Wunsch Traum Fluch - Frances Hardinge - E-Book

Wunsch Traum Fluch E-Book

Frances Hardinge

4,8

Beschreibung

Josh, Ryan und Chelle sind ein unzertrennliches Trio. Jeder von ihnen hat seine Probleme, und gemeinsam unternehmen sie immer etwas Besonderes. Als sie einmal Münzen aus einem Wunschbrunnen klauen, weil ihnen das Busgeld für die Rückfahrt fehlt, fängt eine unheimliche Geschichte an, deren Fäden sie selbst überhaupt nicht mehr in der Hand haben. Sie bemerken seltsame Veränderungen an sich selbst und tauchen in fremde Leben ein. In einer feinen Mischung aus Realismus und Fantastik erzählt Frances Hardinge eine absolut ungewöhnliche Geschichte mit Spannung und Tiefe.

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FRANCES HARDINGE

Wunsch

Traum

Fluch

Aus dem Englischen von Alexandra Ernst

Verlag Freies Geistesleben

Der Flug des Einkaufswagens

Auf dem Kopf stehende Augen

Die Höhle

Die Uhr läuft aus

Das Glashaus

Gedankenflut

Ein Traum aus Chrom

Wie man ein Wunder bewirkt

Der Tyrann aus der Temple Street

Die Hexe aus der Bibliothek

Der paranormale Punzell

Die Sammler

Verzauberung

Der Angriff der Harley

Gefährliche Maschinen

Der Handkuss des Harlekins

Ein Unwetter und ein Unterschlupf

Totes Laub

Die Erschütterung

Das Wahre Verbrechen

Spinnenbeine

Der Drache hinter der Wand

Seelenheilung

Der Zerfall der Welt

Umleitung

Das ertrinkende Haus

Die Zaunrebe

Mutter Lederzunge

Epilog

Für meine wunderbare Mutter Anthea,die mir die Augen für die Welt der Worte öffnete.

Josh würde es schaffen. Einen wundervollen Augenblick lang glaubte Ryan fest daran. Als sie um die Ecke gebogen waren und gesehen hatten, dass der Bus schon an der Haltestelle stand, war Josh losgesprintet, wobei er Spatzen aus den Büschen und Wasser aus den Pfützen aufspritzen ließ. Der Busmotor stieß ein lang gezogenes, erschöpftes Seufzen aus und verlagerte sein Gewicht nach vorn, als ob er die Schultern gegen den Regen stemmen wollte, aber immer noch glaubte Ryan, dass Joshs Anstrengungen in letzter Sekunde von Erfolg gekrönt sein würden, wie immer. Und dann, gerade in dem Moment, in dem Josh die Rücklichter erreichte, wandte sich der Bus trotzig vom Bordstein ab und fädelte sich auf der Fahrbahn ein. Die Reifen hinterließen lange, matte Streifen auf dem nass glänzenden Asphalt.

Josh jagte dem Bus etwa fünfundzwanzig Meter nach. Dann sah Ryan durch die winzigen Regentropfen, die seine Brille sprenkelten, wie sein Held stolperte, langsamer wurde und mit dem Fuß gegen einen Laternenpfahl trat.

Ryan hatte das Gefühl, als ob der Bus im Wegfahren seinen Magen mitgenommen hätte, genauso wie das letzte Licht des Sommertages. Plötzlich kam ihm die schäbige Ladenreihe kälter, dunkler und verlassener vor als noch vor ein paar Minuten. Auf seiner Zunge schmeckte Ryan den Schokoladen-Milchshake, dessentwegen sie den Bus verpasst hatten, und der Geschmack verursachte ihm Übelkeit.

Hinter sich hörte er Chelles asthmatisches Keuchen. Er drehte sich um und sah, wie ihre zitternden Hände mit dem Inhalator kämpften. Sie atmete tief ein, und ihre runden Augen wurden noch größer, sodass er rings um die Pupillen das Weiße sehen konnte. Sie starrte Josh entgegen, der langsam zurückkam.

