieser frische, bisweilen kräftige Wind mit einem macht. Man wird durchgepustet; ich glaube, das ist das richtige Wort.

Zumindest hast du es so genannt und wenig später dann wieder die Fenster nach oben gleiten lassen, als wolltest du den Wind vor mir verbergen. Wir näherten uns unserer Fewo – niemals sagtest du Ferienwohnung, immer nur diese merkwürdige Abkürzung, die für mich ehrlich gesagt falsch klingt. Ein prächtiges Hochhaus mit mindestens zehn Etagen erwuchs vor unseren Augen und überragte den Deich deutlich, als wollte er dessen Schutzmaßnahmen bei Hochwasser in zweiter Linie unterstützten. Die Außenwand war vollständig mit dunkelroten Klinkern besetzt, der Haupteingang mit pompösen goldenen Lettern versehen: Haus Atlantic. Im unteren Schriftzug las ich kleiner, aber doch deutlich erkennbar: Teil der Atlantic Trade-Familie. Ein großzügiger Hof lud uns ein hineinzufahren, zahlreiche Parkplätze waren ausgeschildert, wobei tatsächlich der Großteil belegt war.

Du kannst dich ganz bestimmt noch daran erinnern, als wir zum ersten Mal das Foyer betraten. Ich jedenfalls musste im ersten Moment an die alten Spielfilme aus Hollywood denken, in denen der Eingangsbereich das aufwändigste Glied eines Hotels war: Goldene Farben, gemütliche Sessel, Teppiche mit verwobenen Mustern, denen man nur schwer mit dem Auge hinterherblicken konnte, Pflanzen um Pflanzen und Männer in Rot und Schwarz: Gepäckträger und Lobbyangestellte. Diese Vorstellung, so prunkvoll, romantisch, ja fast schon zu gekünstelt, als wollte sie alles verdecken und überstrahlen, stellte sich so freilich nicht ein. Dafür war das Foyer tatsächlich schick gehalten: Gold und Sessel waren jedenfalls richtig; kein Teppich, dafür Fließen in kunstvoller Anordnung und viel Marmor. Die Säulen bestanden aus Marmor, die Theke ebenfalls aus dem Kunststein und Herr Gott sogar das Schild Haus Atlantic war eine Ausgeburt aus weißschwarzem Marmor. Aber totschick, wenn man deiner Meinung glauben durfte. Nur die Gehilfen in Rot und Schwarz fehlten gänzlich; ein viel zu locker angekleideter Angestellter in Jeans und entweder ungebügeltem oder bereits schon zerschlissenem weißen Hemd bediente uns. Er überreichte uns die Schlüssel für unsere Fewo, bedankte sich herzlich bei uns im Namen seines Unternehmens und gab uns noch ein symbolisches Gastgeschenk: Für einen möglichen Ausflug ins Wattenmeer erhielten wir Wattsocken. Ein unpassenderes Präsent in diesem vor Noblesse und Luxus triefenden beziehungsweise zumindest so aufgesetztem Gebäude hätte es kaum sein können, aber ich wusste, dass du dir wünschst, dass ich nicht aufbrausend werde. Zumindest bittest du mich immer wieder, mein Temperament zu zügeln, sodass ich mir einen abfälligen Kommentar in Richtung des Mannes noch zurückhalten konnte.

Damit ich ja nicht umkehren und diesem Typen doch noch meine Meinung kundtun konnte – am liebsten hätte ich mit einem Kinnhaken aus seinem Lächeln ein zahnloses Gebiss gezaubert –, brachten wir unser Gepäck in unsere Wohnung und richteten uns ein. Ich muss gestehen und dies habe ich dir offen gesagt, dass ich sehr angetan war von unserem Feriendomizil. Als wir die übergroße Wohnung betraten, konnte ich eigentlich kaum glauben, dass sich auf derselben Etage noch eine weitere befinden konnte. Die Ausmaße, Anzahl sowie Ausstattung der Zimmer überraschten mich sehr. Zu Beginn konnte ich mich gar nicht sattsehen, als wäre ich überwältigt von der Vielzahl an Eindrücken, die das geschmackvolle Sofa, das einladende Bett, der vernünftig große Fernseher oder die gekonnt ausgewählten Bilder an den Wänden in mir auslösten. Es war aber noch mehr die architektonische Ausgestaltung der Wohnung: Eine ganze Außenwand bestand nur aus Glas; Türen zum eleganten Balkon, der die Nordsee und den Strand vor uns aufdeckte, regelrecht präsentierte. Und immer noch herrschte sagenhaftes Wetter, sodass man weit in den Horizont blicken konnte.

Es hatte etwas Anziehendes, vielleicht sogar noch stärker: Hypnotisches. Darum dauerte es wohl länger als gedacht, als ich bemerkte, dass du neben mir standst und meine Hand hieltst. Dein Lächeln zeigte reinstes Glück und ich ließ die meinen auf die deinen Lippen niedersinken. Von Anfang an war ersichtlich, dass wir eine schöne, gemeinsame Zeit hier verbringen würden. Ich denke, dass du ebenso gedacht hast und heute nach wie vor so empfindest. Solltest du Gegenteiliges behaupten, würde ich von einer Lüge ausgehen. Unmöglich könntest du allen Ernstes klarstellen, dass dich unwohl fühltest oder gar am liebsten sogleich diesen Ort den Rücken kehren wolltest. Nebelhaven schien mich gleich einzufangen und an sich binden zu wollen.

Du wolltest dich schon von mir lösen und wieder einkehren, aber ich ließ dich nicht los. Stattdessen umgriff ich deinen Körper, fasste ihn mit meinen Händen an. Ich ließ sie deinen Rücken hinabgleiten und liebkoste deinen Hintern. Ich presste dich näher an mich heran, als wollte sich mein ganzes Ich in dich verbeißen. Dein Abwehren, deine Versuche, mich abzuwenden, wurden immer kleiner und geringer, bis du dich meinem Drängen und Ziehen hingabst. Es war das erste Mal von vielen, die wir gemeinsam miteinander schliefen. In dieser Wohnung. In Nebelhaven. Selten habe ich so viel Lust empfunden wie in jener Zeit und ich glaube, dass es dir ähnlich ergangen sein musste.

Am selben Tag noch gingen wir dann später tatsächlich zum Strand – und weil du mich überredet hast – ins Watt. Trotz all meiner vielen Urlaube am Sand und Meer konnte ich nicht vergleichen, wie es mir an der Nordsee erging. Das Meerwasser schien hier so anders zu sein; die Ebbe offenbarte kilometerweite Flächen, die zu Fuß überbrückt werden konnten. Es war diese Abwesenheit vom Meer, die mich so verwunderte. Ich sah dich an, wie du über die freigelegte Sandfläche wandertest, dich nach Muscheln und Bernsteinen bücktest und dich vom Meereswind treiben ließest. Dein Anblick war wahrhaftig bezaubernd und während ich mir eine Zigarette nur schwer wegen des starken Windes anzuzünden vermochte, stellte ich mir deinen nackten Körper vor und wie sich dieser in meinen Händen und an mich gedrückt anfühlen würde. Wir blieben noch eine Weile, bis sich der Horizont langsam verfinsterte und das Meer wieder zurück an den Strand gelangte.

Am Folgetag weckte mich der Geruch von frischem Kaffee und das beruhigende Tönen des Meeres. Wie so oft standst du schon mit dem Sonnenaufgang auf, als wolltest du keinen Augenblick eines Tages verpassen. Als wäre dir ein jeder Moment kostbar. Heute muss ich mir wohl eingestehen, dass da noch mehr war: Du hieltest es nicht aus, im halbwachen beziehungsweise halbschlafen Zustand neben mir zu liegen. Du wolltest dich bewusst von mir entfernen. Ich gestehe, dass mir dies im vergangenen Sommer noch nicht bewusst war; so jedoch erwachte ich morgens stets mit diesem betörenden Duft und sah dich, wie du in einem dünnen Morgenmantel das Frühstück vorbereitetest.

Wir aßen auf dem Balkon und blickten hinaus auf das Meer. Der morgentliche Nebel war fast vollständig aufgedunsen, sodass wir von unserer Warte aus alles beobachten konnten. Du zeigtest auf ein Boot und erzähltest mir, wie gerne du doch eine solche Schiffsfahrt mitmachen würdest. Dass du dir dies so sehr wünschest, weil du noch nie dazu die Gelegenheit gemacht hattest. Ich willigte ein und wollte dir damit beweisen, dass ich sehr wohl nicht nur an mich selbst dachte, wie du es mir so häufig in der Vergangenheit vorgeworfen hattest. Während du dann unser Geschirr abgedeckt hattest, blieb ich noch draußen und rauchte. Ich versuchte den Rauch zu verfolgen, der vom Nordseewind weggezogen wurde. Immer wieder verlor ich allerdings seine Spur. Diese Spur, die zum Ausweg zeigte.

