Der letzte Íud - Birgit Lutz - E-Book

Der letzte Íud E-Book

Birgit Lutz

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Vor zwanzig Jahren haben die Menschen sich gegen die grausame Herrschaft der Íudin erhoben, seither gelten sie als ausgerottet. Niemand weiß, dass der letzte der Íudin sich auf einem abgelegenen Anwesen in den Bergen versteckt hält. Als die Magieschülerin Lias herausfindet, dass der freundliche Heilerlehrling Conn Der letzte Íud ist, beschließt sie zusammen mit ihrem Mitschüler Pali, die Wahrheit über die Íudin und den Aufstand herauszufinden. Aber kann man tief verwurzelte Vorurteile allein mit Argumenten und Beweisen bekämpfen? Und wie beschützt man einen Freund vor jemandem, der seine Beute eben deshalb jagt, weil er die Wahrheit bereits kennt?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1373

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Birgit Lutz

Der letzte Íud

Impressum

 

 

 

 

 

 

 

Der letzte Íud

 

 

 

Birgit Lutz

 

 

 

Impressum

 

Copyright: Chiara-Verlag im vss-verlag,de

Jahr: 2022

 

 

Lektorat: Annemarie Werner

Covergestaltung: Giuseppa Lo Coco-Ame

 

Verlagsportal: www.vss-verlag.de

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig

 

 

Kapitel 1

 

„Am Anfang war nur die Macht. Und obwohl sie eine einzige war, existierte sie in zwei unterschiedlichen Formen, als Nichts und als Energie.

Das Nichts war Leere, war Kälte, war Stillstand. Die Energie war Licht, Wärme, Bewegung.

Die Energie war Schöpfung, und es drängte sie, ihren Kräften Gestalt zu verleihen. Das Nichts dagegen verlangte es nach Dunkelheit, nach Stille und Frieden. Es ertrug die Energie und ihren Schaffensdrang nicht. So kam es zum Kampf zwischen den beiden, und alles wurde Chaos.“

Aus dem BUCH: „Die Erschaffung der Welt“

 

Der Tag, an dem ich Conn zum ersten Mal begegnete, war ein kühler Frühsommertag. In der Nacht zuvor hatte es ein Gewitter gegeben, jetzt hing silbriger Nebel über den Wiesen, und der Hof war voller Pfützen. Es roch nach Erde und feuchtem Gras. Ich atmete tief ein und lächelte. Es versprach ein guter Tag zu werden, auch deshalb, weil wir gestern das letzte Unterrichtsthema abgeschlossen hatten und heute mit etwas Neuem anfingen. Das bedeutete erst einmal ein paar Tage Theorie, ehe ich mich wieder mit praktischen Übungen herumschlagen musste.

Von der Mensa bis zum Haupthaus, in dem der Unterricht stattfand, waren es nur wenige Schritte über den Hof. Die Leute hier nannten ihn den großen Hof, obwohl er bei weitem nicht der größte des Anwesens war. Ich hatte ihn schon fast überquert, da sprach mich jemand an.

„Verzeihung …“

Ich wandte den Kopf, und mein Blick fiel auf einen jungen Burschen, kaum älter als ich, mit Augen von wässriger, unbestimmbarer Farbe, stumpfem, braunem Haar und unauffälligen Gesichtszügen. Seine Kleidung wirkte abgetragen, aber ordentlich und sauber.

'Ein einfacher Bursche vom Land', dachte ich, 'wahrscheinlich auf der Suche nach Arbeit.'

„Verzeihung“, wiederholte er, „könnt Ihr mir sagen, wo ich Meister Juvan, den Heiler, finde?“

„Dort entlang“, ich wies mit der Hand auf den Durchgang zwischen Haupthaus und Mensa, „ die erste Tür links.“

„Vielen Dank.“

„Gute Besserung“, wünschte ich ihm lächelnd.

Er erwiderte mein Lächeln mit einem seltsam ernsten Blick, dann nickte er und ging.

Sein Verhalten wunderte mich ein wenig. Doch als ich die Stufen zur Tür hinaufgestiegen war und die Hand auf die Klinke legte, hatte ich ihn bereits vergessen.

Ich betrat das Haupthaus, ein ehemaliges Herrenhaus, durch die Hintertür. Im Erdgeschoss befanden sich die Schreibstube des Verwalters sowie ein Empfangszimmer, das nur selten genutzt wurde. Unterricht hatten wir im ersten Stock, und die Treppe, die dort hinaufführte, war früher wahrscheinlich die Dienstbotentreppe gewesen. Sie war eng, steil und ausgetreten. An ihrem oberen Ende mündete sie in eine kleine Diele, von wo sich eine schöne, wesentlich breitere Treppe in einem eleganten Bogen noch weiter hinauf schwang. Dort wohnte Meister Murindin, dem das Anwesen gehörte.

Zum Unterrichtszimmer führte die einzige Tür in der Diele. Die praktischen Übungen erforderten oft viel Platz, deshalb waren fast alle Innenwände auf diesem Stockwerk entfernt worden. Entstanden war ein riesiger Raum, lichtdurchflutet durch eine Vielzahl an Fenstern und mit einem großen Schrank voller Lehrmaterial an der Stirnseite.

Als ich das Zimmer betrat, stellte ich fest, dass alle meine Mitschüler schon da waren. Die Zwillinge Arn und Matu hatten sich in eine Ecke zurückgezogen und tuschelten dort miteinander. Pali saß bereits an seinem Platz und hatte seine Nase in ein Buch gesteckt. Er war ein dicklicher Bursche mit kurzem, dunkelbraunem Haar und ernsthaften graubraunen Augen. Derel, zierlich gebaut und mit zarten Gesichtszügen, war der jüngste von Meister Murindins Schülern. Auch er saß an seinem Platz und versuchte vergeblich, so zu tun, als machte es ihm nichts aus, dass Tavo ihm gerade empfahl, sich rosa Bänder ins Haar zu flechten.

Tavo lehnte lässig an einem der Fenster, umgeben von seinen Freunden Krin, Sal und Jico. Und sobald ich hereinkam, wandte seine Aufmerksamkeit sich mir zu.

„Sieh an, unser Haustier“, empfing er mich lächelnd.

„Haustiere sind im Unterricht verboten“, erwiderte ich kühl. „Du hättest deinen Floh in deinem Zimmer lassen sollen!“

Tavos Lächeln verhärtete sich, doch der sich anbahnende Streit blieb erst einmal stecken, weil Meister Murindin den Raum betrat.

Meister Murindin verließ seine Wohnung nur für den Unterricht, und selbst das schien ihn jedes Mal sehr anzustrengen. Er pflegte sich dann in seinen hohen Lehnstuhl zu setzen und mit geschlossenen Augen ein paar Mal tief durchzuatmen, ehe er mit dem Unterricht begann. Wenn man ihn so sah, konnte man fast meinen, er hätte nicht mehr lange zu leben. Doch so schwach sein Körper auch sein mochte, seine Magie war stark, und er beherrschte sie vollkommen.

Das neue Thema war Levitation, das Schweben lassen von Körpern. Zunächst aber ging es darum, welche Kräfte dafür sorgten, dass etwas sich nicht in die Luft erhob, und bald schwirrte mir der Kopf von all den Pfeilen, Winkeln und Längen. Zwar machte ich mir eifrig Notizen, meine Gedanken jedoch konnten nicht mithalten, und ich fürchtete, dass ich einiges durcheinandergebracht hatte. Am Nachmittag würde ich meine Aufzeichnungen noch einmal konzentriert durcharbeiten müssen. Am Ende des Unterrichts hatte ich Kopfschmerzen und sehnte mich nach frischer Luft. So anstrengend wie heute war der Theorieunterricht selten gewesen. Und noch nie war die Liste der Bücher, die wir als Ergänzung zum Unterricht lesen sollten, so lang gewesen. Immerhin bedeutete das, dass die Bücher diesmal für alle reichen würden. Meist war es so, dass einer oder zwei von uns warten mussten, bis wieder welche zurückgegeben wurden.

Mit meinen Überlegungen wegen der Bücher beschäftigt schob ich meine Notizen zusammen, da ergoss sich plötzlich eine kleine, schwarze Flut über meine Blätter.

„Oh! Da ist dir aber ein übles Missgeschick passiert!“

In Tavos Stimme schwang Bedauern, doch das Glitzern in seinen Augen verriet nur zu deutlich, dass er das Tintenfass umgestoßen hatte.

„Komm, ich helfe dir, das abzuwischen!“

Und schon fuhr er mit der Hand so über die Seiten, dass er auch die Stellen verschmierte, die noch nicht voller Tinte gewesen waren. Dann hob er das oberste Blatt hoch, das so durchweicht war, dass es auf den Boden tropfte, und seufzte:

„Oje, ich fürchte, da ist nichts mehr zu retten. Aber Kopf hoch, wenigstens haben wir zu diesem Thema ausreichend Bücher in der Bibliothek.“

Mit diesen Worten ließ er das Blatt fallen, legte mir scheinbar tröstend die Hand auf die Schulter, und dann trollte er sich, seinen feixenden Klüngel im Schlepptau. Auf meiner Schulter hatte ich jetzt einen dicken Tintenfleck, und ehe ich in die Bibliothek gehen konnte, um mir eines der Bücher zu holen, musste ich noch die verschüttete Tinte aufwischen. In meinen Augen brannten Tränen der Wut, und ich fluchte stumm vor mich hin, während ich meine unbrauchbar gewordenen Notizen in den Papierkorb warf und Tavos Sauerei von meinem Pult und vom Boden entfernte. Als ich endlich fertig war, war es so spät, dass die Essenszeit in der Mensa fast vorbei war. Ich würde wieder einmal mit den Resten vorlieb nehmen müssen. Dabei hatte der Tag so gut angefangen!

