Der Leuchtturm auf den Hummerklippen - James Krüss - E-Book + Hörbuch

Der Leuchtturm auf den Hummerklippen Hörbuch

James Krüss

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Beschreibung

Wenn die Möwe Alexandra ihren Freund, den Leuchtturmwärter Johann, besucht, ist eine Sache sicher: Ob Spaßgedicht oder fantastische Geschichte – nichts lieben die beiden mehr als das gegenseitige Erzählen und Zuhören. Eines Tages entdeckt Alexandra am Horizont ein kleines Ruderboot, in dem Tante Julie und der Poltergeist Hans im Netz auf dem Weg zu den Hummerklippen sind. Doch der Weg ist noch weit, und der gemeine Wassermann Markus Marre lauert schon an der nächsten Welle. Zum Glück gibt es keine Gefahr, die sich nicht mit einer spannenden Geschichte abwenden lässt, und Alexandra und Johann sind wahre Meister im Erzählen …

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Zeit:4 Std. 50 min

Sprecher:Konstantin Graudus

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James Krüss

Der Leuchtturm auf den Hummerklippen

Illustriert von Maja Bohn

© Atrium Verlag AG, Zürich, 2023

(Imprint Atrium Kinderbuch)

Erstveröffentlichung: 1956

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Brauer

Alle Rechte vorbehalten

Coverbild und Illustration von Maja Bohn

Die Illustrationen zu diesem Werk wurden vermittelt durch Paula Peretti Literarische Agentur, Köln

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03792-200-2

 

www.atrium-verlag.com

www.instagram.com/atrium_kinderbuch_verlag

Alle Möwen heißen Emma. Das ist allgemein bekannt. Es gibt nur eine Ausnahme, nämlich die Möwe, die in dieser Geschichte vorkommt. Sie trägt einen anderen Namen. Sie heißt Alexandra. Diese Möwe wohnt zusammen mit drei Freundinnen auf einer kleinen Sandbank in der Nordsee, die so winzig ist, dass nicht einmal ein Haus darauf stehen kann. Niemals kommt ein Mensch hierher, und den Vögeln ist es recht. Denn Möwen haben kein Verlangen nach Menschen. Aber Alexandra bildet auch hierin eine Ausnahme: Sie hat einen Menschen zum Freund, einen alten Mann, der Wächter auf einem Leuchtturm ist.

Dieser schlanke hohe Leuchtturm steht wie eine weiße steinerne Säule mitten im Meer. Er ist auf eine Felsklippe gebaut. Bei Flut, wenn die Wasser der Nordsee hochsteigen, ist der Fels vom Meer überspült. Bei Ebbe, wenn die Wasser absinken, kann man den runden Buckel der Klippe aus der See herausragen sehen. Dieser runde Buckel trägt den Namen Hummerklippe, denn in den Höhlen und Felslöchern seines harten Steins hausen die Hummer, die gepanzerten Wassertiere mit den großen Zangen, die wie sechsfach bewaffnete Ritter aussehen. Der schlanke Leuchtturm wird daher der Leuchtturm auf den Hummerklippen genannt.

 

Auf diesem Turm haust vergnügt und zufrieden ein einziger Mensch. Das ist der Wärter Johann, der Freund der Möwe Alexandra. Er gießt hier das Öl in die große Lampe, die des Nachts den Schiffen leuchtet, er bekommt zweimal in der Woche Post und Lebensmittel durch ein kleines weißes Motorboot, er kocht auf einem alten Herd in der obersten Kammer des Leuchtturms, und er angelt fast alle Tage. Dann setzt er sich mit einem Klappstühlchen auf den kleinen eisernen Balkon, der in Dreiviertelhöhe des Turmes um die runde Mauer herumläuft, raucht und lässt die Angelschnur ins Wasser hängen. Beißt ein Fisch an, so schlachtet Johann ihn, salzt ihn und lässt ihn im Winde trocknen. Manchmal leistet die Möwe Alexandra ihm beim Angeln Gesellschaft. Dann unterhalten die beiden sich über die Matrosen und Kapitäne, die mit ihren Schiffen vorüberfahren, und über den Wassermann, einen gewissen Markus Marre, der leider einen schlechten Charakter hat. Hin und wieder zanken sie sich auch, weil Alexandra dem Alten einen Fisch gestohlen hat. Dann sind sie sich zwei Tage lang böse. Aber am dritten Tag hocken sie schon wieder beisammen, und über den Fischdiebstahl wird nicht mehr geredet.

