Geschichten aus Nebelhaven - Patrik Bruna - E-Book

Geschichten aus Nebelhaven E-Book

Patrik Bruna

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Beschreibung

Die unterschiedlichen Schicksale der vier Protagonisten spielen bzw. führen nach Nebelhaven, einer fiktiven Hafenstadt im Norden Deutschland. In jeweils einer Kurzgeschichte wird der Lebensweg der Figur dargestellt, dessen Leben und Entscheidung durch Verlust, Angst, Trauer, Wut und Verzweiflung. Und dann scheint noch eine übernatürliche Kraft Einfluss auf das Leben ebenjener vier Protagonisten zu nehmen.

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Seitenzahl: 530

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Texte: © Copyright by Patrik BrunaUmschlaggestaltung: © Copyright by Patrik Bruna

Verlag:Patrik BrunaMasch 7a38154 Königslutter am [email protected]

Vertrieb: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Für Dana

Heimkehr

Er wusste, dass er eigentlich nicht am Steuer sitzen und dem endlosen Asphaltpfad folgen sollte, der wie ein giftiger, sich stets ausbreitender Pilz in die Landschaft hineingepflanzt wurde. Das Netzwerk aus Teer und Toxin gelangte überall hin, bald schon würde eine jede Oberfläche bedeckt und miteinander verschmolzen sein. Genauso wie alle anderen bewegte er sich auf den Adern dieses Giftes und bemerkte dabei seine intoxikierende Wirkung nicht. Der Fahrer wurde wie von einer unsichtbaren Hand geführt. Jeder Schritt und jede Bewegung erfolgten wie auf Geheiß. Automatisch. Scheinbar ohne sein Zutun. Im Inneren wusste er, was dies bewirkte, wenngleich er es nicht aussprechen konnte. Ohnehin spürte er dieses Gelenktwerden nicht, sondern glaubte sich im Bewusstsein, seinem eigenen Willen zu folgen, selbstständig in sein Fahrzeug gestiegen zu sein. Doch es war keine eigene Entscheidung, in den frühen Vormittagsstunden aus Stuttgart aufzubrechen und nach Nebelhaven heimzukehren.

Er wurde gerufen. Von einer Stimme, einer Vorahnung, einer Sehnsucht. Er würde heute den ganzen Tag unterwegs sein, bis er in den Abendstunden an die Nordsee zurückkäme. Dort, wo seine Heimat war. Dort, wo es ihm häufig so schwer fiel, zu atmen und sein Leben zu leben. Diese Stimme, keine innere, zerrte an ihm, so wie sie es bei allen tat, die Nebelhaven ihr Zuhause nannten.

Der Fahrende befand sich noch nicht einmal eine Stunde in seinem schwarzen Seat Leon und seine Gedanken fingen bereits an, abzuschweifen, ihm zu entgleiten. Er würde den größten Teil der Autofahrt auf der Autobahn 7 verbringen, bis er auf die Autobahn 27 wechseln müsste, mit einem auf 120 km/h eingeschalteten Tempomaten, sodass es wohl nur eine Frage der Zeit gewesen wäre, bis er nicht mehr allzu konzentriert auf die asphaltierte Straße mit ihren endlosen Kreidemarkierungen blickte, seinen Gedanken folgend. Nur die gestrichelten Linien auf der dreispurigen Schnellstraße sowie einige blaue Anzeigetafeln verrieten, dass man sich tatsächlich nach vorne bewegte und nicht wie in einer Zeitschleife immer und immer wieder denselben Streckenabschnitt passierte. Es wirkte auf ihn hypnotisierend und nun merkte er selbst, dass er nur mit halbem Bewusstsein Richtung Norden fuhr. Er erschrak aber bei diesem Gedanken nicht, denn es war nicht das erste Mal, dass er Hunderte von Kilometern zurücklegen musste, um wieder zu seinem Heim zu gelangen. Er verließ sich auf sein Auto mit all der modernen Technologie wie dem Fahrerassistenzsystem oder dem Abstandssensor sowie seiner Intuition und langjährigen Erfahrung als Autofahrer. I’m ready to come home, sang er leise und amüsiert vor sich hin und ließ sich jetzt bewusst in seine Gedanken fallen.

Er liebte diese langen Autofahrten, endlich genügend Zeit, um nachdenken zu können. Über das, was geschehen ist, was leider nicht eintraf und was nicht ungeschehen gemacht werden konnte. Am Ende der Autofahrt würde sich das karthagische Gefühl einkehren und ihn trotz der anstrengenden und langen Überfahrt mit Zufriedenheit zurücklassen. Und danach könnte er dann wieder damit anfangen, zu ignorieren. Zu vernachlässigen, was ihn aus seiner Heimatstadt immer wegstieß, in die Ferne schickte und dann doch zuverlässig zurückholte.

Es waren dieses Mal die Architects, die ihn nach Stuttgart führten. Er liebte diese harte Musik mit sanften Melodien, die brutalen Gitarrenriffs und das durchdringende Schlagzeug sowie die Mischung aus Gesang und Geschrei. Wenn Sam Carter Gift und Galle spuckte, nur um im anschließenden Refrain das Stadion zum Mitsingen und zum Loslassen seiner Selbst zu bringen, dann fühlte sich Paul wohl. There is a holy hell / where we can save ourselves! Es war so faszinierend für ihn, wie es möglich war, dass Künstler aus allen Ländern die Welt bereisten und mit Musik Millionen von Menschen bewegten, sie veränderten und sogar glücklich und zufrieden machten. Das trieb ihn voran. Immer. Besonders dann aber war das positive Empfinden für und mit Musik wichtig, wenn er sich alleine und unglücklich fühlte. Wenn er nicht wusste, was er machen und wie sein Leben fortführen solle. Wenn seine Eltern anriefen, er aber nicht ans Telefon gehen wollte. Wenn alles manchmal so sinnlos erschien.

Er lebte für die Musik und das Konzertreisen, wünschte sich aber trotzdem, noch einen weiteren Sinn in seinem Leben zu finden. Oder lag es doch viel mehr daran, dass da eine Leere in ihm war, die er nicht zu füllen wusste. Eine Leere, die ihn und alles wie ein schwarzes Loch aufsaugte. Nur ahnte er dies nicht, sondern ließ es weiterhin an ihm zerren, ihn langsam auszehren. Dass er dies nicht erkannte und es ihm auch nicht gelang, sein Leben zu leben, lag an seiner fehlenden Reflexion, an einer nicht geschehenen, ehrlichen Auseinandersetzung mit ihm und seiner Vergangenheit. Daher setzte er fort, was er sich in seinen sechsundzwanzig Lebensjahren als Bewältigungs- und Vermeidungsstrategie angeeignet hatte: Er besuchte zahlreiche Konzerte seiner Lieblingsmusikgruppen und nahm dafür lange Wege gerne in Kauf. Eigentlich gehörte dies zum Erlebnis, und so war er niemals wirklich enttäuscht, wenn die Agenturen der Musiker lieber größere Städte in Deutschland vorzogen als Nebelhaven, das knapp zehntausende Einwohner beheimatete.

So wie jedes Mal fuhr er alleine. Er hatte keine Freunde, sondern nur Bekannte, Nachbarn und Arbeitskollegen. Aber niemanden, mit dem er freiwillig stundenlang umherreisen und dann Konzert und zumeist auch Übernachtung verbringen würde. Vor Jahren gab es Natascha. Mit ihr teilte er seine Leidenschaft. Sie wurde Teil dessen für zwei wunderbare Jahre. Nachdem sie aber fortging und er eine halbleere Wohnung vorfand, hinterließ sie nicht nur das alte, mit kleineren Knicken und Rissen versehene Poster von Avenged Sevenfold mit dem Fledermaustotenschädel der US-Amerikaner. Als unfreiwilliges Abschiedsgeschenk bemerkte er eine Last in seinem Herzen, die scheinbar von den Erinnerungen an sie gefüllt war und sich nicht entfernen ließ. Es dauerte lange, bis er nicht mehr an sie dachte; mit der Zeit spürte er diese hinterlassene Last immer weniger, wie eine Narbe haftete sie sich dennoch an ihn.

Das Verreisen verhalf ihm dabei, wieder Fuß zu fassen. Es war ungewohnt, danach wieder einsam zu sein, nur eine Konzertkarte zu kaufen, ein Hotelzimmer für nur eine Person zu buchen und trotz der vielen Leute alleine das eigentliche Konzert zu verbringen. Wenn er sich in den Konzerthallen oder kleinen Klubs umschaute, gehörte er zweifelsfrei zu den wenigen Ausnahmen, die ohne Begleitung auf dem Event erschienen. Bemerkte er dies, nahm er sich manchmal vor, ebensolche Mitmenschen anzusprechen, vielleicht mit ihnen das unglückliche Schicksal zu teilen und gemeinsam die Musik zu erleben. Aber er wusste nie so recht, was er sagen, wie er auf diese Menschen zukommen sollte. Also ließ er es und ignorierte nach größter Möglichkeit die freudigen Kleingruppen und Pärchen, die zusammen das Konzerterlebnis genossen. Mit jedem weiteren Gig, jedem weiteren Kilometer außerhalb von Nebelhaven rehabilitierte sich Paul und bald schmerzte es nicht mehr; zunächst nicht mehr so sehr und bald gar nicht mehr. Im Gegenteil: Er fand einen noch größeren Gefallen daran, einfach fernzubleiben. Von allem, was eine Verpflichtung und Verantwortung für ihn darstellte. Dazu zählte auch seine Vergangenheit, sein Name auf der Klingel seiner Wohnung und der frische Nordwind, an den er sich in all den Jahren nicht gewöhnen konnte.

