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Nach dem plötzlichen Verschwinden ihres Vaters, muss die 15-jährige Kantorka Widerwillen auf das "Draculaschloss" ihrer verhassten Verwandten, den Freemans, ziehen. Sie weiß, dass die Chancen auf einen angenehmen Aufenthalt nicht besonders gut stehen und bereits am ersten Tag stellt die junge Londonerin mit Erschrecken fest, dass ihr Onkel Falko und ihre Tante Harriet Geheimnisse vor ihr zu verbergen scheinen. Mehr noch: Sie selbst soll plötzlich in die Intrigen und finsteren Vergangenheiten ihrer Familie verstrickt sein. Angetrieben von dem Gedanken, dass diese sogar Mittel und Wege riskieren würde, damit sie niemals davon erfährt, beginnt sie Nachforschungen anzustellen, um dabei Dinge ans Licht zu bringen, die besser auf ewig verborgen geblieben wären. Und leider sind geheime Recherchen sogar in einem riesigen Schloss beinahe unmöglich. Verständlich, wenn nachts ein strenger Butler durch die Flure streift, der eigene Kater ständig abhaut und eine hochnäsige Cousine zu den ungünstigsten Zeiten an Kleiderordnungen und Begrüßungsformeln erinnert. Eine unvermeidliche Katastrophe ist im Anmarsch, die bereits ihre Schatten langsam über London ausbreitet. Es ist ein dunkles Spiel mit einer mächtigen Familie, die ein Geheimnis verbirgt.
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Seitenzahl: 434
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Dilara Seier
Der letzte Ritter
Dunkle Prophezeiung
Impressum
Der letzte Ritter - Dunkle Prophezeiung von
Dilara Selina Seier
Copyright: © 2016 Dilara Selina Seier
published by: epubli GmbH, Berlin www.epubli.de
ISBN 978-3-7375-8901-7
Vergiss nie, wer du
bist.
Inhaltsverzeichnis
Prolog
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
Epilog
Die Hauptcharaktere
Danksagung
Kantorka Evergreen muss nach dem plötzlichen Verschwinden ihres Vaters auf das Draculaschloss ihrer Verwandten, den Freemans, ziehen. Doch die Aussichten auf einem angenehmen Aufenthalt sind gleich null. Bereits am ersten Tag stellt die junge Londonerin mit Erschrecken fest, dass ihr Onkel Falko und ihre Tante Harriet Geheimnisse vor ihr zu verbergen scheinen. Mehr noch: Sie selbst soll plötzlich in die Intrigen und finsteren Vergangenheiten ihrer Familie verstrickt sein.
Wem kannst du noch trauen, wenn dein ganzes Leben ein gestricktes Netz aus Lügen ist?
Irgendwann ist Schluss. Irgendwann hört jeder Spaß auf.
Dilara Selina Seier, Jahrgang 1999, ist Schülerin und lebt im Norden Schleswig-Holsteins. »Der letzte Ritter« ist ihr erster veröffentlichter Roman, den sie bereits im Alter von dreizehn Jahren verfasste.
Sie hatte vergessen worüber der Professor ihnen die letzten eineinhalb Stunden ausführlich berichtete, nur war es nicht so, dass sie sich in irgendeiner Art und Weise dafür schämte. Es war nämlich jemand anderes gewesen, der sie in den Anatomie-Kurs eintrug und das ohne sie vorher gefragt zu haben.
Die wenigen Studenten, die sich mit ihr im Hörsaal aufgehalten hatten, packten gutgelaunt ihre Hefter, Bücher und Notizblöcke zusammen, bevor sie sich links und rechts die Treppen runter begaben. Mehr enttäuscht als schockiert studierte sie eingehend ihre nicht vorhandenen Aufzeichnungen (also das schneeweiße Blatt Papier) und versuchte nicht sich selbst die Schuld dafür zu geben. Die Klausuren rückten mit jedem Tag näher, dabei waren noch nicht ansatzweise Fachinformationen wie die Ausbreitung von Cholera und der Pest, der anatomische Aufbau des menschlichen Kopfes, noch die lateinischen Begriffe einzelner Skelettknochen in ihrem Gehirn gespeichert. Nein, im Gegenteil fühlte sie sich auf gänzlich jedem Teilgebiet und in jedem Kurs als die Außenseiterin, die nie Ahnung von diesen Fach haben würde. Nun, jeder andere vernünftige junge Mensch würde in diesem Fall wohl umgehend Gespräche mit seinem Dozenten führen und darum bitten, ob die Möglichkeit bestünde die Kurse eventuell zu wechseln, oder das Studium vielleicht komplett abzubrechen. Tja, nur zum einen war sie nicht wirklich vernünftig und zum anderen wäre es sowieso das Undenkbarste gewesen, was sie hätte tun können. Es war wahr – sie hatte sich weder dieses Studium ausgesucht, noch dieses Leben, oder die grausige Aufgabe, die sie hier eigentlich hatte. Das war jemand anderes gewesen und diesen Jemand hasste sie. Abgrundtief. Sie würde es immer tun.
Die Mensa der Universität besetzten um diese Uhrzeit geschätzte zweihundert Studenten. Es war speziell für ihren Geschmack viel zu voll und eindeutig zu laut, deshalb beschloss sie spontan (Spontanität zählte eigentlich nicht wirklich zu ihren Eigenschaften) den folgenden Kurs, der sich um die moderne Medizin drehte, ausfallen zu lassen. Einfach so. Als wäre es völlig unbedeutend, welchen wichtigen Informationsstoff sie dort verpassen würde. Als wäre er schlichtweg unwichtig.
Die kühle Novemberluft peitschte ihr wie ein harter Schweif ins Gesicht, kaum dass sie einen Fuß über die Schwelle der Ausgangstür setzte. Es war bitterkalt und sie viel zu dünn bekleidet – lediglich mit einem knielangen, braunen Herbstmantel, schwarzen Wollhandschuhen, einem völlig unpassenden Stirnband und Nike-Sportschuhen. Jeder der sie so sehen würde, dachte sicher: Aus welchem Loch ist die denn raus gekrochen? Es wäre ihr egal gewesen.
Rasch überquerte sie die Straße und steuerte dann zielstrebig auf die Bushaltestelle zu, die heute seltsamerweise ganz verlassen und verloren im weichen Schneebett lag. Ja gut, das lag dann wohl daran, dass es niemand für nötig hielt sich so kurz vor den Semesterferien noch von den Vorlesungen und Kursen fernzuhalten. Alle bis auf sie natürlich. Im Radio hatten sie morgens vor glatten Gehsteigen und Straßen gewarnt. Es könnte also sein, dass sie bei dem energischen Tempo, das sie hier vorlegte, irgendwann noch mal auf der Nase landete. Ach, es wäre ihr gleich. Irgendwie war ihr in letzter Zeit ziemlich vieles egal. Über eine Auswanderung hatte sie sich auch schon das eine oder andere Mal Gedanken gemacht, wusste aber, dass er sie überall finden würde. Egal wo sie war.
Dieser Gedanke jagte ihr nicht nur einen eiskalten Schauer den Rücken runter, sondern ließ sie ihre Gewissheit ungewollt darin bestärken, dass wenn er jederzeit wusste wo sie war, er sie wohlmöglich auch überwachte. Er musste wissen, dass sie in ihrem Auftrag noch mehr oder weniger am Anfang stand und das beschämenderweise auch nach unglaublichen fünf Monaten. Er würde nicht zufrieden sein, das wusste sie. Er würde wütend sein, das wusste sie. Und wenn dieser Mann wütend war, dann konnte man entweder so schnell es ging Reißaus nehmen, oder sich wie ein winselnder Hund in einer Ecke verkriechen und darauf hoffen, dass er einen verschonte.
»Hey, willst du mit, oder dir weiter in der Kälte den Arsch abfrieren?«
Im ersten Moment war ihr gar nicht bewusst, dass der Mann in dem Auto sie gemeint hatte.
»Gut, dann warte doch auf den Bus«, sagte er eindeutig vergnügt und tat so, als schließe er das heruntergekurbelte Fenster wieder. Seine Stimme kam ihr so unglaublich vertraut vor.
Verwirrt blinzelnd versuchte sie durch das rege Schneetreiben sein Gesicht zu erkennen, das erwies sich aber leider als echte Herausforderung. »Warten Sie.« Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, trat sie zwei große Schritte an den Wagen heran und glaubte im nächsten Augenblick schon vor Freude und Erleichterung in Ohnmacht fallen zu müssen.