Noch immer grollend stieg ich die Treppe hinunter und öffnete die Hintertür, da traf ich zu meiner Überraschung auf Pali, der dort auf mich wartete.

„Lias? Es tut mir leid. Das mit deinen Notizen, meine ich.“

„Schon gut“, brummte ich, „ich werde mir eines der Bücher besorgen und damit arbeiten.“

„Die Bücher sind alle weg.“

Ungläubig starrte ich ihn an.

„Was, alle? Wie können die alle weg sein?“

Pali lief rot an und sah verlegen zu Boden.

„Einige haben mehr als eines ausgeliehen“, murmelte er.

Natürlich! Und ich wusste auch genau, wer! Zornig warf ich die Tür mit einem unsanften Rums hinter mir zu und stapfte die Stufen hinunter. Nun hatte ich gar nichts zum Lernen, weder meine eigenen Aufzeichnungen noch eines der Bücher! Das würde eine schöne Prüfung geben!

„Lias?“

„Was!“ fauchte ich, doch sofort tat es mir leid.

Nichts von all dem war Palis Schuld.

„Was?“wiederholte ich etwas ruhiger.

„Ich wollte nur sagen … ich bewundere dich. Dafür, dass du so mutig bist, und dass du dir nicht alles gefallen lässt.“

Das half mir zwar nicht weiter, trotzdem versuchte ich zu lächeln. Schließlich gab Pali sich gerade alle Mühe, nett zu mir zu sein.

„Hier, nimm das“, sagte er und hielt mir eine Mappe hin. „Das sind meine Notizen von heute. Schreib sie ab.“

Einige Herzschläge lang blickte ich sprachlos auf die Mappe.

„Aber die brauchst du doch selbst“, meinte ich endlich und stellte erstaunt fest, dass meine Stimme kratzig klang.

Pali schüttelte den Kopf.

„Ich hab eines der Bücher ergattert. Damit bin ich bis heute Abend beschäftigt. Na los, nimm sie schon. Wenn du fertig bist, tauschen wir: Meine Notizen gegen das Buch.“

So viel Freundlichkeit machte mich fast schon wieder misstrauisch. Forschend sah ich ihm ins Gesicht, fand aber nur Wärme und Anteilnahme in den graubraunen Augen. Trotzdem fragte ich:

„Warum machst du das?“

„Sagen wir, es ist meine Art, mich gegen Tavo zu wehren.“

Diesmal war mein Lächeln echt. Dankbar nahm ich die Mappe und sah ihm nach, bis die Tür des Wohnhauses hinter ihm zugefallen war. Inzwischen war es so spät, dass ich nicht mehr damit rechnete, noch etwas zu essen zu bekommen. Trotzdem beschloss ich, wenigstens einen kurzen Blick in die Mensa zu werfen, denn ich war hungrig.

Wie erwartet waren die Mädchen bereits damit beschäftigt, Tische und Theke abzuwischen, aus der Küche drang das Klappern von Geschirr. Ich wollte gerade wieder gehen, da erschien Elsa in der Küchentür. Elsa war die Tochter eines der Bauern, die im hinteren Teil des Tales die Äcker des Anwesens bestellten. Sie war ein fleißiges, flinkes Geschöpf mit einem schmalen, sanften Gesicht, großen, scheuen Augen und ausgesprochen geschickten Händen. Als sie mich sah, lächelte sie und winkte mich heran.

„Ich hab Euch etwas aufgehoben, Fräulein Lias“, flüsterte sie, „die Köchin ist gerade nicht da. Kommt.“

Sie nahm mich bei der Hand, zog mich hinter sich her in die Küche und drückte mich auf einen Stuhl an dem riesigen, frisch gescheuerten Küchentisch. Ich hielt das für keine gute Idee, doch ehe ich meine Bedenken äußern konnte, stellte Elsa einen Teller mit dampfendem Gemüseauflauf vor mich hin. Mir lief das Wasser im Mund zusammen.

„Ach Elsa, du Gute, was täte ich nur ohne dich.“

„Verhungern wahrscheinlich!“ grollte es an der Hintertür.

Louise, die Köchin, stand dort, mit in die Hüften gestemmten Händen und zusammengezogenen Brauen. Sie war eine beeindruckende Person, gut einen Kopf größer als ich und viermal so breit, und sie konnte jemanden so streng anblicken, dass er sich selbst dann schuldig fühlte, wenn er gar nichts angestellt hatte. Mich dagegen hatte sie in ihrer Küche erwischt, und dann auch noch beim Essen an ihrem Küchentisch! Unwillkürlich zog ich den Kopf ein, als sie neben mich trat und meine magere Gestalt musterte.

„Wahrscheinlich würdest du ohne Elsa tatsächlich verhungern“, stellte sie fest. „Was war es diesmal? Wieder dieser seidene Gimpel?“

Ich verschluckte mich und hustete.

„Das dachte ich mir!“ nickte Louise, und ihre Miene wurde milder. „Er ist schon ein rechter Unruhestifter. Meine Mädchen haben alle eine Heidenangst vor ihm. Neulich erst hat er Elsa abgefangen, als sie mit den Eiern auf dem Rückweg in die Küche war. Er war so unverfroren zu dem armen Ding, dass ich ihm mit dem Kochlöffel eins übergezogen habe! Ich frage mich, warum Meister Murindin ihn nicht endlich rauswirft.“

Bei dem Gedanken daran, wie Louise Tavo mit dem Kochlöffel versohlte, musste ich kurz grinsen, wurde aber rasch wieder ernst.

„Habt Ihr keine Angst, dass er Euch das heimzahlen wird?“

„Mir? Das wird er nicht wagen! Schließlich bin ich diejenige, die sein Essen kocht! – Wo wir gerade davon sprechen …“ Sie warf einen bedeutungsvollen Blick auf meinen Teller. „… wir haben noch ein Abendessen vorzubereiten.“

Ich nickte und widmete mich rasch wieder meiner Mahlzeit. Als ich fertig war, brachte ich meinen leeren Teller zur Spüle und flüsterte Elsa noch einmal meinen Dank zu. Auch bei Louise wollte ich mich bedanken, doch sie scheuchte mich nur ungeduldig zur Hintertür hinaus.

 

Nachdem ich so glimpflich davongekommen war, stand ich nun vor dem Gemüsegarten und überlegte. Um zum Wohnhaus zu kommen, musste ich auf jeden Fall außen herumgehen. Ich konnte mich nach links wenden zum kleinen Hof und von dort auf meinem üblichen Weg zu meinem Zimmer zurückkehren. Oder ich bog rechts um die Ecke, nahm den Weg zum vorderen Hof und von dort den Durchgang des Waschhauses zum großen Hof.

Anfangs hatte ich die verschiedenen Höfe ständig verwechselt, bis Elsa mir erklärt hatte, dass die Leute zwischen Wohn- und Wirtschaftshöfen unterschieden. Der große und der kleine Hof gehörten zum Wohnbereich des Anwesens, während der vordere und der hintere Hof von den Wirtschaftsgebäuden umgeben waren. Bei den Wirtschaftsgebäuden war ich noch nie gewesen, deshalb entschied ich mich dafür, den Weg nach rechts zu nehmen.

Als erstes stellte ich fest, dass hier viel mehr Betrieb war als in den Wohnhöfen. Das große Tor des Lagerhauses stand offen, und ich konnte nicht widerstehen, einen kurzen Blick hineinzuwerfen. Das untere Stockwerk war auf der linken Seite in mehrere Räume geteilt. Ich erhaschte einen kurzen Blick auf Regalreihen, in denen Einmachgläser standen. Mehr war nicht zu erkennen, denn die Fenster waren nur klein. Auf der gegenüberliegenden Seite waren Männer damit beschäftigt, Mehlsäcke zu stapeln. Im Hintergrund führte eine steile Stiege nach oben.

Auf dem vorderen Hof herrschte noch mehr Trubel. An der südlichen Stirnseite des Hofes befand sich eine große Scheune mit zwei gegenüberliegenden Toren, groß genug, dass ein beladener Heuwagen hindurch passte. Beide standen offen, sodass ich bis in den hinteren Hof sehen konnte, wo zwei junge Burschen damit beschäftigt waren, Pferde vor ein Fuhrwerk zu spannen. Außerdem drang das Hämmern einer Schmiede von jenseits der Scheune herüber. Dem Lagerhaus gegenüber lagen weitere Werkstätten. Da gab es eine Töpferei, eine Schreiner- und eine Schusterwerkstatt. Aus dem Durchgang des Waschhauses zu meiner Rechten kam eine Schar Mädchen mit Körben voller Wäsche und verschwand hinter den Werkstätten, um sie auf der Wiese zum Trocknen aufzuhängen.