 

Eines Tages flog Alexandra, die Möwe, wieder einmal von ihrer kleinen Sandbank zum Leuchtturm, um den alten Johann zu besuchen. Es war im April des Jahres 1945, um genau zu sein: am 19. April, kurz vor dem Ende des fürchterlichen Zweiten Weltkrieges. Alexandra und Johann merkten in ihrer Einsamkeit nicht allzu viel vom Kriege. Nur manchmal hörten sie in der Ferne Schiffskanonen donnern, oder sie sahen schwere Bombenflugzeuge zum Festland fliegen. Auch durfte Johann jetzt die große Lampe unter der Turmkuppel nicht mehr anzünden, weil sie feindlichen Schiffen oder Flugzeugen zur Orientierung hätte dienen können. Der alte Wärter war jetzt nur noch Hausknecht auf dem Turm. Er sehnte das Ende des Krieges herbei, damit die Strahlen seiner Lampe wieder friedlich die Nacht erhellen könnten.

 

An diesem Apriltag des Jahres 1945 nun sah die Möwe Alexandra ein kleines Ruderboot auf der Nordsee schwimmen, das genau auf den Leuchtturm zusteuerte, obwohl es noch sehr weit von ihm entfernt war. Alexandra segelte in Spiralen nach unten und sah bald, dass in dem Boot zwei Leute saßen: eine alte Frau, die ruderte, und ein Zwerg mit einem grünen Gesicht und einer roten Nase. Diesen Zwerg kannte die Möwe. Es war ein gewisser Hans im Netz, von Beruf Poltergeist. Alexandra wunderte sich, dass er mit einer alten Frau hier draußen im offenen Meer herumgondelte.

»Hallo, Hans im Netz!«, sagte sie und ließ sich elegant auf dem Holzpflock an der Spitze des Bootes nieder.

»Hallo, Alexandra!«, sagte der Zwerg. Dann beugte er sich über den Bootsrand und sagte nichts mehr. Er war seekrank.

So unterhielt sich die Möwe mit der alten Frau, die ruderte.

»Wohin fahren Sie, gnädige Frau?«, fragte Alexandra.

»Zum Leuchtturm, meine Liebe«, sagte die alte Frau.

»Da haben wir denselben Weg«, bemerkte die Möwe. »Ich wollte gerade den alten Johann besuchen. Kennen Sie ihn?«

»Und ob ich ihn kenne!«, erwiderte die Frau im Boot. »Er ist ein alter Freund von mir. Er hat mich auf der Insel Helgoland oft besucht. Leider wurden die Häuser der Insel gestern durch Bomben zerstört. Darum rudere ich zu Johann. Vielleicht nimmt er mich auf.«

»Bestimmt wird er Sie aufnehmen!«, sagte die Möwe. Dann fragte sie, ob bei dem Bombenangriff viele Menschen ums Leben gekommen seien.

»Nein, die meisten haben sich rechtzeitig in einen großen Tunnel unter dem Felsen geflüchtet«, entgegnete die Frau. »So haben sie ihr Leben gerettet.«

»Da haben sie aber Glück gehabt!«, sagte Alexandra.

Die alte Dame, die das Rudern anscheinend sehr anstrengte, nickte und sagte: »Könnten Sie mir wohl einen Gefallen tun, meine Liebe?«

»Was für einen Gefallen?«, fragte die Möwe.

»Fliegen Sie voraus und melden Sie dem alten Johann, dass Tante Julie mit einem seekranken Poltergeist zu ihm kommt!«

»Werde ich bestellen!«, antwortete Alexandra und flog auf. Aber bevor sie zum Leuchtturm flatterte, drehte sie noch einen Kreis um das Boot und rief: »Ich freue mich, dass ich Sie kennengelernt habe, Tante Julie. Johann hat mir schon viel von Ihnen erzählt. Ich heiße Alexandra. Bis nachher!«

»Bis nachher!«, pustete Tante Julie und ruderte kräftig weiter, während der Poltergeist immer noch jammernd über dem Bootsrand hing und sich nach einem warmen Bett sehnte.