Kannst du dich erinnern, wie war am Pier spazieren gingen? Ich umfasste deine Hüfte, presste sie an mich, als wollte ich dich nicht von mir ablassen, und trieb dich nach vorn. Wie ein verliebtes Paar schlenderten wir so an den anderen vorbei. Du schautest dich um, wolltest in dieses oder jenes Geschäft blicken und abermals gestand ich dir dies zu. Ich muss dir nicht sagen, dass ich alles nur für dich tat. Während du dich nach Souvenirs, Mitbringseln und noch mehr Unrat umschautest, war meine Geduld angespannt. Ich war kurz davor, mich von meinen Instinkten und Gefühlen leiten zu lassen und dich aus diesen schrecklichen Läden herauszuzerren. Aber glücklicherweise kamen mir wieder die Glassplitter in den Sinn. Diese zahllosen, winzigen Glasteilchen. Und daneben du.

Vielleicht glaubst du, dass ich es verdrängt und aus meinem Gedächtnis entfernt hätte. Aber dann irrst du dich gewaltig. Unmöglich kann ich vergessen, als ich dich aus der Boutique herausgeworfen habe. Als ich dich ergriff, durchschüttelte, dich anschrie und schlug – immer wieder auf dein Gesicht – und schließlich durch die Fassade hinausstieß. Du wurdest von dem großen Ladenfenster nicht zurückgestoßen, wie ich es innerlich gehofft hatte, als ich dich bereits weggeschleudert hatte; nein, beim Aufprall zerbrach sogleich die Fensterfront und du pralltest unglücklich auf dem Boden auf. Dieses Bild vor meinen Augen, wie du dalagst in den vielen Splittern, dich kaum winden konntest und zu weinen begannen hast. Ich spürte nur Wut. Grenzenlosen Zorn, den ich an dir ausleben wollte. Du hast mich verärgert, hast du dir alles selbst ausgesucht. Dein Wimmern und Flehen machten es noch schlimmer. Wie sich meine Finger verkrampften, als meine Hände Fäuste bildeten, die auf ihr Ziel zugerast kommen wollten.

Ich kann wohl von Glück sprechen, dass ich von den anderen Ladenkunden zurückgehalten wurde. Vieles wäre heute gewiss anders, wenn ich nicht aufgehalten worden wäre. Im Nachhinein verwundert es mich immer wieder, wie sehr ich die Kontrolle über mich selbst verloren hatte. Aber dann fällt mir ein, wie du regelrecht danach gefleht hattest. Trotzdem: Ich werde dieses Bild nicht vergessen. Es ist keine Reue, die sich in mir bildet, wenn ich daran denke. Vielmehr ist eine Art Beweis. Ein Beweis darauf, dass du mich hast all die Zurückhaltung und Kontrolle verlieren lassen.

Du fasstest mich an, lächeltest verlegen und zeigtest mir eine Schneekugel: Eine Robbe auf einem Wellenpodest hielt die Glaskugel, in der sich künstlicher Schnee – oder doch Sand? – befand und einen Leuchtturm zu bedecken schien. Du schütteltest und ließ die Körner den Turm verhüllen. Gutmütig schenkte ich dir ebenso ein Lächeln und sah immer noch das zerbrochene Glas vor mir. Wie toll wohl diese Schneekugel zerplatzen könnte? Ich bin froh, dass du sie in deinen Händen behalten und sie nicht in meine Obhut gegeben hast.

Wir machten uns dann endlich zu einem der Anlegestellen auf, wo sich noch einige Boote befanden. Gemeinsam prüften wir die verschiedenen Ausflugsziele und entschieden uns zu einer Überfahrt nach Wangerooge. Dort hätten wir zunächst mehrere Stunden Zeit, uns die Nordseeinsel anzuschauen, um anschließend wieder nach Nebelhaven gebracht zu werden. Ich spürte in dir eine gewisse Aufregung, als wir auf das Boot stiegen, mit Rettungswesten versorgt wurden und schließlich unter Motorengelärm die Fahrt durch das endlose Blau begannen.

Mir schien, als könntest du gar nicht genug bekommen, alles würde dir schlicht und ergreifend gefallen, was vor dir lag. Kannst du dich denn daran erinnern, oder warst du zu überwältig von den vielen verschiedenen Eindrücken? Offen gestanden empfand ich die Überfahrt als langweilig. Und kalt und ungemütlich. Der Wind war hier draußen im offenen Meer noch erbarmungsloser und durch das Lärmen des Gefährts und des Meeres konnte man sich selbst nicht sprechen hören. Und dann, als ich mich ohnehin nicht wohl fühlte, gingst du an das Bug, umfasstest die Reling und blicktest nach vorne. Du wandtest dich voll und ganz von mir ab, als wäre ich nicht da. Als würdest du diesen Trip ganz alleine machen oder: ganz alleine machen wollen. Vielleicht glaubst du, dass ich dies nicht gemerkt habe, aber spätestens jetzt müsstest du wissen, dass ich dich sehr wohl durchschaut hatte.

Dann driftete ich in meine Gedanken ab: Ich sah mich selbst, wie ich mich erhob und dir näher kam. Ich fühlte, wie automatisch meine Finger einander berührten und sich zum Knacken brachten. Im Anschluss spreizten sie sich und ballten sich zu Fäusten. Immer wieder. Dabei ließen sie mein Blut nur so zirkulieren und sich aufbrausen. Nun stand ich hinter dir, griff nach deinem Arm und drehte ihn gewaltsam um. Mit weit aufgerissenen, schreckvollen Augen blicktest du mich an; so groß waren sie, als versuchtest du durch mich hindurch zu schauen. Wie von selbst langten meine gierigen Hände nach deinem Hals und drückten diesen zu. Du schlugst und tratst nach mehr, bemühtest dich, meine Hände abzuschütteln. Aber ich war stärker und wollte nicht zulassen, dass Luft in deinen verdammten Schädel gelangen könnte. Als ich wenig später merkte, wie schwach, ja fast schon ohnmächtig du geworden warst, ließ ich los und fing dich zugleich mit seinen Armen auf. Ich hielt dich fest, drückte dich ein letztes Mal an meinen Körper und warf dich dann über Bord. Das Meer gefiel dir doch so gut, oder etwa nicht?, rief ich deinem bald leblosem Leib hinterher.

Aber das alles fand nur in meiner Vorstellung statt. Trotzdem bemerkte ich, wie sich meine Lippen zu einem höhnischen Grinsen wandelten. Das sahst du aber nicht, weil du immer noch vor dich hingestarrt hast, als wolltest du damit alles um dich herum vergessen machen. Das gilt wohl auch für mich, wie ich retrospektiv feststellen muss.

Erneut war ich positiv darüber erstaunt, wie schön Wangerooge war. Von weitem konnte ich bereits die Umrisse der Insel erkennen, dessen Bogenform sich in Richtung Norden auszubreiten schien. Die grünen Landflächen versteckten zunächst die Dünen und die Strandpromenade, die wir uns später gemeinsam anschauen würden. Ein idyllisches Stück Natur entstand vor unseren Augen und tatsächlich fühlte ich Neugierde in mir anwachsen. Ich sollte wenig später kaum enttäuscht werden.

Gemeinsam liefen wir zu Fuß zunächst durch die äußerst gepflegte Kleinstadt, in welcher bekanntermaßen der Autoverkehr untersagt ist. Es war für mich so ungewohnt, auch längere Strecken nur zu Fuß bewältigen zu müssen. Natürlich wolltest du auch hier in möglichst jeden Laden gehen, um dir noch mehr Schwachsinn andrehen zu lassen. Glücklicherweise ist die Stadt so klein, sodass mein Nervenkostüm nur unmerklich angegriffen wurde. Ich verstehe es einfach nicht, wie viel Zeit man bereitwillig verschwendet; ganz zu schweigen von dem vielen Geld, meinem Geld, das du so selbstverständlich zu vergeuden suchst. Aber fairerweise will ich dir lassen, dass du dich an diesem Tag sehr zurückgehalten hast und wir alsbald die Insel erkundeten.