Am liebsten hätte ich mich auf eine Bank gesetzt und dem Treiben eine Weile zugesehen. Doch Palis Mappe unter meinem Arm erinnerte mich daran, dass ich noch einiges zu arbeiten hatte. Seufzend wandte ich mich ab und kehrte in mein Zimmer zurück.

Ich wohnte in einer Kammer unter dem Dach, neben mir Derel und am Ende des Ganges Pali. Die Kammern waren klein und niedrig, und man konnte nur innerhalb eines schmalen Bereiches aufrecht stehen. Unter einem Dachfenster standen Stuhl und Schreibtisch, links davon ein winziger Tisch mit Waschschüssel und Wasserkrug, und rechts neben der Tür ein Bett sowie eine Truhe für die Habseligkeiten der Schüler. Das war die gesamte Einrichtung. Mehr hätte in diesem kleinen Räumchen auch keinen Platz gehabt. Aber ich war nicht anspruchsvoll. Es war warm, trocken, und vor allem: Ich konnte Tavo verbieten, es zu betreten! Da Tavo sein Zimmer außerdem einen Stock tiefer und in der entgegengesetzten Ecke des Hauses hatte, war er so weit von mir entfernt, dass ich meine Ruhe hatte.

Ich legte Palis Mappe und mein Schreibzeug auf den Tisch und öffnete mein Fenster. Der Duft von frisch gemähtem Gras drang von den Wiesen hinter dem Wohnhaus herauf, und über dem bewaldeten Berghang jenseits davon zog ein Raubvogel seine Kreise. Seine heiseren Rufe wurden von den kahlen Gipfeln, die das Tal einschlossen, zurückgeworfen. Einige Herzschläge lang beobachtete ich ihn, ehe ich mich abwandte und mich endlich daranmachte, Palis Aufzeichnungen abzuschreiben.

Danach war Pali in meiner Achtung enorm gestiegen. Die Notizen waren sehr genau, übersichtlich und in einer klaren, schön geschwungenen Schrift geschrieben. Im Kopf dieses langsam und behäbig wirkenden Jungen wohnte ein scharfer, rascher Verstand. Ich schob meine Abschrift zur Seite und räumte Palis Blätter wieder ordentlich in die Mappe. Bis zum Abendessen war noch genug Zeit, also verließ ich meine Kammer, ging die paar Schritte über den Gang und klopfte. Er gab keine Antwort, doch ich hörte seinen Stuhl rücken, und gleich darauf ging die Tür auf.

„Heja, Pali. Ich bringe dir deine Notizen zurück.“

„Ah, danke.“ Er lächelte. „Ich hoffe, du kannst etwas damit anfangen.“

„Soll das ein Scherz sein? Ich gebe dir gern etwas von meinem Mut ab, wenn du mir dafür einen Teil deiner Klugheit überlässt!“

Pali wurde rot und lenkte rasch ab:

„Wenn du willst, können wir das mit dem Buch auch gleich erledigen.“

„Wenn du schon damit fertig bist, gern.“

„Bin ich. Einen Augenblick.“

Er verschwand kurz, tauchte mit dem Buch in der Hand wieder auf und schloss die Tür hinter sich ab. Gemeinsam stiegen wir die beiden schmalen Treppen ins Erdgeschoss hinunter, wo sich die Bibliothek befand.

Die Bibliothek war der einzige Raum im Erdgeschoss. Er hatte nur wenige kleine Fenster, deshalb war das Licht hier bestenfalls schummrig, es roch nach Staub, Leim und Leder. Die Bücherregale reichten vom Boden bis zur Decke, und da die Decke ein gutes Stück höher war als üblich, war der größte Teil der Bücher nur über Leitern erreichbar. Das galt vor allem für den Bibliothekar, einen kleinen, gebeugten Mann mit spitzer Nase und einem Paar ständig blinzelnder, kurzsichtiger Augen. Wenn er nicht damit beschäftigt war, an den Regalen auf und ab zu steigen, saß er an einem schmalen Pult am vorderen Ende des Mittelganges und kümmerte sich um beschädigte Bücher. Niemand außer ihm durfte den Bereich der Bücherregale betreten. Wer ein Buch ausleihen wollte, musste ihm Verfasser und Titel nennen und warten, bis er das fragliche Werk aus dem Regal geholt hatte. Je nachdem, an welcher Stelle das Buch stand, konnte das eine geraume Weile dauern. Auch Pali und ich mussten warten, bis er den dicken Wälzer, an dem er gerade arbeitete, behutsam beiseite gelegt hatte. Erst dann nahm er uns zur Kenntnis und vermerkte die Übergabe des Buches von Pali an mich umständlich in seiner Kartei.

Auf dem Weg zurück nach oben überlegte ich, ob ich Pali vorschlagen sollte, gemeinsam zum Abendessen zu gehen, doch im ersten Stock drängten sich Arn und Matu an uns vorbei, jeder mit einem Buch unter dem Arm. Zu meinem Bedauern machte Pali sofort kehrt und folgte den beiden zurück in die Bibliothek, um sich eines davon zu sichern, also brachte ich das meine hinauf in mein Zimmer und machte mich allein auf den Weg zur Mensa.

 

Ich war sehr früh dran, der Raum war leer. Die meisten Bewohner des Anwesens - soweit sie nicht mit ihren Familien aßen - kamen in der Regel erst später zum Essen. Louise und ihre Mädchen aßen in der Küche. Und Meister Murindin und Meister Juvan nahmen ihre Mahlzeiten in ihren eigenen Räumen ein. Um diese Zeit waren außer den Schülern höchstens noch der Verwalter und seine beiden Gehilfen da.

Mir war es nur recht, dass ich die erste war. Wenn ich Glück hatte, war ich fertig, ehe Tavo und sein Gefolge hier auftauchten und mir den Appetit verdarben. Und ich schien nicht die einzige zu sein, die so dachte. Ich hatte meine Portion nicht einmal zur Hälfte aufgegessen, da ging die Tür auf und Derel kam herein. Ohne den Blick zu heben, holte er sich seinen Teller ab, setzte sich an einen entfernten Tisch und schlang sein Essen so hastig hinunter, dass mir allein vom Zusehen schlecht wurde. Noch ehe ich meine Mahlzeit beendet hatte, verschwand er schon wieder eilig nach draußen.

Der arme Kerl! Er wurde von Tavo viel gehänselt und wegen seines Aussehsens als Mädchen verspottet, aber dass ihm das so sehr zusetzte, hatte ich nicht geahnt. Während ich ebenfalls vom Tisch aufstand, beschloss ich, Derel künftig mehr zu unterstützen, auch wenn das zusätzlichen Ärger mit Tavo bedeutete. Derel war der jüngste und schwächste von uns allen, und er tat mir leid.

Mein neuer Entschluss wurde früher auf die Probe gestellt, als ich erwartet hatte. Beim Verlassen der Mensa sah ich Tavos Bande ein paar Schritte weiter im Durchgang zum kleinen Hof stehen, unter der Stiege, die zum Heilkräutergarten aufs Dach der Mensa führte. Sie hatten Derel umstellt, der unbehaglich von einem zum andern blickte. Krin und Jico grinsten, Sal hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Tavos Gesicht konnte ich nicht sehen, weil er mir den Rücken zuwandte.

„… weißt ja, was sie mit all den anderen Íudin gemacht haben!“ sagte er gerade.

Bei diesen Worten wurde Derel leichenblass. Er wollte antworten, brachte aber keinen Ton heraus.

„Ich sehe, wir verstehen uns“, fuhr Tavo mit seidenweicher Stimme fort. „Aber keine Sorge, wir werden dir einen Gefallen tun und dich nicht verraten. Wäre doch jammerschade um dein hübsches Gesicht, nicht wahr? Außerdem bin ich sicher, du wirst diesen Gefallen gern erwidern. Andernfalls könnte es nämlich sein, dass einem von uns doch mal etwas herausrutscht. Nur aus Versehen natürlich.“

In Derels Augen stand inzwischen nackte Angst, er war nach und nach bis an die Hauswand zurückgewichen, während Tavo, Krin und Jico den Kreis um ihn immer enger zogen. Sal beobachtete das Ganze schweigend und mit finsterer Miene.

Ich verstand nicht ganz, worum es da ging, von Íudin hatte ich noch nie gehört. Aber jetzt hatte ich nicht die Zeit, mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Rasch ging ich die paar Schritte zu dem drohenden Haufen hinüber, packte Tavo am Arm und drehte ihn zu mir herum. Zorn loderte in seinen Augen auf, doch ehe er den Mund öffnen konnte, fuhr ich ihn an:

„Sag mal, warum suchst du dir für deine Spielchen nicht jemanden, der dir gewachsen ist?“

Tavo schüttelte meine Hand ab.

„Kümmere dich gefälligst um deine eigenen Angelegenheiten!“ erwiderte er kalt.

„Ich werde bestimmt nicht tatenlos zusehen, wie einer sich allein gegen vier andere wehren muss, die noch dazu älter und stärker sind als er!“

„Wir unterhalten uns nur. Nicht, dass dich das etwas anginge! Jetzt mach, dass du weg kommst.“

Krin und Jico traten neben Tavo, um seiner Aufforderung Nachdruck zu verleihen. Ich beachtete sie nicht.

