Der längste Abschiedsbrief der Welt - Manuel Gozzi - E-Book

Der längste Abschiedsbrief der Welt E-Book

Manuel Gozzi

0,0

Beschreibung

Thomas Höbart will den Straßengerüchten, die sich um den berühmten Daniel H. Meisl spinnen, auf den Grund gehen. Als er nach etlichen Versuchen seinen wahren Aufenthalt erfährt macht er es sich, mit der Hilfe eines Kuverts, zur Aufgabe Daniel´s Geschichte zu Papier zu bringen. Diese ist von zahlreichen Schicksalsschlägen geprägt und lüftet seinen Werdegang zu dem gebrochenen Mann der er Heute ist. Doch auch Thomas hat seine Geheimnisse, die sich während Daniel´s Erzählung in Zwischenspielen langsam offenbaren und er wird, ohne es zu wissen, ein Teil von Daniels Geschichte.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 272

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Epilog

Prolog

Thomas Höbarth zog den Schlüssel seines Hyundai Accent, der seine besten Jahre schon hinter sich hatte, aus dem Zündschloss. Mit einigem Wischen an seinem Smartphone vergewisserte er sich ein letztes Mal der Richtigkeit der Adresse.

Er zögerte kurz, die Fahrertür zu öffnen, um auszusteigen, doch all seine Vorbereitungen und das sorgsame Sammeln der Informationen waren zu langwierig, um jetzt einen Rückzieher zu machen.

Drei Mal stand er an fremden Wohnungen, um überrascht festzustellen, nicht die Person anzutreffen, die er erhofft hatte.

Doch dieses Mal würde er es sein. Es hatte Monate gebraucht, um endlich den entscheidenden Hinweis zu bekommen, nach dem er sich so sehr gesehnt hatte.

Er hatte dutzende Personen nach dem Aufenthalt dieses Mannes befragt und dutzende Antworten bekommen, manche waren plausibel, manche so skurril, dass er sich zusammenreißen musste, nicht einfach das Gespräch zu beenden und das Weite zu suchen.

Manche sagten, er sei in ein anderes Land, meist Spanien, umgezogen, weil die Tabletten dort nicht verschreibungspflichtig sind.

Andere meinten, er wäre vor Jahren verstorben, manche behaupteten sogar, seine Leiche zwischen Mülleimern gesehen zu haben. Doch Thomas wusste, worauf er sich einließ, wenn er bei Prostituierten, Drogensüchtigen und deren Gleichen nachfragte.

Der schmutzige Stadtschnee Wiens schmatzte unter seinen Schritten, als er sich der Gemeindewohnung näherte.

Seine neuesten Informationen waren wasserdicht, rief er sich ins Gedächtnis.

Er hatte sich so lange auf diesen Moment gefreut. Es war wie eine Geschichte, die wie mit vereinzelten Puzzleteilen auf den Straßen und durch Dokumente auf etwas so viel Größeres deutete. Aber was wäre, wenn, fragte er sich. Was, wenn das Legenden sind und seine Geschichte gar wertlos ist? Nicht auszudenken, wenn dieser Mann infolge des jahrelangen Konsums in seiner eigenen Welt lebt? Thomas schob diese Gedanken beiseite und stand vor der besagten Anlage. Wie erwartet ein grauer Block mit einem einfachen grün gestrichenen Tor. An der rechten Seite des Eingangs die Namen mit den dazugehörigen Klingelknöpfen.

Thomas‘ Kontaktperson hatte ihm gesagt, er solle einfach die Klingel mit dem leeren Namen betätigen.

Er läutete.

Die Stille der Nacht legte sich über seine Anspannung.

Hallo, dröhnte es rau aus dem Lautsprecher.

Grüß Sie, begann Thomas das Gespräch. Mein Name ist Thomas, Thomas Höbarth, ich…

Der Hörer wurde aufgelegt. Natürlich.

Thomas wusste, dass es nicht einfach werden würde, doch für ihn war es keine Option, zu gehen, bevor er sein Vorhaben erläutern konnte.

Also läutete er erneut.

Sekunden vergingen, als wären es Minuten.

Ein weiteres Läuten.

Du willst spielen, fragte sich Thomas. Dann lass uns spielen.

In diesem Moment rauschte die Lautsprechanlage kurz auf.

Es rauschte, aber es war nichts zu vernehmen.

Thomas‘ Geduld war zu Ende und er trat nah an den Lautsprecher.

Mark hat mir Ihren Aufenthaltsort genannt, sagte er.

Nichts.

Doch Thomas nahm das ständige Rauschen wahr, das ihm sagte, dass nicht aufgelegt worden war.

Hören Sie, Herr Meisl, versuchte er es erneut.

Lassen Sie mich doch erstmal von meinem Vorhaben erzählen.

Wieder nichts.

Markus, erwiderte die Sprechanlage.

Wie bitte?, fragte Thomas.

Markus, sagte die Stimme erneut, nur Freunde kennen ihn unter Mark.

Der Freund meines Freundes ist auch mein Freund, oder etwa nicht?, versuchte es Thomas diplomatisch.

Es dauerte einige Sekunden, bis der Mann wieder etwas sagte.

Der Feind meines Freundes ist auch mein Feind.