Nach langem Spaziergang kehrten wir beim Strand ein: Es war wie schon am Tage zuvor herrliches, ja beinahe zu gutes Wetter. Die Sonne strahlte unaufhörlich; die wenigen Wolken an der Himmelsdecke wurden vom steten Wind weggepustet. Du wünschtest dir, dass wir bei der verklinkerten Uhr an der Promenade ein gemeinsames Foto schießen sollten. Als Erinnerung an unseren Ausflug. Das weißt du doch noch, oder? Schließlich ist es das letzte Foto, das uns zusammen aufzeigt. Nur widerwillig gab ich einem Passanten, den du angesprochen hattest, mein Telefon, damit er das Bild machen konnte. Ich musste mich dabei mehr als zuvor zusammenreißen, nicht aus der Haut zu fahren. Zuerst wollte ich am liebsten diesem Typen mein Handy entnehmen und ihm anschließend seine dämliche Sonnenbrille zertrümmern, um dir danach meinen Unmut körperlich zum Ausdruck zu bringen. Aber wieder schaffte ich es, mir ein gekünsteltes Lächeln aufzusetzen, dich liebevoll zu umfassen und anmutig in Richtung meines Smartphones zu schauen.

Das Foto lohnt sich zu betrachten. Natürlich sollte ich dir sofort das Bild per Messenger schicken, damit du dich selbst bestaunen konntest. Mein erhöhter Herzschlag war nur noch schwer auszuhalten. Ich war mir in diesem Moment sicher, dass ich nun bei der nächsten Gelegenheit vollständig meine Fassung verlieren würde. Ich glaube, dass du das gemerkt hast. Irgendwann hast du ein Gespür dafür entwickelt, wann ich an eine Grenze geriet, die nicht zu übertreten sein dürfte. Daher überrascht mich aus der heutigen Sicht nicht, dass du meine Hand genommen, sie an deine schlanke Taille geführt hast und mir ins Ohr flüstertest, was ich mit dir später alles anstellen dürfte; nein, sogar sollte und müsste. Dann griffst du nach meiner Hosentasche und holtest die Zigaretten hervor, die ich so gerne rauchte. Du wusstest, dass du mich besänftigen musstest. Zu deinem und zum Wohle anderer. Tatsächlich beruhigte ich mich, spätestens nach dem ersten Inhalieren des Tabakrauches war ich wieder ich selbst. Oder zumindest die Person, die nicht das größte Begehren empfand, seine Mitmenschen zu peinigen.

Wir verbrachten noch einige Stunden am Strand. Wir genehmigten uns einen Strandkorb, in dem vor allem ich saß und dich beobachtete, wie du dich in deinem dünnen Bikini auf einem Handtuch sonntest. Wieder glitten dabei meine Gedanken ab und ich befand mich schon im Schlafzimmer unserer Ferienwohnung. Deine langen Beine, die in deinen kleinen, dafür umso strafferen Hintern übergingen. Deine Scham, ganz frei vom Haar, und deine runden Brüste, die ich nie zu müde wurde zu liebkosen. Deine Haut, die vom Sonnenbaden leicht rötlich wurde. Selbst heute noch kann ich mir deinen beinahe makellosen Körper in Erinnerung rufen. Damals im Strandkorb ging es natürlich noch leichter, habe ich dich doch erst am Morgen nackt erblickt. Und dies wollte ich nun erneut, aber ich musste mich noch etwas gedulden, bis wir wieder zurück im Haus Atlantic wären. Kurz bevor wir uns auf dem Weg zum Schiff machen mussten, ludst du mich ein, mit dir ins Meer zu gehen.

Ich wusste, dass es kalt sein würde. Du ganz gewiss auch. Aber bei diesem herrlichen Anblick, dein fast nackter Leib, das strahlend schöne Wetter und der schier glühende Sand konnte ich nicht widerstehen. Ich trug ebenso eine Badehose unter meiner sommerlichen Bekleidung, sodass wir Richtung Meer aufbrachen.

Das Meereswasser war noch kühler, als ich es mir vorgestellt habe. Aber in diesem Moment, als du ohne eine Miene zu verziehen, immer weiter hinaus gingst, durfte ich nicht umkehren. Du fühltest ein leichtes Zögern in mir; ich weiß dies genau, weil du dich umdrehest und mir zulächeltest. Ich glaubte damals, es sei ein liebevolles Lachen, ein Zeichen von Zuneigung und Verständnis. Heute denke ich, dass du mich vielmehr damit herausfordern wolltest. Ich werde wütend, wenn ich mich jetzt daran erinnere. Denn du ließest mich beabsichtigt frieren, du zogst mich förmlich in diese Kühle. Und ich konnte mich in diesem Augenblick nicht wehren. Viel zu lange wolltest du schwimmen, fasstest mich mit deinen kalten Händen immer wieder an und bliebst so lange, bis wir wirklich zum Boot zurückkehren mussten. Du hattest wirklich Glück, dass mich die Kälte regelrecht paralysierte, ansonsten würdest du Wasser heute nur noch mit einer weiteren schlechten Erinnerung in Verbindung setzen können.

Ich war froh, als wir in Nebelhaven angekommen waren und allmählich unsere Ferienwohnung aufsuchen wollten. Wir ließen uns aus einem italienischen Restaurant – zumindest der Name war italienisch – zwei Pastagerichte einpacken, die wir dann abends auf dem Balkon aßen. Wieder war es der weite Blick von oben; dieses Balkonpanorama, das von keinem Hindernis versperrt schien. Im Finstern der Abendstunden tauchten auf dem Meer die Signallichter der großen Containerschiffer sowie der Leuchtkegel des Roten Turms, ein Leuchtturm Nebelhavens, auf; auf der Strandpromenade und dem angrenzenden Weg konnte man so viele, winzige Leuchten erkennen, die das ganze Bild schon idyllischer machten. Diese Szenerie hätte aus einem Bild der Romantik stammen können.

Mir war dort oben auf dem Balkon, als hörte ich plötzlich ein Flüstern; unmöglich konnte ich die einzelnen Worte oder Silben verstehen, aber etwas sprach ganz sicher zu mir. Oder war es nur der Wind? Ich überlegte, ob ich dich fragen sollte, aber du schienst nichts zu bemerken, wie du still dasaßt, ebenso auf die wunderbare Gegend schautest und dabei gedankenverloren die Pasta verzehrtest. Ich starrte dich an, rechnete damit, dass du mir wieder vorwerfen würdest, dass ich dich beobachten würde, und sah wie aus dem Nichts wieder Glassplitter. Überall waren sie verteilt. Auf dem Boden, dem Tisch und deinem Gericht, auf deiner Haut. Und dann sprach diese Stimme wieder auf mich ein und dieses Mal verstand ich deutlich: Tu es! Mein Herz klopfte und ein Verlangen stellte mich in mir ein. Vor meinen Augen regnete es winzige Tropfen und Flocken aus durchsichtigem und scharfem Glas. Tu es jetzt! Diese Stimme. Erneut fühlte ich mich hypnotisiert, wie am ersten Tag, als ich mich hier auf dem Balkon befand. Aber anstatt diesem flüsternden Befehl nachzukommen, zündete ich mir eine Zigarette an und rauchte ich wieder. Wie auf Geheiß verschwand die Aufforderung in der Nacht. Aber selbst nachdem wir miteinander geschlafen hatten und ich eine ganze Flasche Weißwein ausgetrunken hatte, blieben mir die Worte wie ein Echo im Gedächtnis. Es ist wohl kein Wunder, dass ich selbst heute – Monate nach unserer letzten gemeinsamen Zeit – immer noch diese Episode in mir wahre. Manchmal denke ich, dass ich der Stimme hätte folgen sollen. Vieles wäre garantiert so viel besser.

Die nächsten Tage reihten sich in das bisherige Durchleben der Zeit in Nebelhaven ein: Das Wetter war für die Verhältnisse der Nordsee – selbst im Hochsommer – ausgesprochen warm und mild. Wesentlich mehr Zeit verbrachten wir daher in Strandnähe, unternahmen noch weitere kleine Ausflüge und Bootsfahrten zu benachbarten Orten oder Inseln und ließen uns treiben, als wären wir Teil des Gezeitenspiels. Bis auf kleine Ärgernisse, die du mir angetan hast, die ich jedoch stets mit gespielter Gelassenheit getragen habe, war es friedlich und liebevoll zwischen uns. Und wenn es nach mir ginge, hätte sich dies genauso fortsetzen können. Aber offenbar hattest du etwas dagegen. Du warst wohl der Auffassung, dass du dir alles erlauben könntest. Vielleicht lag es ja auch an meiner selbst, weil ich dir zuvor so vieles habe durchgehen lassen, aber irgendwann war das Maß voll. Selbst wenn dir vieles aus den Tagen in Nebelhaven entfallen ist, diesen Tag wirst du niemals vergessen können.