„Von dir lasse ich mir keine Vorschriften machen“, erklärte ich Tavo. „Als Schülerin von Meister Murindin hab ich dasselbe Recht, mich hier aufzuhalten, wie du.“

„Im Moment vielleicht. Fragt sich nur, wie lange noch. Bis dahin werden wir uns einen Ort suchen, wo uns kein Ungeziefer stört.“

Er wandte sich zu Derel um. Doch der hatte die kurze Ablenkung genutzt, sich aus dem Staub zu machen. Sal, noch immer mit gerunzelter Stirn, hatte zugesehen, wie Derel um die Ecke zum kleinen Hof verschwunden war, aber nichts dagegen unternommen. Und obwohl mich das wunderte, konnte ich ein zufriedenes Grinsen nicht unterdrücken.

„Also für mich sieht es so aus, als wäre eure Unterhaltung bereits beendet“, stellte ich gut gelaunt fest.

Tavo warf mir über die Schulter einen mitleidigen Blick zu.

„Du glaubst, du hättest schon gewonnen?“ Seine Lippen kräuselten sich. „Wie einfältig ihr Hinterwäldler doch seid! – Kommt.“

Er gab seinen Freunden einen Wink und spazierte davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ernüchtert sah ich ihnen nach. Ich gab es nur ungern zu, aber Tavo hatte recht. Was immer ich gerade unterbrochen hatte, sie konnten es jederzeit wieder versuchen.

Nach kurzer Überlegung machte ich mich auf den Weg zum Wohnhaus und klopfte nur wenig später an Derels Tür.

„Wer ist da?“

„Ich bin es, Lias. Hast du einen Moment Zeit?“

Einen Atemzug lang war es still.

„Komm rein“, antwortete Derel schließlich.

Ich betrat das Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Derel saß an seinem Schreibtisch und sah mich unsicher an. Er war noch immer blass, seine Finger zupften unruhig an einem losen Faden seines Hemdärmels herum.

„Geht’s dir gut?“ fragte ich behutsam.

„Natürlich“, lächelte er, doch seine Lippen zitterten.

„Kann ich dir irgendwie helfen?“

Er zuckte die Achseln.

„Wir haben uns nur unterhalten.“

Ungläubig schüttelte ich den Kopf.

„Du nimmst ihn in Schutz? Derel, er hat versucht, dich zu erpressen!“

„Du übertreibst. So schlimm ist es nicht. Ich … ich komme schon klar.“

„Das glaubst du doch selbst nicht! Tavo wird nicht damit aufhören, nur weil ich ihn heute dabei gestört habe! Du musst zu Meister Murindin …“

„Nein!“ unterbrach Derel mich heftig. „Auf keinen Fall! Ich schaffe das allein, in Ordnung?“

Ich hielt inne und sah ihn nachdenklich an.

„Sag mal“, meinte ich dann betont ruhig, „was sind eigentlich Íudin?“

„Schsch“, machte Derel entsetzt, „nicht so laut! – Hör zu, ich will nicht undankbar sein, ich weiß, du meinst es gut. Aber mit Meister Murindin zu reden, wird es nicht besser machen, im Gegenteil! Du musst mir versprechen, dass du ihm nichts davon erzählst!“

Ich zögerte. Was Derel da von mir verlangte, gefiel mir nicht. Meister Murindin war der einzige, von dem Tavo sich etwas verbieten lassen würde. Doch Derel sah mich mit weit aufgerissenen Augen an, Schweiß glänzte auf seiner Stirn, und seine Hände hatten sich so in einander verkrampft, dass die Knöchel weiß hervortraten.

„Bitte, Lias, versprich es mir!“ flehte er.

„Also gut, ich verspreche es“, gab ich widerwillig nach.

„Danke, Lias“, seufzte er, „vielen, vielen Dank.“

„Und was sind nun diese …“

„Sag es nicht!“ unterbrach er mich, die Augen erneut voller Angst. „Ich werde nicht darüber reden. Und du solltest das auch nicht tun, wenn du nicht in Schwierigkeiten geraten willst.“

Ich hob erstaunt die Brauen, doch er erwiderte nur schweigend meinen Blick, und so blieb mir nichts anders übrig, als mich zu verabschieden und zu gehen.

Draußen auf dem Gang hielt ich inne und überlegte. Was sollte ich jetzt tun? Mein Versprechen würde ich nicht brechen, Meister Murindin würde nichts davon erfahren. Aber ich war auch nicht bereit, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Und Derels Weigerung, meine Frage zu beantworten, hatte mich nur umso neugieriger gemacht. Was in aller Welt waren diese Íudin, dass ihre bloße Erwähnung genügte, jemanden derart in Angst und Schrecken zu versetzen?

Am liebsten hätte ich die Frage im Unterricht gestellt. Weil Meister Murindin jedoch nichts von all dem erfahren sollte, und ich außerdem nicht wollte, das Tavo und sein Gefolge dabei waren, musste ich jemand anderen fragen.

Wie von selbst wanderte mein Blick zu Palis Tür …

 

Es war schon das zweite Mal an diesem Tag, dass ich bei ihm klopfte, und noch ungewöhnlicher war mein Vorschlag, einen Spaziergang zu machen. Falls er sich darüber wunderte, ließ er es sich nicht anmerken. Er nickte lächelnd, schloss sein Zimmer ab, und folgte mir nach draußen.

Auf den Wiesen hinter dem Wohnhaus lag in einigen Schritten Entfernung von den Gebäuden ein großer, umgestürzter Baumstamm, dort ließ ich mich nieder. Spätestens da wurde Pali klar, dass es mir nicht um frische Luft oder Bewegung ging. Er setzte sich neben mich und sah mich erwartungsvoll an. Deshalb - und weil mir keine taktvolle Einleitung einfiel - kam ich sofort zur Sache.

„Was weißt du über Íudin?“ fragte ich ohne Umschweife.

Er zuckte spürbar zusammen und warf mir einen verschreckten Blick zu.

„Wie kommst du darauf?“

„Ich hab gehört, wie jemand sie erwähnt hat, aber es fiel nicht mehr als dieses Wort, und ich hab keine Ahnung, wovon die Rede war.“

Ungläubig schüttelte er den Kopf.

„Du weißt nicht, wer die Íudin waren?“

„Sollte ich denn?“

„Allerdings!“

„Tut mir leid“, meinte ich achselzuckend, „aber in den östlichen Wäldern haben wir vom Rest der Welt nicht viel mitbekommen. Deshalb frage ich dich ja.“

Pali wand sich unbehaglich.

„Das ist ein ausgesprochen heikles Thema. Eines, das man besser ruhen lassen sollte.“

„Warum?“

„Es bedeutet Ärger! Ein falsches Wort zur falschen Zeit kann dich im schlimmsten Fall das Leben kosten.“

„Aber wieso?“

Einige Herzschläge lang kaute er nachdenklich auf seiner Unterlippe.

„Ich denke, es ist tatsächlich besser, ich erzähle es dir. Sonst wirst du dich früher oder später in Gefahr bringen. – Also, die Íudin waren nicht menschlich, strahlend schön und unsagbar mächtig. Jeder einzelne von ihnen verfügte über mehr Magie als die gesamte Menschheit zusammengenommen. Das machte sie zu den uneingeschränkten Herrschern der Welt und die Menschen zu ihren Sklaven. Und zu ihrem Spielzeug. Hübsche Jungen und Mädchen, die ihnen gefielen, verzauberten sie und stellten sie als lebende Statuen in ihren Gärten auf; sie scheuchten Kinder in den Wald, um dort Jagd auf sie zu machen; einer von ihnen zerstörte sogar eine ganze Stadt, als er den Hügel einebnete, auf dem sie gebaut war. Der Hügel hatte ihm die Aussicht verstellt.

Über Generationen ging das so, bis vor etwa zwanzig Jahren ein einfacher Bauer das Elend nicht mehr ertrug und beschloss, seinen Herrn umzubringen. Er schlich sich bei Nacht und Nebel ins Schlafzimmer des Íud und zertrümmerte ihm mit seiner Hacke den Schädel.

Es war, als hätte die Menschheit nur auf so etwas gewartet. In den folgenden Tagen erfasste der Aufstand das ganze Land. Die Leute bewaffneten sich mit allem, was sie in die Finger bekamen, von der Sense bis hin zur Spiegelscherbe, und ihre Wut war so groß, dass sie ihre Unterdrücker nicht einfach töteten, sondern sie buchstäblich in Fetzen rissen. Es war ein fürchterliches Blutbad! Und am Ende waren alle Íudin tot. … – Lias? Alles in Ordnung mit dir? Du zitterst ja!“

Das tat ich. Mehr als das! Mein Herz raste, und meine Finger waren kalt wie Eis. Krampfhaft klammerte ich mich an etwas in Palis Erzählung, das mich stutzig gemacht hatte. Das half mir, die grauenhaften Bilder, die Palis Worte wachgerufen hatten, beiseite zu schieben.

„Mir geht’s gut“, wiegelte ich ab und atmete einmal tief durch. „Sag … glaubst du das alles?“

„Äh … warum sollte ich es nicht glauben?“

„Weil es keinen Sinn ergibt. Warum sollten derart mächtige Wesen zulassen, dass ihre Sklaven sie umbringen?“

Pali zuckte die Achseln.

„Niemand weiß es. Wahrscheinlich ist es nicht mehr wichtig.“

„Findest du?“ Ich runzelte die Stirn. „Wie ist der Bauer unbemerkt bis in das Schlafzimmer des Íud gekommen? Gab es da keine Wachposten? Oder Warnzauber?“

Er überlegte kurz.