 

Der alte Johann auf dem Leuchtturm war sehr aufgeregt, als die Möwe ihm von der Begegnung mit Tante Julie und von der Zerstörung der Insel Helgoland erzählte. »Ich werde sofort Teewasser auf den Ofen stellen«, sagte er. »Wenn Tante Julie hier ankommt, muss sie gleich was Heißes trinken. Das ist eine alte Seemannsweisheit.«

Er stellte einen großen Wasserkessel aufs Feuer und setzte sich dann mit seinem Klappstühlchen hinaus auf den Balkon, während sich Alexandra auf seine Schirmmütze hockte.

»Siehst du den schwarzen Punkt dahinten?«, fragte Alexandra. »Das ist Tante Julie mit dem Poltergeist.«

Johann holte ein ineinandergeschachteltes Fernrohr aus der Tasche, zog es auseinander und blickte damit auf den schwarzen Punkt, der weit weg im grünen Wasser der Nordsee schwamm. »Ja, das sind sie«, sagte er. »Es wird mindestens noch vier bis fünf Stunden dauern, bis sie hier sind. Übrigens – dieser Poltergeist sieht von fern sehr merkwürdig aus. Was ist das für eine Sorte von Lebewesen?«

Alexandra staunte über diese Frage und rief: »Kennst du denn Hans im Netz nicht?«

»Nein, ich habe nie von ihm gehört!«, antwortete der Leuchtturmwärter. »Erzähl mir, wer er ist.«

Da hüpfte die Möwe von Johanns Schirmmütze hinunter auf das Balkongitter, stützte sich gemütlich auf ein Bein, zog das andere an und erzählte dem alten Mann:

Die Geschichte vom Poltergeist von Helgoland

Die Poltergeister sind eine weitverzweigte Familie. Sie stammen von den Inseln der Südsee, wo es bekanntlich feurige Berge, sogenannte Vulkane, gibt, in deren Innerem es ununterbrochen poltert. Hier werden sie geboren. Aber leider werden von diesen Zwergen mit den grünen Gesichtern und den roten Nasen viel zu viele geboren. So gibt es für eine große Zahl von Geistern oft nichts zu tun, da alle Polterplätze belegt sind. Deshalb wandern manche von ihnen aus. Sie schleichen sich nachts heimlich auf ein fremdes Schiff und fahren damit in die Welt hinaus. Einer dieser Auswanderer schlich sich einmal auf ein Frachtschiff, das von der Südsee nach der Insel Helgoland in der Nordsee fuhr.

Als die Lange Anna (so hieß das Schiff) die Südsee verließ, hockte der Poltergeist unten im Laderaum zwischen Bergen haariger Kokosnüsse. Der Platz hier unten war ihm aus zweierlei Gründen angenehm: Erstens konnte er, wenn er Hunger hatte, das weiße Fruchtfleisch der Nüsse kauen, und zweitens ließ es sich im Laderaum vorzüglich poltern. Aber in der ersten Zeit der Reise verhielt sich der Poltergeist noch still. Die Lange Anna umschiffte Hinterindien und Vorderindien und legte in Singapur und Colombo an, ohne dass die Seeleute auf den blinden Passagier aufmerksam geworden wären.

Aber kaum dampfte das Schiff an Aden vorbei ins Rote Meer hinein, da fing es allnächtlich merkwürdig zu rumpumpeln an. Wenn die Seeleute sich gerade müde hingelegt hatten, um zu schlafen, begann im Laderaum plötzlich ein höllischer Lärm. Es war, als ob sich unter dem Schiff eine Schar von Hammerhaien tummele und fortwährend an die Bordwand hämmere. Die Schiffer fuhren aus ihren Hängematten auf, horchten, woher der Lärm kommen mochte, und stürzten dann zum Laderaum. Aber kaum öffneten sie die Luke, da wurde es still. Kein Laut drang aus der Finsternis da unten zu ihnen herauf. Das Schiff glitt ruhig unter den tropischen Sternen dahin, und gleichmäßig wie eine Uhr tackerte der Motor. So legten sich die Seeleute wieder in ihre Hängematten. Aber kaum hatten sie sich in ihre Decken gehüllt, als das Gepolter und Gepumpel von Neuem anfing. Mehrere Nächte lang wurden sie so aus ihrem Schlaf gescheucht, und sie wurden unruhig und verstört. Nur der Kapitän ließ sich nicht beirren. Er ahnte, dass es ein Poltergeist war. Aber er sagte der Mannschaft nichts. Denn Matrosen sind abergläubisch. Wenn sie wissen, dass ein Geist auf dem Schiff haust, verlassen sie das Schiff im nächsten Hafen und kommen nie zurück.