Aus einem Touristenblatt erfuhrst du, dass in der Nähe des zentralen Deichs ein kleiner Park in Nebelhaven errichtet wurde. Dieser diente an besonders heißen Tagen, was jedoch gewiss die Ausnahme darstellte, zum Schutz vor der schweren Hitze und zur kühlen Erholung. Zusätzlich wurden hier kleinere sportliche und Freizeitaktivitäten durchgeführt; so fand man eine kleine Minigolfanlage vor, die wir natürlich ebenso ansteuern mussten. Das – du betontest dieses Wort so stark, als wolltest du dich mit Absicht darüber lustig machen – Highlight war die Fütterung von sogenannten Humboldt-Pinguinen, die ein recht großzügiges Schwimmbecken im Kurpark ihr Eigen nannten. Jedenfalls waren die Zeiten für die Versorgung der Kleintiere in der Infobroschüre peinlich genau für die kommenden Tage eingetragen. Wie schon zu so vielem stimmte ich freilich zu, hieran teilnehmen zu wollen. Zumindest dir zu liebe.

Wir betraten also nach einem besonders warmen Vormittag den Park, erprobten uns am Minigolf – die wahrscheinlich schlimmste Zeitverschwendung im gesamten Urlaub – und marschierten mit Eiscreme in unseren Händen zu der angekündigten Fütterung der flugunfähigen Seevögel. Ich gestehe, dass mich diese Pinguine mit ihrem markanten Aussehen und ihren schrillen Lauten in den Bann zogen. Die Tierpflegerin umsorgte die ihr verantwortlichen Vögel und zeigte uns und den anderen Schaulustigen diverse Tricks, mit denen sich die Pinguine ihr Mahl verdienten. Es wäre so – vielleicht stimmt dieses Wort mit meiner Vorstellung überein – schön gewesen, allerdings wurde das Schauspiel vom Stimmenwirrwarr von Kleinfamilien gestört.

Kinder schrien vor Freude, stellten ihren Eltern die blödsinnigsten Fragen und – natürlich! – forderten ein, dass auch sie dazu berechtigt sein dürften, die Vögel zu füttern, zu streicheln und zu liebkosen. Das war schon eine ausgesprochene Belastung für meine angespannten Nerven, du weißt, wie sehr ich mich bei diesem verfluchten Minigolf zusammengerissen habe. Was aber noch furchtbarer war, mich hat Wut wirklich fühlen lassen, waren die Eltern dieser Kinder: Anstatt sie zu mäßigen, ihnen auf verständliche und einfache Art und Weise zu schildern, was sie dürften und was nicht, bestärkten sie die Wünsche ihrer Sprösslinge. Einige sprachen doch tatsächlich die Angestellte des Kurparkes an, ob ihre Kinder denn nichtauch maleinen Pinguin füttern könnten.

Ich saß Rot. Ich glaube, dass ich selten so kurz davor war, etwas Unüberlegtes, aber dafür umso Befriedigenderes zu unternehmen. Aber noch geschah nichts, weil es die Tierpflegerin auf bestimmte und eindringliche Weise verstand, den Familien eine gelungene Abfuhr zu verpassen. Als ich die Enttäuschung auf den Gesichtern der Kinder sah, einige doch tatsächlich zu einem Heulen als Druckmittel ansetzten, fing ich an innerlich zu lachen. Vielleicht lachte ich ebenso laut auf, jedenfalls verwandelte sich mein Zorn in freudigste Genugtuung beim Anblick der entsetzten Köpfe. Wenngleich es mir nicht dieselbe Befriedigung verschaffte, als wenn ich jemanden gehörig zur Raison bringen könnte, so erheiterte sich meine Stimmung rapide.

An dieser Stelle hätte einfach alles enden sollen. Ich hätte dich bei deiner Hand nehmen und mit dir zurück zum Strand schlendern sollen. Gerne würde ich dir noch ein Eis spendieren und dir dabei zuschauen, wie du appetitvoll und etwas lüstern deine Kaltspeise verzehren würdest. Danach würdest du wieder auf deinem Strandhandtuch liegen und deinen Körper in die Sonnenstrahlen eintauchen lassen, nur um mich wenig später zur Abkühlung ins Meer zu führen. Und hinterher würden wir des Abends in die Wohnung einkehren und miteinander schlafen. Stundenlang. Abschließend könnte ich wieder vom Balkon herabblicken und mich in meinen Vorstellungen verlieren, die zwischen Realität, Wünschen und Abgründen zu verorten sind. Aber nichts davon geschah. Nichts davon ist so eingetroffen. Du und diese verdammten Kinder seid an allem verantwortlich.

Während ich noch zufrieden die Gesichter der Zurückgewiesenen betrachtete, ja regelrecht in meine Erinnerung einzuscanen versuchte, um mich noch Stunden später daran erfreuen zu können, zeigte sich in deiner Miene eine gänzlich andere Reaktion. Du fandst keinen Gefallen an den traurigen Ausdrücken, ich konnte förmlich an deinen Augen und Lippen ablesen, dass es für dich nicht fair war. Du hättest diesen ganzen Leuten erlaubt, ihre dreckigen Griffel an die Pinguine anlegen zu können. Aber das war noch nicht einmal das Schlimmste, obwohl du mich damit schon außerordentlich verärgert hast. Da war noch mehr in deinem Gesicht – und noch bevor du es ausgesprochen hast, wusste ich es bereits.

Es war dieses Flehen und Bitten, das ich schon so oft ertragen musste; das ich diese vielen Male stets und unverkennbar abgelehnt hatte; das ich dir verboten habe, erneut vorzutragen. Das war, was ich als nicht fair betrachtete. Aber wie auch ich meine Rationalität zu Zeiten gegen Emotionen einzutauschen vermag, so tatst du es genauso in diesem Park. Ganz bestimmt siehst du diese Szene noch deutlicher in deinem Gedächtnis, als ich es gerade tue: Nach der Abfuhr verlässt dieses Familiengespann aus Mutter, Vater und heulendem Mädchen – vielleicht vier oder fünf Jahre alt – die Tiershow und geht an dir vorbei. Du nimmst die Personen aber nicht nur wahr, sondern projizierst dein eigenes Ich in die Frau und mich in die Rolle des Mannes. Du erblickst uns, wie wir mit einem Kind – womöglich ebenso einer Tochter – bei der Versorgung der Seevögel dabei sind und gemeinsam darüber staunen, wie schnell die Tiere ins Wasser springen, ihrer Beute hinterherschwimmen oder tapsig nach oben springen, um ihre Nahrung direkt aus den Händen ihrer Pflegerin zu bekommen.

Ich habe es erkannt, wie ich schon anführte. Alleine dieser Gedanke machte mich rasend, aber wollte ihn dir verzeihen, wenn du mich damit in Ruhe lassen würdest. Dann solltest du halt davon träumen und dich dieser Wunschfantasie hingeben, ich sollte aber davon ausgeschlossen werden. Aber genau da lag der Hund begraben: Du konntest deinen verdammten Mund nicht halten.

Bist du dir sicher, dass du keine Kinder haben willst? Ich schluckte schwer und wollte dir auf deine Frage, die du mir so vielfach schon gestellt hast, nicht sofort antworten. Ich wusste, dass ein plötzliches Erwidern nur zu einer Verschärfung, einer Eskalation führen würde. Daher atmete ich tief ein, beschwor mich selbst, ruhig zu bleiben und dir – ähnlich wie ich es von den Eltern dieser verzogenen Gören erwartet hätte – mit Engelsgeduld eine Absage zu erteilen. Langsam und so beruhigend wie möglich sagte ich dir, dass ich keine Kinder haben würde und wir darüber mehrfach gesprochen hätten; meinen Standpunkt hätte ich in all der Zeit nicht verändert und würde dies auch nicht beabsichtigen.

Um sicher zu gehen, dass ich trotzdem nichts Überstürztes machen würde, rief ich mir in Erinnerung, wie traurig die Kleinkinder ausgesehen hatten, als ihr Bitten nach einer Kuscheleinheit mit den Parktieren abgelehnt wurde. Es war einfach herrlich und half mir dabei, entspannt zu bleiben. Dir jedoch schien dies nichts zu bedeuten.

Wirklich? Aber ich hätte doch so gerne eine Tochter oder einen Sohn. Ich will doch eine Familie haben. Mit dir zusammen.

Es muss ein kleines Wunder gewesen sein, dass ich dir nicht sofort meine Faust gegen deinen Schädel gehämmert oder mich vor Zorn in deinen Hals verbissen habe. Wie gerne hätte ich einfach bewusst und absichtlich meine Vernunft fallen lassen und dich vor all den Leuten misshandelt. Dir für jedes Wort, dass du dir erlaubtest, gequält und gepeinigt und dir aufgezeigt, dass du deine romantischen Gedanken in deinem Kopf verstecken darfst. Aber etwas hielt mich noch zurück, machte mich umso wütender.