„Wozu? Die Menschen hatten nie zuvor versucht, sie anzugreifen.“

„Selbst wenn, dieser erste Mord an einem der ihren hätte sie doch warnen müssen. Und wenn sie entsprechende Maßnahmen ergriffen hätten, hätten die Menschen sie dann trotzdem besiegen können?“

Inzwischen sah er ein wenig ratlos drein.

„Ich weiß nicht recht, worauf du hinauswillst, Lias.“

„Diese Geschichte stinkt!“ erklärte ich mit Nachdruck. „Sie ist unglaubwürdig.“

„Aber die Ruinen der íudischen Wohnsitze sind der Beweis dafür. Und es ist eine Tatsache, dass es seither keine Íudin mehr gibt.“

„Wenn sie alle tot sind, wie können sie dann noch gefährlich sein?“

„Nicht die Íudin, die Menschen! Obwohl die Íudin unbarmherzige und grausame Herrscher waren, hatten sie Anhänger, Gefolgsleute, und die sind beinahe genauso verhasst. An der Küste wurde vor Jahren ein Mann erschlagen, weil er Zweifel an einer Geschichte äußerte, die ein anderer über die besonders schreckliche Gräueltat einer Íud erzählte.“

Ungläubig starrte ich ihn an.

„Sie haben ihn umgebracht? Nur, weil er anderer Meinung war als sie?“

„Nein“, widersprach Pali ernst. „Sie haben ihn umgebracht, weil nur ein Anhänger der Íudin ihre Verbrechen leugnen würde. Verstehst du? Selbst, wenn du recht hättest und etwas an der Geschichte über die Íudin nicht stimmte, ist alles, was damit zu tun hat, so mit Angst und Hass beladen, dass es unmöglich ist, darüber zu reden, ohne Blutvergießen zu riskieren.“

„Mag sein“, erwiderte ich ebenso ernst. „Aber ist Schweigen denn besser? Unwahrheit führt zwangsläufig zu falschen Entscheidungen. Was ist mit dem Leid derjenigen, denen Unrecht widerfährt, nur weil die Welt die Wahrheit nicht kennt?“

Pali nickte.

„Also gut, nehmen wir an, du hättest recht. Was würden Leute wie die an der Küste deiner Meinung nach mit dir tun, wenn du ihnen die Wahrheit erzählen könntest?“

„Wenn ich sie beweisen könnte, müssten sie mir glauben.“

„Das sollte man meinen, aber ich fürchte, so einfach ist es nicht.“ Er sah mich sehr eindringlich an. „Diese Leute sind keine bösen Menschen. Sie haben den Mann nicht aus Neid oder Habgier getötet, sondern weil sie ihn für einen Verbrecher hielten. Und auf einmal kommt eine daher und erklärt ihnen, dass sie einen Unschuldigen erschlagen haben. Das allein ist bereits unerträglich! Und dann legt sie ihnen auch noch Beweise vor, nimmt ihnen jede Möglichkeit, die Last dieser Schuld von sich zu weisen oder auch nur abzumildern. Was, glaubst du, werden diese Menschen tun? Sich bei ihr bedanken? Wohl kaum! Sie werden einen Weg suchen, ihre Beweise zu entkräften, sie selbst unglaubwürdig oder vielleicht sogar mundtot zu machen. Sie werden alles tun, um weiterhin an der Wahrheit festhalten zu können, mit der sie ihre Tat rechtfertigen konnten.“

„Selbst wenn einige diese sogenannte Wahrheit dazu benutzen, andere zu erpressen, wie Tavo es tut?“ fragte ich ungehalten.

Pali starrte mich an, dann zogen sich seine Brauen zusammen.

„Tavo tut was?“

Verlegen biss ich mir auf die Lippe.

„Ich hätte das eigentlich für mich behalten sollen“, murmelte ich schuldbewusst.

Doch Pali schien mich nicht gehört zu haben. Auf seiner Stirn erschien eine steile Falte.

„Tavo erpresst jemanden? Da hast du das Wort her, oder? – In einem solchen Zusammenhang kann das nur bedeuten, dass Tavo jemanden beschuldigt, einer ihrer Anhänger zu sein. Wahrscheinlich droht er dem Betreffenden mit einer Anzeige. Es muss jemand sein, der angreifbar und leicht einzuschüchtern ist … – Was hat Tavo von Derel verlangt?“

Gute Güte! Wenn Pali schon anhand einer solch winzigen Andeutung den gesamten Sachverhalt erschließen konnte, dann durfte ich nicht mal mehr ein einziges Wort darüber verlieren!

„Was hat Tavo von Derel verlangt?“ wiederholte Pali seine Frage.

„Keine Ahnung“, gestand ich, „er hat nur von einem Gefallen gesprochen, ehe ich ihn unterbrochen hab. Auch Derel wollte mir nichts verraten. Aber das spielt keine Rolle. Wir müssen auf jeden Fall etwas dagegen unternehmen.“

„Ich fürchte, da müsste schon Meister Murindin persönlich einschreiten. Uns wird Tavo nicht einmal zuhören.“

„Ich hatte nicht vor, mit ihm darüber zu streiten. Ich will verhindern, dass er es wieder versucht.“

Palis Augen weiteten sich.

„Sei vorsichtig, Lias“, warnte er mich. „Sich mit Tavo anzulegen, ist schon gefährlich genug. Aber sein Vater ist Mitglied des Hohen Rats, Vorsitzender des Rechtsausschusses und ein ganz scharfer Hund, wenn es um Anhänger der Íudin geht!“

Bei diesen Worten wurde ich ärgerlich.

„Wir können doch nicht nur daneben stehen und zusehen!“

„Was willst du also tun?“

„Dafür sorgen, dass Tavo Derel nicht allein erwischt. Er wird es nicht wagen, ihn zu erpressen, so lange Zeugen dabei sind.“

Pali wirkte nicht überzeugt.

„Es ist jedenfalls besser, als nichts zu tun“, erklärte ich gereizt.

„Das stimmt“, gab er zu. „Aber eines musst du mir versprechen: Erzähl sonst niemandem davon. – Sieh mich nicht so an, ich meine es ernst. Du würdest damit nicht nur dein eigenes Leben aufs Spiel setzen, sondern auch Derels und womöglich das seiner Familie! Ich bin sicher, dass du das nicht willst! Also … versprochen?“

Das war schon das zweite Mal, dass jemand hartnäckig darauf bestand, ich solle mit niemandem über dieses Thema reden. Ich runzelte die Stirn, aber Pali griff nach meiner Hand und hielt sie fest, ohne den Blick von mir abzuwenden, und mir wurde klar, dass er mich nicht gehen lassen würde, ehe ich gesagt hatte, was er hören wollte.

„Versprochen“, seufzte ich.

Nach einem langen, prüfenden Blick in mein Gesicht nickte er endlich.

„Dann kann ich jetzt ja beruhigt zum Abendessen gehen“, stellte er lächelnd fest. „Was ist mit dir? Kommst du mit?“

„Tut mir leid“, meinte ich mit ehrlichem Bedauern, „aber ich hab schon gegessen. Außerdem wartet die Abschrift deiner Notizen auf mich.“

Ein Hauch von Enttäuschung schlich sich in sein Lächeln, doch er nickte verständnisvoll. Gemeinsam kehrten wir zum Wohnhaus zurück und verabschiedeten uns vor der Haustür. Erst, als ich in mein Zimmer zurückgekehrt war und die Tür hinter mir geschlossen hatte, fiel mir auf, dass Tavo Derel nicht beschuldigt hatte, ein Anhänger der Íudin zu sein. „… den anderen Íudin …“, hatte er gesagt. Er hatte Derel beschuldigt, ein Íud zu sein!

 

 

Kapitel 2

 

„Bei allem, was die Íudin betrifft, sollten wir uns stets vor Augen halten, dass jede Einzelheit unseres geringen Wissens über sie von ihnen selbst stammt.“

Feran aus Loveé

 

Ich schlief schlecht in dieser Nacht. Nach meinem Gespräch mit Pali war ich nicht mehr in der Lage gewesen, mich auf den Unterrichtsstoff zu konzentrieren. Meine Gedanken waren ständig um die Íudin gekreist, die die Herrscher der Welt gewesen waren, bis die Menschen sie alle in einem einzigen Akt der Gewalt vollständig ausgelöscht hatten. Immer wieder hatte ich versucht, die grausamen Bilder, die sich mir aufdrängten, beiseite zu schieben, doch es war mir nicht gelungen. Sie hatten mich bis in den Schlaf verfolgt und sich dort mit Bildern aus meinen Erinnerungen vermischt. Selbst im Schlaf wusste ich, dass ich träumte, und doch träumte ich nicht nur, ich erlebte. All die Schrecken und das Entsetzen jenes Tages brachen erneut über mich herein, und ich konnte nicht aufwachen, so sehr ich es auch versuchte. Ich schluchzte und rief und flehte …, vergebens. Ich war unfähig, mich zu rühren, und musste zusehen, wie alles, was ich liebte, vollkommen vernichtet wurde.