Als die Lange Anna durch den Sueskanal ins Mittelmeer dampfte, zeigte das Barometer plötzlich auf Sturm und fiel, so tief es fallen konnte. Die Schiffer wunderten sich darüber, denn die Sonne schien vom blauen Himmel, und nirgendwo zeigte sich ein Wölkchen. Aber vorsichtig, wie Seeleute sind, achteten sie auf die Warnung und gingen in Syrakus auf der Insel Sizilien vor Anker, um hier den Sturm abzuwarten.

Darauf hatte der Poltergeist nur gewartet. Denn er war es gewesen, der das Barometer hatte fallen lassen. Diese Geister haben einen besonderen Pfiff. Wenn sie den ertönen lassen, werden alle Vögel in der Nähe unruhig, und alle Barometer fallen. Durch diesen Trick fiel auch das Barometer auf der Langen Anna, und das Schiff legte sich in den Hafen.

Als es Nacht wurde, verließ der Poltergeist das Schiff durch ein offenes Bullauge, sprang auf die Mole und hüpfte durch die verdunkelten Straßen und Gassen der Stadt Syrakus. Der bedauernswerte Zwerg war während der langen Reise oft seekrank gewesen, und nur das nächtliche Poltern und die Verwirrung der Seeleute hatten ihn ein bisschen aufgemuntert. Nun hatte er nach langer Zeit zum ersten Mal wieder festen Boden unter den Füßen, und er überlegte ernstlich, ob es ratsam sei, in Syrakus zu bleiben. Plötzlich, als er an einem großen Gebäude vorbeischlenderte, durch dessen offene Tür ein Lichtstrahl auf die Straße fiel, hörte er Stimmen. Er blieb lauschend stehen.

Innen fragte jemand: »Willst du, Lelina Gattina, die Gattin des Salvatore Mizzonini sein und ihm in Treue dienen?«

»Ja!«, hauchte eine Frauenstimme.

Hier scheint eine Hochzeit vor sich zu gehen. Es muss eine Kirche sein, dachte der Poltergeist. Da will ich mal ein bisschen Stimmung hineinbringen!

Er schlich sich ins Innere der Kirche und kletterte, ohne auf die Hochzeitsgesellschaft zu achten, hinauf auf die Empore zur Orgel. Die Gäste unten in der Kirche wollten gerade anfangen einen Choral zu singen, als die Orgelpfeifen plötzlich merkwürdig zu heulen und zu jaulen begannen. Es war die reinste Katzenmusik. Der Poltergeist fuhrwerkte auf den Orgeltasten herum wie ein Schmied auf seinem Amboss. Die Pfeifen kreischten und gellten und pfiffen und maunzten, als sei die Hölle los. Der Poltergeist war überzeugt, dass die Hochzeitsgesellschaft jetzt erschrocken und verwirrt sein würde. Aber ganz im Gegenteil: Die Leute unten im Kirchenschiff schienen diese Musik sehr hübsch zu finden. Denn sie jaulten und greinten mit, als sei der Poltergeist ein bezahlter Organist.

Seltsam, dachte der Zwerg an der Orgel. Und dann sagte er zu sich selbst: »Hier muss ich andere Saiten aufziehen!«

Er klappte den Deckel der Orgel wieder zu und sah sich nach neuen Schandtaten um. Da entdeckte er eine Schnur am Boden und bemerkte zugleich drei alte eiserne Notenständer. Kurz entschlossen band er sie zusammen, nahm die Schnur in die Hand und zog die scheppernden Eisengestelle über die Empore, auf der merkwürdigerweise noch mehr Orgeln standen. Es machte fürchterlichen Krach. Das ganze Kirchenschiff dröhnte und hallte, polterte und schepperte davon. Aber wenn der Poltergeist glaubte, damit die Gäste erschrecken zu können, so irrte er sich abermals. Sie sangen da unten greinend weiter, als ob das Scheppern dazugehöre. Da verlor der Poltergeist alle Lust am Krachmachen und schlich wieder nach unten, um sich die merkwürdige Hochzeitsgesellschaft aus der Nähe anzusehen.