Dann aber nahmst du meine Hand und dein Gesicht verzerrte sich zu diesem hässlichen Aussehen eines Kleinkindes, das sich die Erfüllung seiner Bitte so sehnlichst wünscht. Ein Ausdruck, der zugleich aussagen will, dass es keine andere Option gibt: Eigentlich ist es gar kein Wunsch, sondern ein Befehl und ein Verlangen. Ohne Widerspruch. Niemals mehr fühlte sich deine Haut so widerwärtig an. Jetzt wurde ich rasend – du allein warst schuld. Es entstand eine furchtbare, zugleich herbeigesehnte Wut, die ich nicht bändigen wollte oder konnte. Mir fiel ganz spontan eine Zeile aus einem Lied ein, die nun in meinem Kopf schwirrte: This rage I cannot let go! Nun gab es kein Zurück mehr. Du und dein Körper würden dafür büßen, Blutzoll für deinen Fehltritt begleichen müssen.

Anstatt dich aber unmittelbar zu bestrafen, löste ich mich aus deinem Handgriff und bekam wiederum deinen Arm unter meine Kontrolle. Ich ging los und zerrte dich unsanft mit mir mit; mir war es gleich, ob du Schritt halten oder auf den Boden fallen würdest. Im Zweifelsfall würde ich dich bis zu meinem Auto schleppen. Aber natürlich trat Letzteres nicht ein und du stolpertest mir hinterher, ohne dass ich dabei auf die Blicke meiner Mitmenschen achtete. Es war mir gleich. Eigentlich stimmt das nicht. Ich wollte, dass sie es sahen; wollte, dass sie mitbekamen, wie sich ein Mann richtig um seine Frau kümmert. Nicht dieses verweinte und verweiblichte Handeln der heutigen Erwachsenen. Und wenngleich ich im Tunnelblick aus dem Park herauswanderte und direkt auf mein Fahrzeug zumarschierte, ich war mir bewusst, dass sie mich alle ansahen.

Kaum liebevoller stieß ich dich auf den Beifahrersitz, ignorierte deinen leisen Protest, dass sich noch unsere Sachen im Strandkorb befanden, und fuhr los. Rücksichtslos, als jagte mich meine innere Unruhe, ließ ich das Fahrzeug zu unserer Unterkunft führen. Ich wollte dich für das Bevorstehende mit Angst und Kummer versorgen. Ganz offenbar hatte ich damit Erfolg, denn mit deinem Weinen bereitetest du dich vor. Ich konnte nicht schnell genug ankommen; hätte ich zur Wohnung länger gebraucht, könnte ich mir nur ausmalen, was ich sogleich unternommen hätte. Aber wir schafften es noch rechtzeitig in die Fewo.

Ich schmiss dich zunächst gegen und erst danach durch die Eingangstür. Du fielst auf dem Boden und machtest keine Anstalten, dich aufzuraffen. Sehr gut. Genau danach war mir. Ich ging auf dich zu und überhörte alles, was mir deine Worte und Gedanken versprechen wollten. Stattdessen schlug ich dir mit der Rückseite meiner rechten Hand gegen dein Gesicht und trat einmal gegen deinen Körper.

In all der Zeit in der Wohnung habe ich keine Geräusche oder störenden Lärm von den anderen Parteien gehört. Ich glaube, dass selbst wenn du erregt stöhntest oder der Fernseher etwas zu laut eingeschaltet war, dass nichts und niemand davon Wind bekam. Was nun aber folgen sollte, dem dürften die Nachbarn sehr gerne lauschen.

Meine Hände griffen nach deinem Leib und hoben ihn an. Ich trug dich wie meine kürzlich getraute Ehefrau durch den Wohnbereich, bis ich zum erhofften Gegenstand gelangte: Es war ein Glastisch, auf dem noch zwei Weingläser von der vergangenen Nacht standen. Du hast sie also nicht aufgeräumt. Es erzürnte mich jedoch nicht – ohnehin tobte ich vor Wut und ohne jedwede Beherrschung. Du umarmtest meinen Hals, batst mich erneut um Vergebung und wolltest mich nicht loslassen. Du ahntest schon, was nun kommen sollte.

Kurz bevor ich dich auf das Glastisch werfen sollte – so viele Glassplitter! –, war mir, als ob ich dies von Anfang an machen wollte. Dass ich mich so lange zurücknehmen musste, darauf wartend, endlich zur Tat schreiten zu können. Nun würde ich es tun und einen jeden Augenblick, jeden Splitter umfänglich genießen. Ich riss meine Arme mit dir nach oben, du schwebtest nun über meinem Kopf. Und dann warf ich dich voller Kraft und voller Vorfreude auf das gläserne Möbelstück. Ich sah dich fliegen. In Zeitlupe. Ich konnte spüren, wie dein leichter Körper auf den Tisch aufstieß, ihn durch die Wucht des Aufpralls zerbrach und du Schicht für Schicht, Glas für Glas, durchfielst und hart auf den Boden aufstießt. Dieses Crescendo, diese Lautmalerei, dieses Klirren erfüllte die ganze Wohnung; gewiss das ganze Haus Atlantic.

Es dauerte einige Augenblicke, bis es ganz still wurde. Da lagst du in einem Meer aus Splittern. An mehreren Stellen konnte ich Blut erkennen, das aus deinem Leib heraustrat. Ich behielt meine Augen auf dich, bestaunte mein Werk der Zerstörung und der Wut. Merkwürdigerweise verging aber noch nicht, was sich so lange in mir angestaut hatte. Ich wartete darauf, dass du wieder etwas machen würdest, was mich abermals vergessen lassen sollte, wer ich war. Und ich wurde von dir erlöst: Denn du sahst mich und fingst wieder an zu flehen und zu heulen und zu verhandeln. Es war furchtbar und widerlich. Deine Worte und Laute, die einem getretenen Tier glichen, waren ein Alptraum für meine Ohren. Ich musste dich also zum Schweigen bringen.

Ich ließ mich auf dich hinab und schlug und tritt und biss dich. Unzählige Male drosch ich auf dich ein. Erst als du endlich deinen haltlosen Mund zum Stillstand gebracht hast, beendete ich mein Zutun. Wie hieß es in diesem anderen Lied noch: I’ll stop stabbing when you stop screaming. Wunderbar. Vor mir lag in ihrem Blut eine geschundene Frau, die eine jede Qual förmlich heraufgeschworen hatte. Welch Befriedigung ich empfand bei gleichzeitigem Ekel vor dir. Ich entfernte mich und wusch mir die blutigen Hände rein; es war Blut, das von dir und von mir stammte und nun verdorben war. Und endlich im Abguss verschwand.

Die verbleibenden Tage in Nebelhaven waren wir nur noch in der Wohnung. Du überlebtest meine Rage, aber musstest dich auch noch lange nach dem Urlaub von meinem Gewitter der Gewalt erholen. Als wir am Abreisetag zum Auto gingen und dich ein Angestellter erblickte, wurde dieser kreidebleich. Es war unübersehbar, was dir widerfahren war. Präventiv bildeten meine Lippen ein stummes Du bist als Nächstes dran, und damit verzog sich dieser Feigling bereits. Ein Taugenichts genauso wie alle anderen. Wir wechselten kaum ein Wort miteinander; eigentlich warst du so unterwürfig wie schon lange nicht mehr, fürchtetest dich wohl vor einem weiteren Kontrollverlust meinerseits. Aber trotz dieses unrühmlichen, wenngleich doch für mich zufriedenstellenden Endes habe ich den Urlaub in guter Erinnerung behalten. Es war ein schöner, ein selbst an der Nordseeküste übertrieben heißer Sommer mit vielen schönen Stunden. Ich bin mir sicher, dass auch du so denkst und du dich gerne an viele Geschehnisse rückbesinnst.

Nachdem du wieder bei guter körperlicher Verfassung warst, verließest du mich schließlich. Nach einem besonders langen Arbeitstag kehrte ich heim und fand eine Wohnung ohne dich vor. Du hast nicht vieles mitgenommen: einige Klamotten, Dokumente, die nur dich betrafen, und schließlich Geld. Mein Geld. Ich bemerkte nicht, wie du dich in den Wochen zuvor wohl etwas verändertest und den Entschluss trafst, dein Leben ohne mich führen zu wollen. Erneut wurde ich durch Zorn durchflutet, den ich an einigem Mobiliar ausließ, jedoch nicht vollends stillen konnte. Ich wusste damals schon, dass es nur eine Möglichkeit dazu gäbe.