Als ich endlich erwachte, war es draußen hell. Alle meine Muskeln waren verkrampft, mein Hemd durchgeschwitzt, mein Gesicht tränennass. Ich zitterte am ganzen Körper. Meine Decke lag zusammengeknüllt am Fußende des Bettes. Stöhnend richtete ich mich auf. Ich fühlte mich wie zerschlagen, meine Gelenke waren steif und schmerzten. Mühsam kämpfte ich mich aus dem Bett und wollte etwas Wasser in meine Waschschüssel gießen, aber meinen Händen fehlte die Kraft, den Krug anzuheben. Inzwischen schlotterte ich vor Kälte, mein Hals war rau und wund, und in meinen Schläfen begann es schmerzhaft zu pochen.

In diesem Zustand konnte ich unmöglich am Unterricht teilnehmen. Ich sollte Pali bitten, mich bei Meister Murindin zu entschuldigen, doch ich fühlte mich nicht einmal in der Lage, in meine Schuhe zu schlüpfen. Stattdessen kroch ich ins Bett zurück, wickelte mich so fest wie möglich in meine Decke und rollte mich zu einer Kugel zusammen. Wenn man mich vermisste, würde vielleicht jemand kommen und nach mir sehen …

Wie lange ich so dalag, weiß ich nicht. Zeit hatte an diesem Tag keine Bedeutung, sie bestand nur aus einzelnen Atemzügen und darin, das an- und abschwellende Pochen in meinem Kopf und das Stechen in meinem Hals durchzustehen. Es mag früher Abend gewesen sein, als draußen jemand an meine Tür klopfte und nach mir rief. Mein Versuch zu antworten geriet lediglich zu einem leisen Krächzen. Der Anklopfer schien mich trotzdem gehört zu haben, er kam herein und trat zu mir ans Bett. Es war Pali.

„Lias? Was ist los? Bist du krank? – Dumme Frage, du bist krank!“

Er legte mir die Hand auf die Stirn, dann goss er mir einen Becher Wasser ein und schob die Hand unter meinen Kopf.

„Hier, trink das.“

Dankbar trank ich den Becher leer, obwohl mein Hals sich dabei anfühlte, als würde er in Stücke geschnitten.

„So, und jetzt gehe ich Meister Juvan holen.“

Das hielt ich für übertrieben. Bis ich allerdings die Hand ausgestreckt hatte, um Pali zurückzuhalten, war er längst verschwunden.

Kurz darauf kam er zurück, und nicht nur mit einem, sondern gleich mit zwei Heilern. Ich runzelte die Stirn. Gab es auf dem Anwesen einen zweiten Heiler? Ich konnte es nicht sagen. Jedenfalls standen neben meinem Bett außer Pali eindeutig zwei weitere Männer. Der ältere war Meister Juvan. Den anderen, jungen hatte ich noch nie gesehen. Oder doch? Wässrige, farblose Augen, stumpfes braunes Haar …

Der Versuch, mich zu konzentrieren, ließ das Pochen in meinen Schläfen wieder anschwellen, und so gab ich es auf. Ich versuchte nicht einmal zu widersprechen, als der junge Unbekannte sich auf meiner Bettkante niederließ, meinen Puls fühlte, die Hand auf meine Stirn legte und meinen Hals abtastete. Ich glaube, er nahm noch ein paar andere Untersuchungen vor, an die ich mich aber nicht erinnere. Sie gingen unter in der Wirkung seiner Berührung. Es fühlte sich an, als ließe der Schmerz in meinem Hals und meinem Kopf allein dadurch nach, dass er seine Finger auf diese Stellen gelegt hatte. Nicht viel, nur ein wenig. Ich spürte, wie ich mich entspannte und eine warme, sanfte Erschöpfung nach mir griff. Allein mein brennender Durst verhinderte, dass ich auf der Stelle einschlief. Ich hörte die Männer im Hintergrund murmeln, und dann war da erneut eine Hand, die meinen Kopf stützte und mir den Becher an die Lippen hielt.

„Hier. Sie haben gesagt, es ist wichtig, dass du genug trinkst.“

Palis Stimme.

Gehorsam trank ich. Diesmal fiel mir das Schlucken leichter. Und noch ehe Pali meinen Kopf zurück aufs Kissen gebettet hatte, war ich bereits eingeschlafen.

 

Die beiden folgenden Tage und Nächte verbrachte ich im Bett. Gelegentlich trank ich im Halbschlaf einen oder zwei Becher Wasser, ansonsten schlief ich tief und fest. Als ich das erste Mal wieder richtig wach wurde, ging draußen gerade die Sonne auf. Ich fühlte mich schlapp und schwindelig. Aber die Schmerzen in Hals und Kopf waren verschwunden. Vorsichtig richtete ich mich auf und schob die Beine aus dem Bett. Sofort begann mein Zimmer, sich um mich zu drehen. Ich musste eine geraume Weile sitzen bleiben, bis der Schwindel sich wieder gelegt hatte. Stirnrunzelnd fragte ich mich, ob es vielleicht noch zu früh war um aufzustehen. Andererseits knurrte mein Magen so sehr, dass es schmerzte, also verließ ich wenig später doch mein Zimmer, um in die Mensa zu gehen.

Es war bereits warm, obwohl eben erst die Sonne aufging, die Luft roch trocken und staubig. Es würde ein heißer Tag werden. Leise vor mich hin summend überquerte ich den Hof und wollte eben die Tür zur Mensa öffnen, da fiel mir etwas auf den Kopf und von dort auf den Boden. Während ich verdutzt das Bündel Kamille zu meinen Füßen ansah, hörte ich über mir jemanden seufzen. Gleich darauf kam dieser Jemand die Stiege herunter, wahrscheinlich Meister Juvan. Ich hob die Kamille auf und ging ihm entgegen, doch als wir beide gleichzeitig die unterste Stufe erreichten, stellte sich heraus, dass es nicht Meister Juvan war. Es war der junge Unbekannte, der mich untersucht hatte. Und nicht nur das. Ich erinnerte mich auch wieder daran, dass ich diesem Jungen vor einigen Tagen den Weg zu Meister Juvan gewiesen hatte.

„Guten Morgen“, lächelte ich, „ich glaube, du hast etwas verloren.“

„Guten Morgen“, erwiderte er freundlich aber ernst, „vielen Dank.“

„Ich habe zu danken. Für die erfolgreiche Behandlung.“

„Das war keine Behandlung. Nur eine Untersuchung. Gesund geworden seid Ihr aus eigener Kraft.“

Verwundert sah ich ihn an. Schließlich erinnerte ich mich deutlich an seine Berührung und deren lindernde Wirkung. Wusste er selbst womöglich gar nichts davon? Oder war ich diejenige, die sich etwas eingebildet hatte?

Da erinnerte mein knurrender Magen mich lautstark daran, dass ich auf dem Weg zu meinem Frühstück war, just in dem Augenblick, als der Fremde sagte:

„Ihr solltet gehen und etwas essen.“

Verlegen drückte ich die Hand auf meinen Bauch, um ihn zum Schweigen zu bringen.

„Und ich muss gehen und Meister Juvan die Kräuter bringen“, fuhr er fort.

„Nun dann … bis irgendwann.“

„Ja, bis irgendwann.“

Wir trennten uns. Doch in Gedanken war ich während der gesamten Mahlzeit bei dem unscheinbaren Fremden. Ich wusste selbst nicht, warum er mich auf einmal so sehr beschäftigte. Es war nichts Besonderes an ihm, ein ganz gewöhnlicher Bursche, nach dem sich niemand ein zweites Mal umdrehen würde. Und auch unsere beiden kurzen Gespräche boten keine Erklärung dafür. Lag es doch an dem, was während der Untersuchung geschehen war? War etwas geschehen?

Ratlos rührte ich in meiner Teetasse, bis Matu zu mir herüberkam und mich bat, damit aufzuhören. Ich hatte nicht einmal gemerkt, dass er und sein Bruder die Mensa betreten hatten, so sehr war ich in meine Grübelei versunken gewesen. Kurzerhand beschloss ich, dass es Zeit war, sich zusammenzureißen. Ich trank meinen Tee aus, brachte mein Geschirr zurück und ging hinauf in mein Zimmer, um endlich Palis Notizen durchzulesen, ehe ich zum Unterricht ging.

 

Als ich wenig später den Unterrichtsraum betrat, waren alle schon da, sogar Meister Murindin. Er warf mir einen fragenden Blick zu und meinte:

„Du willst an der Prüfung teilnehmen, Lias?“

Wie vom Donner gerührt blieb ich in der offenen Tür stehen.

„Prüfung? – Nein, ich wollte nur …“

„Das Buch, das du suchst, liegt auf meinem Schreibtisch“, kam Pali mir zu Hilfe.

„Ja, aber du hast dein Zimmer abgeschlossen.“

„Oh! Natürlich, wie dumm von mir.“ Er warf Meister Murindin einen entschuldigenden Blick zu. „Darf ich kurz?“

Meister Murindin nickte und wandte sich dann den großen Pergamentbögen mit den Prüfungsaufgaben zu, die er vorbereitet hatte. Pali stand auf, kam zu mir und drückte mir seinen Zimmerschlüssel in die Hand.

„Wenn du Fragen haben solltest, ich hab den ganzen Nachmittag Zeit“, flüsterte er mir zu.

„Danke.“

Pali kehrte an seinen Platz zurück und ich wandte mich um, um zu gehen.