Als er die Treppe hinunterhüpfte, verließen die Gäste gerade die Kirche. Einige von ihnen entdeckten den Poltergeist, liefen fröhlich auf ihn zu und drückten ihm die Hände. »Sie haben reizend gespielt!«, sagte man. »Es war eine sehr stimmungsvolle Hochzeit! Recht herzlichen Dank!«

»O bitte, bitte!«, antwortete der Poltergeist. »Ich habe getan, was ich konnte.« Er war sehr enttäuscht. Denn die Poltergeister wollen den Menschen keine Freude machen, sondern sie ärgern. Im Übrigen waren die Gäste, die er für Menschen gehalten hatte, in Wirklichkeit Katzen. Und der große Raum war kein Kirchenschiff, sondern ein Lager für Musikinstrumente, besonders für Orgeln und Klaviere.

Dieses Erlebnis nahm dem Poltergeist allen Mut, länger in Syrakus zu bleiben.

»Wenn man mein Poltern für Musik hält, verliert das Poltern seinen Sinn«, sagte er. Dann hüpfte er zur Mole zurück, schlich sich durch das Bullauge wieder auf das Schiff und legte sich zwischen den Kokosnüssen schlafen.

Am nächsten Morgen stach die Lange Anna wieder in See, denn das Barometer zeigte auf gutes Wetter. Die Schiffer waren erstaunt, dass kein Sturm gekommen war. Aber der Kapitän, der die Pfiffe der Poltergeister kannte, dachte sich seinen Teil. Man fuhr durch die Meerenge von Gibraltar zwischen Afrika und Spanien hindurch, nahm Kurs nach Norden und fuhr entlang der spanischen, portugiesischen und französischen Küste weiter. Im Golf von Biskaya fing es an stürmisch zu werden, und von da an beruhigte sich das Meer überhaupt nicht wieder. Das Schiff schlingerte und schaukelte ununterbrochen, und der Poltergeist lag blass und seekrank zwischen rollenden haarigen Kokosnüssen und hatte nicht die geringste Lust mehr, des Nachts zu poltern. Um sich bei Kräften zu halten, brach er manchmal eine Kokosnuss auf, trank die Milch und kaute missmutig ein wenig weißes Fruchtfleisch. Vergnügen machte ihm die Reise nicht mehr.

Erst auf der Höhe von Bremen beruhigte sich das Wetter einigermaßen. Der Poltergeist rappelte sich müde auf und fühlte sich zum ersten Mal seit Wochen wieder etwas wohler. Als das Schiff gar nicht mehr weit von Helgoland entfernt war, bekam er sogar seine gute Laune wieder und rumpumpelte in der Nacht gehörig mit den Kokosnüssen. Am nächsten Morgen fühlte er sich frisch wie ein Fisch im Wasser und schlich sich sogar in die Kajüte des Kapitäns, um wieder einmal das Barometer durch seinen Pfiff durcheinanderzubringen. Vergnügt und mit gekreuzten Beinen hockte er gerade auf dem kleinen Schreibtisch in der Kapitänskajüte, schüttete Tinte in ein halb volles Bierglas und spießte einen Federhalter in einen roten Apfel. Da spürte er plötzlich, wie jemand ihn von hinten packte und am Kragen seines grünen Palmfaser-Pullovers in die Höhe hob. Es war der Kapitän. Der Poltergeist hatte leider vergessen die Tür zu schließen, als er in die Kajüte geschlichen war. So hatte er den Kapitän nicht kommen hören. Und so war er nun durch seine eigene Unvorsichtigkeit gefangen.

»Ich hab es mir schon gedacht«, sagte der Kapitän. »Ein Poltergeist aus der Südsee!«

Der Zwerg, der in der kräftigen Faust des Seemannes zappelte, versuchte hängend eine Art Verbeugung zu machen und sagte: »Guten Tag! Sehr erfreut!«

»Ganz meinerseits!«, erwiderte der Kapitän. Dann setzte er den Poltergeist in eine große Seemannstruhe in der Ecke des Zimmers und sagte: »Ich werde dich meinen beiden Töchtern als Spielzeug mitbringen.« Und – bums – schlug er über dem Kleinen den Deckel der Truhe zu.

»Ich habe gar nichts dagegen, Ihren Töchtern mitgebracht zu werden!«, rief der eingesperrte Poltergeist. »Aber ich fürchte, dass ich auf Helgoland nicht lebendig ankommen werde. Ich kriege hier drinnen nämlich keine Luft!«

»Oh, Verzeihung!«, rief der Kapitän. »Daran habe ich gar nicht gedacht!« Er öffnete die Truhe wieder, fischte den Poltergeist heraus und steckte ihn nun in ein geräumiges Fischernetz, das er oben fest zuknotete. So hängte er den Zwerg wie ein Bündel alter Wäsche an einem Nagel am Mast der Langen Anna auf. Er sagte: »Auf diese Weise lernt die Mannschaft den Poltergeist kennen, der ihnen nachts ihre Ruhe raubte.«

Für den armen Kleinen war es eine unbequeme Lage, so fest umgarnt am Mast zu hängen. Aber ich müsste lügen, wenn ich sagen wollte, dass es ihm schlecht ging während des letzten Teils der Reise. Die Seeleute waren ihm durchaus nicht böse wegen des bisschen Lärms, das er gemacht hatte. Sie steckten ihm oft Süßigkeiten und Früchte zu, und manche unterhielten sich mit ihm über seine Heimat in der Südsee. Oft fragten sie ihn auch nach seinem Namen. Aber Poltergeister haben keine Namen. So nannte man ihn Hans im Netz. Und diesen Namen trägt er noch heute.

Als die Lange Anna an der Brücke der Insel Helgoland festmachte, holte der Kapitän den Poltergeist aus dem Netz heraus, nahm ihn auf den Arm und trug ihn unter den Augen der verwunderten Insulaner in sein Haus.

Seine Töchter fanden den Zwerg trotz seines grünen Gesichts und der roten Nase sehr reizend. Sie spielten mit ihm, als ob er eine Puppe wäre. Sie legten ihn in den Puppenwagen, deckten ihn mit rosa Spitzendeckchen zu, trichterten ihm Milch aus einer Flasche ein und sagten immerzu: »Ja, wo ist denn unser Hänsele? Ja, wo ist es denn?«

Hans im Netz, der schließlich ein erwachsener Poltergeist war, fand die Behandlung albern. Eigentlich hatte er vorgehabt im Hause des Kapitäns zu bleiben, weil der alte Seemann ihn für seine Polterei nicht gestraft hatte. Aber er hielt diese beiden Mädchen einfach nicht mehr aus. Eines Nachts lief er weg und begann wieder ein Leben als Poltergeist. Mal lärmte er abends in Kellern, mal rumpelte er tagsüber auf Dachböden, wie es ihm gerade in den Sinn kam.

Leider hatten die Bewohner der Insel Helgoland diesen Lärm gar nicht gern. So setzte der Bürgermeister eine Belohnung aus für denjenigen, der den Poltergeist finge. Nun suchte und fahndete man überall nach ihm. Hans im Netz musste sehr auf der Hut sein. Aber eines Sonntags wurde er von zwei Buben gefangen. Sie brachten den Zwerg, der sich gehörig wehrte und einen von ihnen in die Hand biss, aufs Gemeindebüro und erhielten die Belohnung. Der Bürgermeister aber fragte sich, was er nun wohl mit Hans im Netz anfangen solle.

»Bringen Sie mich auf ein Schiff, das nach Amerika fährt«, schlug der Poltergeist vor. »Ich möchte so gern einmal New York sehen.«

»Das geht nicht«, sagte der Bürgermeister. »Wenn die Leute wissen, dass ein Geist auf dem Schiff ist, denken sie, dass es untergeht, und fahren nicht mit.«

»Aber die Lange Anna ist doch auch nicht untergegangen«, sagte der Poltergeist.

»Da warst du in einem Netz«, erklärte der Bürgermeister. »Vor Geistern in Netzen hat man keine Angst. Das ist nun mal Seemannsaberglaube.«

»Wenn ich die Reise nur als Bündel am Mast machen darf, dann verzichte ich lieber auf Amerika!«, seufzte Hans im Netz.

In diesem Augenblick kam der Arzt der Insel Helgoland zufällig ins Zimmer des Bürgermeisters. Er hieß Dr. Muschelmann und war sehr gescheit. Als er den Poltergeist sah, gab er ihm höflich die Hand und fragte, was er jetzt anfangen wolle.

»Darüber beraten wir gerade«, sagte der Bürgermeister. »Wüssten Sie vielleicht eine Beschäftigung für den Kleinen?«

»Gewiss!«, sagte Dr. Muschelmann. »Er könnte poltern nach Rezept.«

»Wie das?«, fragten der Bürgermeister und Hans im Netz wie aus einem Munde.

