Der Lügenbaum - Frances Hardinge - E-Book

Der Lügenbaum E-Book

Frances Hardinge

5,0

Beschreibung

Ihr Vater, der Reverend Sunderly soll ein Betrüger und Schwindler sein? Das kann Faith nicht glauben, die ihn verehrt und die gleiche naturwissenschaftliche Neugier hat wie er. Doch seitdem die Familie fluchtartig Kent verlassen hat und auf diese Insel gekommen ist, wo ihr Vater an einer Grabung teilnehmen will, ereignet sich ein dubioser Unfall nach dem anderen bis – ihr Vater tot aufgefunden wird. Mord! Faith wird es beweisen und gräbt sich in die Unterlagen ihres Vaters, um eine unheimliche Entdeckung zu machen … Es geht um Fossilien und Fälschung, Glauben und Wissenschaft und – Mord. Mittendrin steht die 14-jährige Faith, die das Unheimliche auf klären und als Mädchen forschen will.

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FRANCES HARDINGE

DER LÜGENBAUM

Aus dem Englischen von Alexandra Ernst

VERLAG FREIES GEISTESLEBEN

EXIL

VANE ISLAND

BULL COVE

DIE UNERFORSCHTE HÖHLE

TOTENSCHÄDEL UND REIFRÖCKE

GELBE AUGEN

EINE SCHLEICHENDE KÄLTE

EIN BEFLECKTER RUF

BEICHTE

DIE MEERESHÖHLE

DAS HUFEISEN

DIE ZEIT STEHT STILL

EIN GEFÄLSCHTES BILD

DIE BEERDIGUNG

LÜGEN UND DER BAUM

EIN ZORNIGER GEIST

DIE GEISTERWAFFE

STREIT UNTER GESCHWISTERN

HERRENBESUCH

EIN GRINSEN IM WALD

SELBSTENTZÜNDUNG

DER MEIßEL IM SPALT

UNTERWANDERUNG

BEBEN

TANZ AUF DEM VULKAN

ZÄHNE

SCHNEIDENDE STILLE

WEIßE AUGEN UND GÄNSEHAUT

MYRTLE

EIN KLEINER TOD

WINTERBOURNE

EIN EXORZISMUS

DAS PULVER UND DER FUNKE

DIE WITWE

DER STÄRKSTE UND DAS ÜBERLEBEN

EVOLUTION

DANKSAGUNG

IMPRESSUM

Für meinen Vater, der mich

mit seiner ruhigen Klugheit und seinem Anstand

immer als ebenbürtig respektiert hat,

lange bevor ich erwachsen war.

KAPITEL 1

EXIL

DAS BOOT BEWEGTE sich in einem unbarmherzigen Rhythmus, bei dem einem die Galle in die Kehle stieg, so als würde man auf einem kranken Zahn herumkauen. Die Inseln, die aus dem Nebel hervortraten, sahen auch wie Zähne aus, fand Faith. Aber es waren keine sauberen weißen Dover-Zähne, sondern gesplitterte, faulige Stümpfe, die schief und krumm aus der schäumenden grauen See aufragten. Das Postschiff tuckerte unbeirrt durch die Wellen und beschmutzte den Himmel mit Rauch.

«Ein Fischadler», sagte Faith zähneklappernd und deutete nach oben.

Ihr sechsjähriger Bruder Howard drehte sich um, aber der große Vogel mit dem hellen Leib und den dunkel geränderten Flügeln war schon wieder im Nebel verschwunden. Faith verzog das Gesicht, als Howard sein Gewicht auf ihrem Schoß verlagerte. Wenigstens verlangte er nicht mehr weinend nach seinem Kindermädchen.

«Fahren wir da hin?» Mit zusammengekniffenen Augen blickte Howard zu den geisterhaften Inseln.

«Ja, Howie.» Der Regen prasselte auf das dünne Holzdach über ihnen. Ein kalter Wind fegte über das Deck und stach wie mit Nadeln in Faiths Gesicht.

Trotz des Lärms ringsum glaubte Faith, aus der Truhe, auf der sie saß, leise Geräusche zu hören. Rascheln, hauchzartes Schaben von Schuppen an Schuppen. Voller Mitleid dachte Faith an die kleine chinesische Schlange ihres Vaters, die vor Kälte schon ganz schwach war und sich bei jeder Neigung des Decks in ihrer Transportkiste panisch zusammen- und wieder auseinanderrollte.

Laute Stimmen wetteiferten mit dem Kreischen der Möwen und dem Wump-wump-wump der mächtigen Schaufelräder. Der Regen wurde stärker, und alle Passagiere eilten zu dem kleinen überdachten Bereich im Heck des Dampfers. Es gab Platz genug für alle, aber nicht für sämtliche Gepäckstücke. Myrtle, Faiths Mutter, kämpfte verbissen um genügend Raum. Mit Erfolg.

Mit einem kurzen Blick über die Schulter sah Faith, dass Myrtle wie ein Dirigent mit den Armen wedelte und zwei Matrosen Anweisungen gab, wo die Truhen und Kisten der Sunderlys aufgestapelt werden sollten. Myrtle war käsebleich vor Müdigkeit und bis zur Nasenspitze in dicke Schals eingewickelt, aber dennoch verließ sie sich auf die Nachsicht und Ritterlichkeit ihrer Mitmenschen einer schönen Frau gegenüber und plapperte wie üblich unbekümmert und ungeniert auf jeden ein.

«Vielen Dank, dorthin, genau dort – nun, es tut mir wirklich leid, aber anders geht es nicht – hier auf diese Seite, bitte – also, wenn Sie mich fragen, sieht Ihr Koffer doch sehr robust aus, und ich fürchte, die Papiere und Forschungsunterlagen meines Mannes könnten in diesem Wetter ruiniert werden – Reverend Erasmus Sunderly, der bekannte Naturforscher – wie reizend von Ihnen! Ich bin ja so froh, dass Sie so verständnisvoll sind …»

Hinter ihr saß Onkel Miles auf seinem Stuhl und döste, das runde Gesicht so gelassen und zufrieden wie ein Welpe. Faiths Blick glitt an ihm vorbei zu der hoch gewachsenen, reglosen Gestalt ihres Vaters in seinem priesterlich schwarzen Mantel und dem breitkrempigen Hut, der die hohe Stirn und die Hakennase beschattete.

Faith empfand Ehrfurcht vor ihrem Vater, und nicht nur jetzt. Mit dem unnachgiebigen Blick eines Basilisken starrte er zu dem grauen Horizont hin und achtete weder auf den eiskalten Regen noch auf den Gestank des Bilgewassers und des schmierigen Rauchs oder das zänkische Rangeln um den besten Platz im Trockenen. Faith sah ihn gewöhnlich öfter auf der Kanzel als zu Hause, und es kam ihr merkwürdig vor, nur den Kopf drehen zu müssen, um ihn dort sitzen zu sehen. In ihre Ehrfurcht mischte sich Mitgefühl. Ihr Vater hatte seinen angestammten Platz verlassen müssen; er war ein Löwe in einem Käfig, der abseits stand und von niemandem beachtet wurde.

Myrtle wies Faith an, sich auf die größte Kiste zu setzen, damit niemand auf die Idee kam, sie wieder hinaus in den Regen zu schieben. Normalerweise hielt Faith sich im Hintergrund, denn wer interessierte sich schon für eine Vierzehnjährige mit hölzernen Gesichtszügen und einem schlammbraunen Zopf? Sie duckte sich unter den bösen Blicken, wurde von der Verlegenheit und der Scham, die ihrer Mutter völlig fremd waren, förmlich versengt.

Myrtles zarte Gestalt war wie eine Barriere, die verhinderte, dass noch jemand sein Gepäck unterstellte. Ein großer, breitschultriger Mann mit einer knorrigen Nase wollte sich mit seinem Koffer an ihr vorbeischieben, aber sie nahm ihm den Wind aus den Segeln, indem sie sich ihm zuwandte und ihn anlächelte.

Myrtle blinzelte zweimal, und ihre großen blauen Augen weiteten sich und wurden ernst, als ob sie die Person, die ihr gegenüberstand, erst jetzt richtig wahrnehmen würde. Trotz ihrer roten Nasenspitze und den blassen Wangen war ihr Lächeln immer noch liebreizend und vertraulich.

«Vielen Dank für Ihre Rücksichtnahme», sagte sie, und in ihrer Stimme schwang ein kleiner Hauch von Erschöpfung mit.

Das war einer von Myrtles Tricks, mit denen sie Männer um den kleinen Finger wickelte, nur ein einziger aus ihrem umfangreichen Arsenal an Wimpernaufschlägen und koketten Gesten, die ihr so leicht von der Hand gingen wie das Aufklappen ihres Fächers. Jedes Mal, wenn sie damit Erfolg hatte, drehte sich Faith der Magen um. Auch jetzt hatte sie Erfolg. Der Mann errötete, verneigte sich knapp und machte auf dem Absatz kehrt. Aber Faith spürte seinen Widerwillen; sie hatte den Verdacht, dass ihre Familie sich mittlerweile bei allen Passagieren unbeliebt gemacht hatte.

Howard betete seine Mutter an. Als sie noch kleiner gewesen war, hatte auch Faith sie in goldenem Licht gesehen. Myrtles seltene Besuche im Kinderzimmer waren immer von einer schier unerträglichen Vorfreude begleitet gewesen, und Faith hatte es genossen, für jede Begegnung mit ihrer Mutter in schöne Kleider gesteckt und hübsch frisiert zu werden. Myrtle war ihr immer wie ein Wesen aus einer anderen Welt vorgekommen, warm, fröhlich, wunderschön und unberührbar, wie eine Sonnen-Nymphe mit einem untrüglichen Auge für Mode.

Im letzten Jahr allerdings war Myrtle auf die Idee gekommen, Faith «unter ihre Fittiche» zu nehmen, was sich darin äußerte, dass sie ohne Ankündigung Faiths Unterricht unterbrach und ihre Tochter zu irgendwelchen Besuchen oder Ausflügen in die Stadt mitnahm, nur um sie später wieder im Kinderzimmer abzuladen. Im Verlauf dieses Jahres war die goldene Farbe allmählich abgeblättert; Faith fühlte sich wie eine Lumpenpuppe, die ein ungeduldiges Kind mit einem unberechenbaren Temperament gelegentlich aufhob und nach Belieben wieder wegwarf.

Myrtles Strategie ging auf: Die Leute zogen sich zurück. Mit einer nicht zu übersehenden Selbstzufriedenheit ließ sie sich auf einem Stapel aus drei Truhen neben Faiths Kiste nieder.

«Ich hoffe doch sehr, dass es in dem Haus, das Mr. Lambert für uns besorgt hat, ein anständiges Wohnzimmer gibt», sagte sie, «und dass die Dienstboten etwas taugen. Eine französische Köchin werde ich auf keinen Fall akzeptieren! Wie soll ich denn einen Haushalt führen, wenn meine Köchin immer dann, wenn es ihr gerade passt, kein Englisch versteht?»

Myrtle hatte eine recht angenehme Stimme, aber sie plätscherte und plätscherte und plätscherte. In den letzten Tagen hatte diese Stimme die Familie auf Schritt und Tritt begleitet: während sie mit dem Droschkenkutscher verhandelte, der sie alle zum Bahnhof gebracht hatte, mit den Gepäckträgern auf dem Gleis, wo der Zug nach London abgefahren war, dann mit Mr. Poole, dem missmutigen Wirt des zugigen Gasthofs, in dem sie die Nacht verbracht hatten, und mit dem Kapitän dieses schmierigen und stinkenden Postschiffs.

«Warum fahren wir dahin?», wollte Howard mit einem Mal wissen. Seine Augen waren glasig vor Müdigkeit. Die nächsten Minuten würden darüber entscheiden, ob er tief und fest einschlief oder einen Weinkrampf bekam.

«Das weißt du doch, Liebling.» Myrtle beugte sich vor und strich Howard behutsam mit einem behandschuhten Finger das feuchte Haar aus den Augen. «Auf diesen Inseln gibt es einige sehr bedeutsame Höhlen, wo man viele Fossilien gefunden hat. Niemand weiß mehr über Fossilien als dein Vater, deshalb haben sie ihn gebeten, herzukommen und sie sich anzusehen.»

«Aber warum müssen wir mit?», fragte Howard. «Er ist doch auch ohne uns nach China gefahren. Oder nach Indien. Nach Afrika. Nach Mongola.» Die Sache mit «Mongolei» hatte er noch nicht verinnerlicht.

Das war eine gute Frage, noch dazu eine, die sich vermutlich nicht wenige Leute stellten. Gestern waren bei etlichen Mitgliedern der Gemeinde des Reverend Sunderly Karten mit Entschuldigungen und kurzfristigen Absagen ins Haus geschneit, und mittlerweile hatte sich die Nachricht von der überstürzten Abreise der Familie gewiss wie ein Lauffeuer verbreitet.

Tatsache war, dass Faith selbst gerne die Antwort auf Howards Frage gewusst hätte.

«Oh, zu diesen Orten hätten wir doch nicht mitkommen können!», erklärte Myrtle unbestimmt. «Schlangen und Krankheiten und Leute, die Hunde essen. Diesmal ist es etwas anderes. Es ist wie Urlaub.»

«Mussten wir wegen dem Käfermann weg?», fragte Howard, das Gesicht vor Konzentration verkniffen.

Der Reverend, der mit keiner Miene zu erkennen gegeben hatte, dass er dem Gespräch gefolgt war, zog plötzlich scharf die Luft durch die Nase ein und zischte missbilligend. Dann stand er auf.

«Der Regen lässt nach, und dieser Unterstand ist überfüllt», verkündete er und trat hinaus aufs Deck.

Myrtle zuckte zusammen und schaute zu Onkel Miles hinüber, der sich den Schlaf aus den Augen rieb.

«Ich sollte wohl … ähm, ebenfalls einen kleinen Spaziergang machen.» Onkel Miles warf seiner Schwester einen Blick zu und zog kaum merklich die Augenbrauen hoch. Er strich sich die Schnurrbartenden an seinen lächelnden Mundwinkeln glatt und folgte seinem Schwager hinaus.

«Wohin geht Vater?», fragte Howard mit schriller werdender Stimme und verrenkte sich den Hals, um auf das Deck blicken zu können. «Darf ich auch raus? Kann ich mein Gewehr haben?»

Myrtle schloss kurz die Augen und bewegte die Lippen, als spräche sie ein Stoßgebet, mit dem sie um Geduld flehte. Sie schlug die Augen wieder auf und lächelte Faith an.

«Ach Faith, du bist wahrhaftig mein Fels in der Brandung.» Dieses Lächeln schien einzig für Faith reserviert zu sein: liebevoll, aber mit einem Hauch erschöpfter Resignation. «Du bist zwar nicht unbedingt eine muntere Gesellschafterin, aber … wenigstens stellst du nicht ständig irgendwelche Fragen.»

Faith rang sich ein verkrampftes, kühles Lächeln ab. Sie wusste genau, wen Howard mit dem «Käfermann» meinte, und sie hatte den Verdacht, dass er mit seiner Vermutung der Wahrheit gefährlich nahe gekommen war.

Einen Monat lang hatte die Familie in einer Art Starre gelebt, in einem Nebel unausgesprochener Worte. Blicke, Geflüster, kaum merkliche Veränderungen in der Art, wie man ihnen begegnete, Menschen, die sich von ihnen zurückzogen. Faith war das alles zwar nicht entgangen, aber sie hatte sich die Sache nicht erklären können.

Und dann, an einem Sonntag, auf dem Weg von der Kirche nach Hause, hatte sich ihnen ein Mann mit einem braunen Homburg auf dem Kopf in den Weg gestellt, hatte gekatzbuckelt und gelächelt, aber seinen Augen hatte jede Freundlichkeit gefehlt. Er habe einen Aufsatz über Käfer verfasst und ob der ehrenwerte Reverend Erasmus Sunderly wohl gütigst in Erwägung ziehen wolle, ein Vorwort zu schreiben? Der ehrenwerte Reverend zog es keine Sekunde in Erwägung, und je beharrlicher der Fremde sich zeigte, desto gereizter und unwirscher wurde er. Irgendwann verlor er die Geduld und sagte dem Fremden auf den Kopf zu, dieser berufe sich auf einen gemeinsamen Bekannten und vergesse dabei seine Manieren.

Das Lächeln des Käfernarren war nun gänzlich verschwunden und machte einem äußerst unangenehmen Gesichtsausdruck Platz. Faith erinnerte sich noch an die versteckte Gehässigkeit seiner Antwort.

«Vergeben Sie mir meinen Irrtum. Ich glaubte, Ihre Höflichkeit käme Ihrer Klugheit gleich. Allerdings, nach allem, was man so hört, Reverend, hätte ich gedacht, dass Sie froh wären, einem Mann der Wissenschaft zu begegnen, der noch bereit ist, Ihnen die Hand zu schütteln.»

Bei dem Gedanken an diese Worte gefror Faith auch jetzt noch das Blut in den Adern. Sie hätte sich nie träumen lassen, dass jemand es wagen würde, ihrem Vater eine solche Ungeheuerlichkeit ins Gesicht zu sagen. Und der Reverend hatte sich lediglich mit einem Ausdruck stummer Wut abgewandt, ohne von dem Fremden eine Erklärung für seine Behauptung zu verlangen! Wie ein frostiger Nebel begann der Verdacht in Faith sich zu kleinen Kristallen zu verhärten. Es gab Gerüchte auf dem Festland, und ihr Vater wusste davon. Sie selbst hatte keine Ahnung, worum es ging.

Myrtle irrte sich gewaltig. Faith war bis obenhin voll mit Fragen, die sich krümmten und wanden wie die kleine Schlange in der Kiste.

Ach, aber ich darf nicht. Ich darf dieser Sache nicht nachgeben.

Für Faith war es immer nur «diese Sache». Sie nannte es nie beim Namen, aus Angst, dass «diese Sache» dann noch mehr Macht über sie erlangen würde. «Diese Sache» war eine Sucht, so viel war ihr klar. Es war etwas, dem sie wieder und wieder abschwor – nur, dass sie es nie wirklich sein ließ. «Diese Sache» war das genaue Gegenteil der Faith, wie die Welt sie kannte: Faith, das brave Mädchen, der Fels in der Brandung. Die zuverlässige, beständige, langweilige Faith.

Es waren die unerwarteten Gelegenheiten, denen sie nur schwer widerstehen konnte: ein offener Umschlag, aus dem ein Brief herauslugte. Weiß. Verlockend. Eine unverschlossene Tür. Ein Gespräch, das unbemerkt belauscht werden konnte.

In ihr war ein Hunger, aber Mädchen durften nicht hungrig sein. Bei Tisch wurde von ihnen erwartet, dass sie speisten wie Vögelchen, und ihr Geist musste sich mit einer ähnlich spärlichen Diät zufriedengeben. Ein paar wenige Lektionen von einer trübsinnigen Gouvernante, ereignislose Spaziergänge, unausgefüllte Freizeit. Aber das reichte nicht, das reichte bei Weitem nicht aus. Das Wissen – Wissen jeglicher Art – rief Faith zu sich, und dieses Wissen unbemerkt an sich zu bringen war für sie ein köstliches Vergnügen, wie ein langsam schleichendes Gift.

Jetzt hatte ihre Neugier ein eindeutiges Ziel: Vielleicht unterhielten sich ihr Vater und Onkel Miles genau in diesem Augenblick über den Käfermann und die Gründe für den plötzlichen Exodus der Sunderlys.

«Mutter … darf ich ein bisschen an Deck spazieren gehen? Mein Bauch …» Faith glaubte beinahe selbst an ihre Ausrede; ihre Eingeweide verkrampften sich, allerdings vor Aufregung, nicht wegen der schaukelnden Bewegungen des Schiffs.

«Also schön. Aber du sprichst mit niemandem, hörst du? Nimm den Regenschirm mit. Bleib nicht zu lange, sonst holst du dir noch den Tod. Und fall nicht über Bord.»

Faith ging langsam an der Reling entlang. Der nachlassende Regen trommelte leise auf ihren Schirm, und sie musste sich eingestehen, dass sie wieder einmal der Versuchung erlegen war. «Diese Sache» pulsierte wie ein dunkler Wein durch ihre Adern und schärfte ihre Sinne bis zur Schmerzgrenze. Sie schlenderte weiter, bis Myrtle und Howard sie nicht mehr sehen konnten, und blieb dann stehen. Sie spürte die Blicke, die in ihre Richtung schwenkten und dann – einer nach dem anderen – von ihr abglitten.

Dann kam der Moment. Niemand achtete auf sie. Flink huschte sie über das Deck und verschwand zwischen den Kisten, die zusammengezurrt am Fuß des rhythmisch zitternden Schornsteins standen. Die Luft schmeckte nach Salz und Schuld, und sie fühlte sich von Kopf bis Fuß lebendig.

Sie schob sich von einem Versteck zum nächsten, immer an dem Schornstein entlang, der in einer undefinierbaren Farbe gestrichen war. Sorgfältig hielt sie die Röcke gerafft, damit kein flatternder Zipfel sie verraten konnte. Ihre breiten, kräftigen Füße, die so ungelenk wirkten, wenn sie versuchte, sie in modisches Schuhwerk zu zwängen, trugen sie mit einem Geschick, das von langer Erfahrung zeugte, still und leise über die Holzplanken.

Zwischen zwei Kisten fand sie eine Lücke, von der aus sie ihren Vater und ihren Onkel im Blick hatte, die keine drei Meter von ihr entfernt standen. Ihren Vater zu sehen, ohne dass er sie sah, erschien ihr das größte Sakrileg von allen.

«Aus meinem eigenen Haus zu fliehen!», ereiferte sich der Reverend. «Das schreit ja geradezu nach Feigheit, Miles. Ich hätte mich nie von dir dazu überreden lassen dürfen, Kent zu verlassen. Und was soll unsere Abreise schon bringen? Gerüchte sind wie Bluthunde. Läuft man vor ihnen davon, verfolgen sie einen nur noch hartnäckiger.»

«Gerüchte sind wie Hunde, da hast du recht, Erasmus.» Onkel Miles blinzelte durch seinen Kneifer. «Und sie jagen in der Meute, sobald sie das Opfer vor sich sehen. Deshalb musst du eine Weile von der Bildfläche verschwinden. Dann werden sie schnell eine neue Fährte aufnehmen.»

«Aber indem ich bei Nacht und Nebel verschwunden bin, habe ich ihnen doch erst Anlass gegeben, sich an meine Fersen zu heften, Miles. Meine Abreise wird gegen mich sprechen.»

«Das mag sein, Erasmus», sagte Onkel Miles mit ungewöhnlich ernstem Ton. «Aber was ist dir lieber: hier auf einem gottverlassenen Inselchen von ein paar Schafzüchtern abgeurteilt zu werden oder in England durch Personen von Stand und Ansehen? Die Vane Island-Expedition war die beste Ausrede, die ich für deine Abwesenheit finden konnte, und ich bin immer noch froh, dass du meinem Rat gefolgt bist.

Gestern Morgen wurde an den Frühstückstischen überall im Land dieser Artikel im Intelligencer gelesen. Wenn du geblieben wärst, hättest du all deine Bekannten gezwungen zu entscheiden, ob sie dich unterstützen oder dich schneiden, und so, wie die Gerüchteküche in den letzten Wochen gebrodelt hat, gehe ich davon aus, dass dir ihre Entscheidung nicht gefallen hätte.

Eine der am weitesten verbreiteten und respektabelsten Zeitungen des Landes hat dich als Betrüger und Schwindler an den Pranger gestellt. Wenn du Myrtle und die Kinder nicht dem Geschwätz der Leute und dem Skandal aussetzen willst, darfst du nicht nach Kent zurückkehren. Jedenfalls nicht, solange dein Name nicht reingewaschen ist.»

KAPITEL 2

VANE ISLAND

BETRÜGER UND SCHWINDLER.

Die Worte summten in Faiths Kopf herum, während sie ihren regenfeuchten Spaziergang fortsetzte und dabei gedankenverloren die vorbeiziehenden Inseln betrachtete. Wie konnte irgendjemand ihren Vater des Betrugs verdächtigen? Seine schonungslose und furchterregende Ehrlichkeit war für die Familie eine Lust und eine Last. Man wusste nie, wo man in seinem Ansehen stand, selbst wenn man sich mitten im Schneesturm seiner Missbilligung befand. Und was genau meinte Onkel Miles eigentlich mit «Betrüger»?

Als sie wieder zum Unterstand zurückkehrte, saßen Onkel Miles und ihr Vater schon wieder auf ihren Plätzen. Faith ließ sich wieder auf der Schlangenkiste nieder, unfähig, irgendjemandem in die Augen zu blicken.

Onkel Miles betrachtete einen stockfleckigen Almanach durch seinen Kneifer, als ob er mit seiner Familie tatsächlich auf Urlaub wäre, und blickte dann über das Meer.

«Da!», rief er und deutete voraus. «Das ist Vane.»

Die sich nähernde Insel kam ihnen zunächst nicht sonderlich groß vor, aber Faith wurde schnell klar, dass sie nur eine schmale Spitze von ihr zu Gesicht bekamen, als säßen sie in einem Beiboot, das hinter einem Schiff hergezogen wurde. Erst als das Postschiff den Kurs änderte und an der Insel entlangfuhr, erkannte Faith, dass dieses Eiland viel größer war als der Rest der Gruppe. Mächtige schwarze Wellen zerschlugen sich an den dunkelbraunen Klippen und schleuderten in hohen Bogen die Gischt in den Himmel.

Hier lebt doch niemand, war ihr erster Gedanke. Hier kann niemand leben, jedenfalls nicht freiwillig. Vielleicht Ausgestoßene. Kriminelle, wie die verurteilten Verbrecher, die man nach Australien schickt. Und Leute auf der Flucht, wie wir.

Wir gehen ins Exil. Vielleicht müssen wir für immer hier bleiben.

Sie kamen an vernarbten Landspitzen vorbei und tief eingeschnittenen Buchten, wo einzelne Gebäude standen. Dann wurde das Postschiff langsamer und drehte sich schwerfällig, begleitet von schäumendem Wasser, um in einen Hafen einzufahren, der von einer hohen Mauer eingefasst war. Dahinter stiegen etliche Reihen von Häusern mit dunklen Fensterhöhlen den Hang empor, deren Schieferdächer vor Nässe glänzten. Dutzende kleiner Fischkutter schaukelten und hüpften auf den Wellen, während das Fadenspiel ihres Tauwerks geisterhaft durch den Dunst schimmerte. Auf dem Postschiff setzte man sich in Bewegung; die Passagiere schienen erleichtert aufzuatmen und sammelten ihr Gepäck ein.

Gerade als das Schiff anlegte, wurde der Regen wieder stärker. Inmitten des Tumults aus sich zurufenden Seeleuten, klatschenden Tauenden und dem Klappern und Schaben der Landungsbrücke ließ Onkel Miles ein paar Münzen in erwartungsvolle Handflächen fallen, und das Gepäck der Sunderlys wurde an Land gebracht.

«Reverend Erasmus Sunderly und Familie?» Ein dünner Mann in einem schwarzen Mantel stand durchnässt am Kai. Wasser tropfte von seiner breiten Hutkrempe. Er war glatt rasiert, hatte ein angenehmes, leicht besorgtes Gesicht, das derzeit aufgrund der Kälte eine bläuliche Färbung angenommen hatte. «Mr. Anthony Lambent schickt seine Empfehlung.» Er verbeugte sich formell und überreichte dem Reverend einen feuchten Brief. Dabei bemerkte Faith den engen weißen Kragen des Mannes; er war Priester, genau wie ihr Vater.

Faiths Vater las den Brief, nickte knapp und streckte die Hand aus.

«Mr. … Tiberius Clay?»

«Der bin ich, Sir.» Clay schüttelte ihm respektvoll die Hand. «Ich bin der Kurat der Insel.» Faith wusste, dass ein Kurat eine Art Hilfsprediger war, der einem Pfarrer oder einem Vikar zur Hand ging, der zu viele Gemeinden oder zu viel Arbeit hatte. «Mr. Lambent bittet um Entschuldigung. Er hätte Sie gerne selbst empfangen, aber dieser plötzliche Regen …» Clay blickte in die Wolken und verzog das Gesicht. «Die neuen Löcher könnten überflutet werden, und er muss dafür sorgen, dass sie abgedeckt sind. Bitte, Sir, erlauben Sie mir, Ihnen mit dem Gepäck zu helfen. Mr. Lambent hat Ihnen seine Kutsche geschickt, die Sie und Ihre Familie und Ihr Hab und Gut nach Bull Cove bringen wird.»

Auf dem Gesicht des Reverends zeigte sich kein Lächeln, aber in seiner leise gemurmelten Zustimmung lag eine gewisse Wärme. Mit seiner höflichen Art hatte der Hilfsprediger ihn für sich eingenommen.

Sie erregten Aufmerksamkeit, da war sich Faith ganz sicher. Hatte der geheimnisvolle Skandal Vane bereits erreicht? Nein, es lag vermutlich nur daran, dass sie Fremde waren, die mit lächerlich großem Gepäck reisten. Sie vernahm hier und da Gemurmel, konnte aber nichts verstehen. Die Worte schienen nur eine Suppe aus Lauten zu sein, ohne jedwede Konsonanten.

Nur mit Mühe konnten die zahlreichen Koffer, Kisten und Truhen zu einem unschönen und beunruhigend hohen Turm auf dem Dach der großen, leicht verwitterten Kutsche verzurrt werden. Der Kurat quetschte sich neben die Sunderlys, woraufhin das Gefährt sich in Bewegung setzte. Es holperte und hopste über das Pflaster, sodass Faiths Zähne vibrierten.

«Sind Sie ein Naturforscher, Mr. Clay?», fragte Myrtle, die das Knarren und Ächzen der Räder geflissentlich ignorierte.

«In so ehrenwerter Gesellschaft kann ich mich lediglich als Dilettant bezeichnen», sagte Clay mit einer kleinen, feuchten Verbeugung in Richtung des Reverends. «Allerdings ist es den Professoren in Cambridge gelungen, mir doch ein wenig Geologie und Naturkunde in meinen dicken Schädel einzuhämmern.»

Das überraschte Faith nicht. Viele Freunde ihres Vaters waren auf ebendiese Weise zur Naturwissenschaft gekommen. War dem Sohn eines Gentleman eine kirchliche Laufbahn bestimmt, so schickte man ihn auf eine respektable Universität, wo er eine klassische Ausbildung erhielt – Griechisch, Latein und die Grundlagen der Naturwissenschaft. Nicht selten wurde daraus eine Leidenschaft fürs Leben.

«Meine Hauptaufgabe bei der Ausgrabung besteht darin, die Fundstücke zu fotografieren. Die Fotografie ist ein Steckenpferd von mir.» Die Stimme des Hilfspredigers wurde lebhaft. «Mr. Lambents Zeichner hat sich unglücklicherweise gleich am ersten Tag die Hand gebrochen, sodass nun mein Sohn und ich die Entdeckungen mit der Kamera festhalten.»

Die Kutsche fuhr aus der kleinen Stadt hinaus, die in Faiths Augen kaum mehr war als ein Dorf, und kletterte über eine holprige Serpentine den Berg hinauf. Jedes Mal, wenn sie durch ein Schlagloch fuhren, hielt sich Myrtle ängstlich am Fensterrahmen fest und machte alle anderen nervös.

«Das Gebäude dort auf der Landspitze ist der Telegrafenturm», erklärte Clay. Faith konnte einen breiten, schmutzig braunen Zylinder erkennen. Kurz darauf kamen sie an einer kleinen Kirche mit einem spitzen Turm vorbei. «Das Pfarrhaus ist gleich hinter der Kirche. Ich hoffe, Sie werden mir die Ehre erweisen, mich einmal zum Tee zu besuchen, während Sie auf Vane weilen.»

Die Kutsche kämpfte sich den Hügel hinauf. Dabei knackte und rappelte sie so laut, dass Faith Angst bekam, ein Rad würde abfallen. Endlich kam sie rumpelnd zum Stehen, und jemand klopfte zweimal kurz auf das Dach. «Bitte entschuldigen Sie mich.» Clay öffnete die Tür und stieg aus. Draußen entbrannte ein aufgeregter Wortwechsel in einem Mischmasch aus Englisch und Französisch, das Faiths Ohren nicht entwirren konnten.

Clays Gesicht, das in der Tür auftauchte, wirkte verzweifelt.

«Ich bitte vielmals um Verzeihung, aber es scheint ein ernstes Problem zu geben. Das Haus, das Sie angemietet haben, liegt in Bull Cove und ist nur über eine tief gelegene Straße erreichbar, die an der Küste entlang verläuft, oder über die Straße, die über den Pass führt und auf der anderen Seite wieder hinunter zum Meer. Ich habe gerade erfahren, dass die Küstenstraße überflutet ist. Es gibt zwar einen Damm, aber wenn die Flut steigt und die Brandung heftig ist, dann …» Er runzelte die Stirn und warf einen nervösen Blick zu den tief hängenden Wolken.

«Sie wollen vermutlich damit sagen, dass die Passstraße länger und anstrengender ist, nicht wahr?», sagte Myrtle brüsk mit einem kurzen Blick auf Howards mürrisches Gesicht.

Clay wand sich sichtlich. «Die Strecke ist … sehr steil. Es ist so …, nun ja, der Kutscher hat mich darüber in Kenntnis gesetzt, dass das Pferd die Steigung nicht schaffen wird, wenn die Kutsche in ihrem derzeitigen … Ladezustand verbleibt.»

«Erwarten Sie allen Ernstes von uns, dass wir aussteigen und laufen?» Myrtle versteifte sich und reckte ihr kleines, hübsches Kinn.

«Mutter», flüsterte Faith, in dem Versuch, die Situation zu retten, «ich habe einen Schirm, und es macht mir nichts aus, ein Stück zu Fuß zu gehen …»

«Nein!», fuhr Myrtle auf, sodass Faith rot wurde. «Als Herrin eines neuen Haushalts kann ich unmöglich wie eine ersoffene Ratte dort auftauchen. Und du ebenfalls nicht!»

Ärger stieg in Faith auf, und der Zorn verkrampfte ihr den Magen. Am liebsten hätte sie ihre Mutter angeschrien: Was spielt das für eine Rolle? Die Zeitungen zerreißen uns ohnehin in der Luft, glaubst du, da kümmert es die Leute noch, ob wir trocken sind oder nass?

Der Kurat rang die Hände. «Dann fürchte ich, dass die Kutsche zweimal fahren muss. In der Nähe ist eine alte Hütte, ein Ausguck für die Sardinenfischer. Vielleicht könnte man Ihr Gepäck dort unterstellen und es später mit der Kutsche holen lassen? Ich bin gerne bereit, hier zu bleiben und aufzupassen.»

Myrtles Gesicht leuchtete vor Dankbarkeit auf. Sie wollte schon antworten, aber ihr Mann kam ihr zuvor.

«Ausgeschlossen», sagte er. «Ich bitte um Verzeihung, aber in einigen dieser Kisten befinden sich unersetzliche Spezies aus Flora und Fauna, die ich höchstpersönlich in das Haus bringen muss, und zwar so schnell wie möglich. Ansonsten sind sie verloren.»

«Also, ich warte gerne in der Hütte; dann muss das Pferd zumindest mein Gewicht nicht schleppen», erklärte Onkel Miles.

Er und Clay stiegen aus, und das persönliche Gepäck der Familie wurde abgeladen, bis nur noch die Kisten und Behälter mit den Proben auf dem Dach der Kutsche verblieben. Trotzdem signalisierte der Kutscher mit versteinerter Miene, dass das Gefährt immer noch zu tief durchhing.

Faiths Vater machte keine Anstalten, die Kutsche zu verlassen.

«Erasmus …», setzte Onkel Miles an.

«Ich kann meine Proben nicht aus den Augen lassen», fiel ihm der Reverend scharf ins Wort.

«Ginge es wohl, dass wir eine der Kisten abladen?», fragte Clay. «Hier ist eine Truhe mit der Aufschrift ‹sonstiges Schnittgut›, die viel schwerer ist als der Rest …»

«Nein, Mr. Clay.» Die Antwort des Reverends war abrupt und kalt wie frisch gefallener Schnee. «Diese Kiste ist von ganz besonderer Bedeutung.»

Faiths Vater ließ den Blick über seine Familie gleiten. Seine Augen waren kühl und gleichgültig. Er schaute Myrtle und Howard an und schließlich Faith. Sie errötete. Ihr war bewusst, dass er sie bezüglich ihres Gewichts und ihrer Wichtigkeit abschätzte. Ihr Magen sackte ab, als ob sie auf eine riesige Waagschale gesetzt worden wäre.

Faith wurde übel. Sie wollte nicht auf die Demütigung warten, die ihr Vater ihr zu bescheren gedachte.

Ohne ihre Eltern anzuschauen, stand sie mit wackeligen Beinen auf. Diesmal machte Myrtle keine Anstalten, sie aufzuhalten. Genau wie Faith hatte auch sie die stumme Entscheidung des Reverends registriert und warf gehorsam das Handtuch in den Ring, den sie eben noch so großspurig betreten hatte.

«Miss Sunderly?», ließ sich Clay überrascht vernehmen, als Faith aus der Kutsche kletterte und mit ihren Stiefeln in eine Pfütze sprang.

«Ich habe einen Regenschirm», sagte sie rasch, «und ich bin froh, etwas frische Luft schnappen zu können.» Mit dieser Lüge bewahrte sie sich wenigstens einen Rest von Würde.

Der Kutscher begutachtete sein Gefährt, und diesmal nickte er. Als die Kutsche sich rumpelnd entfernte, mied Faith die Blicke ihrer Begleiter. Ihre Wangen waren heiß vor Scham, trotz des kühlen Windes. Sie hatte immer gewusst, dass sie weniger zählte als Howard, der kostbare Sohn. Jetzt war ihr klargemacht worden, dass sogar «sonstiges Schnittwerk» wichtiger war als sie.

Die Hütte stand an einem Hang mit Blick aufs Meer. Sie war aus dem dunklen, glänzenden Stein der Insel erbaut, hatte ein Dach aus Schiefer und kleine, leere Fensteröffnungen. Erdfarbene Pfützen bedeckten den Boden. Allmählich wurde das Prasseln des Regens schwächer.

Onkel Miles und Clay schleppten die Truhen und Kisten der Sunderlys herein, während Faith ihre tropfnasse Haube ausschüttelte. Ihr war kalt, und sie kam sich so nutzlos vor. Aber als die schwere Kassette ihres Vaters mit einem Rums vor ihren Füßen landete, machte ihr Herz einen Satz: Der Schlüssel steckte im Schloss.

In der Kassette bewahrte ihr Vater seine persönlichen Unterlagen auf, seine Tagebücher, seine Forschungsnotizen und seine Briefe. Vielleicht fand sich dort ein Hinweis auf den rätselhaften Skandal, der sie hierher verschlagen hatte.

Sie räusperte sich.

«Onkel … Mr. Clay … meine … meine Handschuhe und meine Kleidung sind völlig durchnässt. Könnte ich wohl eine kleine Weile für mich …» Sie verstummte und deutete auf ihren nassen Kragen.

«Ah … Aber natürlich!» Clay schaute sie alarmiert an, wie es Männer gelegentlich taten, wenn es um die Geheimnisse der weiblichen Kleidung ging.

«Es sieht so aus, als ob der Regen nachlässt», sagte Onkel Miles. «Mr. Clay, wie wäre es, wenn wir einen kleinen Spaziergang auf den Klippen unternähmen, dann können Sie mir mehr über die Ausgrabung erzählen.» Die beiden Männer verließen die Hütte, und ihre Stimmen entfernten sich.

Faith ging vor der Kassette in die Knie. Das Leder war glitschig unter ihren Fingern, und sie überlegte, ob sie ihre nassen, hautengen Handschuhe ausziehen sollte, aber das würde zu lange dauern. Die Schnallen waren steif und widerborstig, beugten sich aber ihrem hastigen Zerren. Der Schlüssel drehte sich. Der Deckel ging auf, und sie sah cremefarbenes Papier, beschrieben mit unterschiedlichen Handschriften. Faith war nicht mehr kalt; ihr Gesicht glühte und ihre Hände kribbelten.

Sie fing an, die Briefe zu öffnen, lockte die Seiten aus den Umschlägen und hielt sie vorsichtig an den Rändern, um sie nicht zu beschmutzen oder zu zerknittern. Mitteilungen von den Redaktionen wissenschaftlicher Zeitschriften. Briefe von den Herausgebern der Aufsätze ihres Vaters. Einladungen von Museen.

Es war eine mühselige Angelegenheit, und sie wusste nicht, wie lange sie schon so da kniete. Endlich fiel ihr Blick auf einen Brief, dessen Worte sie aufhorchen ließen.

«… was die Echtheit nicht nur eines Fundes, sondern aller Fossilien infrage stellt, die Sie der wissenschaftlichen Welt vorgelegt haben und auf die sich Ihre Reputation als Forscher gründet. Man behauptet, dass sie absichtlich verändert wurden, dass es nichts weiter als dreiste Fälschungen seien. Bei dem Fund von New Falton handele es sich in Wahrheit um zwei Fossilien, die kunstvoll miteinander verbunden wurden. Man habe sogar Spuren des Klebstoffs an den Flügelgelenken gefunden …»

Es klopfte, und Faith zuckte zusammen.

«Faith!», klang die Stimme ihres Onkels. «Die Kutsche ist zurück!»

«Einen Moment!», antwortete sie und faltete hastig den Brief zusammen.

Dabei sah sie auf ihrem nassen weißen Handschuh einen großen blauen Fleck. Entsetzt wurde ihr klar, dass sie einen daumenförmigen Abdruck auf dem Papier hinterlassen hatte.

KAPITEL 3

BULL COVE

WÄHREND DIE KUTSCHE über die Höhenstraße rumpelte, hielt Faith ihre Hände zu Fäusten geballt, um den Fleck auf ihrem Handschuh zu verbergen. Ihr war übel vor Selbsthass. Wenn ihr Vater seine Briefe durchsah, würde er den Beweis für ihr Vergehen sogleich entdecken. Wer sonst außer ihr war mit der Kassette allein gewesen? Der Verdacht würde sofort auf sie fallen.

Sie würde entlarvt werden. Sie verdiente es, entlarvt zu werden. Was stimmte bloß mit ihr nicht?

Und doch – während der ganzen Zeit knabberte ihr Geist zornig an den Worten des Briefs. Wie konnte irgendjemand behaupten, dass die Funde ihres Vaters gefälscht seien? Und noch dazu das berühmte Fossil von New Falton!

Jeder hatte bestätigt, dass es echt war. Jeder. Unzählige Experten hatten es untersucht, es unter die Lupe genommen, von allen Seiten betrachtet und Abhandlungen darüber geschrieben. Ein Aufsatz war mit der Überschrift «Die Nephilim von New Falton» betitelt gewesen – obwohl ihr Vater so nie davon gesprochen hatte – und hatte das Fossil als «Jahrhundertfund» bezeichnet. Es war unmöglich, dass sie alle sich geirrt hatten.

Er muss Feinde haben. Jemand versucht, ihn zu ruinieren.

Die Dämmerung senkte sich nieder, als sie den Hügelkamm erreichten und eine holprige Serpentinenstraße wieder nach unten fuhren. Schließlich wurde die Kutsche langsamer, und Faith erkannte den gelben Schein, der aus einer offenen Tür fiel.

Es war ein altes Bauernhaus mit Schieferdach, erbaut aus grob behauenen braunen Steinen, die wie Karamellbrocken aussahen. Auf der anderen Seite des gepflasterten Hofs standen ein Stall und eine Scheune. Dahinter erhob sich ein kuppelförmiges Gewächshaus, dessen Scheiben in dem Halbdunkel milchig schimmerten. Angrenzend erstreckte sich eine Rasenfläche bis zu einem dunklen Dickicht, hinter dem etwas aufragte, das aussah wie die Silhouette eines weiteren Gebäudes.

Die Kutsche platschte durch die Pfützen und hielt dann an. Clay sprang hinaus und reichte Faith die Hand, um ihr hinunterzuhelfen, während Onkel Miles den Kutscher bezahlte.

«Ich wünsche einen guten Abend!» Der Kurat verbeugte sich hastig vor Faith und Onkel Miles. «Wir sollten nicht hier im Regen verweilen!»

Ein Diener kam angerannt und lud das Gepäck ab. Im Schutz eines Regenschirms eilten Miles und Faith zu der offenen Tür, wo eine hagere Frau in mittleren Jahren beiseitetrat, um sie einzulassen.

«Mr. Miles Cattistock und Miss Sunderly? Ich bin Jane Vellet, die Haushälterin.» Sie hatte eine tiefe, männliche Stimme und schmale, gnadenlose Augen. Ihr Kleid war in dunklen Grüntönen gestreift und bis zum Kinn hochgeschlossen.

In der Diele war es dunkler als erwartet. Lediglich zwei Lampen auf dem Fenstersims spendeten Licht. An der Decke waren dunkle Holzbalken. Es roch nach Petroleum und einer ganzen Reihe anderer Dinge, die Faith verrieten, dass das Haus alt war, dass es eine eigene Persönlichkeit hatte. Und dass es nicht ihr Zuhause war.

Es dauerte nicht lange, da saß Faith vor einem prasselnden Kaminfeuer neben Onkel Miles und Myrtle, vor sich eine Schale mit heißer Suppe. Falls Myrtle ein schlechtes Gewissen hatte, dass sie ihre Tochter am Straßenrand stehen lassen hatte, so ließ sie sich nichts anmerken. Sie wirkte rosig und resolut. Die neue Bleibe der Familie hatte sie bereits begutachtet und für völlig unzulänglich befunden.

«Hier gibt es überhaupt kein Gas», erklärte sie Faith in einem theatralischen Flüstern. «In der Stadt bekommt man es angeblich, aber hier draußen müssen wir mit Petroleum und Kerzen auskommen. Wir haben auch keine Köchin, nur eine Haushälterin, eine Magd und einen Diener. Sie haben alle für die letzten Mieter gearbeitet, zwei alte Damen, und gehören sozusagen zum Haus. Augenscheinlich bewerkstelligen die Haushälterin und die Magd gemeinsam das Kochen. Wie immer das funktionieren soll. Wie soll ich nur unter diesen Voraussetzungen einen Haushalt für fünf Personen führen? Es gibt auch kein Kindermädchen für Howard. Du musst dich um ihn kümmern, Faith, bis wir jemanden gefunden haben.»

«Wo ist Vater?», fragte Faith, als ihre Mutter kurz innehielt, um Luft zu holen.

«Er ist gleich nach draußen gegangen, um einen Platz für seine Pflanzen zu finden», antwortete Myrtle müde. «Offensichtlich ist das Gewächshaus nicht geeignet. Er ist schon seit einer halben Ewigkeit im Turm und kümmert sich um seine botanischen Kostbarkeiten.»

«Im Turm?»

«Ein altes Bauwerk, wie es scheint.» Myrtle räusperte sich, als die Haushälterin eintrat. «Mrs. Vellet, was genau ist der Turm?»

«Es war einmal ein alter Wachturm, Madam», antwortete Mrs. Vellet, «von wo aus man nach Napoleons Flotte Ausschau gehalten hatte. Hier auf Vane hat man keine Festungen gebaut, wie etwa auf Alderney. Der Gentleman, dem das Haus damals gehörte, beschloss daher, selbst eine Verteidigungsanlage zu errichten, wie es sich für einen guten Engländer ziemt.»

«Hatte er Erfolg?», fragte Myrtle.

«Das Geld ging ihm aus, bevor der Turm fertiggestellt war, Madam, und dann war der Krieg zu Ende», antwortete Mrs. Vellet. «Eine Zeit lang diente der Turm als Lager für Äpfel, aber er ist undicht.»

«Ein merkwürdiger Ort für eine kostbare Pflanze», sagte Myrtle nachdenklich. Sie seufzte. «Wie dem auch sei, niemand darf ihn dort stören oder sich auch nur in die Nähe des Turms begeben. Die Pflanze ist exotisch und sehr empfindlich, und vermutlich steht zu befürchten, dass schon ein unbedachter Blick dazu führt, dass alle Blätter abfallen. Oder so etwas in der Art.»

Faith fragte sich, ob sich ihr Vater nur deshalb in den einsamen Turm zurückgezogen hatte, weil es der einzige Ort war, an dem er allein sein konnte. Ihr tat das Herz weh. Sie wusste, dass sich wilde Tiere manchmal von ihren Artgenossen zurückzogen, wenn sie verletzt waren.

Selbst Myrtles schier unerschöpflicher Redefluss versiegte allmählich. Eine lange Reise laugt jeden aus wie einen Pinsel, der über die gesamte Breite einer großen Leinwand gezogen wurde. Als Faiths Kopf nach unten sackte, wurde sie zu Bett geschickt.

«Du hast das kleinste Zimmer, Liebling», sagte Myrtle zu ihr, «aber es ging nicht anders. Es macht dir doch nichts aus, nicht wahr?»

Mrs. Vellet nahm eine Kerze und ging voraus, um Faith den Weg zu ihrem Zimmer zu zeigen. Als sie durch die Diele kamen, fiel ihr Blick durch eine Tür in ein kleines Wohnzimmer, das nun die Menagerie ihres Vaters beherbergte. Die Echsen starrten durch die Scheiben ihrer Glaskästen. Der alte Wombat schniefte und zuckte im Schlaf – etwas anderes tat er kaum noch. Faith runzelte die Stirn, weil sie die Schlange nirgends sah.

An einer Seite der Diele war das restliche Gepäck an der Wand aufgestapelt. Fassungslos erkannte sie die Schlangenkiste zuunterst in einem Kistenturm. Man hatte sie hier draußen in der zugigen Diele stehen lassen, als wäre sie nichts weiter als eine Hutschachtel.

Faith rannte hin, kauerte sich nieder und drückte das Ohr gegen die Kiste. Kein Laut drang heraus.

«Mrs. Vellet, würden Sie bitte diese Kiste in mein Zimmer bringen?»

Faiths Zimmer war winzig, kaum halb so groß wie ihr altes Zimmer zu Hause. Das lodernde Feuer im Kamin beleuchtete einen kleinen Ständer mit einer leicht lädierten Waschschüssel aus Marmor, eine altbackene Kommode und ein Himmelbett mit Vorhängen, die aus dem vergangenen Jahrhundert stammen mochten. In dem Schatten, den die Kommode warf, sah sie eine Tür mit schweren Riegeln.

«Möchten Sie noch etwas heiße Milch vor dem Schlafengehen?», fragte die Haushälterin.

«Haben Sie vielleicht tote Mäuse?» Kaum war sie heraus, merkte Faith, wie unpassend ihre Erwiderung gewesen war. «Mein Vater hat eine Mandarinnatter», setzte sie hastig hinzu, woraufhin Mrs. Vellets Augenbrauen ein Stück nach oben wanderten. «Sie braucht Fleisch … frisches Fleisch … egal was», stammelte sie. Ihr war klar, dass sie keinen guten ersten Eindruck machte. «Und ein paar Tücher. Und … heiße Milch wäre ganz ausgezeichnet, vielen Dank.»

Erst als sie allein im Zimmer war, öffnete sie die Kiste und holte den Käfig heraus. Die kleine Natter lag in einer trostlosen Acht auf dem Boden des Käfigs. Sie war glänzend schwarz, mit goldenen und weißen Flecken, bei deren Anblick Faith immer an eine von Kerzen beleuchtete Prozession durch einen nachtschwarzen Wald denken musste. Früher im Pfarrhaus hatte sie viel Zeit mit der kleinen Menagerie ihres Vaters verbracht und sogar deren Pflege übernommen, wenn er unterwegs war. Aber die Schlange war schon immer ihr Liebling gewesen. Der Reverend hatte sie vor acht Jahren aus China mitgebracht.

Als Faith die Hand ausstreckte und der Schlange über den Rücken strich, sah sie erleichtert, wie das Reptil leicht zusammenzuckte. Wenigstens war es noch am Leben. Sie stellte den Käfig auf die Kommode, weit genug weg von dem kalten Luftzug, der durch die Fensterritzen pfiff, aber auch nicht zu nahe ans Feuer. Die Schlange benötigte gemäßigte Temperaturen. Zu viel Hitze würde sie genauso töten wie zu wenig.

Mrs. Vellet brachte Faith eine Handvoll trockener Tücher und eine Schale mit Rindfleischresten. Faith schob die Tücher in den Käfig, als Nest für die Schlange, und füllte deren Wasserschale aus dem Krug neben ihrem Bett. Die Schlange verschmähte das Fleisch, doch sie aalte sich genüsslich in dem Wasser.

Erst als Faith ganz sicher war, dass die Schlange nicht ins Totenreich der Nattern schleichen würde, fand sie in ihrem Kopf Platz für andere Gedanken. Und sofort erinnerte sie sich an den Tintenfleck auf ihrem Handschuh. Sie versuchte, ihn mit dem kalten Wasser aus dem Krug auszuwaschen, doch vergeblich. Schließlich stopfte sie den Handschuh unter ihre Matratze.

Faith hatte immer das Gefühl, von ihrer Kleidung förmlich terrorisiert zu werden. Der Staub auf der Straße, ein kurzer Platzregen, selbst ein Korbstuhl oder eine weiß getünchte Wand – all das verbündete sich auf tückischste Weise mit Blusen und Röcken, Strümpfen und Kragen. Irgendetwas davon war immer schmutzig oder eingerissen, wurde fadenscheinig oder verlor die gewünschte Steifheit. Es verging kaum ein Tag, an dem ihre Kleidung ihr keine Schuldgefühle verursachte. Eliza hat Stunden gebraucht, um den Schlamm aus deinem Saum zu bürsten …

Schlimmer noch – Kleidungsstücke konnten keine Geheimnisse bewahren. Wenn sie sich nach draußen stahl oder in einem Schrank versteckte oder sich gegen eine Tür lehnte, um zu lauschen, wurde sie von ihrer treulosen Kleidung verraten. Selbst wenn ihre Familie nichts davon erfuhr, die Dienstboten wussten es.

Faith ging zu Bett, konnte aber nicht einschlafen. Harte Pferdehaare stachen durch die Matratzenhülle und das Laken. Die Bettvorhänge ließen sich nicht richtig schließen, und es zog empfindlich kühl herein. Der lange Tag hatte sich in ihrem Geist eingebrannt, und als sie die Augen schloss, sah sie den grauen Himmel und die dunklen, aufgewühlten Wellen vor sich.

Der Wind rüttelte an den Fensterläden und an der verriegelten Tür, und manchmal hörte sie durch sein Stöhnen ein scheinbar weit entferntes, widerhallendes Brüllen, wie aus der Kehle eines Tieres. Ihr war klar, dass dies nur eine Sinnestäuschung war, hervorgerufen durch den Sturm, doch in ihrer Fantasie sah sie ein riesiges, schwarzes Untier draußen auf der Landspitze, das gegen die Brandung anbrüllte.

Sie fragte sich, ob ihr Vater immer noch draußen im Turm war. Faith fühlte manchmal, dass es eine Verbindung zwischen ihr und dem Reverend gab, wie eine verschlungene Wurzel, die einen Mangrovenbaum mit seinem Ableger verband. Einen Augenblick lang versuchte sie sich vorzustellen, dass diese Verbindung sich materialisierte, und sie hoffte, dass er irgendwie in der Lage sein würde, ihre Gedanken und Gefühle zu spüren, wenn sie sich nur stark genug konzentrierte.

Ich glaube an dich, sagte sie ihm in Gedanken. Egal, was die anderen sagen, ich glaube an dich.

Das Getrappel von schnellen Schritten auf Holz schreckte Faith aus dem Schlaf. Sie schlug die Augen auf und erblickte den fremden Betthimmel über sich. Schlagartig kehrte die Erinnerung wieder.

Sie schob die Vorhänge beiseite und erwartete halb, jemanden in ihrem Zimmer herumrennen zu sehen. Die Schritte waren ihr so nah vorgekommen, aber natürlich war niemand da. Sie lauschte, und als sie die Schritte wieder hörte, wurde ihr klar, dass jemand die Treppe hoch und runter lief.

Die Dienstbotentreppe. Ihr Zimmer lag vermutlich direkt daneben, sodass sie alles durch die Wand hören konnte. Faith stand auf, durchquerte das Zimmer und legte das Ohr an die Wand. Als sie die Stelle fand, wo die Geräusche am deutlichsten zu hören waren, empfand sie ein leichtes Gefühl von Triumph. Sie konnte sogar leises Gemurmel ausmachen.

Die meisten Menschen wären empört gewesen bei dieser Feststellung. Der ganze Sinn einer Treppe für Dienstboten war doch, dass die Dienstboten kamen und gingen, ohne dass die Herrschaft sie hörte. Es war doch eine Zumutung, dass man vor Tau und Tag von dem Herumgerenne geweckt wurde! Faith allerdings empfand es keineswegs als Ärgernis, im Gegenteil: So hatte sie die Gelegenheit, die unsichtbare Welt der Bediensteten zu belauschen.

Obwohl sie natürlich ihrer unziemlichen Neugier nicht noch einmal nachgeben würde.

Die Riegel der geheimnisvollen Tür hinter der Kommode waren verrostet, aber es gelang ihr schließlich doch, sie zu lösen. Die Tür klemmte erst, dann öffnete sie sich mit einem Ruck, und Faith blinzelte in das helle Sonnenlicht.

Die Tür führte hinaus auf einen kleinen Dachgarten, auf dessen hellen Steinplatten Tau lag. Er war von einem schmiedeeisernen Geländer eingefasst, das mit Ranken überwuchert war und verhinderte, dass man von außen hereinsehen konnte. Weiße Steinkinder, pockennarbig geworden durch Flechtenbewuchs und den Zahn der Zeit, hielten Steinschalen, aus denen sich die Blüten der Blaukissen ergossen. Ihr gegenüber befand sich ein ebenfalls mit Ranken bewachsenes Türchen, hinter dem eine steinerne Treppe lag, die vermutlich nach unten führte.

Faith spürte, wie ein heimliches Lächeln über ihr Gesicht huschte. Jetzt hatte sie sogar eine Möglichkeit gefunden, das Haus gänzlich unbeobachtet zu betreten und zu verlassen. Aber der Neugier hatte sie ja gerade ein für alle Mal abgeschworen.

Sie zog sich an und setzte ihre Erkundung fort. Als sie die Innentreppe ins Erdgeschoss hinunterging, zählte sie unwillkürlich die Stufen und merkte sich, welche von ihnen knarrten und welche stumm ihr Gewicht trugen. Sie ertappte sich dabei, wie sie in Gedanken festhielt, welche Riegel und Türgriffe geölt werden müssten.

Nein! Das war vorbei. Ein für alle Mal.

Sie würde in Kürze konfirmiert werden, ermahnte sie sich, und wie immer empfand sie einen angstvollen Stich bei dem Gedanken. Dann wäre sie in den Augen der Kirche und in den Augen Gottes eine Erwachsene und selbst verantwortlich für ihre Sünden. Sie hatte natürlich schon immer das göttliche Gericht wie ein riesiges, scharfes Fallbeil drohend in ihrem Nacken gespürt, aber bislang war ihre Jugend ein – wenn auch schwacher – Schutzschild gewesen. Eine Entschuldigung. Jetzt wurde sie allmählich so groß, dass das Fallbeil sie mit einem einzigen unheilvollen Schlag vernichten konnte. Sie musste ihre schlechten Angewohnheiten endgültig ablegen.

Aber, so murmelte eine hinterhältige Stimme in Faiths Kopf, das Haus in Bull Cove bot zweifellos interessante Möglichkeiten.

In dem düsteren, holzgetäfelten Esszimmer erlebte Faith, wie ihre Mutter der Dienstmagd, einem hübschen, kecken Ding von etwa fünfzehn Jahren, dessen Mundwinkel stets zu grinsen schienen, eine Standpauke hielt.

«Nein, Jeanne, das geht ganz und gar nicht!» Myrtle deutete auf das Brett in den Händen des Mädchens, wo zwei lange, merkwürdig aussehende Brotlaibe lagen, wie Faith sie noch nie zuvor gesehen hatte. «Wenn ich Brot und Butter haben will, dann erwarte ich richtiges Brot, und zwar so dick geschnitten.» Myrtle hielt Daumen und Zeigefinger etwa einen Zentimeter auseinander. «Bitte sorge dafür.»

Das Mädchen verzog kurz schmollend den Mund, zuckte mit den Achseln und verschwand mit dem Brett in der Hand.

«Was für ein Haus!», rief Myrtle aus. «Ich habe letzte Nacht kaum ein Auge zugetan. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Zimmer vor unserer Ankunft nicht gelüftet wurden. Und was in aller Welt war das für ein Donnern und Brüllen die ganze Nacht lang?»

«Das war vermutlich der Große schwarze Bulle», sagte Onkel Miles augenzwinkernd. «Während eines Sturms entspringt das Ungeheuer den Tiefen der Erde und brüllt den Himmel an. Aber im Ernst: Es ist ein ganz natürliches Phänomen, hervorgerufen vom Wind, der durch die Höhlen an der Küste weht.»

«Ich finde es unerhört, dass der Vermieter uns das Haus überlassen hat, ohne dieses brüllende Rindvieh zu erwähnen, und sei es noch so natürlich», antwortete Myrtle scharf.

«Tja, aber wenn man den Gerüchten Glauben schenkt, gibt es kaum einen Zoll auf dieser Insel, wo nicht das eine oder andere Phantom sein Unwesen treibt», gab Onkel Miles lächelnd zurück. «Clay hat mir gestern ein paar dieser Geschichten erzählt – klagende Frauen, Geisterschiffe und so weiter und so fort. Oh, und im Übrigen war Vane während des Kriegs mit den Franzosen ein Schmugglernest. Man sagt, dass einer dieser Schmuggler einen großen Schatz vergraben hat, bevor er starb, und seit fünfzig Jahren versucht sein Geist vergeblich, alle möglichen Leute zu dem Versteck zu führen.»

«Dann sind seine Hinweise wohl nicht allzu hilfreich», murmelte Faith, während sie am Esstisch Platz nahm.

«Wenn wir einmal die Fantasie beiseitelassen und uns den Tatsachen zuwenden: Heute Morgen wurden zwei Karten für uns abgegeben.» Myrtle warf ihrem Mann einen Blick zu. «Eine ist von Dr. Jacklers, mein Lieber. Er teilt mit, dass er uns heute um zwei Uhr seine Aufwartung machen und dir die Ausgrabung zeigen möchte.

Die andere ist von Mr. Lambent. Die hiesige geografische Gesellschaft trifft sich um vier Uhr bei ihm zu Hause, und er bittet dich, als sein Ehrengast daran teilzunehmen. Wir anderen sind zum Tee geladen. Er will uns seine Kutsche schicken.»

Der Reverend warf seiner Frau einen kurzen, missmutigen Blick zu, neigte den Kopf zum Zeichen, dass er sie verstanden hatte, und widmete sich dann wieder stumm seinem Frühstück.

«Wir könnten uns doch alle die Ausgrabung anschauen», schlug Onkel Miles hoffnungsvoll vor, «als eine Art Familienausflug.»

«Ach ja, ginge das?» Faith schenkte ihren Eltern einen flehenden Blick aus leuchtenden Augen. In der Bibliothek ihres Vaters im Pfarrhaus hatte sie viel Zeit mit Büchern über prähistorische Tiere verbracht und die gezeichneten Skelette längst ausgestorbener Arten bewundert. Der Gedanke, eine richtige, echte Ausgrabungsstätte zu besuchen, war ungleich aufregender.

Myrtle schaute ihren Mann an, der wiederum die Tischplatte geistesabwesend betrachtete und sich dann räusperte.

«Ich wüsste nicht, was dagegen spräche», sagte er.

Jeanne trat ein und stellte mit einem betont unschuldigen Blick das Brett auf den Tisch. Dann ging sie wieder hinaus. Die langen Brotlaibe waren mit Gewalt in zentimeterbreite Stücke zerhackt worden und hatten die Misshandlung nicht überstanden. Auf dem Brett lagen Brotfetzen wie Schrapnellsplitter, an denen hier und da Butterklumpen klebten.

«Jeanne!», rief Myrtle hinter dem plötzlich taub gewordenen Dienstmädchen her. «Jeanne! Oh, das ist wirklich zu viel. Ich muss Mrs. Vellet ins Gebet nehmen, und zwar umgehend!»

Von oben kamen ein gedämpftes Rumpeln und das Patschen von kleinen, sorglosen Füßen, gefolgt von mehrmaligem Türenschlagen. Myrtle zuckte zusammen und schaute ihren Mann an, der ein Stirnrunzeln voll stummer Missbilligung zur Zimmerdecke schickte. Um diese Tageszeit sollte man Howard weder sehen noch hören.

«Faith», sagte Myrtle leise, «wärst du so lieb und würdest heute mit deinem Bruder frühstücken und ihm dann bei seinen Lektionen unter die Arme greifen?» Sie schaute nicht einmal zu Faith hin, weil sie offenbar keine Antwort erwartete.

Faith warf dem Kedgeree, dem Speck, Toast und der Marmelade einen wehmütigen Abschiedsblick zu und stand auf.

Myrtle hatte Faith einmal erklärt, wie man einem Dienstboten einen Befehl gibt. Man formulierte die Anordnung als Frage, um höflich zu erscheinen. Würden Sie den Tee holen? Könnten Sie bitte mit der Köchin sprechen? Aber statt am Ende des Satzes die Stimme zu heben, senkte man sie, sodass es eigentlich gar keine Frage war, und schon gar keine, auf die man ablehnend reagieren konnte. Genauso hatte ihre Mutter offensichtlich gerade mit ihr gesprochen, konstatierte Faith.

Howard bewohnte zwei miteinander verbundene Räume, ein Schlafzimmer und ein «Kinderzimmer», in dem er spielen, lernen und seine Mahlzeiten einnehmen konnte.

«Ich hasse es hier», sagte er und schlürfte seinen in Wasser eingeweichten Toast. «Es gibt hier Ratten. Ich kann nicht ohne Skordle schlafen.» «Skordle» war der Name, den Howard Miss Caudle gegeben hatte, seinem Kindermädchen, das in Kent bei ihm im Zimmer schlief. Faith mochte den Namen Skordle. Er klang in ihren Ohren wie ein sagenhaftes Tier.

Faith gefielen Howards Zimmer auch nicht, aber aus einem anderen Grund. Während des letzten Jahres hatte sie sich ständig wie auf einer Schaukel gefühlt, die sie mal in ihre Kindheit schleuderte, mal in die Welt der Erwachsenen. Während der Mahlzeiten empfand sie den Zwiespalt am deutlichsten. Es kam ihr so vor, als wäre sie über Nacht auf magische Weise erwachsen geworden, denn plötzlich durfte sie mit ihren Eltern an einem Tisch essen. Dann wieder schickte man sie ohne Vorwarnung zu Howard ins Kinderzimmer, wo sie Haferbrei essen und auf Stühlen sitzen musste, die unter ihrem Gewicht ächzten.

Das Essen für Kinder war schlicht und gesund, was gewöhnlich bedeutete: geschmacklos und bis zur Unkenntlichkeit verkocht. Das Kinderzimmer roch immer nach Kartoffeln und Reisbrei und zweimal gekochtem Hammelfleisch. Der Geruch gab Faith das Gefühl, als wäre sie in eine frühere Version von sich selbst geschlüpft, eine Version, die zu klein für sie geworden war. Eine Version, die zwickte.

«Mit der anderen Hand!» Faith nahm Howard behutsam den Löffel aus der linken Hand und schob ihn in die rechte. Der übliche Kampf.

Aber der eigentliche Kampf ging erst nach dem Frühstück los, als sie ihn in die blaue Jacke zwängte. Howard hasste die blaue Jacke, die er immer während des Unterrichts tragen musste. Der linke Ärmel war an der Seite festgenäht und nahm seine Hand in der Jackentasche gefangen, sodass sie zu nichts zu gebrauchen war.

Howards eigensinniges Beharren darauf, die linke Hand zu benutzen, war laut Myrtle nur eine Marotte, nichts, worüber man sich Sorgen machen musste, vorausgesetzt, man ermutigte ihn nicht dazu. Das Kindermädchen, das sich vor Skordle um Howard gekümmert hatte, war allerdings zu nachsichtig gewesen, und Howard hatte sich ein paar «schlechte Angewohnheiten» zugelegt.

«Du weißt doch, was Mutter sagt! Du musst lernen, anständig zu essen und zu schreiben, bevor du in die Schule kommst!» Howard sollte auf ein Internat gehen, sobald er acht Jahre alt geworden war.

Howard verzog das Gesicht, was er immer tat, wenn die Sprache auf die Schule kam. Faith schluckte den kleinen Kloß aus Bitterkeit und Neid herunter.

«Du kannst dich glücklich schätzen. Viele Menschen würden sich freuen, wenn sie die Chance hätten, auf eine gute Schule zu gehen.» Faith erwähnte nicht, dass sie einer davon war. «Hör zu. Wenn du deine Jacke anziehst und deine Schreibübungen machst, können wir nachher in den Garten gehen. Du darfst auch dein Gewehr mitnehmen!»

Dieser Vorschlag fand Gnade vor Howards Augen. Draußen rannte Howard herum und schoss die oberen Fenster des Hauses mit seinem kleinen Holzgewehr ab. Dabei schrie er jedes Mal laut «Bumm!» Er schoss die schwarzen Krähen ab, die schwerfällig weghüpften, wenn er angerannt kam, und dann gelassen die Flügel ausbreiteten und sich in die Luft erhoben. Er schoss alles ab, was ihm auf dem schlammigen, holprigen Weg zum Meer in die Quere kam.

Wenn jemand ihn so sehen würde, bekäme sie vermutlich Ärger, weil sie zuließ, dass er sich «verausgabte». Da war diese permanente Angst, dass Howard, der einzige überlebende Sohn, sich eine tödliche Krankheit einfing. Faith hatte miterlebt, wie fünf weitere kleine Brüder den Kampf um ihr Leben verloren und in sich zusammenfielen wie Gänseblümchen, die sich zur Nacht schlossen. Einige waren noch Babys gewesen, andere hatten es auf wenige Geburtstage gebracht. Die ersten beiden waren Howards gewesen, dann hatten es ihre Eltern mit einem James und zwei Edwards versucht, ebenso vergeblich. Diese Erfahrungen ließen den gegenwärtigen Howard sehr zerbrechlich erscheinen, als ob er auf irgendeine geheimnisvolle Weise mit seinen Namensvettern jenseits des düsteren Vorhangs verbunden wäre.

Aber Faith kannte Howard viel besser als ihre Eltern. Sie wusste, dass er dieses Herumrennen und Toben brauchte, genauso wie er sein Spielzeuggewehr brauchte. Er erschoss die Dinge, die ihm Angst machten. Im Augenblick versuchte er, alle Gefahren einer neuen Welt aus dem Weg zu räumen, damit er sich sicher fühlen konnte.

Ihr Blick fiel auf den stämmigen Turm am Rand des Wäldchens. Im hellen Tageslicht sah sie, dass dieser Turm nichts weiter war als ein rundes einstöckiges Gebäude, wie ein Baumstumpf, dessen schmale Fenster mit Mörtel und Efeu verklebt waren. Das Mauerwerk war mit teebraunen Flecken übersät.

Der Turm entfachte Faiths Neugier, aber sie hatte etwas Dringenderes zu erledigen. In ihrer Tasche steckten zusammengeknüllt die verräterischen Handschuhe, die sie irgendwie loswerden musste, ehe einer der Dienstboten sie entdeckte.

Der Pfad gabelte sich auf dem Weg zum Meer. Die linke Abzweigung führte hinauf auf den Hügelkamm. Faith und Howard gingen nach rechts, in Richtung des Kiesstrandes, wo Howard in einen Amoklauf ausbrach und die nervös trippelnden Austernfischer erschoss, dann die schlammbraunen Klippen und sein eigenes Spiegelbild im nassen Sand.

Am Ufer stand ein kleines Bootshaus mit einem Ruderboot, bewacht von einer Ansammlung aufgehäufter Felsbrocken. Während Howard über den Kies rannte, huschte Faith hinter das Bootshaus und stopfte die Handschuhe in eine schmale Spalte zwischen zwei Felsblöcken. Umgehend war ihr leichter ums Herz. Aus irgendeinem Grund war das stechende Schuldgefühl immer dann am stärksten, wenn sie Gefahr lief, erwischt zu werden.

Faith kehrte zum Strand zurück. Es gefiel ihr hier, trotz der trüben Farben und der grauen, tief hängenden Wolken. Wie von selbst öffneten sich in ihrem Geist die Bücher ihres Vaters, und sie fand Worte für das, was sie sah: Flinke, spitzflügelige Seeschwalben durchschnitten die Luft. Ein stupsschnabeliger Tordalk saß auf einer Felszacke und putzte sein Gefieder. Die weißen Blüten des Meerfenchels zitterten auf den Steinen.

An den in der Ferne liegenden Landspitzen, die ins Meer hinausragten, brachen sich weiß schäumend die Wellen. Hier und da sah Faith schwarze Spalten und dreieckige Risse am Fuß der Klippen.

«Guck mal, Howard!», rief sie in den Wind hinein. «Meereshöhlen!»

Howard kam zu ihr gerannt und blinzelte in die Richtung, in die ihr ausgestreckter Finger deutete. Dann zielte er mit dem Gewehr dorthin.

«Meinst du, da sind Ungeheuer drin?», fragte er nachdenklich.

«Vielleicht.»

«Können wir mit dem Boot hinfahren und nachsehen?»

Faith warf einen Blick zurück auf das kleine Ruderboot und schaute dann abwägend auf das ungewisse Meer hinaus. Die dunklen Öffnungen zupften an ihrer Abenteuerlust.

«Vielleicht ein andermal», sagte sie, halb zu sich selbst. «Wir müssen erst Vater und Mutter fragen.»

Als Howard sich müde getobt hatte, brachte sie ihn wieder hinauf zum Haus. Beim Anblick des dungfarbenen Turms blieb sie stehen.

Gestern Abend hatte ihr Vater Stunden dort zugebracht, um sich der Pflege irgendeiner geheimnisvollen Pflanze zu widmen. Zunächst hatte sie gedacht, er wolle bloß allein sein, aber jetzt erinnerte sie sich an die Kiste mit dem «sonstigen Schnittgut», deretwegen der sie ihren Platz in der Kutsche hatte räumen müssen. Wenn sie jetzt darüber nachdachte, kam ihr das Etikett merkwürdig vage vor, besonders, weil ihr Vater es normalerweise sehr genau nahm.

«Howard, wollen wir nachgucken, ob es in dem Turm dort Löwen gibt?»

Faith ging um das Gebäude herum bis zu der Seite, die dem Wäldchen zugewandt war. Erst dort fand sie den Eingang, eine schwere Holztür, die vom Haus aus nicht zu sehen war. Die Versuchung war zu groß: Sie hob den uralten Riegel und öffnete die Tür.

Drinnen nichts als Dunkelheit. Ein merkwürdiger Geruch in ihrer Nase. Und in ihren Augen eine Kälte wie von Minze.

Sie schaute nach oben und sah dunkle Deckenbalken, grau umhüllt von ganzen Spinnenkolonien. Zu ihrer Überraschung war das Dach völlig intakt und ließ keinen noch so kleinen Lichtspeer ein. Warum brachte ihr Vater eine wertvolle Pflanze an einen Ort, wo es keine Sonne gab?

Faith machte einen vorsichtigen Schritt in den Turm hinein. Ihre Stiefelsohle rutschte über den glitschigen und feuchten Steinboden. Ihre Augen suchten die Schatten des kleinen, kreisrunden Raums ab.

Da war etwas an der gegenüberliegenden Wand, ein gedrungener, kuppelförmiger Schemen, gehüllt in Wachstuch, unter dem die runde Form eines Pflanzkübels hervorlugte. Der Schemen war etwa zwei Fuß hoch; gut möglich, dass dieses Ding in der Kiste mit dem unbestimmten Etikett gesteckt hatte.

Sie wollte sich gerade dem rätselhaften Gegenstand nähern, als sie hinter sich die «Bumm!»-Schreie näher kommen hörte. Gepackt von einer Welle aus Panik und Schuldgefühl, hastete sie zurück ins helle Licht des Tages und schlug die Tür hinter sich zu. Sie schaute sich um und erwartete halb, ihren Vater um die Ecke biegen zu sehen.

Stattdessen sah sie Howard, der sein Holzgewehr auf das kleine Wäldchen richtete. Ein fremder Mann kam durch das Unterholz gestapft.

Es war keiner der Dienstboten, das erkannte Faith auf den ersten Blick. Seine Kleidung war zerschlissen, die Haare ungekämmt, der Bart zerzaust. In der einen Hand hatte er einen Holzeimer. Ein Eindringling. Seine Fremdheit stürmte gegen Faiths Mut an und brachte ihn zu Fall. Sie fühlte, wie sich ihre sämtlichen Haare aufstellten, als ob sie ein Tier wäre, das eine andere Art wittert.