„Einen Augenblick, Lias!“

„Ja, Meister?“

„Nächste Woche stehen einige dringende Angelegenheiten an, die meine Aufmerksamkeit erfordern werden. Du wirst die Prüfung deshalb morgen Nachmittag nachholen müssen.“

Ich schluckte.

„Ja, Meister.“

Eilig verließ ich den Raum und zog die Tür hinter mir zu.

Morgen Nachmittag! Das bedeutete, ich musste den Stoff von drei Tagen innerhalb eines Tages nachlernen, denn es war nicht anzunehmen, dass Meister Murindin mich vom morgigen Unterricht befreien würde. Tavo saß jetzt wahrscheinlich über seinem Prüfungsbogen und lachte sich ins Fäustchen.

Na gut, sollte er seine Schadenfreude haben. Ich würde trotzdem eine ordentliche Note bekommen. Trotzig reckte ich das Kinn vor, holte das Buch aus Palis Zimmer und machte mich an die Arbeit.

 

Ich hatte noch nicht oft mit Büchern aus der Bibliothek gearbeitet. Meistens erwischte ich gar keines, und wenn ich doch mal eines ergattert hatte, war es in der Regel schon so spät gewesen, dass die Zeit gerade ausgereicht hatte, es notdürftig zu überfliegen. Das war bisher kein großes Problem gewesen, denn meine ausführlichen, wenn auch etwas wirren Notizen hatten stets alles Wichtige enthalten, sodass ich mich ausreichend gut hatte vorbereiten können. Diesmal allerdings fehlten mir diese Notizen, und so war ich auf die Bücher angewiesen. Aber mit keinem der beiden Wälzer, die vor mir lagen, konnte ich viel anfangen. Sie waren unglaublich weitschweifig und umständlich geschrieben, und ich hatte meine liebe Not damit, nicht den Faden zu verlieren. Den ganzen Vormittag quälte ich mich mit dem ersten der beiden ab und war noch nicht einmal bis zur Hälfte gekommen. Das Mittagessen ließ ich ausfallen und las weiter. Am frühen Nachmittag begannen meine Augen zu brennen, ich bekam Kopfschmerzen und konnte mich kaum noch konzentrieren. Als ich feststellte, dass ich denselben Satz bereits zum sechsten Mal zu lesen anfing und immer noch nicht wusste, worum es ging, klappte ich das Buch zu und warf mich erschöpft aufs Bett. Das konnte ja heiter werden! Wenn das so weiter ging, würde ich morgen durchfallen!

Es klopfte, und ich antwortete mit einem müden „Ja.“

Pali steckte den Kopf herein.

„Wie kommst du voran?“

„Gar nicht!“ seufzte ich.

Ich setzte mich auf, während Pali das Zimmer betrat und die Tür hinter sich schloss.

„Wo liegt das Problem?“

„Überall? – Warum nur können die Leute, die solche Bücher schreiben, nicht klipp und klar sagen, was sie meinen?“

„Weil sie Gelehrte sind“, meinte Pali nachsichtig.

„Aha!“

Er lächelte.

„Komm, ich helfe dir.“

Daraufhin lernte ich unter Palis Anleitung nicht nur, was ich für die theoretische Prüfung in Levitation brauchte, sondern auch, wie man in weitschweifigen, gelehrten Büchern fand, was man suchte. Wir arbeiteten bis zum frühen Abend, dann ging mir endgültig die Puste aus.

„Pali, ich brauche eine Pause“, seufzte ich müde.

„Das meiste hast du schon geschafft“, tröstete Pali. „Ein Kapitel fehlt noch, den Rest kannst du vergessen, der ist nur was für Alleswisser. Wir können das aber auch nach dem Essen noch machen, wenn du dich jetzt nicht mehr konzentrieren kannst.“

„Nach dem Essen klingt gut!“

Ich rieb mir mit den Handballen die Augen.

„Du kannst bei mir klopfen, wenn du so weit bist“, bot er an.

„Hm“, brummte ich und nahm die Seiten des letzten Kapitels zwischen zwei Finger, „weißt du, ich glaube, den Rest schaffe ich auch alleine.“ Ich lächelte ihn an. „Dank deiner Hilfe weiß ich ja jetzt, wie es geht.“

Auch diesmal wurde Pali rot.

„Dann sehen wir uns also morgen im Unterricht. Praktische Lektionen in Levitation.“

Natürlich! Das hatte ich vor lauter Lernen ganz vergessen. Ich stützte den Kopf in die Hand und stöhnte, was Pali zum Lächeln brachte.

„Da müssen wir durch.“

„Wohl oder übel!“ grummelte ich und strich missgelaunt eine Strähne meines schwarzen Haars zurück, die meinem Zopf entkommen war.

Pali lachte und verabschiedete sich.

Ich blieb zunächst noch einige Herzschläge lang sitzen, den Blick auf die beiden Bücher gerichtet, und überlegte. Ich konnte jetzt essen gehen und anschließend das Buch zu Ende lesen. Danach war ich war sicherlich so müde, dass ich ins Bett fallen und sofort einschlafen würde. Aber ich hatte von früh bis spät in meinem Zimmer über trockenem Lernstoff gesessen. Ich sehnte mich nach frischer Luft. Und nicht nur das. Morgen hatte ich nicht nur die Prüfung zu schreiben, sondern auch wieder praktischen Unterricht, und allein von dem Gedanken daran bekam ich feuchte Hände. Ich hasste angewandte Magie! Und zwar deshalb, weil mir nie etwas gelang. Damit meine ich nicht, dass ein Gong, den ich zum Klingen bringen sollte, zu leise gewesen, oder Ton, den ich zu einer Kugel formen sollte, zu einem unregelmäßigen Ei geworden wäre. Nein, es passierte überhaupt nichts! Ganz gleich, was wir mit unserer Magie tun sollten, bei mir tat sich nicht das Geringste! Dass Tavo solche Übungen mit spielerischer Leichtigkeit erledigte, machte mein Versagen noch unerträglicher. Natürlich sagte ich mir ständig, dass mich sein Spott nicht zu kümmern brauchte. Aber er kümmerte mich, so sehr ich mich auch dagegen wehrte. Und das Schlimmste daran war: Tavo wusste das!

Morgen war es also wieder so weit. Eine ganze Woche täglicher Demütigung stand mir bevor. Zwar hatten wir während der Praxiswochen nur dreimal Unterricht, die übrige Zeit übten wir alleine. Aber an diesen drei Unterrichtstagen überschüttete Tavo mich dafür umso eifriger mit Hohn und Spott, zusätzlich zu all den Sticheleien und Gemeinheiten, die ich sowieso ständig zu hören bekam. Abgesehen davon verwandelten meine miserablen Leistungen auch die Tage ohne Tavos Gegenwart in einen einzigen Alptraum! In der Regel kosteten die praktischen Übungen mich jedes bisschen Kraft, das ich aufbringen konnte, selbst wenn ich mich gut fühlte. Im Augenblick fühlte ich mich alles andere als gut. Ich hatte mich längst nicht vollständig von meiner schweren Erkältung erholt und auch Palis Erzählung über die Íudin noch nicht verwunden, von den schrecklichen Erinnerungen, die er damit in mir wachgerufen hatte, ganz zu schweigen. Dann war da noch Derel, der so dringend Unterstützung brauchte. Und der Fremde …

Seufzend rieb ich mir die Stirn. Nicht mehr lange, und mir würde alles über den Kopf wachsen. Ich brauchte mehr als eine Pause, ich brauchte Abstand. Den gab es hier auf dem Anwesen nur an einem Ort: In meinem Garten.

Natürlich gehörte der Garten nicht wirklich mir. Aber ich nannte ihn so, weil außer mir nie jemand dorthin kam. Er lag in einer kleinen Senke etwas abseits des Anwesens am Waldrand, ein von einer zerbröckelnden Mauer umgebenes, verwunschenes Stückchen Erde, verwildert, abgelegen und unendlich friedlich. Ein Ort, an dem man die Welt vergaß, sobald man ihn betrat. Ich war schon länger nicht mehr dort gewesen, und wie mir schien, hatte ich einen Besuch dringend nötig. Deshalb beschloss ich, das letzte Kapitel jetzt noch durchzuarbeiten und dafür gleich nach dem Essen zum Garten hinunter zu spazieren.

 

Am Ende brauchte ich für die restlichen Seiten doch länger als gedacht. Die Mensa war voll, als ich kam, und ich musste eine Weile suchen, bis ich in der Nähe der Hintertür einen Tisch fand, an dem noch ein Platz frei war. Fünf Männer saßen dort, einige älter, einige jünger. Ich fragte höflich, ob es mir erlaubt sei, mich zu setzen, was mir mit einem Nicken gestattet wurde, und versuchte, meine Mahlzeit zu essen, ohne zu lauschen. Doch wie sich sofort herausstellte, war das unmöglich.

Mein Gegenüber, ein großer, breitschultriger Mann mit blauen Augen und ein paar versengten Stellen in seinem Haar und Schnurrbart redete eifrig auf seinen Nebenmann ein.

„Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist“, sagte er gerade. „Hanne ist schon zu lange krank, um noch darauf zu warten, dass der Husten von alleine weggeht!“

„Wird scho‘ wieder“, brummte der Angesprochene, „is‘ bis jetz‘ immer wieder g'worden.“

Aber trotz seiner Ablehnung zogen seine zusammengepressten Lippen tiefe Falten durch sein ohnehin schon runzliges Gesicht, seine abgearbeiteten, knotigen Hände drehten unentwegt die alte Mütze hin und her, die vor ihm auf dem Tisch lag.