«Er sagte … Josh sagte doch … er sagte doch, dass der Bus immer zu spät kommt, er sagte, wir hätten noch Zeit für einen Milchshake … Ich bin ja so was von erledigt … meine Mutter denkt, ich würde babysitten …» Vor lauter Panik waren ihre bleichen Augenbrauen an ihrer Stirn emporgeklettert und versteckten sich jetzt hinter ihrem blonden Pony.

«Schhht, Chelle», sagte Ryan so besänftigend wie er nur konnte. Aber es nutzte nichts. Chelle ließ sich nicht mit einem einfachen «Schhht» wieder auf Kurs bringen.

«Aber … Josh macht es ja nichts aus, von ihm erwartet man ja, dass er sich in Schwierigkeiten bringt. Aber ich … ich weiß nicht mal, wie es ist, Ärger zu haben …»

«Schhht!», wiederholte Ryan jetzt energischer. Josh war fast schon in Hörweite. Jedes Mal, wenn Josh etwas angestellt hatte und deswegen ein schlechtes Gewissen bekam, wurde er auf Gott und die Welt wütend. Und er konnte boshaft werden, auf eine irgendwie spielerische Art. Ryan hatte keine Lust, mit einem wütenden Josh in Magwhite festzusitzen.

Eigentlich durften sie überhaupt nicht in Magwhite sein.

Magwhite war ein «Beinahe»-Ort. Durch die riesigen Kraftstoff-Lager und die Eisenbahnlinie war es beinahe ein Teil von Guildley. Die strahlend gelben Rapsfelder, die sich nach Osten erstreckten, gaben dem Ort beinahe etwas Ländliches. Die traurig wirkenden Reihen kleiner Häuser, der winzige Supermarkt und das Fahrradgeschäft waren beinahe so etwas wie ein Dorf. Die kleinen Spazierwege waren beinahe hübsch.

Dort war irgendwann einmal jemand erstochen worden oder vielleicht hatte irgendwann einmal irgendjemand einen abgeschnittenen Finger mit einem Ring daran auf einem der Wege gefunden oder vielleicht kamen alle Spieler des Rugby-Vereins regelmäßig zum Bach und pinkelten von der Brücke aus ins Wasser. Keiner wusste so recht, was genau geschehen war, aber irgendetwas hatte Magwhite in Verruf gebracht. Wenn der Name «Magwhite» fiel, versteinerten die Gesichter der Eltern, als ob ihnen ein übler Geruch in die Nase gezogen wäre. Magwhite war tabu.

Es gab hier nicht viel zu sehen, aber das Tabu machte es aufregend. Die Dohlen vor dem mit Brettern vernagelten Postgebäude mit Pommes Frites zu füttern war viel interessanter, als gewöhnliche Vögel in einem gewöhnlichen Park zu füttern. Seit Beginn der Sommerferien waren die verbotenen Ausflüge nach Magwhite, wo sie am Kanal ein Picknick veranstalteten, beinahe zur täglichen Routine geworden.

Magwhite gehörte ihnen, aber im Augenblick wäre Ryan am liebsten meilenweit weg gewesen.

Josh stapfte mit gesenktem Kopf zu den anderen beiden zurück. Sein wildes blondes Haar, das wie eine Schrubberbürste abstand, war dunkel vom Regen. Er betrachtete seinen Fuß und schien das Gesicht zu verziehen. Vielleicht hatte er sich bei dem Tritt gegen den Laternenpfahl wehgetan. Dann schaute er hoch und Ryan sah, dass er grinste.

«Kein Problem.» Josh zuckte mit den Achseln und wischte mit dem Ärmel den Regen von den gelb getönten Gläsern seiner Sonnenbrille. «Wir nehmen den nächsten.»

Chelle biss sich auf die Unterlippe und zog die Mitte der Oberlippe so weit nach unten, dass sie aussah wie ein kleiner weicher Schnabel. Alles an ihr sträubte sich, Josh zu widersprechen, denn sie vergötterte ihn mehr als alles andere auf der Welt, aber wie immer schienen die Worte einfach ungehindert aus Chelle herauszuträufeln wie Wasser aus einem undichten Wasserhahn.

«Aber … das geht nicht. Das war der letzte Bus der Cityline. Unsere Fahrkarten gelten nicht für die Überlandbusse, und wir haben kein Geld mehr, um neue Fahrkarten zu kaufen, nicht für alle … wir sitzen fest …»

«Nein, tun wir nicht.» Josh lächelte immer noch. «Ich habe einen Plan.»

Der Plan war einfach. Der Plan war merkwürdig. Aber es war Joshs Plan, und deshalb musste er funktionieren.

Hinter der Mauer des Parkplatzes, der zum Supermarkt gehörte, senkte sich ein lang gestreckter, baumbestandener Abhang bis zum Ufer des Kanals. In diesem Wäldchen tummelten sich ausgebüxte Einkaufswagen, in deren Rädern sich büschelweise Grashalme verfangen hatten. Das Drahtgitter der Körbe war mit Schlingpflanzen bewachsen. Joshs Plan sah vor, einen von ihnen aus dem Wald zu holen, ihn zum Supermarkt zu bringen, ihn dort wieder in die Reihe der anderen Einkaufswagen einzuklinken und die Münze aus dem Schieber am Griff zu holen.

Plötzlich war das Abenteuer wieder da. Das Trio kletterte über die Mauer in das Wäldchen und ging auf Beutezug.

Es war ein seltsamer Wald, umso mehr, als das Licht nun stetig abnahm. Ryan gefiel besonders der Müll. Vergilbte Zeitungen kuschelten sich in Astgabeln, wie Nester aus mit Buchstaben bepudertem Herbstlaub. Von einem breiten Thron aus verfaulter Eichenwurzel schlängelte sich dunkler Efeu und behütete einen Schatz aus zerbeulten Blechdosen. Die feinen Verästelungen eines schaukelnden Zweiges hatten sich ordentlich in die Finger eines roten Wollhandschuhs geschoben, sodass der kleine Baum aussah, als warte er nur darauf, dass ihm eine zweite Hand wachse, damit er applaudieren könne.

«Ryan, mach deine Adleraugen auf und such uns einen Einkaufswagen», sagte Josh, und in Ryan stieg ein unbehagliches Gefühl von Stolz und Zweifel auf. Er war sich nie sicher, ob Josh sich über ihn lustig machte oder nicht. «Er sieht anders als wir, Chelle. Seine Augen, die sind nämlich verkehrt herum. Man sieht’s ihm bloß nicht an.»

Chelle kicherte leise, aber in der Dunkelheit wirkte ihr nur undeutlich erkennbares Gesicht nervös. Ihre großen, weit auseinanderstehenden Augen waren Fenster, die in eine Welt voller Zweifel und Verblüffung blicken ließen.

«Es stimmt.» Josh ließ nicht locker. «Er blinzelt aufwärts, weißt du? Natürlich nur, wenn man nicht hinguckt. Aber jetzt, im Dunkeln, da wette ich, dass er aufwärts blinzelt. Stimmt’s, Ryan?»