Chapeau, er scheint immer noch seine silberne Zunge zu haben, die man ihm nachsagte.

Ich kenne Mark, sagte Thomas, also Markus, und er vertraut mir. Zu sagen, wir wären Freunde, wäre eine Übertreibung, dennoch, denke ich, sind wir gute Bekannte.

Ihm war klar, dass sein Gegenüber vielleicht gar nicht richtig zuhörte, aber welche andere Wahl hatte er?

Dann zog sich ein langes Schweigen durch die kalte Nacht, das so zermürbend war wie die Wartezeit im Wartezimmer bei einem Zahnarzt.

Plötzlich – Thomas erschrak – ein lautes durchdringendes Läuten.

Die Eingangstür öffnete sich, als Thomas zog und dahinter erstreckte sich ein schmaler, düsterer Gang, der zu beiden Seiten hin von Stiegen gesäumt wurde.

Natürlich, dachte sich Thomas, kein Fahrstuhl.

Er schlenderte die alten steinernen Treppen empor.

Halbparterre, Hochparterre und schließlich in den ersten Stock.

Thomas ging die Reihen an Türen ab und prüfte ihre Nummern. 31, 32, 33, 34.

Einige Schritte weiter stand er vor der Tür 37. Nicht irgendeine Tür, wie ihm bewusst war. Nein, die Tür. Die Tür, die alles oder aber auch nichts sein konnte.

Er holte tief Luft und schloss ein letztes Mal seine Augen, um sich zu besinnen.

Und dann klopfte er.

Kapitel 1

Daniel H. Meisl öffnete die Tür.

Er war ein mittelgroßer Mann mit leichten Geheimratsecken und kleinen blaugrauen Augen hinter runden Gläsern.

Seine Wangenknochen ragten nur wenig aus seinem ovalen Kopf hervor.

Er war nicht abgemagert oder schlank, nicht beleibt oder fettleibig, sondern ein Mann mit einer Figur, die kein Training oder zu viel Fastfood gesehen hatte.

Thomas hatte mit Vielem gerechnet, dennoch war er nach all den Geschichten überrascht, einen Mann zu sehen, der einem Grashalm unter Tausenden ähnelte.

Daniel H. Meisl begutachtete Thomas genau wie er ihn.

Dann streckte der Mann die Hand aus und stellte sich vor.

Meinen Namen kennst du wohl bereits, dennoch der Form halber – Daniel Meisl.

Thomas erwiderte den Händedruck.

Thomas Höbarth, ich bitte nur um einen Augenblick, um mich zu erklären.

Einen Tee, sagte Daniel H. Meisl.

Wie bitte?, fragte Thomas verdutzt.

Ich habe ihn bereits aufgesetzt, antwortete der Mann. Blutorange, falls du einen willst, mache ich dir ebenfalls einen.

Gerne, aber ich bin eigentlich gekommen, um mit Ihnen über das Anliegen zu sprechen, sagte Thomas.

Wie gesagt, begann der Mann. Eine Tasse Tee und das war‘s. Du kannst mir jede Frage stellen, wenn du meine zuerst beantwortest.

Doch sobald die Tasse leer ist, werde ich dich wieder hinausbegleiten, ich habe ungern Besuch. Und bitte lassen wir dieses Herr und Sie und diesen albernen Müll. Ich heiße Daniel, du Thomas, das genügt vollkommen.

Thomas nickte.

Schön, dass wir uns verstehen, sagte Daniel.

Er führte Thomas durch die kleine Wohnung und deutete ihm, sich auf einen der Sessel um einen Tisch zu setzen, er selbst ging einen weiteren Raum weiter in die Küche.

Die Wohnung war weder unordentlich noch war sie stickig. Nicht die Wohnung, die ich mir vorgestellt hatte, dachte Thomas.

Alles Jalousien waren verdunkelt. Die Luft roch nach kaltem Zigarettenrauch, bestimmt deshalb waren alle Fenster gekippt.

Daniel, ein Mann, den viele nie ohne einen Glimmstängel zwischen seinen Fingern gesehen hatten, kam mit zwei Tassen Tee in der einen und einer jener Zigaretten in der anderen Hand an den Tisch.

Zucker?, fragte Daniel.

Nein, danke.

Daniel schüttelte belustigt den Kopf, während er sich selbst seinen Tee reichlich zuckerte.

Ich habe das nie verstanden, sagte Daniel zwischen zwei Zügen an seiner Zigarette.

Wie bitte? Was haben Sie, ich meine, was hast du nie verstanden?, fragte Thomas.

Daniel lächelte.

Ich meine, ich habe wirklich hunderte Tees in meinem Leben getrunken, doch noch nie schmeckte ich einen Geschmack, wenn ich keinen Zucker benutzte. Das ist alles.

Zu meinem Anliegen, begann Thomas und griff in seinen kleinen Rucksack. Daniel unterbrach ihn.

Zuerst meine Fragen.

Natürlich? Dennoch holte er den Brief, den er bereits in seinen Händen hatte, hervor und legte ihn neben seine Tasse.

Daniel schlürfte seinen Tee, nahm einen langen Zug von seiner Zigarette und blies den Rauch beiseite.

Woher kennst du Markus?, fragte er.