„Hanne ist auch nicht mehr die jüngste“, gab der Hüne zu bedenken. „Da geht sowas nicht mehr so leicht wie früher.“

Der Alte wand sich sichtlich.

„Bin nur 'n armer Holzhacker“, murmelte er, „hab kei‘ Geld für 'n teuren Heiler!“

Der Hüne schüttelte den Kopf.

„Du weißt doch, dass du nichts bezahlen musst. Du arbeitest für den Grundherrn, dafür kümmert er sich um dich. Das gehört dazu.“

„Hab scho‘ hier 'gessen“, nuschelte der Alte, „kann nich‘ auch noch 'n Heiler behelligen.“

Mein Nebenmann, ein schlanker, dunkelhaariger mit rotbraunen Rändern unter den Fingernägeln, mischte sich ein.

„Gero“, sagte er eindringlich, „du behelligst den Heiler nicht. Das ist sein Beruf. Wenn Meister Murindin dich schickt, Holz zu holen, fühlst du dich doch auch nicht behelligt.“

„Bin nur 'n armer Holzhacker“, wiederholte Gero und rutschte unbehaglich hin und her, „arme Leut' behelligen kein' hohen Herrn.“

In diesem Moment trat Elsa an den Tisch und stellte einen kleinen Korb ab.

„Hier, Gero. Wir haben die Brühe gut eingepackt, damit sie warm bleibt, aber Hanne sollte sie trotzdem essen, sobald du zu Hause bist.“

Gero stand sofort auf und griff nach dem Korb.

„Muss geh‘n“, brummte er und schlurfte rasch hinaus.

Die anderen sahen dem Alten mit bekümmerten Mienen nach.

„Verzeiht, wenn ich mich einmische“, hörte ich mich plötzlich zu meinem eigenen Schrecken sagen, „ich wollte nicht lauschen, aber …“

Vier Augenpaare richteten sich auf mich, und ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss. Glücklicherweise fiel das dank meiner dunklen Haut nicht so auf, sonst hätte ich wohl nicht den Mut gefunden weiterzusprechen.

„… wenn seine Frau wirklich so krank ist, sollte es dann nicht jemand anders Meister Juvan sagen, damit er nach ihr sieht?“

Schweigend sahen sie mich an, ihre Blicke lasteten auf mir wie eine schwere Decke. Verlegen senkte ich den Kopf.

„Ich denke, Ihr meint es gut“, antwortete der Hüne schließlich nicht unfreundlich, „aber Ihr kennt Gero nicht. Wenn wir Meister Juvan zu ihm schicken, wird er ihn nicht hineinlassen. Er wird abwiegeln und ihn wieder wegschicken, und uns wird er es sehr übel nehmen, wenn wir seinen Willen nicht achten. Er ist ein unterwürfiger, gehorsamer Mensch, aber seine Hütte gehört ihm, und da duldet er kein Dreinreden. Ihm das abzusprechen, hieße, ihm das bisschen Stolz abzusprechen, das er besitzt.“

Ich nickte nachdenklich.

„Verstehe“, murmelte ich. „Ich lasse mir etwas einfallen.“

Entschlossen stand ich auf und ging. Die verblüfften Gesichter der Männer sah ich nur noch aus dem Augenwinkel.

 

Auf dem Weg hinunter zum Garten grübelte ich darüber nach, wie man Gero dazu bringen konnte, Hilfe für seine Frau anzunehmen. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich erst, als ich mein geheimes Plätzchen fast erreicht hatte, merkte, dass dort jemand saß. Das kam so unerwartet, dass ich abrupt stehen blieb und vor Schreck hörbar die Luft einsog.

Die Person, die dort saß, zuckte zusammen und fuhr herum. Es war der junge Fremde. Als er mich erkannte, stand er rasch auf.

„Ist das Euer Platz hier?“ Die Frage klang eher wie eine Feststellung. „Dann gehe ich besser.“

„Nein, lass nur“, erwiderte ich und fragte mich im selben Moment, warum in aller Welt ich ihn aufhielt.

Er sah mich überrascht an.

„Seid Ihr sicher?“

„Die Mauer ist groß genug für zwei, oder nicht?“

Ich zwang mich zu lächeln, während ich mich gleichzeitig hätte ohrfeigen mögen. Nun war mein einsames Plätzchen dahin! Doch als sein bisher stets so ernster Blick sich aufhellte, erschien mir dieser Verlust auf einmal nicht mehr so schlimm.

„Ich danke Euch“, sagte er.

„Sag lieber du. Ich komme mir komisch vor, wenn jemand mich so förmlich anredet.“

Er nickte.

„Ich danke dir.“

Wir setzten uns nebeneinander auf die Mauer, und ich lehnte mich an den Stamm der kleinen Birke und schloss die Augen.

Die letzten Sonnenstrahlen küssten meine Stirn, der Wind blies mir spielerisch die lose Strähne ins Gesicht, und unten am Teich fingen die ersten Frösche zaghaft an zu quaken. Ganz sacht wisperten die Blätter der Birke über mir, ich spürte die restliche Wärme des Tages in den Steinen der Mauer und dem Stamm des Baumes, hörte das leise Plätschern der Fische im Teich, und ein Lächeln breitete sich in mir aus. Warum nur war ich so lange nicht mehr hergekommen? Hier fühlte ich mich geborgen. Alles, was mich bedrückte, fiel an diesem Ort von mir ab und war vergessen …

Nach einer Weile öffnete ich die Augen und war erneut überrascht, nicht allein zu sein. Ich hatte den Fremden vollkommen vergessen. Sein Blick ruhte auf dem Wasser, das sich unter dem leichten Wind kräuselte. Er schien genauso versunken, wie ich es gewesen war. Ich wandte den Kopf und betrachtete ebenfalls den stillen Teich. Die Sonne war bereits untergegangen, das letzte Tageslicht schimmerte sacht auf seiner bewegten Oberfläche. Im Zauber der Dämmerung wirkte er wie verwunschen.

‚Ich liebe diesen Garten. Es ist so friedlich hier.'

„Und wunderschön“, antwortete der Fremde flüsternd.

Erschrocken hielt ich den Atem an. Mir war nicht bewusst gewesen, dass ich laut gesprochen hatte. Um meine Verlegenheit zu verbergen, sagte ich schnell:

„Tavo findet ihn hässlich“, und hätte mich im selben Moment am liebsten zum zweiten Mal geohrfeigt.

Der Fremde sah mich aufmerksam an und meinte dann:

„Ist es dir wichtig, was Tavo denkt?“

„Nein!“ fauchte ich und im nächsten Augenblick seufzte ich: „Ja. – Manchmal.“

Ich spürte, wie ich flammend rot wurde, und war dankbar, dass es schon so dunkel war.

Der Fremde blickte wieder hinüber zum Teich.

„Du meinst, im Grunde weißt du, dass es dich nicht kümmern sollte, aber es verletzt dich trotzdem.“

Ich nickte, erstaunt, wie gut er mich verstanden hatte. Und ehe ich mich versah flossen die Worte ganz von selbst aus mir heraus, ohne dass ich sie wählen oder gar zurückhalten konnte:

„Er findet alles hässlich, was ich mag. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich es wage, Magie zu erlernen, wo ich doch eine Frau und noch dazu eine Hinterwäldlerin bin! Wissenschaften und Magie sind nur was für Männer. Frauen dagegen sollten sich mit einfachen Dingen beschäftigen, wie Haushalt oder Handarbeiten. Keinesfalls sollten sie so etwas wie eine eigene Meinung haben, noch viel weniger sollten sie ihre Gedanken anderen mitteilen und am allerwenigsten sollten sie den Männern widersprechen! Am besten ist es, sie denken gar nicht! Das gilt für alle Frauen, und erst recht für ungebildete Hinterwäldlerinnen, die nicht mal hübsch sind.“

Ich klang bitter, während all das aus mir herausbrach, und meine Augen brannten. Gleichzeitig war ich entsetzt, dass ich so viel von mir verraten hatte. Ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen, wünschte mich selbst in meine Kammer und den Fremden ans andere Ende der Welt.

Und es kam noch schlimmer!

„Mit den ungebildeten Hinterwäldlerinnen, die nicht mal hübsch sind, meint er dich, oder?“ fragte er sanft, aber erbarmungslos.

Zum Glück konnte ich nicht mehr antworten. Doch mein Kopf nickte ganz von selbst, und ich hoffte vergebens, dass er es im Dunkeln nicht sähe. Ruhig fuhr er fort:

„Für ihn ist eine schöne Frau wahrscheinlich ein zartes, hilfloses Geschöpf, das mit großen Augen zu ihm aufsieht, weil er so klug und mächtig ist. Mit anderen Worten: Das genaue Gegenteil von dir, hab ich recht?“

Wie unter Zwang nickte ich wieder, während mir eine Träne über die Wange lief.

Der Fremde lachte leise.

„Soll ich dir was verraten?“ meinte er schließlich. „Tavo ist ein Narr!“

Seine Worte überraschten mich so, dass ich mich verschluckte und husten musste. Er wartete, bis ich mich erholt hatte, ehe er weitersprach: