Der Lichtgarten von Helgoland - Bernhard Kürzl - E-Book

Der Lichtgarten von Helgoland E-Book

Bernhard Kürzl

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Beschreibung

Die junge Möwe Paulina hat ein Geheimnis: Sie kennt den Eingang zum Lichtgarten auf Helgoland. Eines Tages erfährt sie, dass sich der Eingang zu ihrem geheimen Paradies für immer schließen wird, falls nicht fünfzehn Gefährten einer "besonderen Art" bis Weihnachten in den Lichtgarten gelangen. Paulina macht sich auf die Suche nach diesen andersartigen Wesen, die selbst nichts von dieser Besonderheit wissen, um mit ihnen rechtzeitig in den Lichtgarten zu gelangen, doch die Zeit wird knapp! Ein Abenteuer für neugierige Kinder, suchende Jugendliche und mutige Erwachsene! Drei Kinder, ein Baby, zwei Erwachsene und acht Tiere führen uns auf eine Reise, die möglicherweise das eigene Weltbild in Frage stellen könnte! Gibt es noch eine andere Wahrheit, als die, die uns Eltern, Lehrer, Wissenschaftler oder Religionsvertreter glaubhaft machen wollen? Vielleicht ist dieses phantastische Abenteuer mehr als nur reine Fiktion!

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Seitenzahl: 279

Veröffentlichungsjahr: 2016

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www.tredition.de

BERNHARD KÜRZL

DER LICHTGARTEN VON HELGOLAND

Ein spirituelles Abenteuer

Komplett neu überarbeitete Version der Urfassung von 2010

www.tredition.de

© 2016 Bernhard Kürzl

Umschlag, Illustration: Bernhard Kürzl, Ilka Richter

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7323-6865-5

Hardcover:

978-3-7323-6866-2

e-Book:

978-3-7323-6867-9

1. Auflage

2010 MV-Verlag

2. Auflage

2016 tredition

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Für Simon,

Du wurdest nicht geboren,

warst nur kurz unser Gast,

lebst aber trotzdem immer bei uns.

Danke, dass wir Dich erfahren durften!

Vorwort

Es war am Nachmittag eines sonnigen Spätsommertages. Mein Weg vom Arbeitsplatz zur Bushaltestelle, führte mich an Wiesen und Feldern vorbei. Auf einem befestigten Feldweg sah ich einen kleinen Jungen, vielleicht zwei Jahre alt, wie er voller Freude ein Stück rannte, sich dann umdrehte und wieder zu einem älteren Mann, wahrscheinlich sein Großvater, zurückeilte. Zunächst empfand ich es einfach nur schön, die Freude beim Spielen der so weit auseinanderliegenden Generationen zu beobachten, doch je länger ich den beiden zusah, desto mehr bewegte mich die Szene tief im Inneren. Mir war nach Lachen und Weinen gleichzeitig zumute, und ich schluckte einen schmerzhaften Klos der Trauer hinunter. Auf dem weiteren Weg zur Bushaltestelle ließ mich das freudige Bild von Großvater und Enkel in dieser spätsommerlichen Stimmung nicht mehr los.

Was war das, was mich zutiefst berührt hatte? Ich nenne es das Phänomen des Bahnhofs Erde! Der Großvater wird bald nicht mehr hier sein und der kleine Junge ist vielleicht eines Tages selbst Opa. Und auch er wird einmal gehen und wahrscheinlich Kinder und Enkel zurücklassen. Wenn wir durch eine große Bahnhofshalle gehen, können wir erleben, wie Menschen ankommen und freudig begrüßt und andere, die verabschiedet werden und wieder in den Zug steigen. Vielleicht lernt man schon den einen oder anderen neuen Bekannten oder Freund kennen, trennt sich mit einer Träne von der eben erst Kennengelernten oder erlebt schon die ersten Abenteuer, noch bevor man die Halle verlassen hat. Wir gehen durch eine anonyme Masse unbekannter Menschen, sehen Lachen und Weinen von anscheinend Fremden und merken erst, wenn der Vorhang fällt, dass wir doch alle gut kennen!

Betritt ein Mensch diese Welt, wird er gezeugt und geboren, dann feiern wir das meist als freudiges Ereignis. Wir wissen aber, dass dieser Mensch spätestens in einigen Jahrzehnten, wie wir selbst, wieder zurückkehren wird. Ist dieser Zeitpunkt gekommen, dass dieser Mensch stirbt, wird es meist als große Tragödie und nicht als Freudenfest betrachtet. Wir Menschen (und vielleicht auch die Tiere) kommen aus einer unbekannten Heimat für eine winzig kurze Zeitspanne der Ewigkeit in diese Welt, begegnen einander, ohne uns zu erinnern, dass wir uns ja schon ewig kennen, gehen eine Zeitlang denselben Weg und trennen uns wieder, bevor wir dahin zurückkehren, wo wir hergekommen sind, nach Hause! Das Schmerzhafte und das, was so vielen Menschen Angst bereitet, ist die fehlende Erinnerung an unsere eigentliche Herkunft. Vielleicht haben Babys noch diese Erinnerungen und fangen eines Tages, aus für uns unersichtlichen Gründen ganz furchtbar zu Weinen an, weil sich gerade der Vorhang des Vergessens über sie senkt.

Wenn wir uns vorstellen, von hier wegzugehen, haben wir das Gefühl, jemanden zurückzulassen und umgekehrt fühlen wir einen Verlust, wenn jemand Nahestehendes stirbt. Kaum vorstellbar, dass der Sterbende vielleicht gleich voller Freude in der anderen Welt von Freunden und Familie begrüßt wird – oder doch?

Es ähnelt schon einer Tragikomödie, wenn unsere, sich selbst hochlobende westliche Kultur in ihrer arroganten Technikgläubigkeit nicht nur die besonderen Fähigkeiten naturnaher Völker belächelt und dabei ihren eigenen Ast absägt, sondern auch eine Trauerkultur aufrechterhält, die es Sterbenden und Hinterbliebenen schwer macht, voller Freude weiterzugehen. Ein heuchlerischer, nicht gelebter, zum Sonntagskult reduzierter Glaube, egal welcher Religion oder esoterischer Richtung, kann das volle Vertrauen in das Leben nicht bieten. Wenn sich dann so mancher dem Fanatismus nähert und seine Sichtweise für die einzig richtige hält, wird aus der beabsichtigten Liebe schnell Hass und der Glaube, der das Gute wollte, erreicht das Gegenteil.

Unzählige Theorien, Philosophien und Glaubensgrundsätze, vertreten ihre eigenen Sichtweisen, woher wir kommen und wohin wir wieder gehen. Die nachfolgende Geschichte schildert in einer einfachen, auch für jüngere Leser geeigneten Form, ein Jenseitsbild und dessen Verbindung zur Erde, das dem eigenen Leben einen tieferen Sinn, ein größeres Verstehen und viel mehr Freude verleihen kann.

Ich möchte Sie dazu einladen, vierzehn besondere Wesen dieser Welt auf ihrer Reise zum Lichtgarten von Helgoland zu begleiten und mitzuerleben, wie sie sich durch spirituelle Weisheiten und psychologische Erkenntnisse, denen sie auf ihrem Weg begegnen, weiterentwickeln. Vielleicht erkennen Sie ja auf dieser Reise, dass auch Sie selbst zu diesen besonderen Wesen gehören!

1. Ein neuer Morgen

Das erste zaghafte Licht der Morgendämmerung am fast wolkenfreien Himmel verdrängte ganz allmählich die tiefe Schwärze der Nacht. Noch lag an diesem milden Dezembermorgen die Stille über der Insel. Kein Mensch, kein Vogel und keine Maschine war zu hören, nur das stetige Schlagen der Wellen gegen die Überreste aus Beton einer versunkenen Epoche. Paulina blinzelte erst mit dem einen, dann mit dem anderen Auge. Wie immer war sie die erste ihrer Möwenkolonie auf Helgoland, die schon lange vor dem Sonnenaufgang erwachte. Nachdem sie beide Augen geöffnet hatte, hob sie ihren Kopf und schaute sich vorsichtig um. Alle schliefen noch. Langsam hob die kleine Möwe ihren rechten Flügel, streckte und schüttelte ihn, dann den linken, und schließlich bewegte sie beide mit gleichmäßigen Schlägen. Es war Zeit aufzubrechen. Mit leisen, schnellen Schritten entfernte sie sich von ihren Artgenossen. Als sie weit genug weg war, breitete sie ihre Flügel aus und schwang sich in die Höhe. Erst flog sie sehr niedrig, dann immer höher und höher.

Aus der Luft sah sie, wie sich der Himmel am Horizont schon rötlich färbte. Viel Zeit blieb ihr nicht, aber es war ja auch nicht weit. Irgendwo auf dem Weg vom Oberland, dem hohen, flachen Teil der Insel, zur Langen Anna war das Tor, das nur wenige kannten. Die Lange Anna ist ein hoher schmaler Felsen, das Wahrzeichen der Insel, der sich an der Nord-West-Spitze erhebt und für Menschen unzugänglich ist. Wegen herunterstürzender Felsbrocken ist es gefährlich und daher verboten, dorthin zu gehen, aber das interessiert ja nun keine Möwe.

Paulina umkreiste den Felsen, flog zum Oberland und stellte sich kurz vor der Klippe so in den Wind, dass sie fast in der Luft stehen blieb, wie ein Kinderdrachen an einer Schnur. Einige Sekunden balancierte sie sich so aus, schwankte leicht nach rechts, dann wieder nach links, bis sie die Flügel anlegte und schräg nach unten in die Tiefe schoss. Paulina steuerte einen Punkt auf dem flachen Inselteil zwischen Oberland und Langer Anna an. Fast sah es so aus, als würde sie in ihrem hohen Tempo auf dem Boden zerschellen, doch plötzlich war sie verschwunden! Weit und breit war keine Möwe mehr zu sehen. Nur wenige Sekunden später, als der orangerote Rand der Sonne über den Horizont trat, schoss Paulina plötzlich wie aus dem Nichts fast senkrecht in die Höhe, kreiste noch einmal über der Stelle und flog zu ihrer Kolonie zurück. In einiger Entfernung landete sie und tapste leise zu ihrem Schlafplatz. Niemand hatte etwas von ihrem Ausflug mitbekommen – und so sollte es erst einmal bleiben. Ihre Artgenossen würden sie sowieso nicht verstehen. Wie denn auch? Den Ort, an dem sie gerade gewesen war, konnte ja niemand sehen!