»Sehr einfach«, sagte Dr. Muschelmann. »Ich richte dem Poltergeist hier auf Helgoland ein kleines Haus ein, in dem es alle notwendigen Poltergeräte gibt: Topfdeckel, alte Fahrradklingeln, Glaskugeln, Kokosnüsse, verrostete Nägel und dergleichen mehr.«

»Und was soll das Ganze?«, fragte Hans im Netz.

»Sehr einfach«, sagte Dr. Muschelmann zum zweiten Mal. »Es gibt hier auf der Insel viele Kinder und Erwachsene, die jähzornig sind. Mindestens einmal in der Woche schlagen sie daheim oder im Wirtshaus oder in der Schule Krach und hauen alles, was ihnen unter die Finger kommt, kurz und klein. Diesen Leuten schreibe ich ein Rezept, damit sie einmal wöchentlich unter der sachkundigen Leitung des Poltergeistes Sachen zerschlagen können. Das ist medizinisch sehr wirkungsvoll und nimmt dem Jähzorn sozusagen seinen Reiz.«

»Dem Poltern leider auch«, fügte Hans im Netz hinzu. »Ich habe keine Lust, nach Rezept zu poltern!«

»Ob Sie wollen oder nicht«, sagte der Bürgermeister. »Du musst es tun! Wir haben sonst keine andere Beschäftigung für dich. Und wenn Sie sich weigern sollten, dann sperren wir dich in einen Käfig ein und stellen dich auf der Brücke auf, damit die Leute Sie besichtigen können.«

Der Bürgermeister hatte abwechselnd Sie und Du zu dem Poltergeist gesagt, weil er sich nicht ganz darüber im Klaren war, wie man Geister anredet. Hans im Netz fand das sehr spaßig. Aber bei dem Gedanken an den Käfig auf der Brücke verging ihm der Spaß, und so sagte er schließlich seufzend: »Also gut! Ich werde nach Rezept poltern.«

»Das ist vernünftig«, sagte Dr. Muschelmann.

Bald darauf wurde in der Robbengasse ein Polterhaus eingerichtet, in dem Hans im Netz die Leitung übernahm. Wenn ein Kind in der Schule nun bockig und zornig wurde und vor Wut mit den Füßen auf den Boden trampelte, so verschrieb Dr. Muschelmann ihm vierzig Minuten Poltern. Man brachte das Kind in die Robbengasse, und dort machte Hans im Netz ihm vierzig Minuten lang einen solchen Höllenspektakel vor, dass es vom Trampeln und Füßestampfen für vier Wochen genug hatte. Aber auch Erwachsene, die sich zu Hause wie wild gewordene Stiere benahmen, wurden hier in der Robbengasse schnell von ihrem Laster geheilt.

So wurde das Polterhaus eine Art Sanatorium für Jähzornige. Hans im Netz aber wurde ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft, und das ist natürlich das Schlimmste, was einem Poltergeist passieren kann. Doch Menschen und Geister gewöhnen sich bekanntlich an alles, sogar ans Poltern nach Rezept.

Ich müsste lügen, wenn ich sagen wollte, dass es Hans im Netz auf der Insel Helgoland nicht gefallen hätte. Er wurde allgemein geschätzt, lernte das Skatspielen und das Hummerfischen, bekam ausreichenden Lohn und ließ sich manchmal an Sonntagnachmittagen von besonders großen Möwen spazieren fliegen. Außerdem ist er der einzige Poltergeist der Welt, der ein Diplom als Sanatoriumsdirektor besitzt, und das ist schließlich auch etwas wert.

 

Als die Möwe Alexandra die Geschichte erzählt hatte und das eingezogene Bein wieder herausstreckte und aufs Gitter stellte, schüttelte der Leuchtturmwärter den Kopf und sagte: »Dieser Poltergeist mit dem Diplom als Sanatoriumsdirektor ist eine merkwürdige Figur. Nun kommt er also zu mir. Hoffentlich fängt er des Nachts nicht an zu poltern.«

Wieder holte Johann das ineinandergeschachtelte Fernrohr aus der Tasche, zog es auseinander und betrachtete das ferne Ruderboot, in dem der Zwerg – so viel war durch das Glas zu erkennen – immer noch seekrank über den Bootsrand hing.

»War Tante Julie eigentlich sehr erschöpft?«, fragte der Wärter.