»Oh mein Gott, Derick!«, stieß sie mühsam hervor, riss ohne lange zu fackeln die Beifahrertür auf (bevor ihre Knie vollständig zu einem Pudding mutierten und ihr schlaffer Körper noch auf dem Gehsteig in sich zusammensank) und vergaß ganz diese wieder zu schließen, sodass unzählige Flocken ins Wageninnere stoben, während sie ihren älteren Bruder so fest an sich drückte, wie wohl noch nie zuvor in ihrem Leben. Jedenfalls glaubte sie, dass es noch nie so fest gewesen war.
»Was für eine Begrüßung«, lachte er und wiederholte: »Oh mein Gott! Gab es überhaupt mal einen Tag, an dem meine kleine Schwester sich so gefreut hat mich zu sehen!«
Seine Worte weckten Schuldgefühlte in ihr, obwohl es offensichtlich war, dass er sie nicht ernst meinte. »Du glaubst gar nicht wie froh ich bin dich zu sehen«, hauchte sie in seine Schulter, darum bemüht die Tränen zurückzuhalten. Die letzte Zeit war einfach grauenhaft und nie jemand da gewesen, dem sie davon hätte erzählen können.
Derick griff mit seinem freien Arm hinter sie und schloss die Tür mit einem einzigen Ruck, bevor der gefühlte Blizzard (der normalerweise draußen tobte) bald das Innenleben des Autos vereiste.
»Die Jacke ist doch viel zu dünn«, bemerkte er frustriert. »Kein Wunder, dass du beinahe erfroren wärst.«
Sie lächelte müde und fuhr ihm noch ein letztes Mal durchs frisch geschnittene, dunkelblonde Haar, bevor sie sich langsam aus seiner Umarmung löste und schließlich anschnallte. Es konnte nicht mehr allzu lange dauern bis der Bus kam.
Tausende Fragen schossen ihr im Sekundentakt durch den Kopf, nur fühlte sie sich plötzlich so müde und ausgelaugt, dass sie einfach nur den Hinterkopf gegen die Lehne fallen ließ und die Augen schloss. Er schien genauso viele Fragen zu haben und weniger müde zu sein, also erlaubte sie ihm, seine zu stellen und nur darauf zu antworten.
»Wie geht es dir hier, in London?«
»Beschissen.«
Er schwieg kurz, so als wäre er auf diese Reaktion nicht gefasst gewesen. »Und … wieso?«, fragte er vorsichtig, als befürchte er jeden Moment angeschrien zu werden.
Sie öffnete mühselig ein Auge. »Ich mag Großstädte nicht. Alle meine WG-Mitbewohner sind scheiße, na gut fast alle, und das einzige was ich nach den Kursen und Vorträgen in meine Tasche knülle sind leere, weiße Zettel, die mich irgendwie auszulachen scheinen.« Stöhnend rieb sie sich über die Stirn.
Derick sog scharf die Luft ein. Mit so etwas hatte er wohl nicht gerechnet.
»Wieso hast du mich nicht angerufen?«, fragte er in einem so bitterenttäuschten Tonfall, als habe sie ihm gerade erzählt sich mit einem Nobelpreisträger verlobt zu haben, mit dem er sich erst einmal duellieren müsste um weiterhin gut da zu stehen.
»Die Frage ist doch unnötig, Derick. Du hättest sowieso keine Zeit gehabt, um einfach mal so nach London zu fahren und dich mit den Leuten aus meiner WG anzulegen.« Sie begann damit sich die Schläfen zu massieren.
»Du meinst also, ich hätte es nicht getan?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Du hast es aber gemeint.«
»Ich habe gesagt, dass du in den letzten Monaten keine Zeit gehabt hättest.«
»Darf ich das nicht selbst entscheiden?«
Danach herrschte erst einmal Stille im Wagen. Er konzentrierte sich verbissen auf den Großstadtverkehr und sie versuchte angestrengt die anschwellenden Kopfschmerzen zu ignorieren.
»Lass uns nicht streiten, bitte«, seufzte sie bitter.
»Was haben die dir getan?«, flüsterte er mit zusammengebissenen Zähnen, als wüsste er so seine ansteigende Wut besser unter Kontrolle zu behalten.
Erschrocken fuhr sie auf. »Oh nein, du hast das falsch verstanden. Das Mädchen ist echt nett und …«
»Die Jungs?« Er fragte sie wie ein großer besorgter Bruder es eben tat, wenn das männliche Geschlecht im Spiel war und sich vollkommen daneben benahm.
»Nicht so … nett«, sagte sie leise und ohrfeigte sich im selben Moment auch schon dafür. »Einer ist schwul und die anderen beiden typische Draufgänger – Mädels, Alkohol und Partys. Du verstehst?« Er nickte stirnrunzelnd. »Ich dachte Schwule wären nett, aber dieser scheint richtige Wahrnehmungsstörungen zu haben. Jeden Morgen muss der spaßeshalber Salz in meinen Tee streuen.« Kopfschüttelnd kramte sie in ihrer Tasche nach dem Handspiegel. »Ich wünschte ich könnte zurück nach Schottland, oder wenigstens die WG wechseln.«
»Das kannst du.« Derick setzte den Blinker an.
»Was kann ich – zurück nach Schottland oder die WG wechseln?«
»Beides«, antwortete er ohne lange zu überlegen.
Entrüstet klappte sie den Spiegel wieder zu und schaute ihn verletzt von der Seite an. »Du weißt ganz genau, dass ich weder das eine noch das andere kann!«
Ihr Bruder schwieg.
»Wo fahren wir überhaupt hin?«
»Na wohin wohl?«, grinste er, als wäre zumindest die halbe Welt wieder in Ordnung, dabei würde sie das nie mehr sein. »Essen – ich sterbe nämlich bald vor Hunger.«
Sie lachte. »Das sieht dir mal wieder ähnlich.« Im Übrigen erinnerte sie sich gar nicht daran, wann sie das letzte Mal etwas gegessen hatte. Nun, wahrscheinlich gestern in der Mensa. Mit den anderen ihrer WG aß sie nie zusammen – nicht morgens und nicht abends. Die Angst, dass der Schwule nicht vielleicht doch auf die Idee kam irgendetwas ungenießbares in den Salat oder den Aufstrich zu mischen, blieb nämlich einfach zu groß. Manchmal holte sie sich morgens beim Bäcker etwas und am Abend, nach der Uni, aß sie meistens in einem Selbstbedienungsrestaurant. Das war immer noch besser, als sich in der Wohnung wie ein Aal auf dem Boden zu winden und sich die Frage zu stellen, was in Herrgott Namen man da gerade wirklich zu sich genommen hatte.
»Du stellst mir diese Kerle nach dem Essen mal vor, ja. Die bekommen einen gehörigen Einlauf von mir.« Ohne eine Antwort von ihr zu erwarten, (die wahrscheinlich »Nein, das machst du ganz sicher nicht« gelautet hätte) stieg er aus und knallte die Tür genauso rasch wieder zu.
Augenrollend tat sie es ihm gleich. Wenn Derick sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann zog er es auch durch – ohne Wenn und Aber. Sie wusste, dass er wusste, dass es das mindeste war was er für sie tun konnte und wünschte sich trotzdem, dass es anders wäre.
»Ich hoffe du entführst mich nicht in ein Nobelrestaurant.«
»Bei deinem erbärmlichen Aufzug hast du nicht im Traum daran gedacht, oder?«
Sie erhob abwehrend die Hände. »Zu meiner Verteidigung habe ich nur zu sagen, dass die Idioten meiner WG Schuld daran sind, dass ich keine ordentlichen Stiefel mehr habe. Letztes Wochenende fand ich den rechten im Blumenbeet und den linken in der Toilette. Du kannst dich also allein bei ihnen bedanken, dass ich heute so pennerhaft herumlaufe.«
Derick lachte nicht über den Scherz, wahrscheinlich weil er fand, dass es keiner war. Er sagte letztlich auch nichts dazu, doch sie konnte sich denken was er dafür dachte.
Hinter ihrem letzten gemeinsamen Auswärtsessen lagen mindestens acht Monate. Eindeutig eine viel zu lange Zeit für zwei Geschwister, die für ihr Leben gern aßen. Aber irgendwie hatten sich immer Sachen dazwischen geschoben und heute, da war er plötzlich hier. Einfach so, wie aus dem Boden gewachsen.
Eine ganze Weile saßen sie nun schon am Fenstertisch des kleinen asiatischen Fast-Food-Restaurants und drehten ihre Nudeln auf die Gabeln, anfangs ohne viel zu reden. Es störte keinen. Als sie an der Theke kurz auf ihre Bestellungen hatten warten müssen, zog plötzlich ein kurzer aber heftiger Schmerz durch ihre Magengegend, was nur damit zu tun haben konnte, dass sie heute noch absolut nichts gegessen hatte. Ganz im Gegensatz zu ihrem Bruder, der ihr noch vor dem Essen feierlich eröffnete zuvor bei einem Freund ein typisch englisches Frühstück eingenommen zu haben.
Glückspilz, dachte sie etwas eifersüchtig. Nein, Derick konnte wirklich immer essen, deshalb gefiel ihr die Erkenntnis, die sie wenig später erhielt – nachdem sie ihn von oben bis unten musterte – auch überhaupt nicht.
»Den Pullover habe ich dir doch erst letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt«, bemerkte sie stirnrunzelnd und legte die Servierte beiseite.
»Im November, zu meinem Geburtstag«, verbesserte er unwirsch. »Du hattest ihn nach deiner Irlandreise gekauft.«
»Richtig«, bestätigte sie mit besonders viel Nachdruck.
Er unterbrach sein Essen und blickte sie an, als bemerke er, dass sie irgendetwas zu erwarten schien. »Wieso fragst du? Ist er verwaschen?« Er begann damit sich den Kragen anzusehen.
»Nein, nein«, beeilte sie sich zu sagen und fügte dann vorsichtig hinzu: »Findest du nicht, dass er ein bisschen an dir herabhängt?«
Diesmal legte Derick das Besteck ganz weg, schwieg fortan aber.
»Mach dich nicht lächerlich. Ich habe recht und damals war das noch nicht so.« Seufzend verschränkte sie beim Zurücklehnen ihre Arme vor der Brust. »Sei ehrlich: Wieviel hast du abgenommen?«
»Abgenommen«, wiederholte er entgeistert, hielt dann kurz inne und grinste schließlich. »Kein Gramm, Cherry, wirklich. Ich würde eher sagen, dass ich auf meinen Geschäftsreisen in den USA zugenommen habe.«
Sie wusste, dass er log. Wohlmöglich wusste er auch, dass sie das wusste und trotzdem stritt er es verbissen ab. Er würde niemals freiwillig zugeben, dass die ständigen Flüge in ferne Länder, die hochanspruchsvollen Experimente, mit denen sie die verschiedensten Folterinstrumente testeten und unzähligen Gespräche mit erfolgreichen Historikern ihm langsam zu Kopfe stiegen.
»Ehrlich gesagt … hätte ich nie gedacht, dass der Beruf als Historiker so anstrengend und nervenraubend ist.«
Für den Bruchteil einer Sekunde las sie in seinen grauen Augen die unendliche Ermüdung und den Wunsch einfach mal kurz zur Ruhe zu kommen.
»Egal wie viel Fast-Food du in den USA auch gegessen haben magst, der Stress, der dich plagt, war viel stärker und ist der Grund für deinen Gewichtsverlust.« Es tat ihr ein wenig leid die Karten hier so offen auf den Tisch zu legen, aber Derick würde anders nie zur Einsicht kommen. »Du musst dir unbedingt mal eine Auszeit gönnen.«
Ihr Bruder schwieg darauf nur bitter und verletzt und sofort tat er ihr noch mehr leid. Doch wie sollte man eine Wahrheit vertuschen, wenn er selbst die Gewissheit war und nun, im wahrsten Sinne des Wortes, mit ihr in einem asiatischen Schnellrestaurant saß. Die Jahre hatten ihn eindeutig magerer gemacht, seine Augen ihren bläulichen Glanz verloren und als wäre das nicht genug, behauptete er jetzt selbst, dass sein Beruf anstrengendund nervenraubendwar.
»Hey, ich will dich nicht bedrängen, verstehst du. Nur entgeht es mir nun mal nicht, dass … Ich möchte einfach, dass du dir das zu Herzen nimmst.« Sie griff über den Tisch nach seiner Hand und drückte sie fest. Es hätte sich zu einem Moment in Stille und mit starken Gefühlen entwickelt, wenn nicht in diesem Augenblick die Tür des Lokals aufgeflogen und die beiden Penner hereingekommen wären.
»Was ist denn?« Derick spürte ihr Unbehagen und die Anspannung.
Schnell wandte sie ihr Gesicht zur Fensterscheibe. »Tja, da ist London schon so groß und trotzdem treffen wir die beiden Arschlöcher hier.«
Er drehte sich misstrauisch zur Theke um und sah dann wieder sie an. »Die beiden da sind aus deiner WG?«
»Ja, leider.« Sie wünschte inständig die wahre Antwort wäre Nein gewesen.
Wortlos erhob ihr Bruder sich.
»Nein bitte, Derick, komm schon das muss nicht sein.« Stöhnend vergrub sie ihr Gesicht in den Händen. Lügen wäre eindeutig schlauer gewesen, denn höchstwahrscheinlich würde der Abend damit enden, dass sie von den fuchsteufelswilden Restaurantbesitzern scharfkantig hinausgeworfen wurden.
So kam es letztendlich auch.
»Verdammt, war das denn wirklich nötig!«, schrie sie ihn draußen unverwandt an und versuchte gleichzeitig sein anschwellendes Auge und die Tatsache zu ignorieren, dass er das ausschließlich für sie getan hatte. Nur zu ihrer völligen Verwirrung grinste er einfach nur.
»Tja, die belästigen dich so schnell nicht mehr wieder. Haben ja nicht wissen können, dass der große Bruder ihrer Mitbewohnerin Träger des letzten Braungurtes im Karate ist.« Er wischte sich mit einem Tuch das Blut von den Lippen.
Ihr kam es so vor, als spreche er bloß mit sich selbst.
»Diese Penner sollten froh sein, dass ich ihnen nicht den Arm gebrochen habe.«
»Und du solltest froh sein, wenn hier nicht gleich die Polizei aufläuft!«, konterte sie wütend. »Ehrlich, ich hätte niemals gedacht, dass du die Skrupel besitzt dich in einem Lokal zu prügeln!«
»Hey, entspann dich.« Er erhob abwehrend die Hände und vergaß so völlig sich das Tuch auf die Nase zu pressen, aus der im selben Moment ein riesiger Schwall Blut austrat. »Das hab ich für dich getan. Und außerdem habe ich der Besitzerin netterweise zwanzig Pounds Trinkgeld gegeben, weil ich doch so galant war ihre Kundschaft von dannen zu jagen.«
»Nur hast du mir damit leider kein bisschen geholfen!« Verzweifelt raufte sie sich die Haare, während sie verstört im Kreis ging. »Die verprügeln mich doch sofort, sobald sie mich das nächste Mal sehen!« Ihr war zum Heulen. Nur tat sie es nie. Irgendwann hatte sie es verlernt. Vor vielen Jahren hatte sie häufig geweint und eines Tages beschlossen, dass das nichts ändern würde. Also hatte sie es aufgegeben.
Mitleidig blickte sie ihren älteren Bruder an, der versuchte das durchtränkte Tuch weiterhin auf seine Nase zu drücken, obwohl das längst nichts mehr brachte und das frische Blut ihm mittlerweile über den Handrücken lief.
»Nimm das hier.« Sie zog ein neues aus ihrer Jackentasche. Sauer war sie natürlich noch immer, aber längst nicht mehr so zornig, wie noch vor einigen Minuten, als er und die beiden Penner sich im Lokal heftige Schlagabtäusche gaben und den Abend für alle Anwesenden zu einem einzigartigen Spektakel machten.
Sanft drückte sie das weiße Tuch auf Dericks blutende Nase, welches sich augenblicklich vollsog und schon bald in ein dunkles Rot getränkt war.
»Ich hab nicht angefangen«, hauchte er schwach. Seine Hand legte sich auf ihre. »Das waren sie.«
»Ich weiß …« Einige Sekunden verharrte sie in dieser Stellung und ließ unvermittelt zu, dass er vorsichtig über ihren Handrücken strich, bevor sie sich dieser Berührung entzog.
Schweigend gingen sie zum Wagen und stiegen ein – Derick nach wie vor mit seiner blutenden Nase beschäftigt und sie mit dem Gedanken, wo um Himmels Willen sie heute schlafen sollte. Fest stand: Zurück zur WG konnte sie nicht mehr. Jetzt erst recht nicht.
»Hast du wirklich gedacht, ich lass dich zu denen zurück?« Mit geschlossenen Augen hatte ihr Bruder sich zurückgelehnt und den Kopf dabei weit in den Nacken gelegt, um die Blutung zu stoppen. »Hast du wirklich gedacht, ich lass dich jetzt einfach hängen? Nein, ich wollte den Kerlen nur einen Denkzettel verpassen und dann wegfahren.« Er spürte wie schockiert sie ihn von der Seite anstarrte. »Ich bin nicht ohne Grund hier.«
Kopfschüttelnd wich sie von ihm zurück. »Er würde es mir niemals erlauben.«
»Was nicht? Dein Leben zu ändern.«
»Er würde mir gar nichts erlauben.« Sie war selbst zutiefst erschüttert über diese Worte, nur waren sie wahr.
Derick wollte wohl etwas dazu sagen, doch wurde sein Satz unglücklicherweise von einem Gemisch aus Würgen und Husten verschluckt. Es hörte sich schlimm an. Es war schlimmer, als sie anfangs vermutet hatte.
»Lehn dich wieder zurück.«
Er tat wie ihm aufgetragen und ließ sich von ihr erneut ein frisches Tuch auf die Nase drücken.
»Du weißt doch genau was passiert wenn du Nasenbluten hast, also wieso musstest du dich prügeln?« Sie gab es von jetzt auf gleich auf, ihn anhaltend ihre Wut spüren zu lassen, weil es sowieso nichts gebracht hätte. Er wusste selbst am besten, dass das gerade nicht nett gewesen war – schon gar nicht, wenn man den stolzen Titel eines Karatekas trug.
»Halte es weiter drauf.« Sie kramte in ihrer Tasche nach Feuchttüchern. »Wo hast du eigentlich vor hinzufahren, wenn wir … hier fertig sind?«
»Ich dachte an die Wohnung meines damaligen Studentenkumpels. Er ist momentan verreist und meinte, dass wenn ich mal in London bin und in Schwierigkeiten stecke, dürfte ich jederzeit dort verbleiben.« Sein nuschelnder Tonfall erinnerte ungemein an jemanden, den eine richtig fiese Erkältung plagte. Strafe musste nun mal sein.
»In Ordnung«, stimmte sie nach kurzem Zögern zu. »Vorher müssen wir aber doch noch mal kurz zur WG fahren, damit ich meine Sachen holen kann.«
»Natürlich«, willigte er ohne Proteste ein und griff mit der freien Hand schon nach dem Zündschlüssel, da hinderte sie ihn mit einem schelmischen Lächeln daran.
»Du fährst nicht mehr. Und außerdem war ich noch nicht ganz fertig.« Mit den gefundenen Feuchttüchern wischte sie den letzten Rest Blut von seiner Hand und dem Kinn, stieg dann aus, ging einmal um den Wagen herum und klopfte anschließend herausfordernd gegen die Fensterscheibe.
»Ich habe dich nicht gebeten.«
Den gestrigen Abend hatten sie ruhig und gemütlich ausklingen lassen – waren zuerst zur WG gefahren, um die Sachen zu holen, hatten dann im Supermarkt noch einige Einkäufe für die nächsten Tage erledigt und letztendlich müde und geschafft aufs Sofa gefallen und einen Film geschaut. Mittendrin musste sie eingeschlafen und von Derick nachher ins Bett getragen worden sein. Jedenfalls erinnerte sie sich nicht daran, wie sie selbst ins Bett gekommen war.
Am heutigen Tag war noch nicht entsetzlich viel passiert, außer dass ihr Bruder sie zur Universität gefahren und ein weiterer Anatomie-Kurs stattgefunden hatte, bei dem scheinbar alle etwas verstanden, außer ihr. Das war ausnahmsweise sogar mal nicht völlig egal (im Hinblick auf die näher rückenden Klausuren, versteht sich) doch dachte sie seit dem Frühstück an etwas ganz anderes. »Muss ich irgendetwas wissen? Wenn es jemanden gibt, mit dem ich mich vorher duellieren müsste, dann sagst du mir bitte Bescheid.«
Derick hatte das sicherlich nur als Geck gesagt und so nicht wissen können, wie viel Wahres dran war und wie goldrichtig er damit lag. Verstehen wollte sie es nach wie vor nicht und zugeben wäre eh undenkbar. Nein, dafür drängten sich viel zu viele andere Sachen in den Vordergrund.
»Isst du jetzt noch was, oder willst du die Kartoffeln eine weitere halbe Stunde anstarren?« Lisa Brown war der wohl enthusiastischste und offenste Mensch den sie jemals kennenlernen durfte und dies somit eine große Ehre.
»Wie bitte?« Lustlos pickte sie eine der mittlerweile eiskalten Bratkartoffeln auf und schob sie in den Mund.
»Denkst du ich bin blind.« Lisa nickte mit dem Kopf in Richtung der Theke. »Ich weiß doch genau, wen du hier seit eurer letzten Begegnung still und klammheimlich beobachtest.«
Stille.
»Ich weiß wirklich nicht worauf du hinaus möchtest.«
Lisa schmiss ihre Gabel beiseite und beugte sich dann weit über den Tisch, sodass sie fast mit der Stirn aneinander stießen. »Ein Mann wie der ist nicht lange single. Sprich ihn einfach noch mal an.«
Sprich ihn einfach an, Cherry, na los mach schon, äffte sie ihre beste Freundin in Gedanken nach, während sie sich überpünktlich auf den Weg zum großen Hörsaal machte – moderne Medizin, yeah, ich komme! Für Lisa mochte es vielleicht einfach sein einen Mann anzusprechen, nach seinen Interessen, Hobbys, seinem Leben und seiner Familie zu fragen. Für sie war es das nicht. Das war es noch nie gewesen. Jedes Mal wenn sie etwas sagte, dachte sie keine Sekunde später schon darüber nach, ob es nicht unangemessen gewesen war. Ein fließendes Gespräch lag also jenseits jeglicher Vorstellungskraft. Und eine romantische Liebesgeschichte stand sowieso außer Frage. Sie hatte hier eine wichtige Aufgabe, verdammt, und Ablenkung konnte sie nun wirklich nicht gebrauchen. Außerdem war er sicher längst vergeben, es gab genug Studentinnen die einem Mann wie ihm hinterher schwärmten, wie also war sie für den Bruchteil einer Sekunde auf die hirnrissige Idee gekommen, dass er jemals etwas an ihr finden würde?
Der Hörsaal war bereits gut gefüllt, wie sie beim Eintreten durch die große Schwingtür feststellte. Gutgelaunte Studentengruppen ordneten sich lachend ihre Plätze ein und würden ihre intensiven Gespräche wissentlich erst dann ersterben lassen, wenn der von allen sehnsüchtig erwartete Medizinprofessor erschien. Zielsicher ließ sie ihren Blick über die Sitzreihen schweifen und befand sich schon auf halbem Weg zum Treppenaufgang, da bemerkte sie schwer enttäuscht, dass er nicht auf seinem gewohnten Platz saß. Frustriert blieb sie deshalb sogar einige Sekunden wie ein begossener Pudel im Aufgang stehen, bis zwei ärgerliche Studenten sie von hinten anschnauzten, dass sie doch endlich den Weg frei machen sollte. Stumm ließ sie die beiden vorbei, versuchte möglichst langsam zu atmen und das nadelähnliche Stechen in ihrer Brust zu ignorieren. Wie furchtbar enttäuschend! Sie hatte sich aus einem einzigen Grund auf diese langweilige Vorlesung gefreut. In ihren wildesten Fantasien, während des Essens, hatte sie bereits darüber philosophiert, ob sie es heute endlich schaffen würde ihn nach einem Treffen zu fragen. Und dann war er nicht mal gekommen. Die letzten Male hatte sie immer denselben Platz gewählt – den gemittelten in der obersten Sitzreihe. Natürlich bewusst und aus einem einzigen Grund: Er saß in jeder Vorlesung im linken Block, vier Reihen unter ihr. Übersetzt: Die perfekte Sitzplatzkombination damit sie (oben) ihn (unten) bestens von der Seite betrachten konnte – und das eine ganze Stunde lang.
Er wird noch kommen. Sie kam sich absolut dämlich dabei vor so etwas Bescheuertes zu denken, denn es war sonnenklar, dass wenn er jetzt noch nicht hier war, garantiert gar nicht mehr kommen würde. Mit gesenktem Kopf schritt sie schwerfällig die Treppen hinauf, konzentriert sich von der Tatsache abzulenken wie schrecklich langweilig die heutige Vorlesung ohne seine Anwesenheit werden würde – gab es eine Möglichkeit sie anderswie zu überleben?
Sie nahm den Geruch erst spät wahr. Perfekt abgestimmte Kaffeemenge, mit einem Hauch Milchschaum und untergerührter Karamellcreme. Genauso roch ihr Lieblingskaffee. Und als sie sich nach Ewigkeiten schließlich doch dazu entschloss den Kopf zu heben, um zu ergründen wer so kackfrech gewesen war haargenau diesen zu bestellen und zur Krönung mit in die Vorlesung zu bringen, war sie in keiner Art und Weise auf das Folgende vorbereitet.
Oh mein Gott.
Er war groß, vielleicht eins neunzig (wovon jetzt gerade allerdings wenig zu sehen war), breitschultrig gebaut, sportlich, hübsch und hatte atemberaubende Augen. Die waren ihr gleich zu Anbeginn aufgefallen – ein fantastisches blau, so kalt wie der Himmel an einem wolkenlosen Wintertag.
»Wie lange haben Sie gedacht, werde ich brauchen, um zu bemerken, dass Sie jedes Mal hier sitzen.« Seine warme Stimme bildete das komplette Gegenteil zu seinen Augen – dem kühlen Wintertag –, denn sie war warm. So warm wie ein wunderschöner Sommertag.
Sie erstarrte. Im wahrsten Sinne des Wortes. Als befände sie sich in einem späten Stadium des Gefriertodes, dabei durfte es so eigentlich nicht sein. Ein lebendiger Eisklotz und das nur beim Klang seiner Stimme.
»Von hier oben hat man übrigens eine fantastische Aussicht auf die Leinwand, da muss ich Ihnen Recht geben. Oder auf gewisse Leute die … gemittelt links sitzen.« Er lächelte jetzt breiter, gleichzeitig stieg ihr spürbar die Hitze in den Schädel.
Er sitzt hier oben, verdammt warum ist mir das denn nicht gleich aufgefallen?, dachte sie, plötzlich ziemlich nervös und hoffnungsvoll glaubend ihr glühendes Gesicht möge inzwischen keine überreifte Tomate abgeben. Lisa stammte von Afroamerikanern ab – konnten die überhaupt rot werden? Konzentrier dich, Cherry! Aber anstatt etwas wirklich Sinnvolles zu unternehmen, drehte sie sich auf dem Absatz um und setzte sich haargenau auf ihren sonstigen Platz, jedoch zwei Reihen tiefer. Zutiefst beschämt schlug sie dort die Hände vors Gesicht – es war schon schlimm genug, dass sie seine Person im Hörsaal viel zu spät bemerkt hatte, das absolut Schlimmste aber war und blieb nach wie vor, dass er ihr gerade offenkundig mitgeteilt hatte, dass er schon lange wusste, dass sie ihn in jeder Vorlesung von dort oben beobachtete.
»Ach kommen Sie schon, ich weiß genau wie Sie diesen Kaffee lieben.«
Ein wenig unsicher drehte sie sich um. »Ich dachte es wäre Ihrer.«
»Unsinn.« Lachend hob er einen zweiten hoch. »Ich würde nicht mal im Traum auf die Idee kommen Karamell, Milch und Haufenweise Zucker unter dieses starke Aroma zu mixen.«
»Dann trinken Sie Ihren also rabenschwarz«, stellte sie schmunzelnd fest. Ihre anfängliche Anspannung verflog mit jedem Wort mehr.
Herausfordernd verschränkte er die Arme vor der prallen Brust. »Das erfahren Sie erst, wenn Sie hochkommen und sich neben mich setzen.«
Sie spürte einen leichten Stich in der Brust. Das durfte nicht wahr sein. Das war ein Traum. Das war eine Vision, aus der sie jeden Augenblick aufwachte und sich dann darüber ärgerte, weil sie niemals wahr werden würde. Weil sie immer ein Traum sein würde.
»Sie erwarten also von mir, dass ich aufstehe und mich neben Sie setze?«
»Ganz genau das.«
»Und«, lächelte sie leicht, »warum in aller Welt sollte ich das tun? Nennen Sie mir nur einen vernünftigen Grund.«
Er zögerte nicht. »Weil ich einen Kaffee für Sie habe.«
Sie schmunzelte.
Und er saß da und wartete. Wippte mit dem Bein, und wartete. Schaute auf seine Armbanduhr und wartete. Und weil er irgendetwas zu erwarten schien, packte sie seufzend lächelnd ihre Sachen zusammen und schritt die Treppen zur obersten Reihe hinauf, diesmal jedoch sah sie ihn die ganze Zeit über an.
»Okay, aber bilden Sie sich bloß nichts drauf ein. Es ist wegen dem Kaffee«, stellte sie sofort klar und nahm den heißen Becher, den er ihr hinhielt, vorerst zögerlich.
Für einen kurzen Moment berührten sich ihre Hände. Ungelogen, vielleicht waren es ein, zwei Sekunden, aber ihr kamen sie wie Ewigkeiten vor. Niemals wollte sie, dass das Prickeln, welches sich rasant auf ihrer Haut ausbreitete, aufhörte – zog ihre Hand dann trotzdem rechtzeitig zurück, bevor es auffällig und eindeutig peinlich gewirkt hätte.
»Darf ich Sie was fragen?«
»Sie dürfen mich alles fragen.«
Sie lachte. »Oh, das hätten Sie nicht sagen dürfen, ich könnte es ausnutzen.«
Er zuckte mit den Schultern. »Duzen dürfen Sie mich übrigens auch.«
»Neben der Erlaubnis alles zu fragen, was mir in den Sinn kommt?«
»Sie haben's erfasst.« Sein Lächeln war wie eine Droge. Es war dieses Zwischending, also kein breites Grinsen und auch kein leichtes Schmunzeln. Es war dieses Lächeln, bei dem gerade so die oberste Reihe seiner schneeweißen Zähne zu sehen war, einfach unwiderstehlich.
Interessiert beugte sie sich ein Stück vor. »Gut, also wie kamst du zur Medizin?«
Er antwortete nicht sofort. »Tja … das ist etwas kompliziert.«
»Egal«, schoss es aus ihrem Mund. »Ich hab Zeit.« Sie wusste nicht warum sie plötzlich das schleichende Gefühl überkam, dass er ihr die Geschichte aus irgendeinem Grund nicht erzählen wollte.
»Mein … Vater hat damals darauf bestanden, dass ich an die St. Georges gehe und Medizin studiere, weil ich als guter Arzt viel Geld verdienen würde. Meine Mum hingegen hatte sich nicht viel eingemischt, ihr war es egal ob ich nun Busfahrer werde, oder Chirurg. Sie würde mich so oder so lieben.«
»Du willst in den Bereich der Chirurgie gehen?« Entsetzt riss sie die Augen auf und versuchte gleichzeitig zu verdrängen wie nachdrücklich und seltsam er das Wort »Vater« ausgesprochen hatte. Zusätzlich beschäftigte sie sein letzter Satz. Im Gegenzug ließ sich erschließen, dass sein Vater ihn als Busfahrer weniger lieben würde. »Den ganzen Tag Knie von Athleten begutachten, Blinddärme entfernen und Herztransplantationen durchführen?«
Eindeutig verblüfft über ihre schockierte Reaktion, starrte er sie vorerst nur an, bevor seinem Erstaunen schließlich ein Grinsen wich. Er warf den Kopf in den Nacken und fiel augenblicklich in ein lautes Lachen ein – verschüttete dabei sogar ein wenig Kaffee – und von da an war sie sich todsicher, dass sie dieses Lachen zukünftig öfter hören wollte.
»Sie … denken nicht wirklich, dass ich ein Fanatiker bin, oder?«
»Im Gegenteil«, prustete sie belustigt. »Sie sind Idealist.«
»Noch schlimmer«, lachte er. »Ich war stinkfaul in der Schule – hab mein A-level gerade so über den Daumen gepeilt geschafft.«
»Wie bitte?« Sie wollte keinem seiner Worte Glauben schenken. »Sie belügen mich. Hören Sie sofort auf damit!«
Er grinste sie an. Diesmal waren alle Zähne zu sehen – ordentlich aneinandergereiht und glänzend. »Ich lüge nie.« Und dieser Satz würde auf ihn zutreffen, ganz sicher, noch in zwanzig und vierzig und sicher auch noch in hundert Jahren. Es war der Satz, der sich später immer wieder in ihre Gedanken drängen und sie an den Mann erinnern würde, der er wirklich war. Irgendwann …
»Wie heißen Sie eigentlich?«, traute sie sich nach gefühlten Ewigkeiten schließlich zu fragen.
»Waren wir nicht schon beim Duzen?«, grinste er verschmitzt und verschränkte die Arme erneut vor der Brust.
»Oh, soweit ich mich erinnere haben Sie wieder damit angefangen.«
Er lächelte sie entschuldigend an. »Es tut mir leid, ich habe es gar nicht gemerkt. In meiner Gesellschaft bin ich es stets gewohnt junge Frauen wie Sie zu siezen. Alles andere ist unhöflich.« Er nahm einen Schluck Kaffee. »Aber gut, unterlassen wir es. Verraten Sie – verrätst du mir denn deinen Namen?«
»Zuerst musst du mir deinen verraten.« Sag mal flirtete sie hier etwa gerade? Oh nein, ein Teilgebiet indem sie noch viel weniger Ahnung hatte, als in der komplizierten Anatomie.
»Lucas.«
Die Hitzewallungen erstarben, wurden ausgetauscht gegen Eiseskälte, die ihren gesamten Organismus in weniger als einer Sekunde erfroren hatte.
»So schlimm?«, fragte er enttäuscht.
Sie fing sich. »N-nein, er ist toll, ehrlich.«
»Ja klar.« Zum Glück lächelte er dabei aber. Sie hatte es wesentlich lieber, wenn er lächelte.
Fünf Jahre später
London
Meine liebe Tochter,
ich muss dir mit meinem Bedauern mittteilen, dass ich meine Forschungen an der University of Bristol weiterführen werde.
Bitte verstehe meine Entscheidung nicht falsch, denn ich habe lange darüber nachgedacht … sehr lange sogar.
Mein Gefühl sagt mir aber, dass ich die Forschungen nicht vernachlässigen sollte. Du wirst selbstverständlich in London bleiben, denn dich von deinen Freunden und deiner Schule fortzureißen, hätte ich nicht gewollt. Dein Onkel Falko hat sich bereitwillig dafür erklärt, dich von nun an bei sich zu beherbergen. Es ist längst abgesprochen, ihr Butler und Chauffeur Mr Frank holt dich nächsten Montag von der Schule ab.
Dann fahrt ihr gemeinsam zu unserer Wohnung und du packst die wichtigsten Sachen zusammen. Ich entschuldige mich abermals, für meinen plötzlichen Umzug nach Bristol, aber es gibt dort etwas für mich zu erledigen. Ich muss etwas verhindern wofür mir der Preis, dich in Gefahr zu bringen, zu hoch erscheint.
Ich liebe dich. Ich liebe dich über alles und wäre niemals zu dieser Tat geschritten, hätte ich eine Wahl gehabt. Aber die hatte ich nicht und mit jedem Meter, den mich der Zug weiter von London wegbringt, bereue ich es mehr. Du bist für mich das Kostbarste auf der ganzen Welt. Ich tue dies nur, damit dir nichts geschieht. Bitte tue während meiner Abwesenheit nichts Waghalsiges und sei gut zu Falko. Er kann am allerwenigsten etwas dafür, wie unvorsichtig ich mich in den letzten Jahren verhalten habe. Der Tod Lindsays hat mein Gehirn mehr als einmal durcheinander gewühlt.
Wir bleiben in Kontakt. Ich habe dich lieb.
Maik
PS: Wenn du Fragen hast – und die hast du ganz sicher – wende dich an Falko. Er ist eine bodenständige Natur und wird sie berücksichtigen. Bitte schreib mir doch zurück, wenn du den kleinen Umzug überstanden hast.
Ich verlor. Ich hatte die ganze Nacht dagegen angekämpft und dennoch verlor ich. Es war das gleiche Gefühl wenn eine Frau das Einsetzen der Wehen spürte und wusste, dass der Zeitpunkt für die Geburt ungünstig war. Genauso fühlte es sich an. Mein Herz war so leer, voller Schwärze, keinem Halt und einem großen Loch direkt in der Mitte. Dieses Loch hatte niemand anderes hineingebohrt, als mein Dad. Aber nicht mit einem Messer oder einem Pfeil, oh nein, es war viel schlimmer. Ich fand ihn heute Abend. Den Brief, der noch immer aufgeschlagen, neben meiner (mittlerweile) kalten Suppe, auf dem Küchentisch lag, dort vor sich hin trauerte und über den Inhalt bestimmt genauso frustriert war wie ich. Denn das war ich. Ich wollte nicht fluchen, nicht wütend werden, aber es passierte von ganz allein. Dieser niedertrachtende Schmerz meiner Brust, die Verständnislosigkeit und der Gedanke nichts mehr wert zu sein … Ich hatte es ihm zu verdanken. Meinem Dad.
Ihm, der versprochen hatte sich nach dem plötzlichen Tod meiner Mutter um mich zu kümmern. Er war es doch gewesen der versprach nie mehr nach Bristol zu gehen, um seine Forschungen fortzusetzen. Und er sagte auch wie wichtig ich ihm sei, dass wir diese schwere Zeit gemeinsam schon überstehen würden.
Was tat er aber jetzt, um Himmels Willen? Er ließ mich einfach im Stich. Ging von heute auf morgen fort aus London und teilte mir dies, so feige es ist, in einem Brief mit. Was nun aus mir wurde interessierte ihn ja scheinbar nicht die Bohne. Seine Versprechen mir gegenüber, lösten sich mit diesem einen Brief, diesen wenigen Worten, alle in Luft auf. Es war einfach nicht fair. Es war ungerecht und falsch, so falsch. Ganz bestimmt hatte er Bristol längst erreicht, freute sich schon sehnsüchtig auf seinen Arbeitsplatz, die vielen Forscher und die weißen Kittel. Er freute sich darüber, weit weg von London und mir zu sein. Am Freitag waren wir noch gemeinsam Essen gewesen – ein schöner Abend war es geworden. Wie immer sehr ruhig, aber schön. Warum hatte er mir nicht einfach im Restaurant von seinen neuen Zukunftsplänen erzählt? Warum mussten mich die Neuigkeiten auf diese bittere Art und Weise erreichen? Wieso? Was hatte ich ihm je getan, um das verdient zu haben? Vielleicht hatte ich schon immer recht damit gehabt, dass der Tod meiner Mum ihm fast alles genommen hatte. Seine Lebensfreude, den Blick nach vorne und den Halt. Ich konnte ihm diese Dinge auch nicht zurückgeben, denn ich war nur seine Tochter. Ich hatte ohne ihn doch auch niemanden mehr, warum also verließ er – der einzige Mensch auf den ich noch vertrauen konnte – mich?
»Warum Dad?«, presste ich zwischen den Zähnen hervor, legte den Brief nach erneutem Durchlesen, zurück auf den Tisch und zog die Wolldecke enger um meine Schultern. Es wollte sich keine Antwort finden.
Draußen war es stockfinster und leise prasselte der Regen gegen die Fensterscheibe, die Küchenuhr tickte, sonst war es still – und dunkel, denn außer dem Licht unter der Abzugshaube hatte ich keine andere Lampe eingeschaltet.
Als draußen die Sirene eines Krankenwagens das Klangspiel des Regens zerriss, verspürte ich plötzlich den tiefen Drang zu weinen. Warum letztendlich doch keine Träne über meine Wange rollte, musste mit meiner Wut zusammenhängen, die einfach Überhand gewonnen hatte. So langsam schmerzte mein Hintern vom stundenlangen Sitzen auf der hölzernen Eckbank, doch war er nicht mit dem Schmerz meines Herzes zu vergleichen, der nicht mal ansatzweise versiegt war.