Sein Hals fühlte sich furchtbar trocken an. Für gewöhnlich unternahm er seine Ausflüge am Wochenende und blieb fast ausnahmslos über Nacht in der auserkorenen, fremden Stadt. Er wollte dabei nicht nur eine nächtliche und äußerst strapaziöse Überfahrt vermeiden. Langsam bemerkte er, dass ihm schon eine einzige, lange Fahrt am Tag ziemlich zusetzte. Eine weitere Ursache spielte eine bedeutsame Rolle für ihn: Er genoss es einfach, nicht nur in der Musik zu ertränken, sondern auch in jeder Menge Alkohol. So leichtsinnig er sich manchmal verhielt, so schloss er es vehement aus, intoxikiert zu fahren. Also blieb er über Nacht, trank noch so viel mehr und kehrte erst am Folgetag zurück. Die Folgen seiner Eskapaden – und ein trockener Hals gehörte zu den weniger schlimmen Symptomen – waren wohl ebenso Teil seines Verreisens. Sie waren ein Momentum des Rituals und nicht wegzudenken. Für Paul waren sie selbstverständlich und halfen ihm bei seiner rituellen Säuberung.

Trotz seines angeschlagenen Halses griff er automatisch auf den Beifahrersitz und ertastete die blauen John Player Special. Erst vor einem Jahr wechselte er seine Marke von den roten Gauloises, die ihm nach einer Umstellung in der Produktion nicht mehr schmeckten. Ein umweltfreundlicherer Anbau führte dazu, dass der Tabak eine Nuance zu bitter wurde. Nachdem er sich mehrmals gezwungen hatte, die Sorte dennoch zu behalten, wachte er eines Tages mit einem furchtbar bitterlich-faden Nachgeschmack auf. Eigentlich gehörte es zu seiner Morgenroutine, in seinem Bett eine Zigarette zu rauchen, aber er konnte sich nicht überwinden. Noch vor der Mittagsstunde kaufte er im Kiosk in der Nebenstraße alle möglichen Schachteln und Marken und rauchte diese nach und nach auf. Es dauerte eine Woche und dann entschied er sich für die blauen Glühstängel der John Player Special. Sie wurden nun zu seinen neuen Begleitern, Gefährten im Alltag und auf seinen langen Reisen.

Er nahm sich eine Zigarette heraus und führte sie zwischen seine Lippen. Genauso blind betätigte sein Ringfinger den Zigarettenanzünder, der nun gelb aufleuchtete. Paul genoss die Sekunden, bis sich die Leuchtfarbe auf Rot würde umschalten müssen. Eine leichte Aufgeregtheit stieg in ihm immer kurz auf, wenn seine Zigarette bereits im Mund war und er am Liebsten zu rauchen beginnen würde, er sich aber noch gedulden musste. Er war überrascht, als er den Neuwagen im vergangenen Jahr entgegennahm und auf seiner Jungfernfahrt bemerkte, dass nur eine Attrappe die Bordspannungssteckdose bedeckte. Er hielt bei der ersten Gelegenheit an und suchte im Handschuhfach nach seinem wichtigsten Werkzeug – und fand es nicht. Dies bestätigte seine Sorge, dass das Rauchen nicht mehr mehrheitsfähig war, was wiederum zwangsläufig zur Folge haben würde, dass es in naher oder ferner Zukunft noch weiter erschwert würde. Nirgends durfte man mehr rauchen, man wurde als lasterhaft und süchtig stigmatisiert, und innerlich fürchtete Paul, dass es eines Tages vollständig verboten sei.

Er navigierte sogleich zu einem Media Markt, wo er fündig wurde und einen zwar überteuerten, dafür in goldener Fassung gekleideten Anzünder fand. Für das erste Rauchen nahm er sich die Zeit, die es verdiente. Er startete den Motor und verwendete seinen neuen Schatz. Glänzend. Als der Anzünder auf Rot wechselte und mit einem Drücken aufploppte, zündete er seine Zigarette an und genoss jeden Zug, bis nur noch der vergilbte Filter zwischen seinen Fingern überblieb. Unzählige weitere verbrannten in seinem Auto und seinen Lungen seit jenem Tag. Das Klicken des Anzünders brachte Paul zurück auf die Autobahn, raus aus seiner Gedankenverlorenheit, und kurz darauf inhalierte er bereits tief ein, spürte den Rauch in seinen Atemwegen und blies ihn genussvoll aus. Es fiel ihm schwer, sich an die Zeit zurückzusinnen, als er noch nicht rauchte. Das Rauchen wurde zu einer Konstanten in seinem Leben. Alle Ereignisse und Menschen, einfach alles, was ihn zu dem machten, der er heute war, geschahen, als er bereits abhängig vom Nikotin war, dies aber nicht als Last, sondern als Bereicherung verstand. Paul genoss es nicht nur, es gab ihm auch Kraft. Kraft, die er nicht wenige Male bedurfte, um weitermachen zu können.

Anstatt also an die Zeit davor zu denken, erinnerte er sich in diesem Augenblick daran, als er als Zehnjähriger mit Maik Jörgensen zum ersten Mal am verlassenen Güterbahnhof von Nebelhaven eine Zigarette rauchte: der Geruch von verbranntem Tabak, das fast lautlose Knistern des verbrennenden Papiers und das Füllen der Lungen mit Rauch. Er sah alles vor sich, es war fantastisch. Er wusste sofort, dass dies nicht seine letzte Zigarette sein würde. Maik, welcher die Schachtel seinem Vater aus dem Arbeitsrucksack gestohlen hatte, hustete jedoch unüberhörbar und blickte Paul ungläubig an. Dieser widerwärtige Geschmack und das Brennen in seinen Atemwegen missfielen ihm. Er merkte bereits nach dem dritten Zug, dass er leichte Kopfschmerzen bekam und sich sein Magen vor Übelkeit verkrampfte. Aber anstatt seinen Glimmstängel wegzuwerfen, was er am liebsten getan hätte, rauchte er diesen aus Gruppenzwang auf, damit er nicht als ein Feigling gelte und er sich vor seinem Freunde beweise. Im Anschluss überreichte er seinem Mitschüler feierlich die Tabakware aus dem Hause Marlboro. Für ihn sollte es die Erste und Letzte bleiben. Zumal es sich als Glücksfall für ihn herausstellte, denn sein Vater durchsuchte am gleichen Abend seine Kleidung und seine Schultasche und fand dort seine vermisste Schachtel nicht. So entschuldigte er sich bei seinem Sohn für den vermeintlich fälschlichen Verdacht; Björn Jörgensen zündete sich aus seiner neuen Packung eine Zigarette an und überlegte sich, wie er seinem Sohnemann eine kleine Freude als Entschuldigung für den Zwischenfall erbringen könnte. Es wäre Maik und gewiss ebenso Paul wohl nicht gut ergangen, wenn sich das Gegenteil ereignet oder sein Vater im Nachhinein die Wahrheit über die gestohlenen Zigaretten erfahren hätte.

Der Güterbahnhof stellte für die beiden Freunde eine Art Spielplatz für Jugendliche dar, eine Art Sandkasten für Adoleszente mit all ihren Vorstellungen und Gedankenspielen. Sie fühlten sich zu alt, um an Klettergerüsten herumzualbern oder die Rutschen runterzugleiten. Sie brauchten einen anderen, einen erwachseneren Ort, sodass sie oftmals nach der Schule hierherzogen und ihrer Fantasie freien Lauf ließen. Das Gelände, bestehend aus so viel Eisen und Stein, eignete sich auf Grund seiner Größe und den dortigen Gegebenheiten perfekt: Schier endlose Schienenadern verliefen in alle Richtungen, ausrangierte und verwaiste Güterwagen, häufig mit Graffitis oder bloßen Schmierereien versehen, standen still und unbeobachtet da, und um zwei verlassene Lagerhallen schien sich ebenso niemand mehr zu kümmern. Dass Letztere mit zunehmender Dauer mehr und mehr Fenster verloren, sich Rost und Dreck an den Gebäuden wie ein tödlicher Infekt ausbreiteten, fiel nur den beiden Jungen auf. Aber keineswegs sahen sie darin eine Art Hässlichkeit oder Verwahrlosung, sondern deuteten dies als Zeichen einer langen, geheimnisvollen Geschichte, die es zu erforschen galt. Hier auf dem verlassenen Güterbahnhof im abgelegenen Industriegebiet spielten die beiden Schulfreunde meistens alleine und ohne andere Jungs. Es war ihr Refugium, ein Ort, den niemand kannte und kennen sollte. Gewissermaßen banden sie ihre Freundschaft an den alten Bahnhof: Solange es diesen Platz gab, blieben sie befreundet. Solange die Freunde waren, würden sie an diesen Platz geführt.