Ryan wusste nicht recht, was er darauf antworten sollte. Er stapfte durch den Wald und tat so, als hätte er nichts gehört. Chelle Angst zu machen war kinderleicht, und Josh schien es Vergnügen zu bereiten, sie auf den Arm zu nehmen. Ryan vergaß oft, dass Chelle älter war als er. Er selbst war ein «Kann-Kind»; man hatte ihn früher als seine Altersgenossen in das eiskalte Wasser der Sekundarstufe geworfen. Dass er klein, hager und voller Sätze war, die in seinem Kopf wunderbar klangen, sich aus seinem Mund aber altklug und besserwisserisch anhörten, hatte die Sache noch schlimmer gemacht. Mit Chelle verband ihn eine Allianz der Verzweiflung. Sie war tapsig und hilflos wie ein Welpe, und die Blässe ihres Haars und ihrer Haut wirkten, als hätte man sie zu oft in die Waschmaschine gesteckt, wo sie beim Spülgang all ihre Farbe und ihre Selbstsicherheit verloren hatte. Das machte sie zu einer verlockenden Zielscheibe des Spotts für alle Schläger und Stänkerer in der Klasse. Sowohl Ryan als auch Chelle waren heilfroh gewesen, dass sie jemanden gefunden hatten, mit dem sie reden konnten, wobei nicht verschwiegen werden soll, dass Chelle offensichtlich nicht über die Fähigkeit verfügte, mit dem Reden aufzuhören.

Josh war ihre Rettung gewesen. Er genoss den Vorteil des Älteren – zwischen der fünften und der sechsten Klasse liegen Welten! –, aber ganz abgesehen davon wusste kein Großmaul in der Schule, was er von Josh halten sollte. Josh mit seinem Katzengrinsen und dem knochentrockenen Humor. Spott und Hohn schienen von den gelben Gläsern seiner Sonnenbrille abzuprallen, bis den Spöttern die Puste ausging. Irgendwie gelang es ihm, die Menschen für sich zu gewinnen, als ob jeder an dem Scherz teilhaben wollte, der seine Mundwinkel stets nach oben wandern ließ. Josh hatte sich an Ryan erinnert, was Ryan maßlos überrascht hatte; sie waren zusammen in der Grundschule gewesen. Und plötzlich standen sowohl Ryan als auch Chelle unter seinem kapriziösen Schutz. Er nahm sie unter seine Fittiche und bewahrte sie wie ein unsichtbares Amulett vor den schlimmsten Mobbing-Attacken. Aus diesem Grund, so vermutete Ryan, nahm Chelle Josh die Neckereien nicht übel, aber trotzdem war ihm unbehaglich dabei.

Normalerweise dümpelten immer ein halbes Dutzend Einkaufswagen in dem kleinen Wald. Aber an diesem Abend schienen die Wagen zu ahnen, dass sie Gefahr liefen, wieder in die Gefangenschaft zurückgebracht zu werden. Sie hatten sich alle versteckt. Endlich trieb Ryan einen am Ufer des Kanals auf. Er lag auf der Seite, als ob er auf seiner hastigen Flucht umgefallen und nicht mehr auf die Rollen gekommen war. Zu dritt zerrten sie ihn zur Mauer, wobei sich der Wagen in jeder Ranke und jedem Grasbüschel festklammerte, in dem verzweifelten Bemühen, ihrem Griff zu entkommen.

Erst als sie die Mauer erreichten, die das Wäldchen vom Parkplatz des Supermarktes trennte, erkannten sie den Webfehler in Joshs Plan.

Der Untergrund auf der Waldseite der Mauer lag viel tiefer als auf der Seite des Parkplatzes. Sie waren diese Mauer so oft hinauf- und hinuntergeklettert, dass ihnen gar nicht mehr auffiel, wie hoch sie war. Jetzt starrten sie abwechselnd traurig den Einkaufswagen an und die Mauer hinauf, die sich hoch über ihnen auftürmte und sie auszulachen schien.

«Wir können es schaffen», meinte Josh nach einer kurzen Weile. «Alles eine Frage der Technik.»

Er änderte kurzerhand seinen Plan, und die drei gingen auf die Suche nach allem, woraus man ein Seil knüpfen konnte – ein Absperrband aus Plastik, ein verschimmeltes T-Shirt, ein Stück Draht. All das knoteten sie zusammen und schlangen ein Ende fest um den Einkaufswagen. Das andere Ende wurde über einen niedrig hängenden Ast geworfen. Chelle und Ryan ergriffen das behelfsmäßige Seil, das auf der anderen Seite des Astes herunterbaumelte. Josh, der bei Weitem der stärkste der drei war, kletterte auf die Mauer und wartete darauf, dass Chelle und Ryan den Wagen hochhievten, damit er ihn packen und über die Mauer ziehen konnte.

Das kann nicht funktionieren, dachte Ryan, als er anfing, an dem «Seil» zu ziehen. Doch dann stieg die Seite mit dem Handgriff in die Höhe und schwang leicht hin und her. Der Plan funktionierte.

Der Flug des Einkaufswagens war ein herrlicher Anblick. Das Drahtgeflecht schlug wiederholt gegen den Baumstamm, und die Räder hinterließen dunkle Narben in den Flechten, die den Stamm überzogen, aber er schwang immer höher, jedes Mal ein paar Zentimeter. Und dann, als Josh ihn beinahe mit den Fingerspitzen erreichen konnte, schlug er gegen einen tiefen Zweig und verschwand zur Hälfte im Laub. Sie zerrten und zogen, das Geäst zitterte und bebte und goss träge Tropfen auf ihre erhobenen Gesichter. Ein dünner Zweig hatte sich unter dem blauen Plastik des Kindersitzes verhakt und gab den Einkaufswagen nicht frei.

Schließlich hörten Ryan und Chelle auf mit Ziehen und Zerren. Sie pusteten auf ihre brennenden Handflächen und starrten zu dem siegreichen Einkaufswagen hoch.

«Ich glaube …», setzte Chelle an. Ihre Worte taumelten haltlos in die Stille. «Ich glaube, wenn wir einen Stock unter dieses Rad schieben und den Wagen hin und her stoßen, dann könnte es …»

«Er sitzt fest», sagte Josh. Tief in ihrem Inneren hatten alle drei die Wahrheit längst erkannt, aber dass Josh sie aussprach, ließ sie zur Tatsache werden. Joshs getönte Brillengläser waren mit dem Verschwinden der Sonne trüb geworden, und dahinter nahm Ryan das bleiche Zucken der Augenlider wahr. Josh blinzelte zweimal und kniff die Augen zusammen. Er saugte die Lippen in den Mund, bis sie nicht mehr zu sehen waren – ein sehr schlechtes Zeichen.

Ohne ein weiteres Wort sprang Josh von der Mauer und ging den Hang hinunter zum Kanal. Ryan und Chelle wechselten einen Blick und folgten ihm dann.

Er wird doch nicht weglaufen und uns hier allein lassen, oder? – Aber was hätte Josh zu verlieren, wenn er spät nach Hause käme? Scherereien zu bekommen war für Josh etwas ganz anderes als für Ryan und Chelle. Manchmal schien es geradezu, als ob Josh überhaupt keine Angst davor hätte. Ryan holte ihn ein.

«Wo gehen wir hin?», fragte er vorsichtig.

«Zur Quelle.» Joshs Stimme klang viel zu ruhig.

Sie hielten mit Joshs schnellem Tempo Schritt, stolperten durch Taubnesseln und duckten sich unter den tief hängenden purpurfarbenen Fingern des Sommerflieders, bis sie die moosbedeckten Stufen erreichten, die zum Ufer des Kanals und dem dort verlaufenden Pfad führten. Ihre Sohlen rutschten auf den glitschigen Schieferblöcken aus, und sie stiegen immer weiter nach unten, bis sie den Kanal zwischen den Bäumen glitzern sahen. Josh blieb stehen. Neben den Stufen war eine kleine Vertiefung im Boden und am Grund der Vertiefung befand sich ein kahler Ring aus Beton: der Rand des Schachts, den man über der Quelle errichtet hatte. Das Loch in der Mitte wurde von einem Maschendraht abgedeckt. In dem Drahtgeflecht steckten etliche leere Chipstüten.

Josh ließ sich auf alle viere nieder. Aber erst als er sein Schweizer Taschenmesser aus der Hosentasche zog und den Schraubendreher-Einsatz ausklappte, wurde Ryan klar, was er vorhatte. Es dauerte nicht lange, da hatte Josh drei der Schrauben gelöst, mit denen das Abdeckgitter befestigt war.