Ungeschickt fasste ich nach meinem Wasserglas, schaute dabei aber leider aus dem Fenster und so musste es natürlich zu Boden fallen. Der grelle Knall erweckte mich aus der Trance und ich fuhr auf. Der ganze Boden musste nun übersäht sein mit winzigen Glassplittern. Diese Beschreibung traf übrigens auch auf mein Herz zu. Die Splitter waren rot, leuchteten wie winzige Blutströpfchen in der schwarzen Nacht und sahen keinen Sinn darin sich wieder zusammenzufügen. Diese Splitter waren mein Herz, das sich vor lauter Selbstmordlust eine Klippe hinunter gestürzt hatte und am Grund in diese Tausenden zerschellt war.
Während ich mit dem Handfeger die Scherben zusammenkehrte und anschließend noch mal mit dem Sauger durch die Küche fuhr, wollte der Gedanke, dass mein Dad mich sitzengelassen hatte, sich einfach nicht in meinem Gehirn einnisten. Ich verstand das nicht, wollte es irgendwo auch nicht verstehen, denn die Erklärung schien eindeutig. Maik liebte mich kaum, sonst wäre er nie gegangen. Als ich gerade am Überlegen war, Großmutter Theresa anzurufen, tapste mein miauender Kater ins Zimmer. Ich lächelte, kniete mich neben ihm nieder und schloss ihn in den Arm. Sir James war mein Ein und Alles, um keinen Preis der Welt würde ich ihn hergeben.
In einem besonders eisigen Winter, ich war noch ganz klein, fanden meine Eltern das kleine, verängstigte Tier bei einem Spaziergang im Wald, gefangen in einer Marderfalle. Anfangs war Dad nicht gerade begeistert von der Idee meiner Mum, den kleinen Kater zu behalten. Als dann aber auch noch ich anfing zu betteln, brachte er es nicht mehr übers Herz den kleinen Alleingänger in ein Tierheim zu bringen.
Sanft fuhr ich mit meinen Fingern durch Sir James' getigertes Fell. Er schnurrte. Ein Gedanke durchschoss meinen Kopf. Dad ist wirklich in Bristol. Und ein weiterer (und der war fast genauso schlimm) zeigte noch mal deutlich, wie egal es ihm war mich in guten Händen zu wissen. Denn ab der nächsten Woche würde ich bei meinem Onkel Falko, auf seinem Draculaschloss, wohnen. Und darauf, ich wollte ehrlich sein, hatte ich so gar keine Lust – auf die vielen Gänge (in denen ich bestimmt nicht mal das Bad finden würde), die Ritterrüstungen, die Gemälde und die altmodischen Teakmöbel. Ja, sein Geschmack fürs 19. Jahrhundert war wirklich widerlich. Eigentlich lästerte man ja nicht über andere Leute, aber auf meine dämliche Cousine Lucia freute ich mich fast am wenigsten. Sie war fies, hochnäsig und behandelte mich wie das letzte Stück Dreck. Dad schwärmte immer wie toll wir uns früher verstanden hatten. Dann verdrehte ich die Augen und erwiderte: »Dad, da war ich vier und sie fünf Jahre alt.« Er kapierte einfach nicht, dass es mit dem reibungslosen Harmonisieren bei Mädchen spätestens im Teenageralter vorbei war. Mit denen aus der Familie, versteht sich. Meinen Cousin Lucas fand ich da schon netter. Mittlerweile musste er achtundzwanzig Jahre alt sein und ich hatte beide lange nicht mehr gesehen. Von meiner Tante Harriet und meinem Onkel Falko ganz zu schweigen. Die Freemans lebten in einem Randbezirk Londons, na gut, sagen wir wahrheitsgetreu fünfdreißig Kilometer Stadtauswärts und leider weit weg vom Hyde Park. Ich mochte den Hyde Park. Er war groß, schön, mit unzähligen Wiesen und den bunt blühenden Krokussen im Frühling. Dort würde ich wenigstens eine Chance haben meine Sorgen, die plagenden Gefühle und den ganzen Schmerz, für einige Zeit, zu vergessen. Doch es war Herbstanfang und keine Blumen blühten zurzeit. Oft war es grau und ungemütlich und die Frauen und Männer spazierten in dick eingemummten Mänteln und Regenschirmen durch die Baumgruppen.
Bis zum Morgen lag ich wach im Bett, starrte die Decke an und stellte mir meine Ankunft im Draculaschloss vor.
Also waren Sir James und ich eben nur noch zu zweit. Ein vorerst schrecklicher Gedanke, aber er war wahr und ich musste einen Weg finden mit dieser schwierigen Situation umzugehen.
Ich musste, denn ich hatte gar keine andere Wahl.
Wenn du stolperst, dann lass dich nicht fallen, stehe auf und kämpfe weiter.
Wer den Bogen, mit der Marie Antoinette, noch nicht beendet hat macht es zu Hause …« Den Rest, den meine Geschichtslehrerin Mrs Lefre vor sich hinplapperte, bekam ich gar nicht mehr mit. Vielleicht weil es langweilig war und ich noch nicht eine einzige Aufgabe auf dem Arbeitsbogen bearbeitet hatte. Vielleicht hatte es aber auch damit zu tun, dass es Montag war. Es war der Montag. Heute würde mich dieser Mr Frank von der Schule abholen und nachdem ich meine Sachen gepackt hatte, nach Transsilvanien fahren. Und dass ich doch ein wenig neugierig auf das Auto war, mit dem er mich gleich umherkutschierte, heiterte meine Stimmung nicht wirklich auf. Ich fühlte mich wirklich blendend, ungelogen.
»Hat noch jemand Fragen?«
Keiner meldete sich.
»Gut, dann wünsche ich euch noch einen schönen Nachmittag.« Kaum beendete Mrs Lefre ihren Satz, klingelte es zum Stundenwechsel und die angenehme Stille erstarb. Aufgeregt schmissen die Schüler ihre Hefte, Bücher und allen anderen Kram, den sie während der Stunde auf ihren Tischen ausgebreitet hatten, in die Taschen und suchten das Weite. Ein übles Gefühl breitete sich in meinem Magen aus. Wir hatten jetzt noch eine Stunde Unterricht und zwar Mathematik bei Mr Cartwright. Mathe war in Ordnung, auch wenn ich Geschichte, Spanisch und Englisch viel interessanter fand. Es blieb auch nur dann spannend, wenn es nicht um irgendwelche bekloppten Formeln ging, die sich ja sowieso kein Mensch merken konnte. Geometrie aber, war neben Prozentrechnung, das einzige Thema was ich weitestgehend ohne Fehler bearbeiten konnte. Doch da Mr Cartwright leider nicht auf alle Wünsche seiner Schüler eingehen konnte (die den Lehrplan betrafen) schlossen wir die Prozentrechnung bereits nach einem halben Jahr (bei mir sehr erfolgreich) ab.
Seufzend packte auch ich meine Sachen zusammen und bemerkte viel zu spät, dass ich die Letzte im Raum war. Mrs Lefre klimperte ungeduldig mit ihrem Schlüsselbund.
»Kantorka, ich muss jetzt zum Kunstraum, bitte beeil dich etwas.«
»Entschuldigen Sie.« Mit hochrotem Kopf schulterte ich meine Tasche und klemmte mir die restlichen Bücher unter den Arm. »Ich wollte Sie nicht aufhalten.«
Ein weiches Lächeln umspielte die schmalen Lippen meiner Lehrerin. »Ich beobachte das schon eine ganze Zeit.«
»Ich verstehe nicht recht?« Ich tat so als wüsste ich von nichts.
»Früher, da warst du so …« Sie suchte nach den richtigen Worten. »So aufmerksam und hast toll mitgemacht. Aber seit einiger Zeit und seit …«
»Meine Mutter tot ist«, beendete ich den Satz und wollte eigentlich noch hinzufügen »und mein Dad nach Bristol abgehauen ist« ließ es dann aber doch bleiben. Vielleicht würde sie das Jugendamt informieren.
Sie sah mich traurig an. »Ich wollte es nicht auf den Punkt bringen. Entschuldige wenn –«
»Aber wofür entschuldigen Sie sich?«, unterbrach ich ein wenig barsch. »Sie können ja nichts dafür. Das kann niemand.« Und dann ließ ich sie einfach stehen. Ich wusste selbst nicht warum. Möglicherweise wegen ihrer bemitleidenden Worte, die mir nicht helfen konnten, oder dem stechenden Schmerz meiner Brust.