Sie waren Piraten, gingen die Schienenpfade auf selbst gemalten Schatzkarten nach und suchten das erbeutete Silber der spanischen Galeonen, die der englische Seeräuber Ray Clover versteckte. Dabei beschossen sie Karavellen – die alten Güterwaggons –, die sich aus einem Hinterhalt materialisierten und ebenso den verlorenen Schatz der Silberflotte forderten. Dann waren sie Banditen des Wilden Westens und überfielen Güterzüge, bestahlen die Fahrgäste und sprengten die versteckten Tresore auf, um sich mit Gold und noch mehr Wertgegenständen zu bereichern. Und als sie ein wenig älter waren, wurden sie gejagt. Von der Polizei, der Drogenmafia oder rachsüchtigen Ehemännern, die die Ehre ihrer geschundenen Liebsten wiederherstellen wollten. Sie versteckten sich in allen Ecken, kletterten in den verlassenen Lagerhallen auf und ab und trauten sich sogar einmal, das Dach zu besteigen, obwohl beiden ganz mulmig dabei zugange war. Letzteres sprachen sie natürlich nicht aus. Als ihr Fluchtspiel jedoch vorbei war und sie sich dann des Abends auf den sicheren Boden niederließen, entdeckten beide im Gegenüber die Erleichterung, nicht mehr fünfzehn Meter in der Höhe zu verweilen. Sie hatten eine unfassbar schöne und einzigartige Zeit an diesem Ort, sodass den Freunden ganz ersichtlich wurde, wie toll ihre Jugend war. Diese Zeit half aber auch dabei, schlechte Erfahrungen, Misserfolge und Ärger im Elternhaus und der Schule zu vergessen und bisweilen zu verarbeiten. Paul hatte mit Maik einen besten Freund gefunden, so wie es sich ein jeder Junge verdiente.

Manchmal wenn er es nach seiner Arbeit nicht eilig hatte, fuhr er einen kleinen Umweg am alten Güterbahnhof vorbei, der heutzutage noch verwahrloster, abgeschiedener und einsamer wirkte. Gelegentlich hielt er sogar an und blickte in die Ferne, ohne jedoch nochmals den alten Lieblingsort seiner Jugend betreten zu wollen. Diesen Ort, diesen Erwachsenensandkasten, gab es nicht mehr. Er starb mit Maik, der so gerne auf den Schienen entlangwanderte und dabei die zahllosen Schwellen aus Beton abzählte. Maik, der ihm die ersten Zigaretten geschenkt hatte, sie selbst aber nicht vertragen hatte. Maik, sein eigentlich einziger und richtiger Freund, den Paul jemals hatte. Maik. Maik, der sich vor einen Zug stürzte, als er von seiner ersten Freundin Melanie sitzen gelassen wurde und sich keinen anderen Ausweg als den Freitod vorstellen konnte. So furchtbar der Tod gewesen war, so schloss sich gewissermaßen der Kreis, denn auf den Schienen fühlte er sich daheim. Die Schienen sollten Maiks letzter Ort werden, als er noch unter den Lebendigen wanderte. Für Paul bedeutete das Ableben seines Freundes nicht nur ein schrecklicher Schmerz des Verlustes, sondern sogleich verlor er den alten Güterbahnhof als Ersatzheimat. Er vermied diesen Ort, der vormals für Freude, Glück und Freundschaft stand, und betrat ihn nie wieder. Es entwickelte sich eine regelrechte Phobie vor Zügen, sodass er seitdem niemals mehr mit der Bahn verreiste. Nur manchmal schaffe er es, wenn er sich stark fühlte und es nicht eilig hatte, einen kleinen Umweg einzulegen und hierher zu gelangen. Dann starrte er aus einem sicheren Platz in die Ferne, so lange und so intensiv, dass er das Atmen vergaß. Maiki.

Paul merkte gar nicht, dass ihm ein großer Teil verbrannter Zigarette als Aschestängel auf seinen Oberschenkel fiel, denn: Er sah nun das Gesicht seines verstorbenen Freundes im Rückspiegel. Dieser saß aufrecht auf der Hinterbank, er war nicht angeschnallt und furchtbar entstellt. Paul erinnerte sich daran, dass er von seinem Vater hörte, dass der Zug ihn beim Überfahren Gliedmaßen abtrennte. Er verlor seinen rechten Arm und beide Beine. So saß er da, ohne Gurt und ohne Beine. Seine Arme waren in seiner gelben Regenjacke versteckt, aber er sah Maiks rechte Hand nicht aus dem Ärmel hervorblitzen. Trotzdem war er nicht überströmt mit Blut, sondern war der Siebzehnjährige, der vormals neben ihm im Klassenzimmer des 11. Jahrgangs saß. Maik wiederrum betrachtete Pauls Körper ebenso durchdringend und verstört, als würde er erstaunt darüber, dass ihm keine Körperteile fehlten; dass sein Körper unnatürlich vollständig war und er zu allem Überfluss seinen Gurt angelegt hat. Er lächelte schräg. Automatisch sog Paul am Filter, aber er spürte keinen Rauch aufkommen, seine Zigarette war leergeraucht. Der Filter fiel ihm aus seinem Mund und er schaute rasch nach unten. Er fürchtete, dass seine Hose oder der Sitz angebrannt werden könnten, aber als er mit seiner linken Hand den Filter betastete, merkte er, dass er mittlerweile auskühlt war.

Jetzt erwachte er vollends und beim Anblick in den Rückspiegel vernahm er nur eine leere Sitzbank. Er drehte sich um. Leere. Kein Beifahrer. Er atmete auf und warf den aufgerauchten Filter achtlos aus seinem Fenster. Nicht das erste Mal, dass er ihn sah. Maiki. Er zündete sich sofort eine neue Zigarette an und rauchte sie in wenigen, langen Zügen weg. Als auch diese ausgeblüht war, beruhigte sie Paul allmählich. Er sieht jedes Mal gleich aus. Diese schreckliche gelbe Jacke. Zum ersten Mal seit längerer Zeit achtete er auf die Fahrtstrecke und vergewisserte sich anhand seines Navigationssystems, dass er richtig fuhr. Noch mindestens vier Stunden würde er unterwegs sein, sofern sich kein Unfall ereignete oder es plötzlich zu einem unangekündigten Wetterumschwung kommen sollte. Nach Letzterem sah es jedenfalls nicht aus: Die Sonne schien ihm von hinten auf den Rücken und langsam wurde es ziemlich heiß in seinem Gefährt. Trotzdem betätigte er nicht seine Klimaanlage: Er hasste diese kalte Luft und den Geruch, der freilich durch den übermäßigten Tabakkonsum geprägt war. Es würde heiß werden. Er fasste sich an sein T-Shirt, welches er sich gestern auf dem Konzert kaufte: Auf der Vorderseite war das ikonische Logo der Musikgruppe, ein gotisch angehauchtes A für Architects; die Rückseite wurde von den Tourdaten geziert. Unter den Städtenamen und Datumseinträgen war ein Torbogen abgebildet, eine Flamme verhinderte den Einlass. Er schüttelte das Shirt und ließ Luft an seinen Körper heran. Dass ihm so heiß war, lag gewiss ebenfalls an der Begegnung mit Maiki. Schon wieder sah er seinen toten Freund. Warum nur?

Nach all den Jahren seit dem Tode seines besten Freundes schaffte es Paul nicht, dieses Ereignis zu überwinden. Er nahm sich niemals die Zeit dafür und lenkte sich lieber stattdessen ab. Verdrängte, anstatt zu verarbeiten. Vor einigen Jahren erwachte er und hatte sogar vergessen, dass sein Freund tot war. Maiki, dachte Paul und wollte die Nummer seines Freundes wählen. Er wollte wissen, wie es ihm gehe, ob sie sich nicht spontan treffen wollten. Er hatte das Gefühl, dass er ihn dringend sehen müsste. Erst als die elektronische Stimme verkündete, dass der Telefonanschluss unter der Rufnummer nicht belegt sei, fiel es ihm wieder ein. Maiki. Aber zu mehr brachte es Paul nicht und so flüchtete der Verstorbene in regelmäßigen Abständen in seine Gedanken.

Paul schaltete die Anlage des Seat an und wählte auf seinem Smartphone die Spotify-App. Er drückte auf den Play-Button und ließ Musik die angespannte Stimmung durchdrücken. How could they do that to us?, schrie Daniel Winter-Bates und Paul stimmte mit ein. Für wunderbare Minuten hörte er nur und sah nicht mehr. Selbst wenn Maiki ihm jetzt an die Schulter fassen würde, könnte Paul nichts mehr spüren. Er war verloren im Klangbild. Die Straße wurde zu einem Tunnel und er bewegte sich wie auf Schienen. Er merkte gar nicht, dass er sich nach vorne bewegte. Wieder war er wie hypnotisiert, sein Körper behorchte jemanden anderes. Sein Geist und Blick wurden jedoch müde. Bald nickte er nicht mehr und sang auch keine Worte. Seine Hände am Lenkrad wurden schwer, sodass er seine rechte auf seinen Oberschenkel ablegte – und spürte eine andere Hand. Sein Bein wurde von einer Frauenhand umfasst.

Lara traf er zum ersten Mal vor einem Jahr. Ein Arbeitskollege berichtete ihm zuvor noch über die Vorteile des Online-Datings und trat dazu vor ein improvisiertes Rednerpult, bestehend aus einem ausrangierten Zählerschrank. Er legte seine Hände auf die Oberkante und erzählte ihm in Form eines Essays, warum nun auch für Paul die Zeit gekommen sei, Frauen aus der näheren Umgebung in der virtuellen – für manche mittlerweile der einzigen – Welt kennenzulernen und dann auf ein Treffen einzuladen. Er schwärmte ihm vor, wie er neben unzähligen Dates nun endlich seinen neuen Freund und hoffentlich bald Lebenspartner getroffen habe. Und ohnehin sei die Auswahl für Hetero-Männer viel breiter, sodass es sich nur um eine Frage der Zeit handeln könne, bis Paul wieder in festen Händen sei. Nach seiner durchaus ausgeklügelten Rede applaudierte sein Zuhörer und bat um den kleinen Kreuzschraubenzieher, um die Leitungen an den neuen Zählerschrank festzubinden.