Thomas sah die Tasse, an der Daniel nippte, und dachte, wie viel Zeit ihm noch bleiben würde. Er musste seine Antworten kurz und dennoch informativ halten.

Er, begann er schnell, arbeitete als Streetworker, da sind wir uns als erstes begegnet.

Daniel nickte und sagte, keine Sorge, ich werde meinen Tee schon nicht hinunterwürgen, nur um dir keine Zeit für deine Fragen zu geben.

Er schenkte Thomas ein leichtes Lächeln.

Mark ist also Streetworker geworden, wie geht es seiner Freundin?

Wie hieß sie noch schnell?

Thomas war sich bewusst, dass Daniel mit ihm spielen würde, wenn er die Gelegenheit hatte. Und diese Frage war natürlich eine, die er geschickt gestellt hatte. Doch Thomas wusste, was ihn erwartet, und hat seine Hausaufgaben ebenfalls gemacht.

Melanie, und ihnen beiden geht’s gut, außer, dass sie auch gerne mal von dir hören würden, antwortet er prompt.

Daniels Gesicht wurde einen Ton blässer und er musste kurz seine Augen schließen. Ein weiterer Zug von seiner Zigarette.

Thomas wusste, dass seine erste Frage eine Fangfrage war, denn Melanie war bereits seit Jahren Markus‘ Frau und nicht seine Freundin.

23. März 2015, sie bedauern es sehr, dass du ihre Einladung zu ihrer Hochzeit nicht wahrgenommen hast.

Thomas sah, wie Daniels Augenlieder und seine glasigen Augen dahinter zuckten.

Einen Moment später hatte er sich wieder gefasst und würdigte seine zu Ende gerauchte Zigarette mit einem abschätzigen Blick. Daniel klopfte sich eine weitere Zigarette, Marlboro Rot, aus der Schachtel, befeuchtete sie der Länge nach mit seiner Zunge und zündete sie mit der anderen noch schwach glühenden Zigarette an.

Rauchfäden umgaben sein Gesicht.

Er kratzte sich an seiner rechten Wange.

Seine hochgezogenen Augenbrauen waren das einzige, was er Thomas an Verwunderung zugestand.

Daniels Tasse war halb geleert, während Thomas seinen nicht angerührt hatte.

Es wurde kurz still und Thomas bemerkte, dass der Mann in alten Erinnerungen schwelgte.

Er nutzte diese kurze Stille und sagte: Wegen meines Anliegens… Doch Daniel stoppte ihn erneut, diesmal mit einer sanften Handgeste.

Eine Frage habe ich noch, sagte er. Seine Stimme zitterte ein wenig.

Thomas hätte es kaum gemerkt, wenn er es nicht erwartet hätte.

Daniel tippte auf den Brief, der vor Thomas lag, und fragte: Ist dieser Brief wirklich von Mark?

Thomas nickte. Er fühlte einen Stich in seinem Herzen.

Plötzlich fragte er sich selbst, warum er diesen vom Leben gezeichneten Mann nicht einfach in Ruhe gelassen hat. Warum war er so darauf versessen, ihn ausfindig zu machen?

Doch die Antwort lag tiefer, als er es in Worte fassen konnte.

Es war eine Art von starker Neugier, doch gleichzeitig ein eigener Profit, den er sich davon erhoffte.

Plötzlich plagten ihn Gewissensbisse, er hätte Daniel sein Leben lassen sollen und nie nach Strohhalmen greifen sollen.

Doch nun war es zu spät. Die Wahrheit ist und war immer dieselbe, er musste es tun. Es war ein Zwang, Daniel war seine Droge und er war süchtig nach mehr.

Daniel seufzte.

Wenn es so ist, weiß ich bereits, was darin steht.

Mark, sagte er, er ist ein besonderer Mensch, ich stehe in einer Schuld, der ich nie und mit keiner Geste nachkommen könnte.

Ich weiß, was sein größter Wunsch war und bestimmt immer noch ist.

Obwohl, wie ich zugeben muss, ich nie verstanden habe, warum ich.

Es gibt Tausende wie mich, warum ich?, fragte er, mehr zu sich selbst als zu Thomas.

Dieser sah ihn überrascht an. Natürlich, sagte Daniel, du hast keine Ahnung, was darin steht, aber das musst du auch nicht.

Wirst du ihn öffnen?, fragte Thomas.

Vielleicht, aber eher nicht. Oder doch, wer weiß das schon. Die Frage ist nicht, werde ich ihn öffnen, die Frage ist, werde ich ihn lesen.

Thomas nickte verstehend.

Daniel zündete sich seine dritte Zigarette an, die bereits leere Tasse stellte er behutsam vor sich.

Die Zeit ist wohl vorüber, sagte er in sich gekehrt.

Meine Tasse ist noch voll, entgegnete Thomas.

Außerdem hast du mir erlaubt, meine Angelegenheit offenzulegen.

Daniel schüttelte den Kopf, bei dieser Geste schwang eine kleine Verärgerung mit.

Daniel deutete während eines Zugs an seiner Zigarette in Richtung des Briefes.

Der hier, sagte er bestimmt, erklärt mehr als deine Angelegenheit.

Ich weiß, was du, was Mark verlangt. Doch jetzt ist es spät, ich werde dich jetzt hinausbegleiten.

Just in diesem Moment erhob sich Daniel von seinem Stuhl und dämpfte seine Zigarette in seinem übergehenden Aschenbecher aus.

Thomas blieb sitzen. Er konnte es nicht glauben, wie Daniel ihn behandelte. So als sei er ein Kind oder eine Schachfigur an Daniels Seite, ein Bauer, den er einfach opfern würde, wenn die Gelegenheit dazu gegeben war.

Daniel stand bereits im Vorzimmer und wartete ungeduldig.

Weißt du. Ärger klang zum ersten Mal aus Thomas‘ Worten.

Was ich alles tun musste, um dich zu finden. Was ich tun musste, um mich auf all dies vorzubereiten.

Er kam näher, bis er einen halben Meter vor Daniel stand.

Dieser sah ihm regungslos an, während Thomas fortsetzte. Vielleicht stimmt es, was die anderen sagen. Die Drogen haben deinen Kopf komplett zerstört. Thomas‘ Stimme wurde lauter und lauter.

Dieser Brief, er hielt ihn nur wenige Zentimeter vor Daniels Gesicht, er bedeutet dir nichts.

Natürlich erkannte er, wenn auch nur kurz, Daniels Emotionen, aber dies war seine einzige Chance, das zu bekommen, was er wollte.

Mark, Melanie, sie bedeuten dir nichts. Und weißt du, was, nicht nur, dass du seine Hochzeit absichtlich verpasst hast, so hast du auch die Geburt seiner Zwillinge verpasst.

Thomas dachte, Daniel würde ihn auf der Stelle ohrfeigen.

Nichts dergleichen passierte.

Daniel sah ihn an, studierte seinen Wutausbruch.

Ich habe nie gesagt, sagte Daniel, dass du diesen Brief wieder mitnehmen sollst.

Er griff nach dem Brief, der immer noch vor seiner Nase tanzte, und legte ihn behutsam auf eine kleine Kommode.

Wir fangen morgen an, sagte Daniel so ruhig, als wäre es nie lauter geworden.

Thomas sah ihn perplex an.

Mit was anfangen?, fragte er.

Du willst meine Geschichte, meine Autobiographie, die sollst du bekommen, aber auch diese wird seinen oder eben meinen Regeln entsprechen.

Thomas wollte widersprechen, doch Daniel schüttelte kaum merkbar den Kopf.

Ich vertraue Mark, sagte dieser. Er wird seine Gründe haben, dich zu schicken, auch wenn ich diese selbst erst ergründen möchte. Komm morgen um dieselbe Zeit oder lass es. Und stelle dich auf Fragen ein, die ich dir stellen werde, manche privat, manche belanglos, beantworte sie mit reinem Gewissen und ich entscheide, ob du es wert bist, in meiner Vergangenheit zu stochern.

Thomas schluckte seinen Ärger herunter. Hatte er gewonnen oder verloren und spielte das überhaupt eine Rolle? Er hatte schon mehr, als er eigentlich erwartet hatte.

Thomas reichte Daniel zum Abschied die Hand.

Daniel nahm sie entgegen, stärker als beim ersten Mal und sagte:

Enttäusche mich nicht.

Und dann nach einer kurzen Stille.

Bitte.

Kapitel 2

Es kam Thomas wie ein Déjà-vu vor, als er am nächsten Abend wieder vor der grünen Tür stand und die Klingel neben dem namenlosen Schild betätigte.

Das Läuten kam einige Sekunden später und er machte sich auf den Weg.

Nach einer neutralen Begrüßung setzte er sich auf den gleichen Stuhl wie am Vortag.

Daniel, der außer ein paar Worten nichts von sich gab, tippte den Teebeutel in seiner Tasse auf und ab. Als er zufrieden war, schlang er ihn um den Löffel, presste die restliche Flüssigkeit daraus heraus und legte den Beutel auf ein Küchenpapier daneben.

Viel Zucker und das Anzünden einer Zigarette folgten.

Thomas‘ Blick fiel für einen Bruchteil einer Sekunde auf den Brief am Tisch. Er war immer noch verschlossen.

Rauchschwaden bildeten sich an der Glut der Zigarette und stiegen langsam in die Höhe.

Warum, begann Daniel endlich das Gespräch, denkt Mark, dass du dieser Aufgabe gewachsen bist?

Thomas zuckte mit den Schultern und sein Blick glitt wieder zu dem Brief.

Vergiss den Brief, meinte Daniel. Ich will es von dir hören.

Ich denke, sagte Thomas, dass ich aufgrund meiner Erfahrung als Streetworker ein Händchen dafür habe, das Leid und die Gründe einer Sucht zu verstehen.

Daniel nickte ein wenig.

Lass mich die Frage anders formulieren, sagte er. Warum denkst du, dass du es schaffen könntest, meine Biographie wahrheitsgemäß niederzuschreiben?

Thomas war auf diese Frage natürlich vorbereitet.

Ich habe Journalismus studiert, ich habe ein unendliches Verlangen, das nie gestillt wird.

Also willst du mein Einverständnis, meine Geschichte als was zu benutzen?

Ein Buch, antwortete Thomas schnell.

Ein Buch?, fragte Daniel lächelnd. Das wievielte wäre das denn, wenn mir diese Frage erlaubt ist?