Fast alle meine Lehrer wussten von dem Tod meiner Mutter und seitdem behandelten sie mich wie ein hilfloses, frischgeschlüpftes Küken. Aber ich war nicht hilflos und auch kein kleines Baby mehr. Ich war fünfzehn Jahre alt, knackte gerade die eins sechzig und besuchte, wie viele andere, den Theaterkurs der St. Laurenzius Schule.
Es nervte ziemlich, dass sie ein größeres Auge auf mich warfen, als auf andere. Sicher sorgten sie sich nur und ich war ihnen ja auch gar nicht böse. Aber mit der ständigen Fragerei nach meinem Wohlsein, übertrieben sie es eindeutig. Mein ganzes Leben hatte sich auf den Kopf gestellt und meine Lehrer machten es mir schwerer, als es ohnehin schon war.
Mit gesenktem Kopf betrat ich wenig später den Klassenraum. Die Stunde hatte bereits begonnen und die vielen Augenpaare, die mich aufmerksam musterten, ließen mein Gesicht die Farbe wechseln.
»Warum bist du zu spät?« Mr Cartwrights Blick schob sich mahnend über den Rand seiner Hornbrille.
»Ich war noch …«
»Kantorka war noch auf der Toilette.«
Alle sahen Rose an, die plötzlich aufgesprungen war und entschuldigend in Mr Cartwrights Richtung blickte.
»Sie hat mich gebeten es Ihnen auszurichten, aber ich habe es leider vergessen.«
Er überlegte wohl noch einen Moment, ob er ihr das wirklich abkaufen sollte, entschied sich dann aber dafür. »Das nächste Mal solltest du dich an verlässlichere Personen halten.« Der forschende Blick galt nun Rose, die sich wieder hinsetzte und den Kopf tief über ihr Buch senkte. »Wir sind auf Seite 124 im Mathebuch. In der hintersten Reihe ist noch ein letzter Platz frei.« Glücklich huschte ich durch die Tischreihen und ordnete mir lautlos meinen Platz ein. Die Mathestunde war gerettet und das dank Rose. Ich wollte mich bei ihr bedanken, aber sie drehte sich nicht um.
Die Mathestunde verlief, zu meinem Erstaunen, wirklich gut. Ich gab zwei richtige Antworten und Mr Cartwright vergaß sogar die Hausaufgaben abzufragen. Das bedeutete, dass ich noch einen ganzen Nachmittag Zeit hatte den Bogen zu machen. Tja, lieber wäre es mir zwar gewesen ihn schon fertig zu haben, aber dann hatte ich heute wenigstens eine Ausrede, wenn mein Onkel fragte warum ich nicht zur alltäglichen Kaffeezeit erschien, die bei den Freemans leider üblich war. Auf ein gemeinsames Sitzen mit meinen Verwandten hatte ich irgendwie überhaupt keine Lust. Da hieß es doch nur wieder:
»Kantorka, sitz endlich gerade!«
»Wieso ist deine Schuluniform so zerknittert?«
»Nimm dir endlich ein Beispiel an deiner Cousine Lucia.«
Nee, auf die unpassenden Argumente meiner Tante konnte ich getrost verzichten.
Als endlich das (für manche erlösende) Schulklingeln ertönte, blieb ich wie angebunden auf meinem Stuhl sitzen. Die Stunde war viel zu schnell vergangen.
»Rose! Warte mal!« Mit Mühen kämpfte ich mich durch den Schülerstrom, bis zu ihr durch.
»Hi Kantorka!« Ihre braunen Augen breiteten eine befriedende Wärme in mir aus. »Endlich ist Mathe vorbei, meine Güte, ich hasse Binomische Formeln!«
»Ich auch«, stimmte ich zu. Wir kämpften uns weiter durch die Schülermenge und ich musste ganz schön brüllen, sonst hätte Rose es nicht verstanden. »Danke für die Ausrede im Matheunterricht!«
Sie winkte lässig ab. »Das habe ich gerne gemacht. Cartwright ist ein Spießer, er hat Spaß daran Schüler zu schikanieren.«
»Ich weiß nicht.«
»Kanto, die B und die R haben ihn auch in Mathe.« Rose blieb stehen und stemmte die Hände in die Hüften. »Aber nachdem sie seinen Hintern mit Sekundenkleber am Stuhl befestigt haben und eine Schülerin und ein Schüler – ihr Freund – jede Stunde mindestens zwei Mal mit ihren Hormonen durchgegangen sind, hat er es aufgegeben ihnen Mathematik beizubringen.« Lachend ging sie weiter. »So etwas ähnliches sollten wir vielleicht auch mal machen.«
Herausfordernd blickte ich sie von der Seite an. »Gute Idee, dann kannst du ja mit Gaimon rumknutschen.«
»Igitt!« Sie knuffte mich in die Seite. »Untersteh dich, Kantorka!«
Ich lachte und sie rammte mir diesmal ihre Umhängetasche vor die Brust.
Kurz vorm Ausgang zog Rose mich noch einmal zur Seite. »Wir gehen heute mit ein paar Mädels in die Stadt und danach ins Kino. Hast du Lust mitzukommen?«
Ich wollte begeistert Ja schreien, aber im selben Moment kam mir der Gedanke, dass ich heute zu Graf Dracula umsiedelte. Ich wollte es sogar fast so sagen.
»Ich wäre echt gerne mitgekommen, siedle heute aber leider um zu Graf Dra… ähm – ich meinte zu meinem Onkel Falko.«
»Schade.« Der Glanz ihrer Augen erlosch kurz. »Na ja, vielleicht ein anderes Mal.«
»Rose!«
» … DeWitt Bukater.« Sie knickste vor mir und zwinkerte dabei mit dem Auge, was damals auf jeden Fall verboten gewesen wäre. Lexie White, unsere Mitschülerin, hatte gerufen und stand schon etwas ungeduldig an der Flügeltür herum.
»Die Rolle passt echt gut zu dir.«
Seit neuestem probte der freiwillige Theaterkurs, unter Mr Cartwrights Leitung, nämlich das Liebesdrama Titanic ein. Unser Lehrer hatte genaueste Vorstellungen von den einzelnen Szenen, natürlich auch von den Schauspielern und da Rose eine besonders gute Schauspielerin war, bekam sie (was man voraussehen konnte) die Rolle der Rose DeWitt Bukater. In Mathematik hingegen behielt er nichts mehr von seiner Vorliebe für ihr Schauspieltalent übrig, sondern behandelte sie genauso wie die anderen Schüler, bei denen Mathematik eine riesige Hürde darstellte.
»Die Rolle von Jack ist noch nicht vergeben.« Sie schaute mich geheimnisvoll an. »Vielleicht bekommt Tony sie ja?«
»Rose, der ist zwei Klassen über uns.«
»Ja und?« Sie schob trotzig die Unterlippe vor.
»Und noch nicht einmal im Theaterkurs«, machte ich weiter.
»Dann muss ihn eben jemand überreden sich einzutragen – du!«
»Ich?!« Ich klang davon nicht sehr überzeugt.
»Rose Westwood, wollen Sie da Wurzeln schlagen! Die anderen Mädchen warten nicht und der Bus fährt in zehn Minuten.« Lexie schien von unserem Gespräch nicht sehr überzeugt und kam herüber.
»Ich finde es passt, dass sie im Theaterstück meine Mutter spielt«, raunte Rose mir zu und lachte albern, als Lexie uns auch schon fast erreichte.
»Welche Rolle hast du eigentlich bekommen?«
Als ob sie das nicht selber wusste. »Ich bin einmal die Bedienung und ein einfacher Statist.«
»Prima Rollen – ehrlich.«
Ich zog eine Augenbraue hoch, wobei Rose sich an Lexie wandte. Was für eine schöne Lüge Ms Westwood. Du wärst Mr Cartwright vor Wut an die Gurgel gegangen, hätte er dir so bescheuerte Rollen gegeben.
»Kommst du jetzt mit?« Lexie tippte ungeduldig auf ihre Armbanduhr.
Die Frage galt mir. »Leider nein.« Ich fummelte am Kragen meiner Jacke herum. »Ich ziehe heute um zu meinen Verwandten, den Freemans.«