Es war nicht die letzte Gelegenheit, wenn beide von Baustelle zu Baustelle fuhren und ihrer Tätigkeit als Elektroinstallateure nachkamen, die sein Arbeitskollege Joshua für allerlei Tipps und Hinweise für Online-Treffen nutzte. Stets mit der Absicht, Paul zu Nachahmungen zu bewegen. Dieser lehnte freundlich ab, aber nachdem Maiki ihn als Alp in einem entsetzlichen Traum aufsuchte und Paul im hellwachen Zustand in seinem Bette lag, den angstversetzten Herzschlag in seinem ganzen Körper vernahm, dachte er an Joshuas Worte zurück. Er tat dies ebenfalls, weil er hoffte, dass er damit auf andere Gedanken gebracht werden könne. Mitten in der Nacht eröffnete er sich einen Dating-Account auf der Website Lovefinder und schrieb danach fünf verschiedene Frauen an. Nur eine antwortete ihm.

Lara kam genauso wie Paul aus Nebelhaven, allerdings lebte sie dort nicht mehr. Schon nach einer kurzen Dauer schrieben sie sich nicht mehr kurze Nachrichten über den Messenger der Dating-Seite, sondern tauschten Nummern aus und telefonierten alsbald stundenlang miteinander. Sie war wie ihr Gesprächspartner seit Jahren alleine und weil sie nichts wirklich in ihrer Heimat hielt, wollte sie fortziehen. Als sie ihr Studium in Architektur abgeschlossen hatte – dazu pendelte sie in das nicht allzu weit entfernte Bremerhaven –, fand sie direkt eine Festanstellung im Bauamt von Hannover. Es war ihr Versäumnis und gewissermaßen Zufall, dass sie in ihrem Online-Profil nach wie vor Nebelhaven als ihren Wohnort offenlegte. Sie habe seit mehr als zwei Jahren keine Nachricht mehr erhalten, erzählte sie ihm bei einem Telefonat fast schon beiläufig, und deshalb habe sie nicht daran gedacht, dies zu ändern. Eigentlich dachte sie überhaupt nicht mehr an Lovefinder – denn ihre Liebe hatte sie bislang noch nicht gefunden.

Als Paul dies hörte, war er traurig, amüsiert und zugleich glücklich über ihre Worte. Natürlich tat es ihm leid, dass sie scheinbar von keinem Interesse für andere Männer war, allerdings schätzte er sich froh, dass dies seine Gelegenheit war, eine tolle und interessante Frau kennenzulernen. Außerdem widerhallte ihre Stimme in seinem Kopf. Sie war erstaunlich tief, ihre Worte markant und selbstbewusst. Es schien ihm eigentlich unmöglich, wie man ihr nicht gerne zuhören wollte. Wie konnte sie so lange so einsam – dieses Wort verwendete sie nicht nur einmal, wenn sie ihm von ihrer Zeit in Nebelhaven erzählte – sein?

Er gestand sich die Antwort damals nur ungern ein. Paul war ein großer, durch seine handwerkliche Tätigkeit dünner, aber mit einigen Muskelpartien gesegneter Mann. Sein Haar fiel nicht aus und schien sich beim Frisieren seinem Willen zu beugen. Egal ob er es Kurz oder Lang trug, eigentlich stand ihm eine jede Frisur. Er hatte klare blaue Augen. Natascha sagte ihm häufiger, dass sein Blick anziehend wirkte, als könnte er die Seele des Gegenübers sehen. Dies schlösse aber keineswegs die geisterhaften Begegnungen während der Autofahrten ein, wie Paul einmal schmunzelnd dachte, als Maiki ihm erschienen ist.

Auch Lara schienen seine Augen zu gefallen. Jedenfalls schwärmte sie als Erstes davon, wie schön sie diese fand, als er ihr Bilder von sich schickte. Danach folgten noch viele weitere Komplimente von seiner Chatpartnerin, die ihm mitteile, was für ein gutaussehender Mann er war. Obwohl er nicht die ausgeprägteste Selbstsicherheit bewahrte, war er sich dessen bewusst, ohne dass er sich dadurch eitel oder eingebildet vorkam. Es schien wie eine unumgängliche Tatsache, dass er, Paul, ein hübscher Mann war. Genauso war es jedoch Tatsache, dass Lara keine schöne Frau war. Und das wiederum wusste Lara selbst und Paul wollte sich dies nur ungern eingestehen.

Eigentlich passte wenig an ihrem Aussehen zusammen. Ihre blonden Haare waren lockig und schienen keine Frisur bilden zu wollen. Egal ob sie sie offenließ, zu einem Zopf schnürte oder andere Formen aussuchte. Sie trug eine Brille, die ihr ovales Gesicht unvorteilhaft betonte. Auf den ersten Blick wog sie mehr als das doppelte Gewicht, dass für ihren eigentlich eher kleinen Körper vorgesehen war. Anstatt aber ihre Hüfte oder Brust zu betonen, war sie unförmig in ihrer Gestalt. Besonders ihre Beine und ihr Hintern schienen das Gewicht an sich binden zu wollen. Und als wäre das nicht schon zu viel, hatte sie immer noch Pickel und ihr Modegeschmack war ebenso grässlich. Paul fiel es lange schwer das auszusprechen, aber sie war hässlich. Er wusste eigentlich gar nicht, warum er sie angeschrieben hatte. Er redete sich zwar ein, dass das Aussehen nebensächlich sei, aber er konnte doch nicht über alles hinweggehen. Im Nachhinein dachte er, dass sie zu den anderen vier Frauen gehörte, deren er eine Nachricht schickte, weil er alle aus Zufall auswählte oder sie ihm als die ersten fünf Frauen in der Suchleiste zum Ort Nebelhaven angezeigt wurden. Aber er glaubte sich dann selbst nicht. Vielleicht, munkelte er, wenn er an Lara dachte, vielleicht wendete er sich an sie, weil er sich gewiss war, eine Nachricht von ihr zu erhalten. Sie würde ihm, dem gutaussenden Paul, einfach antworten müssen. So oder so. Wenn ihm solche Gedanken durch den Kopf fuhren, hasste er sich selbst. Er wollte nicht glauben, dass er tatsächlich so dachte, dass er so oberflächlich war und aus niedrigen Motiven einer alleinstehenden, einer einsamen Frau eine liebe Nachricht hinterließ. Eine Nachricht, damit er eine Nachricht erhielt und sich bestätigt sah.

Zumal Lara ein so interessanter Mensch war. Er verliebte sich in ihre Stimme und bat schon nach kurzer Zeit um ein Treffen. Er war immer noch hin- und hergerissen und wollte eine Entscheidung bei einem persönlichen, realen Date erzwingen. Er bemerkte sofort, dass sie zögerte und zweifelte. Auch hier gestand er sich ein, dass dies vermutlich an ihrem Äußeren lag und sie ihn nicht mit ihrer Erscheinung abschrecken wollte. Diese Gedanken waren grässlich, aber wahr. Das wusste er selbst und wollte sich nicht täuschen. Deshalb und weil er sich wirklich nach einem richtigen Kennenlernen mit ihr sehnte, schickte er ihr Bilder von sich und hoffte, dass sie es ihm gleich tun würde. Und sie tat es. Sie sandte ihm Bilder aus ihrer Studienzeit, damals schon hoffnungslos übergewichtig, Bilder von einem Fotoshooting für ihre Bewerbungsmappen – keines der Fotos sah gut aus, warum trug sie diese furchtbare Kleidung für eine Bewerbung? – und dann schließlich noch Fotos der vergangenen Monate aus ihrer Wohnung in Hannover und einem Beisammensein mit Freunden. Er kommentierte ein jedes Bild, sprach ihr zu, dass sie ihm gefiele mit ihrer Frisur, Brille, Kleidung und ihrem Körper. Dass er sich gut vorstellen könne, dass sie zusammen toll auf einem Foto aussähen. Dass sie in Wirklichkeit bestimmt noch hübscher sei als das digitale Pixelbild ihrer Selbst, so wie genauso das Spiegelbild niemals das wahre Ich übertreffen könnte.

Daraufhin antwortete sie ihm erstmal nicht. Es vergingen einige Minuten und er konnte anhand der blauen Häkchen des Messengers sehr wohl erkennen, dass sie seine Worte gelesen hatte. Aber glaubte sie ihm? Konnte sie ihm denn glauben? Hatte er nicht zu dick aufgetragen? Zu sehr Unwahrheiten ausgesprochen, die sich nicht übersehen ließen? Sie fing an zu tippen.

Nach einer weiteren endlosen Minute, in der er eine ganze Zigarette regelrecht inhalierte, las er die persönlichste und offenste Nachricht, die er jemals lesen sollte. Sie selbst gestände sich ein, nicht hübsch zu sein, wäre aber überglücklich, dass sie doch tatsächlich jemanden gefunden hätte, der dies anders sehe. Ein Mensch, dem sie sich wirklich öffnen könne und wolle. Der so verständnisvoll und gutmütig sei. Sie verliebe sich in ihn. Am Freitag würde sie sich gerne mit ihm treffen. Allerdings wünsche sie sich ein Date in Wilhelmshaven, nicht unweit von Nebelhaven entfernt, da dort ihre Schwester lebe und sie ihr Treffen als Anlass nehmen wolle, bei ihr zu nächtigen und den Rest des Wochenendes mit ihr zu verbringen. Letzteres formulierte sie so diffus aus, als klänge es nach einer Einladung für Paul, ebenso bei ihrer Schwester zu übernachten. Paul wiederum, der mit einem breiten Lächeln ihren Text vernahm, antwortete sofort bestätigend. Er täte es ihr gleich und begänne, mehr für sie zu empfinden; mehr als er sich vorstellen könne in der kurzen Zeit ihres Kennenlernens und zumal er sie persönlich noch gar nicht getroffen habe; mehr Gefühle als sonst für einen anderen Menschen. Und dieses Mal log er nicht und freute sich wahrhaftig auf sie.

Es dauerte noch drei Tage, bis sie sich in einem kleinen italienischen Restaurant zu Abend begegnen würden. Paul war sich erst im Nachhinein bewusst, dass er sich keinen ungeeigneteren Ort hätte aussuchen können. Es lag schlicht und ergreifend an seiner fehlenden Erfahrung. Er hatte nur eine Handvoll ersten Dates und wusste einfach nicht, wie man ein solches Kennenlernen sinnvoll gestalten könnte. Wilhelmshaven, wenngleich keine wunderschöne Stadt, war doch groß und vielfältig genug, sodass man einen ausgelassenen Spaziergang durch die Innenstadt oder an der Küste entlang machen, den Hafen besichtigen und in einer abschließenden Bootsfahrt wieder an Land gelangen könnte. Er hätte sich etwas Besonderes aussuchen können, etwas, wo sich beide womöglich wohl fühlen würden. Eine Ausstellung, die Flucht aus einem Escape Room, die Kirmes oder ein Volksfest; all solche Events fanden doch permanent in größeren Orten statt. Sie hätten sich anders, aktiver kennenlernen können und dann hätte möglicherweise der Freitagabend einen anderen Verlauf genommen. Vielleicht müsste Paul dann nicht alleine Hunderte von Kilometern zurücklegen, weil er nichts Besseres mit sich anzufangen wusste, als Musikgruppen in den entlegensten Orte Deutschlands zu folgen. Aber nicht nur dieser falsche Ort war bereits vor der eigentlichen Zusammenkunft hinderlich: Mit dem Ablauf der Zeit wurde sich Paul immer bewusster, dass er Lara tatsächlich würde treffen müssen.

Zunächst hat er sie bezüglich seines Rauchens belogen. Er wollte ihr sein Laster nicht gestehen und beschönigte seine Angewohnheit als eine harmlose Art des Partyrauchens. Dass er manchmal eine ganze Schachtel förmlich in sich aufsog, wenn beide miteinander chatteten, behielt er für sich. Schlimmer aber war ein Gedanke, der sich wie besonders widerspenstiges Unkraut in ihm ausbreitete; nichts konnte sich dem Wachstum widersetzen: Er hatte sich mit einer Frau verabredet, die ihm nicht gefiel. Nein. Eine Frau, die er als hässlich beschrieben würde. Mit ihr würde er in einem Lokal sitzen und den ganzen Abend verbringen müssen. Er dachte nicht mehr an sie und ihre Stimme, an ihre tollen Unterhaltungen und die Art und Weise, wie sie ihn vor seinem Smartphone zum Lächeln brachte. Er sah nur noch die Bildergallery vor sich und wollte sie nicht mehr treffen. Bevor er sie überhaupt in der Wirklichkeit sehen würde, entstand eine Blockade, ein Widerstand in ihm, dem er chancenlos unterlag.

Als sie sich nach dem Abendessen verabschiedeten, die Geste war genau so peinlich und dilettantisch wie der gesamte Abend, ging Paul mit dem merkwürdigsten Gefühl zu seinem Auto, das er jemals durchlebt hatte. Es war eine Mischung aus Scham, Schuld, peinlicher Berührung und Erleichterung. Er hatte die Verabredung mit Lara durchgestanden und war froh, alleine zu seinem Auto zu gehen, den Zigarettenanzünder anzumachen – er hatte doch tatsächlich zwei Stunden vor dem Date das letzte Mal geraucht – und dann in Ruhe nach Hause zu fahren. Sie war von Angesicht zu Angesicht sogar noch abstoßender, als er es gedacht hatte. Als er vor dem Restaurant auf sie wartete und diese Person in unnatürlichen Schritten auf ihn zukam, erkannte er sie erst gar nicht. Sie sprach ihn an und wahrscheinlich konnte er seine Enttäuschung vor dem, was er gesehen hatte, kaum verbergen. Sie kann nicht einmal normal gehen, dachte er, als er unter Vorwand die Toilette aufsuchte und überlegte, was er machen sollte; ob er vielleicht nicht vorzeitig gehen könne.

Natürlich blieb er bis zum Schluss und bemühte sich, so reizend wie möglich zu sein. Es gelang ihm nicht. Keineswegs. Nie war er entfernter davon. Und wahrscheinlich bemerkte dies auch seine Geladene. Er hatte sich so viele Ideen für Gesprächsthemen beiseite gelegt, wollte ihr so viel erzählen und alles über sie wissen. Aber als er sie beim Essen beobachtete, vergaß er seine Fragen. Er würde niemals vergessen, was er in diesem Augenblick dachte: Sie tat ihm leid. Dass sie scheinbar so viel essen musste, so wie er vom Rauchen kontrolliert wurde. Beides ungesunde Laster, die schwer abzulegen waren. Am liebsten hätte er sich direkt eine Zigarette angezündet, nur um zu sehen, wie sie darauf reagiere. Würde sie ebenso abstoßende und ablehnende Gedanken haben? Wahrscheinlich nicht. Er fühlte sich elendig; es gelang ihm irgendwie, die Schamesröte nicht in sein Gesicht aufsteigen zu lassen. Dafür aber konnte er dennoch seinen Blick nicht von ihr abwenden.

Nach zwei Stunden, die sich viel länger anfühlten, war es dann vorbei und mit einer halbherzigen Umarmung entließ er seine Schicksals- und Leidensgenossin. Es ist so vieles nicht richtig, nicht verheißungsvoll an diesem Tage geschehen. Paul dachte aber immer nur daran, dass sie sich nicht richtig fortbewegen konnte. Vielleicht hatte sie durch ihr Gewicht Schmerzen in den Knien oder es fiel ihr schwer, das Gleichgewicht zu halten. Aber es wirkte so unfreiwillig komisch und unästhetisch. Und dass all das Essen, einfach alles, in ihrem Mund verschwand. Wie zufrieden sie danach aussah. Es traf alles ein, wofür sich Paul in den Tagen zuvor gefürchtet hatte. Er verabscheute sie. Nicht ihren Charakter oder ihre tiefe Stimme, welcher er so gerne lauschte. Es war ihr Aussehen, das er nicht ignorieren, nicht ausblenden konnte. Selbst wenn er seine Augen schloss, sah er sie nun. Ihre tolle Stimmmelodie konnte ihn nicht mehr davon ablenken. Und dann meldete er sich nimmermehr bei ihr, obwohl er gelegentlich an sie denken musste – und wollte.

Paul atmete tief ein und fühlte einen Kloß in seinem Hals. Er räusperte sich, aber es wollte nicht fortgehen. Er schaute sich um und fand eine angefangene Cola-Flasche in seiner Fahrertür. In einem Zuge goss er sich den Rest der Flüssigkeit hinein und war erleichtert, als er wieder normal schlucken und atmen konnte. Er fühlte sich schuldig. Wie immer der Abend auch verlaufen war, er hätte sich zumindest bei ihr verabschieden müssen; Lara die Wahrheit sagen müssen, es unter Umständen noch einmal versuchen. Vielleicht hätte er einfach mit jemanden darüber sprechen müssen. Zumal sie und ihre Stimme noch lange in seinen Gedanken schwirrten und ihn nicht loslassen wollten. Aber wie so oft zog er es vor, niemanden außer sich selbst mit seinen Anliegen zur Last zu fallen.

Als diese Gedanken in seinem Kopf entstanden, fiel ihm noch etwas ein: Es gab da eine Situation an diesem Abend. Nach dem Restaurant gingen sie für eine kurze Strecke spazieren und ließen sich vor einer hübschen Hausbeleuchtung auf einer Bank nieder. Irgendwie hoffte Paul, dass jetzt vor dieser schönen Kulisse möglicherweise doch der Funke überschlagen konnte. Dass der Ortwechsel ein Wunder der Gefühle bewirken könnte. Er wollte es wirklich. Auf Lara jedenfalls schien dies tatsächlich zuzutreffen, denn sie berührte sanft seinen Oberschenkel. Eine Berührung, die sich gut anfühlte und über die er überrascht war. Sie war die Mutige, sie ergriff die Initiative.

In diesem Augenblick sah sie ihn erwartungsvoll an. Sie empfand ganz anders als Paul und war überglücklich, dass sie einen Mann, einen so hübschen und netten Menschen, traf. Er lächelte die ganze Zeit und sprach ihr liebevoll zu. Mit keinem Wort verärgerte oder beschämte er sie. Er blickte sie immer so sanftmütig mit seinen klaren, blauen Augen an. Sie war sich ihrer Sache gewiss, daher fasste sie ihn an den Oberschenkel an und wollte ihn küssen. Ihn küssen und nie mehr loslassen. Aber er sah sie nur kurz an und blickte dann von ihr weg. Er guckte geradeaus in die Ferne und schien sich dadurch gewissermaßen von ihr zu entfernen, Abstand zu suchen und sich zu entfremden. Beim baldigen Abschied merkte sie, dass er wohl doch nicht der sei, für den sie ihn gehalten hatte, und betrat fassungslos und traurig ihr Auto. Sie blieb also auch heute einsam.

Paul spürte immer noch ihren Griff auf seinen Oberschenkel. Diese Berührung auf der Bank. Seine Erinnerung mag verschwommen sein, aber nun fühlte es sich gut und richtig an. Daher versuchte Paul ihn zu erwidern, seine Hand auf die ihrige zu legen. Lara,dachte er und wollte sich eine weitere Zigarette von seinem Beifahrersitz holen. Aber da saß sie. Sie sah genau so aus, wie bei ihrer Verabredung. Sie hatte genauso wenig wie der tote Maik einen Gurt an, ihre altmodischen Klamotten hingen ihr vom unförmigen Leib. Sie schien für den Sitz zu groß; ihr Lächeln glich mehr einer Grimasse als einem freudigen Gefühlsausbruch, und sie zeigte auf ihn. Es war eine Geste der Beschuldigung. Und dann führte sie ihre Hand auf ihre Brust, ihr Herz. Paul verstand. So gerne er sie jetzt ansah, so sehr fürchtete er diesen Anblick, sodass er wegschaute. Lieber sollte dort der verstümmelte Maiki sitzen. Plötzlich verspürte er wieder die Berührung auf seinem rechten Bein. Bald entwickelte sich diese aber zu einem Schmerz. Es schien, als ob sich ihre Finger wie Krallen in seinen Oberschenkel bohrten, zustachen und die Blutzufuhr verhindern wollten. Dennoch schaute er weiterhin nach vorne, suchte nach irgendetwas und wollte den Blick nach rechts zu ihr oder nach unten zu seinem Bein unbedingt vermeiden. Er durfte sie nicht ansehen, wollte nicht die Anschuldigung erneut über sich ergehen lassen. Schließlich näherte sich ihm eine Anzeigetafel, die auf eine baldige Raststätte verwies. Dort musste er hinfahren und sein Auto verlassen.

Er weigerte sich immer noch, seine Augen zu seinem Beifahrersitz, auf Lara, zu richten, die ihn sicherlich nach wie vor mit diesem furchtbaren Grinsen anstarren würde, und wartete, bis die Beschilderung auf die Ausfahrt hinwies. Allmählich wurde die Pein unaushaltbar, er fürchtete, dass er bald sein rechtes Bein nicht mehr benutzen könnte. Die Fahrbahnmarkierung lenkte ihn zur Ausfahrt und kurz darauf parkte er abrupt neben einer Zapfsäule. Erst jetzt traute er sich, umzudrehen – und sah nur eine Leere neben sich. Das zuvor noch so präsente Gefühl des Erdrückens und des Schmerzes waren verflogen.

Wo bist du, Lara?, schoss es ihm durch den Kopf. Diese ganze Situation war so merkwürdig und nun konnte Paul seine Gedanken an Lara nicht zurückhalten. Und er vermisste sie. Vermisste es, mit dieser Frau zu chatten und zu telefonieren. Warum hatte er sie nicht noch einmal kontaktiert, sich bei ihr gemeldet und es erneut versucht? Trotz der vergangenen Zeit war ihre Anwesenheit in seinen Erinnerungen so lebhaft und so echt, als würde er sich erneut mit ihr treffen und sie wiedersehen. Aber gesehen, so geschehen wie Maiki, hat er sie noch niemals zuvor. Geschweige denn, dass sie darauf aus war, ihm sein Bein abzuschnüren und mit ihrer Anklage zu quälen.

Er stand neben seinem Seat, der Zapfhahn pumpte Lebenselixier in den halbleergefahrenen Tank und ein angenehmer Nordwind pustete ihn durch, der ihn zu beleben schien. Immer noch starrte er von außen durch die Windschutzscheibe auf die Beifahrerseite. Seine Augen waren auf den verwaisten Sitz gebunden, er wollte und konnte es nicht zulassen, dass er womöglich einen Anblick von ihr verpasste, wenn sie doch zurückkommen sollte – so sehr ihn dies ebenso ängstigen könnte. Er hörte gar nicht das Einrasten des Zapfhahns als Signal, dass der Tankvorgang beendet sei. Weiterhin stand er mit leicht geöffnetem Mund dar. Ein schreckliches Bild entstand vor seinen Augen.

Ein Tropfen fiel auf seinen Schuh. Dann ein weiterer. Und noch einer, dieses Mal auf den anderen Fuß. Er blickte nach unten und sah, wie seine schwarzen Sneakers noch dunkler wurden. Seine Füße spürten bereits die Nässe. Dieser Geruch. Benzin. Er prüfte den Tankschlau, der in sein Auto eingeführt war. Der Tankdeckel war weit geöffnet; durchsichtige Flüssigkeit lief das Auto herunter, hinterließ allmählich eine Spur. Sofort griff er nach dem Zapfhahn und löste den Schalter zur automatischen Befüllung. Wie konnte das nur sein? Das kann und darf doch nicht passieren! Innere Unruhe machte sich in Paul breit. Er schaute auf die Zapfsäule, aber hier gab es keine Gegenstände oder Utensilien zum Säubern. Auf der gegenüberliegenden Station hingegen erkannte er eine Rolle mit Papier und einem Eimer mit Wasser. Damit müsste er das Übergelaufene entfernen. Er lief direkt auf die andere Zapfsäule zu, dabei ertönte ein lautes Huben. Erschrocken vom Lärm sprang Paul bei Seite und wich gerade noch einem verbeifahrenden LKW aus.

Er atmete einmal tief ein und schaute dem Laster hinterher: Auf der Rückseite war ein Firmenlogo in Schwarzweiß dargestellt. Auf schwarzem Hintergrund befand sich ein weißes Schiff, ein Luxuskreuzer, der zur Hälfte fertiggestellt und zur anderen Hälfte noch gebaut wurde. Darüber las er die Worte Atlantic Trade. Er kannte den Namen des Unternehmens. Bevor er jedoch weiter darüber nachdenken konnte, schien es ihm, als würfe der Fahrer etwas aus der Fahrerseite. Wie von Geisterhand geführt, lief er darauf zu. Es war ein kleiner Karton, der mit Klebeband umständlich versiegelt war. Der Fahrer und sein Fahrzeug waren bereits außerhalb seines Sichtfeldes. Er hat es für mich abgeworfen, ich sollte es bekommen.

Paul riss die Verpackung auf und fand einen runden Gegenstand, der in dünnem, silbernem Seidenpapier eingewickelt war. Er löste das Papier und erkannte eine Schneekugel. Im Inneren der Kugel war ein Auto, ein schwarzer Seat. Etwas stimmte mit dem PKW nicht, alles sah unnormal aus. Paul schüttelte einmal vorsichtig die Kugel und winzige Schneeflocken verteilten sich auf dem Seat. Aber da war noch etwas: Personen. Er nahm die Schnellkugel direkt vor seine Augen und bemerkte eine winzige Person in schwarzem Shirt und schwarzen Sneakers. Es war eine Paul-Figur. Aber sie wirkte deformiert, die Körperhaltung in unnatürlicher Pose. Etwas stimmte dort nicht. Wieder wanderten seine Augen zum Auto hin. Auf dem Beifahrersitz war eine zweite Person, eingesperrt in das Metallgefährt. Eingesperrt. Das war der richtige Begriff. Sie konnte das Fahrzeug nicht verlassen, als klemmte die Tür oder war verschlossen oder durfte sich nicht lösen. Die Figur musste im Fahrzeug bleiben.

Wieder schüttelte er intuitiv die Kugel und verstand erst dann: Sie war verkehrt herum. Er drehte das Glas um, so war es richtig. Pauls Fahrzeug stand auf dem Kopf, sein eigener Körper lag neben dem Auto, als wäre er durch die Windschutzscheibe herausgeflogen. Und tot. Im Seat saß aber noch eine andere Person. Eine Figur, die das Auto ausfüllte, es nicht verlassen konnte. Es war Lara. Erneut bewegte er die Schneekugel; Schnee fiel auf die Szenerie herab. Aber es war kein Schnee. Es war Asche. Asche, weil das Auto in der Kugel nun brannte. Es muss einen furchtbaren Unfall gegeben haben, Paul und Lara befanden sich im beziehungsweise außerhalb des Autos und wurden von den Flammen ergriffen. Das Feuer umhüllte jetzt die ganze Kugel, die Pauls Hand versenkte. Er schaute ein letztes Mal auf die Miniaturversion seiner selbst, während er den beißenden Geruch von verbrannter Haut roch: Du bist tot! Er ließ die Kugel fallen. Auf dem Boden zerschellte das Glas. Wie ein Siegel hinterließ die Kugel ein Brandmahl auf der Innenseite seiner Hand. Paul guckte schmerzverzerrt zu seinem Auto hin, das wie in der Schnellkugel verkehrtherum stand.

Asche fiel vom Himmel herab. Lara. Er rannte zum Fahrzeug und sie saß dort drinnen eingesperrt, in den Sitz gebannt. Paul riss an der Tür, schlug gegen die Scheibe, aber sie ließ sich nicht öffnen. Nur noch mehr Asche bedeckte ihn, den Seat, die Tankstelle und den Boden. Sie schaute ihn an – und fing an zu lachen. Ein grässliches Lachen dieser grässlichen Hülle. Da sie kopfüber lag, wirkte ihre Gestik noch abscheulicher, verzerrter. Und dann roch er Benzin. Wieder stand er mit seinen Füßen in einer Pfütze aus Kraftstoff. Noch mehr Flüssigkeit rann aus dem offenen Tankdeckel heraus; eine regelrechte Flut erfasste ihn. Erst jetzt vernahm Paul, dass die Asche von glühenden Fetzen abgelöst wurde. Eine riesige, flammende Kugel, ein Meteor, sank langsam auf ihn herab. Er wandte sich Lara zu, die kaum noch zu sehen war; zu viel Asche lag auf der Scheibe. Er näherte sich ihr, immer noch lachte sie. Sie lachte vor Freude. Und zeigte verkehrt herum mit einer Hand auf ihr Herz. In der Fensterscheibe spiegelte sich das herabfliegende Flammenmeer wider. Er sah sich nun auch, sah, wie Flammen auf ihn zurasten und ihn zu umfassen suchten. Er sah seinen Untergang, bevor er die Hitze und das Verbrennen fühlen konnte. Das Feuer griff nach ihm wie einst Lara nach seinem Oberschenkel.

Ein Hupen weckte ihn aus seinem Tagtraum auf. Ein Lastwagenfahrer fuhr wild gestikulierend an einem schlecht geparkten PKW vorbei, der wie sein Fahrzeug getankt wurde. Ein Atlantic Trade-Schriftzug zierte den auffällig schwarzen Laster. Wie lange er wohl hier auf sein Auto schon starrte? Er legte den Zapfhahn zurück, begutachtete dabei den Tankdeckel und seine Hände – keine Spuren von herabfallender Asche, dem Brandmahl oder Benzinrückständen; nur eine tiefe Narbe auf seiner linken Hand erkannte er – und bezahlte in der Tankstelle. Er beschloss eine Pause einzulegen und fuhr dann auf den Parkplatz des anliegenden Imbisses.

In diesem Zustand durfte er unter keinen Umständen weiterfahren. Er musste sich vom Schrecken erholen und auf andere Gedanken kommen. Woher kam diese Vision, fragte sich Paul stumm. Er erhielt keine Antwort. Zeit verstrich und weiterhin konnte ihm keine Erklärung einfallen. Stattdessen bestellte er im Restaurant ein Hamburgermenü. Seit Stunden hatte er nichts mehr zu sich genommen und so schmeckte ihm diese Mahlzeit deutlich besser, als sie es womöglich gewesen war. Vor allem die eiswürfelgetränkte Cola fühlte sich gut an, als sie seinen trockenen Hals runterfloss. Er hielt in seiner linken Hand das Glas mit den Eiswürfeln fest. Diese unangenehme, schmerzliche Kälte brachte eine Erinnerung in ihm hervor. Anstatt aber ein Colaglas in den Händen zu führen, drückte er an diesem eiskalten Februarabend gegen die Seitenscheibe seines ersten Autos und versuchte aus diesem zu flüchten.

Er war damals zweiundzwanzig Jahre alt und noch bei den Stadtwerken angeheuert, bei welchen er seine Ausbildung zum Elektroinstallateur abgeschlossen hatte. Zu dieser Zeit war Nebelhaven von einer grauenhaften Mordserie erschüttert. Der Schneemörder hatte bereits sein fünftes Opfer gefordert. Wieder war es eine junge Frau: nackt, mit Verletzungen am ganzen Körper, vergewaltigt und mit Schnee an Stelle ihrer Augen. Die Leblosen lagen stets in Schnee gebettet, darauf wartend, von Sparziergängern, Hundebesitzern oder Angestellten gefunden zu werden. Sie sollten entdeckt werden, jeder sollte sie sehen.

Furcht und Misstrauen wurden zu ständigen Begleitern, insbesondere in einer Kleinstadt, in der ein jeder Nachbar, Bekannter oder die Person auf der gegenüberliegenden Seite der mögliche Übeltäter sein könnte. Paul selbst war wenig beunruhigt, dennoch gewöhnte er sich an, mit wachem Blick durch die Straßen zu gehen, seine Haustür niemals offen zu lassen und sein Auto nach dem Einsteigen direkt zu verschließen. Zu Beginn kam er sich dabei noch merkwürdig vor: In seinem alten Škoda, einem Zweitürer, musste er an seiner Fahrer- und der Beifahrertür die Sicherungen händisch nach unten drücken. Er dachte nicht nur einmal, dass er lächerlich aussehen musste, wenn er sich über den Nebensitz beugte und mit langem Arm das Schloss verriegelte. Aber bald gefiel ihm das Geräusch des Einrastens. Schneller als erwartet, wurde es zu seinem ganz normalen, nicht wegdenkbaren Ritual. Als würde er sich eine Zigarette aus einer Schachtel holen und den Anzünder im Fahrzeug betätigen; aufgeregt die Sekunden zählend, dass er endlich Rauch und nicht mehr nur Luft atmen könne.

Trotzdem: Er erzählte davon niemanden. Er glaubte sich im Wissen, ein rationaler Mensch zu sein, der eben genauso auf seine Mitmenschen wirkte. Und dieser Schein sollte zu einer Fassade zementiert werden, einem Schutzwall für und vor sich selbst. Natürlich geschah nie etwas Merkwürdiges oder Alarmierendes in den folgenden Tagen. Eines Morgens wollte er sich selbst beweisen, dass er diese Routine nicht mehr bedürfte, empfand die Autofahrt zu seinem Arbeitgeber in einem unverschlossenen Fahrzeug aber als unerträglich. Bei der ersten Ampel betätigte er die Riegel seiner Türen und konnte erst dann wieder beruhigt am Straßenverkehr teilnehmen. Er wusste in diesem Augenblicke selbst, dass seine Rationalität offenbar eine Halbwertszeit innehatte.

Es wurde mittlerweile Februar und der Schnee hing wie ein unmenschlicher Ballast an Nebelhaven fest. Bereits das siebte Opfer – natürlich wieder eine Frau – wurde am Hafen gefunden. Der Serienmörder machte sich die Mühe, viel Schnee an den Pier zu bringen – wesentlich mehr als tatsächlich herabgefallen war –, diesen zu verteilen und dann erst den Leichnam zu drapieren. Wie ein Kunstwerk, eine Installation. Eine Stadt als Bühne für seine Kunst. Paul stieg nach einem langen Arbeitstag in seinen Škoda und verriegelte wie gewöhnlich die Türen. Er fuhr ermattet vom langen und anstrengenden Tag los und gab nur wenig Acht auf den Straßenverkehr und sein Umfeld. Es düsterte und auf Grund der geschehenen Verbrechen sowie der damit verbundenen Furcht waren die Straßen ohnehin menschenleer.

Er gelangte eine Ampel, die unmittelbar vor ihm auf Rot schaltete, sodass er auf die weiße Fahrbahnmarkierung ausrollte und auf den roten Schein blickte, ungeduldig hoffend, dass er endlich weiterfahren durfte. Er wurde zunehmend müder und er fühlte seine Gedanken kreisen. In diesem Moment blickte er weg vom durchdringenden Licht und stattdessen auf den Rückspiegel – und sah Maiki zum ersten Mal. Er starrte ihn atemlos an, seine Augen hafteten an ihm und an seiner furchtbaren gelben Jacke. Maiki hob seinen Stumpf, winkte ihm damit zu. Der Ärmel der gelben Regenjacke knickte dabei ein, verriet, dass da viel Arm fehlte, der ihm von einem Zug gestohlen wurde. Und immer weiter bewegte sich der Arm von links nach rechts, gefolgt vom Abknicken des gelben Ärmels, als würde er einen Zaubertrick vorführen. Gleich würde der ganze Arm verschwinden! Dann erhob sich sein toter Freund. Rasch sprang er auf Paul zu. Dieser schrie laut auf und drückte sich reflexartig nach links. Panisch druckte er auf den Hebel seiner Fahrertür, aber sie ließ sich nicht öffnen. Er klopfte und hämmerte verzweifelt auf die Fahrerscheibe, die nicht nachlassen wollte und fasste sie mit seinen Händen an. Er drückte sie nun gewaltsam und hoffte, dass sie unter seinem Druck zerbersten würde. Die Kälte drang in seine Hände. Er konnte nicht schreien und hörte förmlich sein Herz schlagen. Wieder klopfte er gegen die Scheibe und ließ kraftlos seinen Kopf gegen diese fallen. Er rechnete mit den grässlichsten Schmerzen, Tränen der Verzweiflung und Angst rannen sein Gesicht herab, er schluchzte, verspürte jedoch nichts. Nun wagte er es wieder in den Spiegel zu schauen und sah nur einen leeren Platz. Maiki war verschwunden. Es dauerte lange, bis er sich wieder fangen konnte, die Ampel wechselte nicht nur einmal die Farben, bis Paul wieder gefasst war.

Er sah seinen toten Schulfreund vor sich, so lebendig, und begann zu weinen über den Verstorbenen. Der Verlust trat ihm hart und unvorbereitet ins Bewusstsein und er ließ unverhohlen alle Dämme der Trauer platzen. Dämme, die er so lange zurückgehalten, aufgestaut hatte. Irgendwann sah er unter seinen verweinten Augen, dass sich von hinten ein Fahrzeug näherte. Bei der nächsten Gelegenheit setzte er sein Fahrzeug in Bewegung und hielt beim erstbesten Stellplatz an. Er verbrachte dort viel Zeit. Viel Zeit, um nachdenken zu können. Immer wieder fasste er dabei die eiskalte Scheibe an, sie schien ihn immer wieder zur Fassung zu bringen. Sie war wie ein Anker, an den er sich an diesem Abend klammern konnte. Schließlich fuhr er dann nach Hause. Einige weitere Male sollten noch folgen, dass Maiki ihn in seinem Auto heimsuchte.

Er erschrak aber nicht immer und mit jedem Male konnte er die Anwesenheit des Geistes besser ertragen. Dies lag auch daran, dass sein Freund nicht mehr versuchte, ihn zu überwältigen. Er konnte sich nicht erklären, warum er diese Bewegung am ersten Abend ausführte. Aber nun saß er stumm dort, winkte mit seinem Stumpf, lächelte manchmal. Niemals aber trug er einen Gurt oder hatte wieder alle Gliedmaßen. Mit seiner gelben Jacke, welche die Verstümmelungen nur versteckte, aber deren Andeutung nicht verbergen konnte, leistete er ihm Gesellschaft. Ein Toter und ein Lebendiger.

Als sein Fahrzeug alle Anzeichen für einen Wechsel offenbarte – mehr als fünfzehn Jahre wurde der Škoda mittlerweile genutzt –, zögerte Paul lange. Er wollte nicht zulassen, dass er Maiki nimmermehr würde sehen können. Zumal er ihn sonst nirgendwo anders erblicken konnte. Aber eines Tages wachte er mit der Gewissheit auf, dass ihn sein Freund auch in einem anderen Auto besuchen würde. Er konnte sich selbst nicht erklären, warum er so dachte, aber es schien ihm logisch. Unhinterfragbar. Und mit diesem Gedanken kaufte er sich seinen Seat, der nun draußen auf ihn wartete. Seitdem begegnete er ihm in unterschiedlichen Abständen, manchmal vergingen Wochen ohne einen Besuch, aber zuverlässig kam er zu ihm. Aber dass er neuerdings von Lara geplagt wurde, war ein Novum. Würde auch sie erneut erscheinen? Und wollte er das?

Er saß viel länger im Raststättenimbiss, als er es vorgehabt hätte, aber immer noch schien er zu zweifeln, ob er sich auf den Heimweg machen konnte. Mit den Fingern klopfte er auf das leere Tablett vor sich: I don’t wanna take the long way home, but I don’t wanna find another way. I don’t wanna be alone like this. Die Worte hallten durch sein inneres Ohr und sie trugen ihn zurück zu seinem Gefährt. Er musste aufbrechen, wenn er noch vor der Dunkelheit in Nebelhaven ankommen wollte. Es war nicht gut, nachts in die Stadt zu gelangen, wenn sich der Nebel aufzog und auf die Straßen legte. Zugleich fühlte er sich aber nicht wohl beim Gedanken, womöglich wieder aufgesucht zu werden, zumal es noch nicht vorgekommen war, dass er innerhalb von so kurzer Zeit zwei Begegnungen hatte. Dieser Schmerz vorhin in meinem Oberschenkel war so real. Wie konnte das sein?, fragte er sich, während er sich routiniert auf seinem Fahrersessel niederließ und mit dem Startknopf den Motor aufheulen ließ.

Wenige Augenblicke später befand er sich trotz seiner Zweifel wieder auf der Autobahn. Der Tempomat war ausgeschaltet, laute Tonklänge von Bayside schrillten durch die Anlage. Er fuhr für die nächste Stunde konzentriert, beschleunigte seine Geschwindigkeit und konnte es nicht erwarten, endlich anzukommen, die Fahrt hinter sich zu lassen. Als die Beschilderungen auf eine nahende Baustelle hinwiesen, drosselte er sein Tempo. Er befand sich mittlerweile auf der Höhe von Göttingen. Dies erkannte er jedoch nur an den Hinweisschildern. Der asphaltierte Weg mit seinen Kreidemarkierungen schien sich keineswegs vom anderen Streckenabschnitt unterscheiden zu wollen. Alles schien gleich, als wollte man die Monotonie des Fahrens verbildlichen. Nun hasste er es, unentwegt fahren zu müssen. Er fühlte sich regelrecht gefangen, wie in einem Mäuselabyrinth vorangetrieben, das ihn zwang, immer weiter zu rennen. Dem ungewissen Schicksal entgegen, ob er entkommen könnte.

Als er erneut den Tempomaten auf die geforderte Geschwindigkeit von 80 einstellte, fiel sein Blick auf seine linke Hand. Eine große Narbe schmückte sie. Sie war bereits mehrere Jahre alt und wollte einfach nicht verbleichen. Selbst nach einem sonnigen Urlaub, in dem sie scheinbar an Farbe gewann, blieb sie danach weiterhin auffallend weiß. Sie hatte die Form eines deformierten Sternes, zwei Spitzen waren besonders ausgeprägt und zeigten zu seinem Zeigefinger und in Richtung seines Daumens, während hingegen der Kern wie von einem schwarzen Loch eingesogen schien. Manchmal schmerzte sie noch auf. Zumeist hatte er seine Hand besonders gespreizt oder ist gegen einen Gegenstand geknallt. Allerdings gab es auch Situationen, wo sie sich plötzlich zu Wort meldete. Diese aufblitzende Pein, als hätte jemand einen Nagel mit voller Wucht in seine Hand geschlagen, kam rasch auf und es konnte Stunden dauern, bis Paul nichts mehr danach verspüren konnte. Immer dann dachte er an Dorian zurück.

Dorian und Paul begannen zeitgleich ihre Ausbildung beim Energieriesen Nordstrøm. Im Gegensatz zu Paul zog es Dorian aus Hamburg in seine neue Wahlheimat, sodass er am ersten Tag einsam, etwas verloren, vor dem Gebäude wartete. Paul erkannte dies sofort und da er ebenso alleine war, sprach er ihn an. Er musste sich überwinden, wenig Zeit war seit dem Verlust von seinem besten Freund vergangen. Er hatte ihn zu diesem Zeitpunkt noch nicht wiedergesehen und fürchtete innerlich, es auch nie mehr machen zu würden. Paul wusste jedoch damals schon, dass er nicht ewig nur auf sich gestellt sein durfte. Immer wieder versuchte er daher, neue Freund- und Bekanntschaften zu knüpfen. Wenngleich es später nur bei Natascha geklappt hat.

Beide jungen Erwachsenen verstanden sich auf Anhieb und verbrachten bald den schulischen Teil ihrer Ausbildung gemeinsam. Während der Praxistage waren sie hingegen oftmals getrennt und erlernten zu verschiedenen Zeitpunkten mit unterschiedlichen Ausbildern ihre Tätigkeiten als Elektrofachmänner. Trotz der gemeinsamen Zeit im Unterricht – immerhin zwei Tage in der Woche für die nächsten drei Jahre – entstand keine wirkliche Freundschaft. Sie rauchten zusammen, unterhielten sich über Musik und Wochenendpläne und lernten gelegentlich zusammen, aber Paul ließ Dorian nie wirklich an sich heran. Gewiss lag dies auch an einem Alptraum, in welchem er Dorian auf den Gleisen des ausrangierten Güterbahnhofes gesehen hatte, paralysiert vor Schrecken durch die auf ihn ungebremst zurasende Lokomotive, während Paul alles erblicken musste. Es gelang ihm abseits von dieser Horrorvorstellung emotional nicht und so blieben sie Kumpels, wurden jedoch keine Freunde. Dorian genoss die Gesellschaft und war dankbar, dass er ohne großes Zutun sogleich einen Ansprechpartner gefunden hatte. Er konnte dadurch erste Ängste und Startschwierigkeiten überwinden und fand mit Saskia – ebenso eine Auszubildende – eine liebevolle Freundin, mit welcher er überglücklich zusammenzog. Die Jahre seiner Ausbildung waren gut und näherten sich wie in einem Zeitraffer beschleunigt dem Ende zu.

Vor ihrer Abschlussprüfung waren Dorian und Paul auf einer problematischen Baustelle eingeteilt. Ihr Ausbilder instruierte sie darüber, dass beim Bau eines Reihenhauskomplexes ausgerechnet bei der Elektronik gefuscht wurde. Im Grunde war die äußerste Hauseinheit nicht bewohnbar, so gefährlich war der Zustand und so hoch die Risikoquellen. Es sei freilich eine Ausnahme, dass so etwas geschähe, versprach ihnen ihr Vorgesetzter, aber auch solche Fälle gehörten nun einmal zu ihrem Beruf. Am heutigen Tage würden sie ihr gesamtes Wissen und Können zur Schau stellen können und müssen – es war ihre Generalprobe.

Es gehörte zum Bestandteil ihrer Ausbildung, dass sie nicht nur befähigt wurden, Stromanschlüsse zu überprüfen, Fehlerquellen auszumachen und mit Hilfe von technischen Daten und physikalischem Wissen Berechnungen zur Stromauslastung zu erstellen. Obgleich es nicht in jedem Tätigkeitsfeld notwendig war, erlernten sie, Stromleitungen in einem Gebäude zu verlegen: Auf Baustellen von Neubauten oder bei Kernsanierungen bohrten und frästen sie Löcher und Bahnen in die Wände und verlegten in den Monaten ihrer Lehre Hunderte Meter von Kabeln, die sie dann entweder korrekt an die Zählerschränke banden oder zu Steckdosen und dergleichen verarbeiteten. Es war eine Fleißarbeit, die den gleichen, zuverlässigen Regeln unterlag. So wurde ihnen beigebracht, dass Stromleitungen etwa nicht kreuz und quer beziehungsweise aus Bequemlichkeit entlang einer Wand verlaufen dürften und mit welchen einfachen Routinen man diese auffinden könne. Bald schon waren sie befähigt, blind Leitungen zu folgen – vorausgesetzt, dass sie fachgerecht verbaut wurden.