Thomas ballte seine Hände unter dem Tisch zu Fäusten.

Mein erstes, sagte er resigniert und leicht verärgert.

Das sind nicht viele, meinte Daniel. Wieso hast du noch keins veröffentlicht?

Thomas musste schlucken, um seinen trockenen Hals etwas zu befeuchten.

Es ist wie eine Partie rhetorisches Schach, dachte er.

Nur dass Thomas keine Ahnung davon hatte und Daniel darin Profi war. Ein falscher Zug von seiner Seite und sein König würde fallen, noch bevor er irgendetwas erfahren hatte.

Ich habe dutzende Bücher geschrieben und sie fertiggestellt, sagte er dann. Aber ich veröffentliche nichts, was nicht meinen Perfektionismus befriedigt.

Daniel neigte seinen Kopf leicht zur Seite und ein leichtes Lächeln huschte über seine eisige Miene.

Du kannst mich nicht leiden, stimmt‘s?, fragte er.

Nein!, schoss es aus Daniels Mund, bevor er sich dessen bewusst war.

Jetzt lachte Daniel. Kein arrogantes, nein, ein echtes Lachen, das seine Augen verengte.

Ich mag dich, sagte er nach seinem Lachanfall.

Willst du gar nicht wissen, weshalb?

Weil du mit mir Katz und Maus spielen kannst und du mich in deinen Händen hast wie einen Stressball?

Daniel schüttelte den Kopf und sagte: Nein, um Gottes Willen, nein.

Du erinnerst mich an mich selbst. Diese Sturheit, dieser Drang nach Antworten, dieses Temperament. Langsam verstehe ich Mark und seinen Humor – den ich besser als jeder anderer kenne – warum er dich zu mir geschickt hat.

Wer sonst könnte es schaffen, meine Geschichte zu erzählen, wenn nicht eine Person, die mir so ähnlich ist?

Thomas entspannte sich wieder.

Dann zündete Daniel eine zweite Zigarette an.

Der Geruch von Rauch und Blutorange drang in Thomas‘ Nase.

Du musst wissen, ich liebe es, zu spielen, sagte Daniel.

Es ist wie bei dir, dieser Drang alles zu wissen, zu wollen, obwohl wir beide wissen, dass dies unmöglich ist.

Wäre es okay für dich, wenn ich dir ein paar Fragen stelle, die du nur mit Ja oder Nein beantworten musst?

Thomas sah Daniel tief in die Augen, jetzt erkannte auch er eine Verbindung zu diesem Mann, für den er plötzlich eine Art Empathie empfand.

Bekomme ich meine Geschichte?, fragte er.

Als Antwort bekam er ein einfaches Lächeln und ein bestimmtes, ehrliches Nicken.

Bitte, forderte Thomas ihn auf, mit dem Kreuzverhör zu beginnen.

Daniel dämpfte seine Zigarette aus.

Du bist ein Einzelkind, sagte er.

Ja, sagte Thomas.

Deine Eltern sind geschieden.

Ein weiteres Ja.

Du hast keine Partnerin, keine Frau.

Thomas nickte.

Okay, sagte Daniel. Alles 50/50-Chancen. Ich glaube, ich sollte den Schwierigkeitsgrad etwas erhöhen.

Du bist arbeitslos, verdienst dein Geld durch verschiedenste und schlecht bezahlte Nebenjobs.

Thomas sagte Ja.

Dir geht es nicht ums Geld, sondern um die Anerkennung, weil dir diese in deiner Familie fehlt.

Jetzt schüttelte Thomas den Kopf.

Verdammt, fluchte Daniel in sich hinein.

Es schien ihm Spaß zu machen.

Okay, sagte er und kratzte sich an seiner Wange.

Du denkst, dass meine Geschichte deine einzige Chance ist, die deine Karriere in Gang bringen wird.

Thomas wollte schon antworten, doch dann durchschaute er das Spiel.

Daniels Fragen würden endlos weitergehen, natürlich würden ihm irgendwann die Fragen ausgehen, doch dann würde er einfach die Satzstellung von alten Fragen verändern. In Wirklichkeit spielte es keine Rolle, ob er Ja oder Nein antwortete, schlussendlich würde er all seine Antworten haben.

Erst jetzt bemerkte er, dass er seine Frage einige Minuten nicht beantwortete.

Daniel schlürfte seinen Tee und nahm einen Zug von seiner bereits vierten Zigarette.

Er nickte Thomas anerkennend zu, sein Spiel durchschaut zu haben.

Ich würde sagen, begann Daniel, wir beginnen mit dem Wie und dem Ziel. Und dann habe ich wie bei jedem Vertrag Bedingungen. Wenn das erledigt ist, können wir beginnen.

Bedingungen?, fragte Thomas verdutzt.

Nichts Aufregendes, sieh es als eine Art Absicherung meinerseits.

Wie du dir denken kannst, ist es das erste Mal, da ich meine Geschichte noch niemanden erzählt habe. Natürlich gibt es Legenden, so nenne ich sie, oder Bruchstücke meiner verschiedenen Lebensabschnitte. Also wie hast du vor, meine Geschichte wiederzugeben?

Thomas griff in seine Hosentasche und zückte ein Smartphone hervor.

Hiermit, sagte er, werde ich unsere Gespräche aufzeichnen, selbstredend, dass nur wir davon wissen und Gebrauch davon machen werden.

Daniel begutachtete das Handy kurz und äußerte seine Bedenken: Was, wenn es in falsche Hände gerät oder zum Beispiel gestohlen wird?

All die Daten, seien es Fotos, Videos und eben auch Audioaufnahmen, werden in eine Cloud gespeichert, die auf dich laufen wird. Wenn ich Zugriff auf die eine oder andere Aufnahme haben möchte, musst du ihn mir genehmigen.

Daniel nickte überzeugt.

Und zu dem Ziel, sagte Thomas, das kennst du bereits, ich will einen Roman schreiben. Das Manuskript werde ich selbst dutzende Mal auf Rechtschreibfehler durchschauen. Dann wird es ebenfalls in deiner Cloud landen und du bestimmst, ob es deinen Vorstellungen gerecht wird oder nicht.

Wieder ein überzeugtes Nicken.

Das klingt zu gut, um keinen Haken zu haben, wo ist dieser?, fragte Daniel.

Die Technik ist ein unberechenbarer Haken, Daten können verschwinden, ansonsten ist es sicher.

Daniel nickte.

Dann zu den Bedingungen, begann er.

Thomas machte sich auf eine endlose Liste gefasst. Diese Bedingungen würden den ganzen Aufwand und das Ende bestimmen.

Keine Sorge, besänftigte Daniel ihn.

Ich will, dass alles, was ich sagen werde, im Buch, wenn es je veröffentlicht wird, genau so wiedergegeben wird.

Es wird Stellen geben, die anfangs keinen Sinn machen, oder Ausschweifungen, die so aussehen werden, als würden sie ins Nichts führen. Ich bin informiert, was Dramaturgie betrifft. Ich will, dass nichts ausgeschmückt oder beschönigt wird. Immerhin ist es mehr als ein Buch, es ist eine Autobiographie. Und das echte Leben schreibt oft bessere Geschichten als jedes Buch der Welt. Glaube mir, dir wird es an nichts fehlen, Drama, Melancholie, Liebe, Hass, Krisen und ein bittersüßes Ende. Einverstanden?

Thomas hatte mit so vielen Haken gerechnet, mit mehr als Daniel wahrscheinlich. Doch seine Argumentation war klar und verständlich.

Er erwischte sich dabei, ein komplett anderes Bild von Daniel zu bekommen. Er sah in ihm nicht den Drogensüchtigen, von dem jeder in der Straße sprach, sondern einen Mann, mit dem er einen fairen Vertrag vereinbart hat, bei dem keiner von beiden verlieren konnte.

Thomas und Daniel besiegelten den Vertrag mit einem Handschlag.

Er beobachtete, wie Daniel in der Küche verschwand und mit einer großen Kanne Tee und einer verschlossenen Packung Zigaretten zurückkam.

Er zupfte an der Schachtel herum, um das obere Plastikteil zu entfernen.

Daniel war kein Kettenraucher, er war ein Raketenraucher, erinnerte er sich an ein Gespräch mit einem Obdachlosen vor einigen Wochen.

Jetzt verstand er, warum.

Daniel schenkte nun auch Thomas, ohne zu fragen, Tee in eine Tasse.

Er war dankbar dafür, seine Kehle brauchte unbedingt etwas Flüssiges.

Ich schätze, wir brauchen wohl einen Titel, oder?, fragte Daniel.

Ja, oder wir kümmern uns erst darum, wenn wir bereits einen Teil der Geschichte haben.

Doch Daniel unterbrach seinen Satz mit einer Handbewegung und sagte: Wie wäre es mit „Der längste Abschiedsbrief der Welt“?

Ein guter Titel, musste Thomas zustimmen. Aber er ist dann doch wohl etwas zu…

Er suchte nach einem Wort dafür.

Melancholisch, dramatisch, dachte, darauf kommt es heutzutage an.

Schon, aber irgendwie hat es sowas Endgültiges, sagte Thomas.

Daniel zuckte mit den Schultern und meinte: Passt doch ziemlich gut, würde ich sagen.

Wie gesagt, sagte Thomas gleichgültig, wir können ihn noch immer ändern oder auch nicht, wichtiger ist die Geschichte.

Er wartete ab, bis sich Daniel die Zigarette anzündete, und betätigte dann die Record Taste seines Smartphones.

Kapitel 3

Eine Biographie, soweit es mich betrifft, veröffentlichen Personen, die denken etwas zu sein, etwas gewesen zu sein.

Ich dachte und denke, nie etwas Wesentliches geleistet zu haben.

Natürlich habe ich ein Leben hinter mir, das Höhen und Tiefen aufweist, aber hat das nicht jedes Leben?

Wie dem auch sei, das ist meine Geschichte. Es wird viel über mich erzählt: Ich sei der einzige Mann, der von einem Tag auf den anderen jede Droge ohne Entzug absetzen kann, ich habe mehr Zigaretten geraucht als ein Sechzigjähriger, der seit seinem sechzehnten Lebensjahr raucht, ich habe die Begabung, jedem Richter, jedem Polizisten mit nichts als meinen Worten die Wahrheit so zu verdrehen, dass sie zu meinen Gunsten steht. Ich könnte etliche dieser Geschichten erzählen, doch sage ich nur dies: Zwischen Legenden und der Realität liegen Welten.

Die Chance, von einem Blitz getroffen zu werden, liegt bei eins zu mehreren Millionen, die Chance, im Lotto oder Euromillionen zu gewinnen, liegt bei eins zu mehreren Hundertmillionen. Dennoch gibt es Menschen, die mehr als einmal von einem Blitz getroffen wurden, oder Menschen, die im Lotto und dergleichen den Jackpot zwei oder mehrere Male geknackt haben.

Und genauso, zumindest sehe ich es so, verhält es sich mit Schicksal und Karma. Versteht mich nicht falsch, denn ich bin alles andere als gläubig, dennoch glaube ich an diese zwei Faktoren. Um diesen Glauben zu erlangen, bedarf es einiger Schicksalsschläge oder Situationen, die Karma implizieren. Und ich habe sie überlebt, auch wenn sie Narben hinterlassen haben, die ich bis heute trage.

Aber genug der Einleitung… Ich denke, was ihr lesen oder wissen wollt, ist meine Geschichte.

Meine Geschichte beginnt im Leib meiner Mutter.

Es war die Nacht des 30. Dezember, meine Großeltern hatten meine Mutter ins Krankenhaus Mödling gefahren.

Die Ärzte und Hebammen redeten von einem Neujahrskind.

Früher bekam man dafür eine Art Prämie, wenn ein Kind an einem 1.

Jänner geboren wurde. Ob das heute noch der Fall ist, weiß ich nicht und es spielt auch keine Rolle.

Doch nach 42 Stunden in den Wehen war es dafür sowieso schon zu spät.

Als die Ärzte durch Ultraschall feststellten, dass mein Körper in einer Schieflage war, wurde ich einige Stunden später durch einen Kaiserschnitt entbunden.

Mein Vater hatte es vorgezogen, zu tarockieren und zu trinken, während meine Mutter mich endlich am 2. Jänner 1985 in ihren Armen hielt.

Natürlich kann ich mich nicht daran erinnern, das ist die Erinnerung meiner Mutter.

Ich war ein Einzelkind. Kein verwöhntes, natürlich bekam ich vieles und meine Eltern verdienten auch nicht schlecht. Doch der Alkohol und vor allem die Spielsucht meines Vaters schränkten uns ein. Ich liebte ihn, ich war ein Vaterkind.

Ich hörte mir seine Geschichten an, die er als Jugendlicher so erlebt hatte.

Wir lebten in einer einfachen, 60m2 großen Wohnung am Rande Wiens. Schimmelbefallenes Badezimmer, schlecht aufgeteilte Zimmer. Aber ich mochte es so, ich kannte nichts anderes.

Meine Mutter – natürlich bekam ich das früher alles nicht mit, dafür war ich zu jung – hasste die Gegend. Sie hatte keine richtigen Freunde und wenn lebten diese in anderen Ortschaften. Tägliche Streite waren an der Tagesordnung. Es gab viele Auslöser wie Schulden, Seitensprünge, Alkoholismus und mehr.

Im Kindergarten lernte ich meine ersten Freunde kennen, doch wie jeder weiß, verlaufen sich diese Freundschaften oft in die verschiedensten Richtungen.

Mit sechs Jahren ging ich an die ortsansässige Volksschule. Meine erste Vier hatte ich bei einem Deutschtest in der dritten Klasse.

Zu dieser Zeit begann ich zu realisieren, dass es meiner Mutter nicht so gut ging, wie ich immer gedacht hatte.

Oft kam mein Vater nach seiner Arbeit als Maurer nicht nach Hause und meine Mutter gab ihr Bestes, mir ihre Trauer und Besorgnis nicht anmerken zu lassen.

In manchen Nächten wachte ich auf und stellte fest, dass ich ganz alleine war. Natürlich hatte ich Angst und so etwas wie ein Handy gab es zu dieser Zeit nicht.

Ich bat meine Mutter, mich, wenn Vater wieder Mal nicht nach Hause kam, nicht alleine zu lassen. Meine Mutter wusste von all dem, was Vater so trieb. Ich steige ins Auto und suche ihn, sagte sie mehr als einmal.

Sie hätte alles für mich getan, aber jetzt, da ich das Leben verstehe, verstehe ich ihre Beweggründe.

Wir stritten ständig, ich und meine Mutter, wegen nicht gemachter Hausaufgaben oder Einträge im Mitteilungsheft.

Mein Vater war, wenn er Zeit mit mir verbrachte, alles, was ich mir zu wünschen hoffte. Er sorgte sich um mich, kochte, spielte, zeigte Nähe.

Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und meiner Mutter die Liebe geben, die sie verdient hat.

Ich beendete die Volksschule mit Einser und Zweier.

Die Hauptschule, die ich besuchte, war durchwegs als okay zu bezeichnen.

Bei den Elternsprechtagen, die natürlich nur meine Mutter besuchte, fiel immer der gleiche Satz: Ihr Sohn ist durchschnittlich, was nicht daran liegt, dass er Durchschnitt ist, nein, er ist einfach zu faul, um zu lernen.

Dem konnte ich nichts entgegensetzen, mein Wissensdurst kam tatsächlich nach meiner Pubertät.

Ich war nun zwölf, die Situation zu Hause hatte sich verschlimmert.

Die Tage, an denen mein Vater nicht nach Hause kam, häuften sich, die Streits mit meiner Mutter wurden lauter.

Ich rauchte meine erste Zigarette im gleichen Jahr, außerhalb der Schule in einem Park. Ich trank meinen ersten Alkopop und stellte fest, dass mir der Geschmack von Alkohol, egal wie süß er auch verkauft wird, nicht schmeckte.

Meine erste Liebe war ein Mädchen namens Nina.

Sie war, wie auch meine späteren Partnerinnen, blond mit einem runden Gesicht und einem wunderschönen Lächeln.

Es folgte der erste richtige Kuss. Wir waren ganze zwei Wochen ein Paar, bis sie sich aus mir bis heute unbekannten Gründen von mir trennte.

Ein Jahr später waren wir wieder zusammen. Wie lange diese Liebe andauerte, weiß ich nicht mehr so genau, aber es war nicht viel länger als das erste Mal.

Mein Alltag bestand aus frühem Aufstehen, Frühstücken, Schule, Hausaufgaben und Warten, bis meine Mutter nach Hause kam.

Im dritten Jahr der Hauptschule war die Situation zu Hause so angespannt, dass es jeden Moment zu einem nuklearen Desaster ausarten konnte, was es auch tat.

Ich schlief, als mich ein Geräusch aus meinen Träumen riss.

Wie eine Sprungfeder hüpfte ich aus meinem Bett und folgte dem Geheule bis in die Küche.

Das erste, was ich sah, waren auf dem Boden verteilte Holzsplitter.

Das zweite, was ich sah, war meine Mutter, wie sie in Embryostellung am Boden kauerte.

Langsam näherte ich mich meiner wimmernden Mutter.

Ich kann nicht mehr!, heulte sie.

Ich konnte kein Wort sagen.

Ich will nicht mehr!, flüsterte sie schniefend.

Ahnungslos und jung, wie ich war, wusste ich nicht, was ich tun konnte.

Ich setzte mich neben sie, meine Mutter, wie ich sie in meinem ganzen jungen Leben noch nie gesehen hatte, und umarmte sie.

Sie sagte etwas, das ich nicht verstehen konnte. Es war mehr ein Weinen und Ringen nach Luft als tatsächliche Worte oder Sätze.

Ich griff um sie, umarmte sie und sagte das einzige, was ich hatte sagen können: Ich liebe dich!

Ihre Haare hingen verklebt an ihren Wangen, ihre Backen waren rot wie Tomaten.

Ich liebe dich!, wiederholte ich noch einmal.

So, nebeneinandersitzend, verbrachten wir Stunden, bis sie sich einigermaßen beruhigt hatte.

Gemeinsam gingen wir in ihr Schlafzimmer. Und nachdem ich mich vergewissert hatte, dass sie tatsächlich schlief, übermannte mich meine Müdigkeit.

Die einfachste und schwerste Entscheidung folgte keine Woche später, als meine Mutter und mein Vater sich gegenüberstanden. Ich in ihrer Mitte. Sie würden sich scheiden lassen, das wusste ich, doch ich wusste nicht, dass ich derjenige sein werde, der sich entscheiden musste. Gehe ich zu meinem Vater, den ich trotz seiner Fehler liebte, oder würde ich mit meiner Mutter zurück ins Haus ihrer Eltern ziehen?

Und dann geschah das, was mir bis heute unbegreiflich erscheint.

Obwohl ich immer noch an das Gute in meinem Vater glaubte und ich ihn verehrte, musste ich mir selbst zusehen, wie ich in die Arme meiner Mutter lief.

Wir zogen noch an diesem Tag aus und doch fühlte es sich für mich irgendwie nicht endgültig an.

Kapitel 4

Meine Großeltern nahmen uns erwartungsgemäß freudig auf. Aus irgendeinem Grund verarbeitete ich die Trennung meiner Eltern ohne Probleme.

Ich weinte nicht, ich lag niemals schlaflos neben meiner Mutter auf einer Ausziehcouch.

Im letzten Hauptschuljahr waren meine Noten durchschnittlich, Einser, Zweier, Dreier und keinen einzigen Vierer.

Hier und da klaute ich meiner Mutter Zigaretten, um sie nach der Schule zu rauchen. Bis ich eine Trafik entdeckte, die mir in vollem Bewusstsein meines Alters welche verkaufte.

Meine Mutter hätte einen Oscar verdient für ihre schauspielerischen Leistungen, die sie an den Tag legte.

Ich dachte tatsächlich, sie würde das Ganze so einfach wegstecken, wie ich es tat.

Ich denke, diese Scheidung, die nach einem Monat folgte, war der Auslöser, dass wir uns plötzlich so gut miteinander verstanden wie noch nie zuvor.

Ich war nun in einem Alter, in denen ich die Sachen verstand und obgleich meine Mutter wirklich versuchte neutral zu bleiben, erklärte sie mir, mit wem mein Vater denn nicht so im Bett war.

Dass meine Oma mir ihre Liebe so oft bewies, war schön.

Mein Opa war in der Hinsicht eher subtil, er hätte alles für mich getan, aber er war ein Mann mit dem Stolz einer heroischen Statue.