Du siehst also: Ich kann mich an alles erinnern. An jeden Tag und jeden Moment dieses Sommers und der unmittelbaren Zeit danach. Unseres letzten gemeinsamen Sommers und unserer letzten gemeinsamen Zeit. Aber ich meine mich im Wissen, dass dir deine Erinnerungen dieselben Bilder aufblitzen lassen. Offenbar aber willst du nicht mehr in der Vergangenheit schwelgen; willst nicht mehr wissen und willst dich in deinen Gedanken nicht zurücksehen in der verlebten Zeit. Unsere Erlebnisse sollen, wenn es nach dir ginge, verschwinden, sich in Luft und Rauch auflösen. Oder noch besser: Vergehen wie der Nebel, der sich tagtäglich in der Nordstadt bildete und dann urplötzlich entschwand. Ein Wir, so wie es dies viele Jahre bestand, existiert nicht mehr für dich. Aber dann soll es auch kein Dir geben.

Du wirst kaum überrascht sein, dass ich die Sache nicht einfach belassen kann; dass ich dich aus meinem Leben nicht würde tilgen können wie eine unliebsame und unbedeutende Erinnerung. Du hattest kein Recht, einfach davonzulaufen. Habe ich dir nicht alles gegeben, was du dir wünschtest wie etwa den Sommerurlaub mit deiner Traumferienwohnung? Konntest du dir denn etwa nicht kaufen und leisten, was auch immer du wolltest? Und hast du nicht erhalten, was du verdientest? Wonach du dermaßen verlangt hast? Du schriest doch derartig danach, dass ich dich züchtigen und erziehen sollte! Dass ich dich spüren lassen sollte, was du verkehret hast und wie du es besser machen konntest – für dich und für mich. Als ob es dir jemals an etwas gemangelt hätte – jetzt tut es dies aber gewiss und dein Entbehren und Leiden wird nicht enden.

Das zwischen uns ist noch nicht vorbei und je länger mich meine Gedanken an dich und unsere Vergangenheit binden, desto klarer wird mir vor Augen, was ich machen muss. Es ist mir manchmal, als ob ich die Stimme, das Flüstern höre, das mir in Nebelhaven erklungen es: Tu es! Tu es jetzt! – so lauteten die Worte auf dem Balkon, als wir gemeinsam die mitgebrachte Pasta aßen. Hätte ich doch nur schon zuvor erledigt, was mein innerer Kompass mir – oder doch diese Stimme? – aufgetragen hatte. Aber wie sagte schon Henry Ford: Suche nicht nach Fehlern, suche nach Lösungen. Ich will mich dieses Aphorismus annehmen.

Nachdem du mich mit deiner Abwesenheit in der Wohnung zurückgelassen hattest, dauerte es lange, bis ich an ein Lebenszeichen von dir gelangte. Dieses half mir dabei, mein inneres Verlangen vollführen zu können. Du weißt ganz genau, wovon ich spreche: Ich werde dich wiedersehen – und bin bereits kurz davor. Du verließest mich nämlich nicht nur, du verstecktest dich sogar. Als würdest du wissen, was dich erwarten würde bei solch einer hinterlistigen, will sagen, weil du das Wort so abstoßend empfindest, hinterfotzigen Tat. Du und ich – es wird genauso enden, wie es enden muss. Ich werde dich finden und weil es dich vielleicht sogar noch mehr schmerzen wird, zu erfahren, wie ich dies vollbracht habe, will ich es dir schildern, damit dein furchtbares und unausweichliches Zerleben noch elendiger wird.

Wie habe ich dich also aufgespürt? Zuerst versuchte ich natürlich, dich an auf deine Handynummer anzurufen. Ich wusste, dass ich dort niemanden erreichen würde, dass der Anschluss stets unbesetzt bliebe und die Nummer bald von der Telefongesellschaft für einen neuen Kunden freigeschaltet würde. Trotzdem musste ich es probieren, um Gewissheit zu haben, denn: Ich war mitnichten der einzige Mensch, zu dem zu Kontakt pflegtest. Es gab da noch deine Freundinnen und deine Eltern, denen ich allesamt einen Besuch abstatten und mit Bestimmtheit Informationen über deinen neuen Aufenthalt erhalten würde. Mein Plan war gefasst, zugleich war mir ersichtlich, dass ich behutsam handeln musste, um dich nicht unfreiwillig auf den Plan zu bringen, wie nah ich dir doch sein würde.

Daher durchstöberte ich all deine Hinterlassenschaften in unserer früheren, gemeinsamen Wohnung. Ob nun absichtsvoll, unfreiwillig durchs Vergessen oder Zeitdruck, oder weil du schlicht und ergreifend nicht daran gedacht hattest, konnte ich dein altes Büchlein finden, in denen sich die Kontaktdaten deiner Bekannten befanden. Du warst immer schon eine schludrige, in vielen Angelegenheiten unzuverlässige und inkompetente Person. Dazu zählte wohl gewiss auch deine Gründlichkeit. Du legtest mir damit offen, wie ich meine Suche nach dir beginnen sollte. So glücklich, ganz schadenfroh wie ich gewesen bin, würden deine Liebsten sicherlich nicht werden. Auch ohne Spiegelbild konnte ich spüren, wie breit und hässlich mein Lächeln auf den Lippen war. Es war das Grinsen von Hyänen, die auf Beutezug waren und ein leichtes Opfer vorfanden.

Ich beschloss, systematisch alle Personen auszuschließen, die höchstwahrscheinlich schon lange nichts mehr von dir gehört haben oder nicht wichtig genug waren, als dass du ihnen von deiner Flucht von mir verraten würdest. Ganz bestimmt würdest du nur wenige Mitmenschen einweihen. Außerdem glaubte ich mich im Wissen, dass du ebenjene von mir warntest oder sogar beabsichtigt nicht verständigtest, weil du dir wohl durchaus vorstellen könntest, dass ich einer kleinen Recherchearbeit nachgehen würde. Vielleicht warst du ja doch nicht so planlos und dumm, wie ich in diesem Moment angenommen hatte, aber zugleich war mir klar, dass ich nach jedem möglichen Hinweis gucken musste, wenn ich dich auffinden wollte.

Ich kreuzte also all die Namen durch, die ich schon lange nicht mehr von dir vernommen hatte. Vornamen von alten Freunden, die keine mehr waren; Daten zu allerlei Beschäftigten wie Handwerkern, Kontaktpersonen in Werkstätten und anderen Unternehmen sowie Menschen, von denen ich wusste, dass sie verstorben waren, übermalte ich mir einem dicken Kugelschreiber. Dabei kam ich mir vor, als ob ich damit die aufgeschriebenen Existenzen vernichten würde: Diese Personen gab es nicht mehr in diesem Leben. Dieselbe Befriedigung würde ich allerdings nicht fühlen, wenn ich einfach deinen Namen tilgen, durchstreichen oder dein Gesicht auf einer Fotographie mit schwarzer Farbe ersetzen würde. Auf gar keinen Fall würde mir dies reichen, ich müsste schon dein richtiges Gesicht in meinen Händen erfühlen und damit zermahlen, um mir die herbeigesehnte Erfüllung realisieren zu können.

Jedenfalls übertrug ich mir die verbleibenden fünf Namen mit ihren Telefonnummern und Anschriften auf mein Smartphone. Sie alle würden bald von mir hören – und beileibe nicht nur das.

Das Ersinnen eines Plans, um dich wieder finden zu können, erfüllte mich zwar durchaus mit einigem Wohlgefallen; mein Hunger nach dir war aber nicht gestillt. Trotzdem verlor ich nicht meine Beherrschung und vollzog mein Vorhaben stattdessen vorsichtig und gewissenhaft. Du fragst dich sicherlich, welche Personen von mir aufgesucht wurden, oder etwa nicht? Ich glaube kaum, dass dich das kalt lässt, zumal du einige zuverlässig vor dir sehen kannst. Die Reihenfolge meiner Kontaktaufnahmen und Besuche legte ich so fest, dass sie sich möglichst wenig gegenseitig vorwarnen könnten beziehungsweise ich alle zeitnah befragen würde. Ich war mir sicher, dass ich all dies nur in einem knappen zeitlichen Rahmen erledigen müsste, ansonsten irgendetwas an dich durchdringen und ich damit die Chance, dich nochmals ergreifen zu können, vollends verlieren würde.

Jessica war die Erste, die von mir hörte. Sie war von den anderen Personen im Grunde genommen isoliert oder kannte sie praktisch nicht, denn du trafst sie in deinem Sportstudio, wo du zweimal wöchentlich Yoga betriebest und dich schnell mit ihr anfreundest; schließlich hast du mir nicht nur einmal mitgeteilt, dass der Sport mit einer Bekannten dann so viel mehr Spaß machen würde. Ob du dein Hobby heute immer noch verfolgst? Spätestens wenn ich dich nackt sah, befand ich die Kosten für die Fitnesshalle und den Yogakurs als absolut angemessen. Ganz zu schweigen davon, wie du deinen Leib recken und strecken konntest. Ich nahm an, dass Jessica, die du mindestens alle zwei Wochen zu uns brachtest, während ich noch arbeitete, noch nicht einmal die Telefonnummern der anderen potenziellen Informanten besäße. Wie oft sie deine anderen Freunde getroffen hatte? Einmal, vielleicht zweimal? Mir schien sie auf jeden Fall als leichtestes Ziel, zumal du mir verrietest, dass sie alleine wohnte. Dann würde sie sich doch bestimmt über einen Männerbesuch erfreuen.

Ihre vollständige Adresse war allerdings nicht notiert, sondern nur ihr Name und Telefonnummer und außerdem in fein säuberlicher Schrift Yogamentorin. Wie verächtlich ich gelacht hatte, als ich diese peinliche Bezeichnung las. Zumal du mir einen deutlichen Hinweis damit gegeben hast, wie ich sie auffinden konnte: Ich wartete. Ohnehin waren die nächsten Wochen von viel Wartezeit und Geduld und Angespanntheit geprägt. Aber ich beschwor mich selbst, dass sich dies bald auszahlen würde und malte mir während der vielen Zeit gedanklich aus, was ich dir alles antun würde. Vor eurem Fitnessstudio verbrachte ich also in meinem Volkwagen die Observation, wie man es in Krimis so gerne bezeichnete. Ich bemerkte schnell, dass deine Yogamentorin dir scheinbar nicht nur eine gute Freundin war, sondern offensichtlich besessenen davon war, zum Sport zu gehen. Dadurch konnte ich ihr schon rasch und problemlos nach Haus folgen. Durch ihre Routine würde es mir leicht fallen, sie zeitnah aufsuchen zu können. Es würde jedoch umso mehr verwundern, wenn Jessica gerade nicht zum Yoga ginge. Wahrscheinlich, so dachte ich mir, würde ein einfaches Gespräch zwischen ihr und mir ausreichen, ohne dass ich ihr Informationen aus ihrem Leib herauszwingen musste. Im Zweifelsfall, wenn mich ihre Auskünfte nicht überzeugten, würde ich aber zu solch Mitteln greifen. Ich war bereit.

Nachdem sie an einem Mittwochvormittag zu Hause einkehrte – Jessica schien im Homeoffice frei ihre Arbeitszeit wählen zu können –, geduldete ich mich zunächst für einige Minuten in einer Nebenstraße. Ich marschierte dann auf ihre Haustür zu, einem Mehrfamilienhaus, und hoffte, ungesehen zu sein. Ich klingelte und entschied mich dafür, zumindest in Teilen die Wahrheit zu verkündigen, als sie fragte, wer denn vor der Türe sei. Ich würde nach Elisa suchen, sagte ich ihr, die ich seit einem Monat nicht mehr gesehen hätte. Das Türklirren verriet mir, dass Selbiges für sie galt und sie zu gerne ebenso herausfinden würde, wo du dich befändest.

Sie ließ mich in ihre etwas chaotisch eingeräumte und nicht besonders ordentliche Wohnung ein – scheinbar war ihr das Training wichtiger als die Ordnung in ihrer Behausung. Aber ihr Sofa, auf dem wir gemeinsam Platz nahmen und Kaffee tranken, war ausgesprochen bequem. Ich verkniff mir ein jedes angewidertes Herabblicken auf sie und ihr Heim und erzählte zunächst wahrheitsgemäß, dass du mich von einem auf den anderen Tag verließest und ich beim Durchstöbern deiner Sachen auf das Adressbuch stieß. Jessica war eine gute Zuhörerin, fiel einem nicht ins Wort, sondern nickte, gab hier und da ein kurzes Murmeln von sich – aha,das darf nicht wahr sein!, so lange schon weg – und vernahm ein jedes Wort. Aufmerksam erkundigte sie sich danach, wie die Wohnung aussah, als du fortliefest, und wollte schließlich wissen, warum du es tatst. Hier belog ich sie zum ersten Mal. Ich wusste, dass ich nicht ganz ahnungslos sein durfte, ansonsten würde sie mir nicht glauben. Zugegeben: Sie war wohl nicht nur deine Yogamentorin, sondern auch nicht auf den Kopf gefallen, wie du so gerne sagtest. Was für ein primitiver Ausdruck deinerseits. Jedenfalls erklärte ich, dass wir Meinungsverschiedenheiten im Hinblick auf unsere Zukunftsplanung hätten – mit größter Zurückhaltung offenbarte ich ihr, dass ich deinen Kinderwunsch nicht teilte. Und damit knackte ich sie.

Sie rückte näher an mich heran, dadurch konnte ich sie noch näher mustern, ihren Geruch wie ein wildes Tier aufnehmen und mir bereits vorstellen, wie sich meine Hände rasch um ihren Körper, bevorzugt ihren dünnen mit Äderchen übersehenen Hals, schmiegen würden. Ja, das war doch ein guter Vorgeschmack auf dich. Sie war mir also nun deutlicher näher auf der Couch und – obwohl nur wir beide in ihrer Wohnung waren – flüsterte sie mehr als zu reden über dich: Mehrmals hättest du ihr schon geschildert, wie gerne du dir eine Familie wünschtest, wie du in deinen Träumen dein Leben sähst und was dich noch so alles störte an einer eigentlich so tollen Beziehung mit mir. Entweder war deine Sportfreundin zu diskret oder fürchtete sich davor, zu erwähnen, ob du ihr auch davon erzähltest, dass ich manchmal dein missliches Verhalten bestrafen musste. Ich glaube aber kaum, dass sie mich überhaupt in ihr Heim gelassen hätte, wenn sie davon ahnen würde.

Mir jedem Wort wurde mein Zorn genähert. Jeden Vorsatz der Zurückhaltung wollte ich sofort ablegen, aber noch brannte mir eine Frage auf den Lippen. Es war unklug, aber ohnehin alles bereits entschieden: Ich fragte Jessica, ob sie wüsste, wo du dich befändest. Es war nur ein winziger Moment, aber ich sah in ihren Augen, dass sie von dieser Frage ganz überrascht war, als wäre sie ertappt. Als wüsste sie mehr, wenngleich sie dies augenblicklich abstritt und recht glaubwürdig versicherte, dass sie von dir seit Wochen nichts mehr gehört hätte. Mit einem Lächeln quittierte ich ihre Antwort und nahm sanft eine ihrer Hände in die meinen: Ich bedankte mich für ihre Offenheit. Dann drückte ich zu.

Unzählige Knochen spürte ich in meinen Händen brechen; bevor sie reagieren konnte, ergriff ich ihren Kopf und rammte ihn auf den Couchtisch. Was für ein wunderbares Geräusch, als ihr Kopf gegen das schwere Holz krachte und ich erneut das Knacken von Gebeinen hören konnte. Ich richtete mich auf und hob sie in die Höhe: Aus ihrem offenen Mund floss Blut und mindestens drei Zähne schienen aus ihrem Gebiss verschwunden. Es lief viel besser als erwartet. Also fragte ich sie erneut, wo du stecktest. Und wieder beteuerte sie mit einem Kopfschütteln, dass sie es nicht wüsste. Ich schlug also abermals zu. Und dann würgte ich sie. Es war herrlich. Als sie kurz vor der Bewusstlosigkeit stand – ihr Körper fühlte sich dabei so leicht an, als wäre sie schwerelos –, stellte ich ihr zum letzten Mal die Frage: Wo ist Elisa? Wieder keine Antwort. Entweder wusste sie es wirklich nicht oder sie schützte dich. Ehrlich gesagt spielte es für mich keine Rolle, denn ich war in Fahrt und genoss mein Zutun. Ihr Hals wurde nun bis zu ihrem Ableben gewürgt, meine Hände schienen diese Handlung wie von selbst auszuführen. Und als das befriedigende Geräusch erklang, als ihr Körper leblos und schlaff wurde, ließ ich los. Jessica war tot.