2. Nachts im Wald

Helga Waldkauz verfütterte das letzte Stückchen Maus an ihr Junges. Wo blieb nur ihr Mann? Er wollte etwas weiter entfernt noch ein paar kleinere Tiere jagen, doch er hätte längst zurück sein sollen. Nach der kleinen Mahlzeit schmiegte sich der junge Kauz Hubsi dichter an seine Mutter, um vor dem kalten Regen Schutz zu finden. Eigentlich hatte er schon wieder Hunger, aber Papa war noch immer nicht zurück. Nach einer Weile hielt er es nicht mehr aus: »Mama, ich habe Hunger!«

»Ich weiß. Ich will gleich losfliegen und nachsehen, wo Papa bleibt. Duck dich und verhalte dich ganz still, damit dich niemand sieht!« Daraufhin strich Helga mit ihrem Flügel über Hubsis Köpfchen und schwang sich lautlos in die Nacht. Hubsi schaute ihr einen Moment nach, dann machte er sich noch kleiner und wartete, bis er schließlich einschlief und von Essen träumte.

In diese Richtung war er doch geflogen, dachte Helga Waldkauz, als sie kurz auf einem Ast ausruhte. Sie drehte ihren Kopf und spähte in alle Richtungen durch die Nacht. Das wenige Licht der Sterne, das durch das Blätterdach drang, reichte ihr normalerweise aus, um Beute und Gefahren gleichermaßen gut zu erkennen, doch heute war von den Sternen wegen der Wolken nichts zu sehen. Wo war nur ihr Mann abgeblieben? Wieder stieß sie sich vom Ast ab und segelte im Tiefflug zwischen den Bäumen weiter. Plötzlich tauchte ein Licht auf. Es kam so schnell näher, dass Helga gar nicht mehr reagieren konnte. Schmerzhaft spürte sie noch, wie das Dach des Autos sie streifte, dann wurde es für sie dunkel.

Als Hubsi wieder erwachte, schmatzte er noch vergnügt seinen Träumen hinterher. »Mama, ich habe von ganz viel Essen geträumt! Mama?« Erschrocken bemerkte er, dass seine Mutter noch gar nicht zurück war. Die Angst überrollte ihn wie eine Lawine und vertrieb jegliche Freude, die sich bei der Erwartung eines tollen Essens eingestellt hatte. Ganz vorsichtig hob er sein Köpfchen und spähte über den Nestrand hinaus. Wo war sie denn nur? Hubsis Hunger wurde immer größer. Er wartete und wartete, eine Minute, eine viertel Stunde, eine Stunde, bis er es schließlich nicht mehr aushielt. Er richtete sich auf, blickte nach allen Seiten und stieg auf den Rand des Nestes. Fliegen? Oje! Hubsi war noch nie geflogen! Wenn er aber hier noch länger wartete, würde er vielleicht verhungern. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen, schlug hastig mit den kleinen Flügeln und machte einen Schritt ins Nichts. Als der Sturz in die Tiefe begann, flatterte er erst hektisch, dann bekam er Angst und hielt sich mit den Flügeln die Augen zu. Platsch! Aua! Etwas unsanft war der kleine Waldkauz auf dem zum Glück sehr weichen Waldboden aufgekommen. Langsam nahm er die Flügelspitzen wieder von den Augen, richtete sich auf und prüfte seinen schmerzenden Körper. Erst die Flügel, dann die Beine, dann der Rest des Körpers. Es tat zwar alles ein bisschen weh, schien aber ansonsten in Ordnung zu sein. Er schüttelte sich kräftig, um Blätter, kleine Ästchen und Erdreich loszuwerden.

Und wo ging es jetzt zu seinen Eltern? Hier vom Boden aus wirkte der Wald ganz schön unheimlich. Kein Schutz durch Baumkronen und Nest und dann noch Gefahren wie größere Tiere, Einsamkeit und Hunger. Hubsi bekam es mit der Angst, vielleicht hätte er doch im Nest warten sollen. Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Jetzt musste er weitergehen, wenn er nicht verhungern oder zur Beute von anderen Tieren werden wollte.

3. Das Tor schließt sich!

Ein neuer Morgen war angebrochen. Wie eine über die Steppe galoppierende Herde abstrakter Wildpferde jagten die Wolken über den Nordseehimmel und ließen nur hin und wieder eine Lücke für das spärliche Licht der Morgendämmerung. Paulina schlich sich wie so oft in letzter Zeit lautlos davon, schwang sich in die Lüfte und steuerte die Nordküste an. Es war für sie die schönste Zeit des Tages, wenn sie sich über den Klippenrand kurz vor der Langen Anna in die Tiefe stürzte und plötzlich in einer scheinbar anderen Welt wieder auftauchte – in ihrem geheimen Zaubergarten! Er war fast wie ein Paradies. Hier gab es keinen langweiligen Überlebenskampf um Futter. Sie hatte das unsichtbare Tor nur durch Zufall gefunden. Unzählige Male war sie schon über diese Gegend geflogen, ohne dass sich irgendetwas Ungewöhnliches ereignet hatte, doch es kam die Zeit, in der sie immer unzufriedener wurde. Das Leben einer Möwe schien für sie von Tag zu Tag sinnloser. Es musste doch noch mehr geben. Hatte das Leben denn gar keine Geheimnisse mehr? Sie hatte sich an eine Legende von einer anderen Möwe erinnert, die ebenfalls mehr vom Leben erwartet hatte, als nur Futter zu suchen und Nachkommen zu zeugen. Doch leider war sie von ihrem Schwarm ausgestoßen worden. Mehr wusste Paulina von diesen geheimen Erzählungen nicht. Und da sie nicht wollte, dass es ihr genauso erging, verriet sie nichts von ihren Sehnsüchten. Als sie eines Tages mit dem festen Entschluss, neue Geheimnisse des Lebens zu entdecken, wieder zwischen Klippenrand und der Langen Anna herumflog, war sie unwissentlich durch das unsichtbare Tor in eine geheimnisvolle Welt geflogen.

Paulina ließ sich jetzt im Aufwind noch etwas hin und her treiben und genoss das Spiel mit der kräftigen Brise. Dann legte sie die Flügel an und schoss nach unten. Erst kurz vor dem Boden merkte sie, dass sie das Tor verfehlt hatte! Sie war noch immer über Helgoland, jetzt aber nur noch wenige Meter über der schnell näherkommenden Erde. Im letzten Moment breitete sie die Flügel etwas weiter auseinander und zog kurz vor den Felsen wieder nach oben. Mann, war das knapp!

Paulina drehte langsam eine Runde über dem Gebiet, um sich wieder zu beruhigen. Mit ihren Augen versuchte sie im Dämmerlicht zu erspähen, ob sich irgendetwas verändert hatte, aber alles schien so wie immer zu sein. Als sie wieder eine passende Abflugstelle gefunden hatte, stürzte sie sich erneut nach unten, diesmal aber wesentlich vorsichtiger. Und wieder musste sie sich kurz vor dem Boden nach oben schwingen. Wo war denn das Tor geblieben?

4. Neue Freunde

Hubsi lauschte. Da raschelte doch etwas! Ganz ruhig verharrte die kleine Eule auf dem nassen Waldboden und zitterte vor Kälte und Angst. Ob sie den gefürchteten Eulenschrei loslassen sollte? Es soll ja Menschen geben, die davor Angst haben. Aber Hubsi war noch zu klein. Als nur ein einem Fiepen ähnlicher Laut aus seinem Schnabel drang, war es plötzlich ganz still. Ob er die Gefahr vertrieben hatte? Aber dann raschelte es schon wieder. Waren da nicht auch noch Stimmen?

»Hast du das gehört? Das war doch bestimmt eine Eule!«

»Ach, was du wieder hast. Dieses Krächzen war bestimmt keine Eule!«

»Aber die Schritte!«

»Meinst du, Eulen gehen zu Fuß? Jetzt lass doch mal dieses Angstgerede sein und lass mich lieber noch mal die Karte studieren!«

Hubsi spitzte die Ohren. Da sprach jemand über Eulen! Es gab jemanden, der vor ihm Angst hatte? Vor so einer kleinen Eule? Ganz vorsichtig setzte Hubsi einen Fuß vor den anderen und näherte sich dem piepsigen Geschnatter. Hinter einem kleinen Busch sah er sie endlich: zwei kleine Mäuse mit einem Stück Papier! Während die eine Maus so tat, als würde sie wissend auf dem Papier etwas lesen können, sah sich die andere ständig ängstlich um.

»Also, hier steht …«, fing die mutige Maus wieder an. »Hier steht … na ja, also hier würde sicher irgendetwas von einem Schatz stehen, wenn es nur nicht so dunkel wäre!«

»Du weißt also überhaupt nicht, was auf dem Papier steht?«, fragte die ängstliche Maus verwundert.

»Doch, natürlich!«, antwortete die mutige gereizt. In der aufkommenden Verlegenheit fuhr sie hektisch fort: »Also, der Schatz, liegt unter einer großen Eiche vergraben und besteht aus einem endlosen Vorrat von Nüssen!«

Hubsi fragte sich, worüber die beiden eigentlich sprachen, und beobachtete sie weiter mit ihrem scharfen Nachtblick. Sicher sehen auch Mäuse im Dunklen gut, aber das Papier war selbst für Hubsi nur schwer erkennbar, dennoch konnte er es lesen. Plötzlich lachte er laut los!

Die Mäuse sahen erschrocken zu der zwar kleinen, aber doch für Mäuse recht großen Eule und erstarrten vor Schreck. Die schlauere von den beiden fasste sich zuerst wieder und schrie: »Eine Eule, nichts wie weg!«

»Aber Eulen lachen doch nicht!«, antwortete die ängstliche Maus und versuchte die Tatsache, dass vor ihnen ein Eulenbaby saß, zu ignorieren.

»Wollen wir jetzt diskutieren, ob Eulen lachen oder nicht, während diese wilde Bestie sich auf uns stürzt?«

»Wollen wir uns jetzt vor diesem lachenden Wollknäuel lächerlich machen, bevor wir wissen, was es eigentlich genau ist?« Wütend stellte sich die ängstliche Maus auf die Hinterbeine und stützte ihre Fäuste in die Hüften. Für einen Moment vergaß sie ihre Angst.

»Habt ihr meine Mama gesehen?«, fragte plötzlich Hubsi die beiden streitenden Mäuse, die augenblicklich innehielten und ihn anstarrten.

»Äh, nein, und wenn, dann wären wir jetzt schon Futter für dich!«, antwortete die schlauere. Hubsi legte etwas ungläubig den Kopf schief, richtete ihn wieder auf und ging vorsichtig ein paar weitere Schritte auf die beiden Mäuse zu. »Halt!«, rief die schlaue Maus. »Keinen Schritt weiter!«

Hubsi erstarrte. »Warum?«

Die schlaue Maus war verwirrt. »Na … äh … aber du bist doch eine Eule!«

»Ja schon, aber ich bin noch ganz klein. Was ist denn an Eulen so schlimm?«

»Na, Eulen fressen doch Mäuse!«, traute sich jetzt endlich auch die ängstliche Maus zu antworten.

»Ich fresse nur tote Tiere!«, sagte Hubsi und ging noch einen Schritt weiter.

Schon wollte die schlaue Maus wieder aufschreien, aber dann entschied sie sich doch, beherrscht auszusehen. »Na, was glaubst du denn, wer die Tiere für dich tötet?«

Hubsi blickte fragend von der einen Maus zur anderen und zuckte kaum sichtbar mit den Schultern. »Keine Ahnung! Meine Eltern bringen halt kleine tote Tiere mit. Die werden sicher irgendwo herumliegen.«

Die Mäuse sahen sich sprachlos an. War das ein Trick oder hatte dieses Eulenbaby wirklich keine Ahnung? »Deine Eltern töten Tiere wie uns, damit du genug zum Fressen hast!«

Die großen Augen der kleinen Eule wurden noch größer. »Nein!«

»Doch!«, sagte die schlaue Maus. »Sie können höchstens warten, bis eines dieser Menschenfahrzeuge ein Tier überfährt, aber das passiert viel zu selten. Eulen fressen nun mal Tiere.«

Der kleinen Eule rann eine Träne aus dem Auge. »Aber ich habe doch so großen Hunger!«

»Oje«, fing jetzt die ängstliche Maus an, »müssen wir jetzt wegrennen?«

Die schlaue Maus bekam Mitleid mit der Eule und fragte schließlich: »Wie heißt du denn?«

Hubsi wischte sich die Tränen mit dem Flügel weg. »Hubsi Waldkauz! Aber ich kann keine Tiere töten! Muss ich jetzt verhungern?«

»Also, ich bin Franz Waldmaus, und das ist mein Bruder Hans!«, sagte die schlaue Maus.

»Der schlaue Franz und der ängstliche Hans!«, lachte die kleine Eule wieder.

»Also … also, äh …«, begann Hans Waldmaus, »mein Bruder ist vielleicht schlau, aber ich bin nicht ängstlich!«

Hubsi hob sein kleinen Flügelchen und rief: »Huhu!«

Hans rannte zu seinem Bruder und klammerte sich an ihn. »Hilfe, er will uns fressen!«

Hubsi und Franz lachten los. »Und du hast also keine Angst!?«, sagte die kleine Eule. »Also, vor mir brauchst du bestimmt keine zu haben, ich habe doch schon gesagt, dass ich niemanden töten kann!« Hubsi watschelte zu den beiden Mäusen und reichte dem zitternden Hans seinen rechten Flügel zur Begrüßung. Ganz langsam traute sich Hans Waldmaus hinter seinem Bruder hervor, stupste erst vorsichtig an den Flügel und stellte sich dann auf die Hinterbeine. Mit seinen beiden winzigen Mäusevorderpfoten schüttelte er mit aller Kraft den kleinen Flügel, der sich aber kaum zu bewegen schien. Alle drei waren erleichtert, keine Angst mehr voreinander haben zu müssen.

»Wovon lebt ihr denn?«, fragte Hubsi und kam mit seinem knurrenden Magen gleich wieder auf das Essen zu sprechen.

»Also, wir essen fast alles«, sagte Hans, der jetzt bedeutend mutiger wirkte. »Nüsse, Eicheln, kleine Käfer und Würmer.«

»Aber dann müsst ihr ja auch Tiere töten!«, sagte Hubsi verwundert.

»Ja!«, antwortete Franz. »Das ist in uns eben so angelegt. Die größeren Tiere fressen die kleineren. Das ist normal und nicht schlimm. Hans bedankt sich sogar jedes Mal bei einem Insekt, bevor er es isst! Aber wir können dir ja nun schlecht helfen, Mäuse, wie wir es sind, zu töten!«

»Aber ich habe doch so großen Hunger!«, krächzte das Eulenbaby verzweifelt.

»Oje«, sagte Hans, »das klingt ja so traurig, dass ich mich schon fast selbst opfern würde!«

»Untersteh dich!«, fauchte ihn sein Bruder an und wandte sich wieder an Hubsi. »Wir werden dich kaum so schnell in einen Vegetarier verwandeln können, aber… «

»Was ist ein Vegetarier?«, unterbrach ihn Hubsi.

Franz rollte mit den Augen und tat sehr wissend. »Also, Vegetarier sind Lebewesen, die sich nur von Pflanzen ernähren.«

»Und von Käse!«, warf Hans eifrig dazwischen.

Franz sah ihn wegen der Unterbrechung verärgert an. »Ja, auch Käse! Also auch Essen, das von noch lebenden Tieren stammt. Aber was ich eigentlich sagen wollte: Wir könnten doch mal vorsichtig Richtung Straße gehen. Vielleicht finden wir ja ein frisch überfahrenes Tier. Damit könnten wir deinen Hunger erst einmal stillen. Was ist denn eigentlich mit deinen Eltern? Normalerweise sorgen Euleneltern für ihr Junges und nicht Mäuse!«

Hubsi erzählte, dass erst sein Vater und dann auch seine Mutter nicht mehr wiederkamen und er schließlich aus dem Nest gesprungen und nun hier bei ihnen angekommen war. »So, so«, meinte Franz nachdenklich, »dann ist ihnen scheinbar etwas zugestoßen. Und nun muss Eulenfutter ein Eulenbaby adoptieren!«

»Aber jetzt sei doch nicht so hart!«, meinte Hans. »Deine Idee mit der Straße klang doch ganz gut!«

»Klar, ist ja auch von mir! Also, Wollknäuel Hubsi, dann komm mal mit, damit etwas Vernünftiges in deinen Magen kommt!« Daraufhin faltete Franz sein geheimnisvolles Papier und schoss davon. Hubsi und Hans warfen sich einen kurzen Blick zu und folgten nebeneinander dem flinken Anführer. Da Hubsi zu Fuß sehr langsam war, nahm Hans sein Tempo zurück und passte sich an dessen Geschwindigkeit an. Plötzlich blieb Franz abrupt stehen, lauschte und schnüffelte. Als Hans und Hubsi bei ihm angekommen waren, verharrten auch sie regungslos und spitzten die Ohren. Da raschelte etwas. Es kam auf sie zu! Keiner der drei wagte es, sich von der Stelle zu rühren, bis die Mäuse, für Hubsi völlig unerwartet, sich rechts und links unter seinen Flügeln versteckten. ›Und jetzt muss ein Waldkauz seine Beute beschützen?‹, dachte Hubsi noch so, als plötzlich etwas Riesiges vor ihnen stand. Hubsi und die Mäuse zitterten, zum Fliehen war es zu spät. War das große unbekannte Wesen vor ihnen gefährlich?

5. Ein Auftrag für Paulina

Paulina zog noch eine Schleife zwischen den Felsen und betrachtete sich alles genau. Bald würde die Sonne aufgehen, bis dahin musste sie zurück sein. Ganz vorsichtig flog sie tiefer, dann im Zickzack durch das Gebiet, in dem einst das unsichtbare Tor zu ihrem Zaubergarten lag. Während sie noch im langsamen Gleitflug über das Verschwinden des Tores nachdachte, kribbelte es plötzlich an ihrem ganzen Körper. Vor ihr wurde es ganz hell, und dann war sie wieder in ihrem schönen Garten. Paulina war erleichtert, den Eingang wiedergefunden zu haben. Aber warum war es diesmal so schwierig gewesen?

In strahlendem Sonnenschein kreiste sie über das scheinbar endlose wunderschöne Gebiet unter sich. Diesmal wollte sie sich keine neue, unbekannte Stelle ansehen, sondern zum Mittelpunkt ihres Zaubergartens fliegen. Dort würde sie mehr erfahren. Kaum hatte Paulina darüber nachgedacht, tauchte das Zentrum auch schon unter ihr auf. Ein großer Stein, ein Findling, lag auf einer kleinen kreisrunden Wiese. Um die Wiese zog sich ein Weg als Ring herum, und von diesem führten weitere Wege zwischen herrlichen Blumen sternförmig in alle Richtungen des riesigen Gartens.

Paulina landete auf dem großen Stein. »Hallo weiser Stein!«

»Hallo Paulina, schön, dass du wieder einmal hergefunden hast!«, tönte es plötzlich unter ihr. Bei ihrem ersten Besuch war Paulina sehr erschrocken, aber jetzt hatte sie sich an den sprechenden Stein gewöhnt. Er hatte ihr viel über den Garten erzählt und so manches Ungewöhnliche erklärt.

»Es war diesmal aber ganz schön schwierig!«, begann Paulina. »Ich konnte den Eingang kaum wiederfinden!«

»Ja, kleine Möwe, er schließt sich allmählich, und zwar für immer!«

Paulina flatterte aufgeregt mit den Flügeln und sprang vom Stein. »Für immer? Aber … aber … dann komme ich ja gar nicht mehr hierher! Löst sich mein Zaubergarten auf?«

»Es ist richtig, dass du dann nicht mehr hierherkommst. Dann kommt niemand mehr hierher! Es gibt viele Eingänge, überall auf der Welt. Und sie alle schließen sich! Im Übrigen ist dies weder dein Zaubergarten noch irgendeines anderen Wesens Zaubergarten. Ich sage dir jedes Mal, dass dieser Garten kein Zaubergarten, sondern ein Lichtgarten ist, der Lichtgarten für alle Geschöpfe.«

Nervös hüpfte Paulina einmal um den Stein herum. Es war schon seltsam. Er hatte kein Gesicht, keinen Mund und keine Ohren, und doch hörte sie deutlich, dass er mit ihr sprach. »Ja, ja, Lichtgarten … Aber er ist halt wie ein Zaubergarten. Es ist alles so schön, wie man es sich nur vorstellen kann. Aber, löst er sich nun auf?«

»Nein«, brummte die Sonore Stimme des Steins, »es ist ja nicht Die unendliche Geschichte. Er besteht weiter bis in alle Ewigkeit, denn er steht außerhalb der Zeit. Hast du dich noch nie gewundert, dass, egal, wie lange du hier warst, auf Helgoland die Zeit scheinbar stehen geblieben war?«

»Doch, doch, doch!«, schnatterte Paulina aufgeregt und flog wieder auf den weisen Stein. »Aber wieso bleibt die Zeit in meiner Heimat stehen?«

»Die Zeit bleibt immer stehen, sie kann sich gar nicht bewegen! Ihr bewegt euch durch die Zeit, mal schneller, mal langsamer. Allerdings wird die Zeit, abhängig von der Geschwindigkeit des Beobachters und des beobachteten Gravitationsfeldes, relativ und unterschiedlich wahrgenommen. Dieser Garten liegt aber außerhalb der Zeit. In Wirklichkeit findet hier alles gleichzeitig statt. Da du das aber nicht begreifen könntest, sieht es so aus, wie du es gewohnt bist: Eins geschieht nach dem anderen.«

»Also, das ist jetzt ein bisschen schwierig für mich. Ich denke später darüber nach.« Gerade wollte Paulina weitersprechen, als sie im Augenwinkel etwas über sich bemerkte. Sie drehte ihren Kopf und blickte nach oben. Weit weg, im dunkelblauen Himmel, sah sie die hell leuchtenden Umrisse eines Vogels – einer Möwe. Ja, diese leuchtende Möwe, die so hoch oben fliegen konnte, hatte sie schon öfter gesehen. Immer wieder hatte sie sich gefragt, wie man so hoch fliegen oder gar so wunderschön leuchten konnte. Aber dann kamen andere Gedanken, und sie vergaß die Möwe. So erging es ihr jedes Mal. Paulina blickte wieder nach unten. »Wieso verschwinden die Eingänge zum Zauber… äh … Lichtgarten?« Es kam keine Antwort. Die junge Möwe hüpfte ein paarmal auf dem Stein, aber der sagte nichts. »Hallo? Paulina an den Stein der Weisen!«

Endlich reagierte er wieder. »Ich sagte dir doch schon, ich bin nicht der Stein der Weisen, sondern der weise Stein!«

»Ja, ja«, sagte Paulina, »ich weiß doch! Nach dem Stein der Weisen hatte man im Mittelalter gesucht, weil er angeblich unedles Metall in Edles verwandeln konnte. Und warum heißt du dann weiser Stein? Kannst du auch Blei in Gold verwandeln?«

»Liebe Paulina! Weise heißt, dass man ein großes Wissen hat, das auf Erfahrung und Erkenntnis beruht. Es gibt in der Welt zwar viele intelligente, aber nur ganz wenige weise Lebewesen.«

»Ja, schon gut. Aber jetzt sag mir doch endlich, warum die Eingänge zum Lichtgarten verschwinden!«

Wieder vergingen einige Augenblicke, aber diesmal wartete Paulina geduldig, schließlich spielte die Zeit hier ja keine Rolle. »Obwohl hier keine Zeit vergeht, verändert sich der Lichtgarten ständig geringfügig. Hast du das bemerkt?«

Paulina sah sich um. »Doch, schon. Ich dachte, dass ich es mir nicht richtig gemerkt hätte. Und warum verändert sich der Garten?«

»Der Garten verändert sich in dem Maße, in dem die Lebewesen diese Welt mit ihren Gedanken, Worten und Werken verändern. Es ist wie in deiner dir bekannten Welt, nur geht es viel schneller.«

»Moment mal«, protestierte Pauline, »ich kann meine Welt nicht verändern! Das können vielleicht Menschen mit großen Maschinen, aber doch nicht so eine kleine Möwe wie ich!«

Der Felsen begann plötzlich zu lachen! Er brummte und wackelte so heftig, dass Paulina ins Wanken geriet und auf den Boden flatterte.

»Entschuldige, dass ich so heftig lachen musste, kleine Möwe, aber diesen Unsinn habe ich schon so oft gehört. Das Traurige daran ist, dass die meisten Lebewesen das auch glauben, weil sie es scheinbar so erleben. Hier im Garten verändert jeder Gedanke sofort das Erscheinungsbild. Aber wer hierherkommt, hat nur noch gute, positive Gedanken. Niemand in diesem Garten käme auf die Idee, irgendetwas zerstören zu wollen. Daher erscheint der Garten auch endlos. Er hat keine Grenze. Wenn man doch eine Grenze oder ein Ende des Gartens sieht, ist das die eigene innere Grenze. Meist äußert sich das bei den Lebewesen als Sätze wie: ›Das geht nicht‹, ›das kann ich nicht‹ oder ›das gibt es nicht‹. Wer innerlich frei und für alle Möglichkeiten offen ist, wird hier keine Grenze finden!«

Paulina schluckte. »Ich habe mir schon oft große Fische oder einen sonnigen Tag gewünscht, aber da hat sich nichts getan!«

»In deiner Welt geht das alles auch viel langsamer, sonst wäre das ganz schön gefährlich. Wünschen nutzt nichts, du musst es fühlen und davon überzeugt sein. Und wenn viele Lebewesen zusammenkommen und von demselben ganz fest überzeugt sind, wird es wahr, egal, ob ihr es als gut oder schlecht erlebt. Ihr habt alle die Fähigkeit zu erschaffen, doch nutzt ihr sie meist nur, um zu kämpfen und zu zerstören. Ein böses Wort, immer wieder wiederholt, hat die Tendenz, sich zu realisieren, genauso umgekehrt. Dazu brauchst du keine Maschinen und kein Geld. Was meinst du, warum glückliche Lebewesen seltener krank als griesgrämige sind?«

Paulina hüpfte noch eine Runde um den Stein. War das wirklich so? Sie kannte doch auch viele fröhliche Lebewesen, die schwer krank waren! Als ob der Stein ihre Gedanken gelesen hatte, antwortete er: »Es ist immer nur eine Tendenz! Krankheiten sind die Summe sehr vieler Faktoren, die ich dir heute aber noch nicht erläutern will. Gäbe es zwei vollkommen identische Wesen, könnte man es direkt erkennen, dass das traurige und ängstliche eher erkrankt, als das freudige und vertrauende. Die Menschen behelfen sich mit Statistiken, die ihnen zwar keine Beweise liefern, aber eine gewisse Wahrscheinlichkeit und Gesetzmäßigkeit erahnen lassen. Sehr bald, am Nachmittag des Heiligabends, wird dir und deinen Begleitern ein anderer Engel genauer erklären, warum Gedanken Materie beeinflussen. Dieser Engel wird euch aber in dieser Mission nicht begleiten, sondern erst in einigen Jahren mit euch reisen.«

Paulina hatte den Rest nicht wirklich verstanden. Irgendwie war ihr das noch ein bisschen zu kompliziert. Da oben kreiste schon wieder diese wunderschöne, strahlende Möwe. Wie machte sie das nur? Paulina sah zum Stein und wollte schon wieder fragen, als der Stein weitersprach: »Diesen Lichtgarten nennen die Menschen Paradies. Alle Lebewesen kommen hierher, wenn sie sterben.«

»Aber warum sehe ich dann so selten hier jemanden?«

»Zum einen ist der Garten endlos, zum anderen begegnen dir nur die Lebewesen, zu denen du gerade einen Bezug hast.«

Paulina sah nach oben. »Habe ich zu dieser leuchtenden Möwe einen Bezug?«

»Das wirst du bald erfahren! Aber kommen wir zu den verschwindenden Eingängen zurück. Ursprünglich konnten viel mehr Lebewesen diesen Lichtgarten betreten, ohne dass sie gestorben waren. Sterben heißt ja nur, dass sie die Erde verlassen und in diesen wunderschönen Garten kommen. Aber die Wesen, von denen ich spreche, können während ihres irdischen Lebens zwischen beiden Welten hin und her wechseln.«

»Sie können, ohne zu sterben, hierherkommen?«

»Du bist doch auch hier, oder?«, fragte der Stein.

»Äh, ja!«, antwortete Paulina. »Aber du hast doch von ganz besonderen Wesen gesprochen!«

»Ja, ich habe von besonderen Wesen gesprochen! Aber zum einen haben sehr viele Wesen vergessen, dass sie zu diesen besonderen Wesen gehören, und zum anderen glauben immer weniger Menschen und Tiere an diese Wesen und den Garten. Dieser schöne Garten wurde zu einer Legende, zu einem Märchen, an das niemand mehr glaubte. Manche Religionen erinnern sich an den Garten und benutzen ihn als Druckmittel, um die Menschen zu erziehen. Nur wenn man sich auf eine bestimmte Weise verhalte, könne man in den schönen Garten gelangen! So kann man leicht Macht über andere ausüben. In diesen Garten kommt jeder, der eure Welt verlässt! Die Tore aber verschwinden, weil diese besonderen Wesen ihre Bestimmung vergessen haben und weil nur noch sehr wenige an diese Wesen glauben. Erst wenn genügend Wesen sich erinnern und hierherkommen, werden sich die Tore wieder öffnen. Und wenn sie dann die große Wahrheit erfassen, wirst du verstehen, warum dieser Garten Lichtgarten heißt!«

Paulinas Augen wurden groß. Unruhig hüpfte sie von einem Bein auf das andere. Eigentlich wagte sie gar nicht mehr weiterzufragen. Jede Information schien trauriger als die andere zu sein. Aber dann traute sie sich doch: »Kann ich etwas dagegen tun? Ich meine, damit sich die Tore nicht endgültig schließen?«

»Ja!«

Paulina zuckte zusammen. Sie konnte etwas tun, damit ihr Zaubergarten auch zu Lebzeiten erreichbar blieb?

6. Endlich Futter!

Das riesige Tier vor Hubsi war mehr als doppelt so groß, vielleicht sogar dreimal so groß wie er selbst. Plötzlich senkte das dunkle Wesen seinen Kopf und berührte Hubsi fast mit seiner Schnauze.

»Bitte tu mir nichts!«, flehte die kleine Eule.

Die feuchte Schnauze berührte ganz vorsichtig Hubsis Schnabel. »Wer bist du denn?«, fragte plötzlich eine sehr junge, sanfte Stimme, die Hubsi noch nie gehört hatte.

Er zitterte und schluckte, dann antwortete er: »Ich bin Hubsi, Hubsi Waldkauz. Und … und wer bist du?«

Der Kopf der Gestalt kam noch tiefer, sodass Hubsi in die großen, dunklen Augen blicken konnte. Rechts und links unter seinen Flügeln zitterten die beiden Mäuse. »Ich heiße Braunfell und bin ein Kitz, ein junger Rehbock.«

Blitzschnell sprang Franz, die schlaue Maus, unter Hubsis Flügel hervor. »Aber das habe ich doch gleich gesehen!« Seine Angst, die er bis eben noch gehabt hatte, war ihm doch etwas peinlich. Mit großen Gesten überspielte er seine Verlegenheit, das hieß, er gestikulierte wild und glaubte, die anderen damit beeindrucken zu können. »Also, natürlich bist du ein kleiner Rehbock. Das sieht man doch sofort an … äh … an … «

»An den kleinen Hörnern!«, kam Hans dazwischen.