War es das, was du von mir wolltest? Dass ich nach dir suchen und dabei deinen Mitmenschen Leid verursachen sollte? Scheinbar wolltest du es, scheutest das Risiko nicht oder es war dir gleichgültig. Jessica, deine Yogamentorin, war freilich die erste und würde nicht die letzte bleiben. Ich habe Blut geleckt und wollte noch mehr verköstigen. Es ist ganz alleine deine Schuld, dass es so weit kommen musste.

Nur in schemenhafter Erinnerung sehe ich vor mir, was ich mit der Toten angestellt hatte. Ich versteckte sie in ihrer Badewanne, legte Schicht und Schicht von Handtüchern über sie, damit sie zumindest nicht sofort gefunden wurde und räumte die Spuren des Kampfes beiseite. Beide Kaffeetassen stellte ich in die Spülmaschine und ließ diese laufen. Auf den ersten Blick konnte man nichts erkennen. Mit einer großen Erleichterung stellte ich fest, dass sie keine Haustiere besaß, sodass ich mich nicht noch um dieses Problem kümmern musste. Zwar konnte ich nichts Handfestes von ihr in Erfahrung bringen, aber dieses Zögern in ihrer Miene. Sie wusste etwas und bald würde ich es zu Tage bringen.

Mein nächstes Handeln musste aber besser und koordinierter ablaufen. Deine beiden Freundinnen Gina und Maike waren seit deiner Schulzeit Begleiterinnen von dir und darüber hinaus selbst befreundet. Ich wusste, dass sie sich regelmäßig trafen und definitiv etwas von dir mitbekommen würden. Also erschuf ich einen genialen Ablauf, wie ich beide zeitgleich besuchen würde.

In deinem alten Arbeitszimmer fand ich einige sehr persönliche Andenken von dir: Bilder von deinen Eltern, Postkarten, die viele Jahre alt waren, und das Plüschtier, eine Muschel, die du seit deiner frühen Kindestagen stets bei dir trugst und in unserem Schlafzimmer als ein zusätzliches Kissen verwendetest. Und noch anderen wertlosen Krempel. Alles gelangte in einen Karton, auf den ich in Großbuchstaben Elisa schrieb und mit Paketband zuklebte. Maike war eine ehemalige Arbeitskollegin von dir, als du noch ohne mich warst und für deinen Lebensunterhalt sorgen musstest, und so gelangte ich am nächsten Tag in der Frühe unangekündigt in deine frühe Arbeitsstätte: ein Fotostudio in der Innenstadt Göttingens mit dem dämlichen und so nicht in Englische übertragbaren Namen Shoot me! Wie gerne ich dies jedes Mal wortwörtlich gemacht hätte, wenn ich den Titel gelesen hatte.

Ich öffnete die Eingangstür und ging raschen Schrittes und ohne größere Höflichkeit oder Freude zu zeigen auf Maike zu und ließ den Karton auf den Boden fallen. Den kannst du der alten Schlampe überreichen, stieß ich gekünstelt wütend – oder war ich es in diesem Moment tatsächlich? – aus und drehte mich um, ohne ihre Reaktion abzuwarten oder beobachten zu wollen, was sie tun würde. Wie dumm du und deine Freundinnen doch sind, und damit meine ich nicht nur eure schlechten Englischkenntnisse. Denn es traf genau das ein, was ich mir gedanklich zusammenspann: Du wurdest nicht von deiner ehemaligen Kollegin informiert, sondern diese rief stattdessen Gina an, um sich mit ihr zu beraten, was sie unternehmen sollten. Sollten sie dich darüber in Kenntnis setzen, dass ich dein Hab und Gut mitgebracht und aus der Wohnung getilgt habe? Dass ich scheinbar nichts mehr von dir hören wollte und darum alles wegschmiss, das dir gehörte? Dass ich vielleicht wirklich einen Schlussstrich unter unsere Beziehung gesetzt habe? Scheinbar war der Drang nach einem Austausch so groß, dass Maike überhastet den Fotoladen verließ und für den Rest des Tages zumachte. Oder besser gesagt: für immer.

Ich musste Maike gar nicht folgen, sondern wartete bereits vor dem Einfamilienhaus von Gina und ihrer missratenen Familie. Aber nur Gina war noch daheim, denn ihr Mann war bereits auf seiner Arbeit und die beiden Kinder in der Schule. Ich staunte über mein eigenes, so nachsichtiges Handeln und grinste, als ich sah, wie Maike mit ihrem Fahrrad, auf dem hinten der Karton eingespannt war, auf die Zufahrt des Hauses zufuhr. Sobald beide im Inneren verschwunden waren, wartete ich nur eine kurze Zeit ab. Ich durfte nicht riskieren, dass diesen dummen Hühnern doch noch etwas Sinnvolles einfiel. Ich stellte mich vor die Haustür und klingelte einfach.

Als hätte sich der Paketbote oder ein Nachbar bemerkbar gemacht, wurde die Tür ohne Aufregung von Gina geöffnet. Diesen Ausdruck von Panik, als sie mich erblickte, habe ich mir gründlich in meinen Erinnerungen abgespeichert. Wie schön es doch wäre, wenn ich mir diesen ausdrucken und über den Fernseher hängen könnte. Mit einem Fußtritt riss ich die Tür auf und stieß dabei Gina von ihren Beinen. Ich betrat das Haus, verschloss die Tür und zerrte die Gefallene an ihren Haaren in die Küche, wo Maike ebenfalls starr vor Schrecken saß und noch angstvoller wurde, als sie meine Person erkannte.

Ich will dir die Details ersparen, zumal mich das Verhalten deiner Freundinnen mehr in Rage versetzte, als ich es in den Wochen zuvor gewesen bin. Dieses Flehen und Bitten und Heulen und Verhandeln und Nicht-akzeptieren-Wollen waren einfach zu viel für meine Nerven. Erst als beide auf dem Boden lagen, sich vor Schmerzen krümmten und ich ihnen klar gemacht habe, dass es nur eine Option gäbe, wie sie lebendig aus dieser Situation kämen, heiterte sich mein Gemüt auf. Beide wussten von dir, nicht wahr? Du weihtest sie ein, und irgendwann waren die Schmerzen und die Frucht vor noch mehr Qualen größer als ihre Loyalität dir gegenüber. Trotzdem: Erstaunlich wenig wussten sie über deinen Aufenthalt. Du hättest nach dem Urlaub in Nebelhaven die Entscheidung getroffen, von mir wegzulaufen. Dabei betonte Maike das letzte Wort wegzulaufen so eindringlich, um darzustellen, wie furchtbar es dir angeblich bei mir ergangen sei. Dafür sollte sie später noch büßen. Aber mehr erfuhren sie von dir nicht: Du wolltest weit weggehen, vielleicht sogar Deutschland den Rücken kehren. Jedoch hättest du große Angst und darum verrietest du ihnen nicht mehr, wolltest dich dennoch in ferner Zukunft bei ihnen melden, wenn etwas Zeit vergangen wäre.

Kurz beschlich mich das Gefühl, dass ich zu voreilig gehandelt hätte; dass ich hätte länger aushalten müssen, bis du dich bei ihnen gemeldet hättest. Dass all mein dringliches Auffinden von dir, die du mich verlassen hast, zu überstürzt war. Aber ich warf meine Zweifel über Bord, denn wie lange hätte ich warten und meinen Zorn aufhalten können? Ich befürchtete an manch Tagen, dass er mich vollständig aufsaugen würde, wenn ich nicht endlich etwas unternehme. Und das tat ich nun. Außerdem schien es mir, als würden Vorwürfe in ihren Worten aufblitzen, als würden sie mir die Schuld dafür geben, dass sie mir nicht mehr schildern könnten, weil ich so ungeduldig sei. Als mir diese Vorstellung durch den Kopf raste, verlor ich zum wiederholten Male alles an Kontrolle über mein Sein und folgte dem Verlangen meines Körpers. Gina und Maike waren bald ebenso tot wie deine Yogamentorin Jessica.

Ich machte mir im Gegensatz zum ersten Opfer keine Mühen, die Unordnung aufzuräumen. Einerseits würde früher oder später ohnehin Ginas Familie einkehren und dann das Fehlen ihrer Mutter bemerken; andererseits wütete ich und verwandelte den Wohnbereich in einen Horrorschauplatz mit zerstörten Möbeln, Blut und zwei entstellten Leichen. Es war sinnlos. Das Einzige, was ich mir nicht nehmen konnte, war, dass ich mich erneut reinwusch. Wie damals als ich dir den Lebensmut in der Ferienwohnung in Nebelhaven ausprügelte und unser Blut sich vermischte. Beim Reinwaschen spürte ich Wunden an meinen Händen, die von den Schlägen stammen mussten, die ich deinen Freundinnen verübte.