«Das ist ein Wunschbrunnen, nicht wahr?», sagte er, während er mit den übrigen rostigen Schrauben kämpfte. «Und das bedeutet, dass da unten Münzen liegen … Ich hab’s!» Das Gitter löste sich. «Also gut, wer geht runter? Chelle, du bist dünn und gelenkig. Wie wär’s?»

Chelle stieß nur ein entsetztes Quietschen aus.

Josh grinste sie an. «Na gut.» Er schwang die Beine über den Brunnenrand. Ryan und Chelle verfolgten bestürzt, wie er sich langsam nach unten abließ.

«Josh, hör mal … ähm …», begann Ryan. Er wechselte einen beunruhigten Blick mit Chelle, als Josh gänzlich in der Schwärze verschwand.

«Josh, was ist, wenn du stecken bleibst. Sollten wir nicht besser erst ein neues Seil machen und es um deinen Oberkörper binden, damit …»

Von unten ertönte ein scharfer Schrei.

«Josh!», kreischte Chelle. Sie ließ sich auf Hände und Knie fallen und starrte hinunter in den düsteren Brunnenschacht. Das helle Haar fiel um ihr Gesicht.

«Hier unten stinkt’s!», verkündete Josh plötzlich.

«Josh, du hast uns erschreckt!» Chelles Nervosität löste sich in einem blubbernden Kichern auf.

«Na klar, macht nur weiter so. Lacht nur! Ich dagegen hocke hier unten …» Joshs widerhallende Stimme brach abrupt ab. Ein Platschen ertönte. Dann: «So ein Mist!»

Rasch spähte Chelle wieder in den Brunnen.

«Ich glaube, er ist reingefallen», presste sie durch ihr Kichern hervor. «Ich höre es platschen.»

«Dann kann der Brunnen nicht besonders tief sein», flüsterte Ryan. Wenn Josh da unten am Ertrinken wäre, würde er bestimmt mehr Energie darauf verwenden, um Hilfe zu rufen, anstatt leise vor sich hinzufluchen.

«Alles klar, ich habe welche», hörten sie ihn schließlich sagen. Das Echo des Brunnenschachts verlieh Joshs Stimme einen ernsten und Ehrfurcht gebietenden Klang. «Ich komme hoch.» Josh pfiff leise vor sich hin, als er nach oben kletterte. Hin und wieder wurde die Melodie von einem Schaben und dann einem Aufklatschen unterbrochen, wenn sich Mörtel und Steine lösten und ins Wasser hinunterfielen. Endlich tauchte er auf und kletterte über den Brunnenrand. Er schüttelte erst ein Bein aus, dann das andere, versuchte, das Wasser aus seinen Turnschuhen zu tanzen. Aber selbst im Dämmerlicht wurde schnell deutlich, dass seine Schuhe das geringste Problem waren.

Chelle zuppelte ein kleines weißes Etwas aus ihrer Hosentasche. Sie schaute auf das Ding in ihrer Hand und dann auf den völlig durchnässten Josh. Ihre Schultern fingen an zu zucken.

«Hier – ein Tempo!», quiekte sie, und aus irgendeinem Grund war das zum Schreien komisch.

Fünf Minuten später rannten sie über die Hauptstraße von Magwhite und erwischten gerade noch den letzten Bus nach Guildley.

Der Busfahrer riss vor Staunen Mund und Augen auf, als er den grünen Schlick in Joshs Haaren und die Algen auf seinen Sonnenbrillengläsern sah. Er starrte seine Kleider an, die von der Taille abwärts dunkel und klebrig vor Wasser waren, und betrachtete nachdenklich die geschwärzten Münzen, die in einer schleimigen Pfütze in Joshs ausgestreckter Hand schwammen.

«Die hast du aus dem Brunnen gefischt, nicht wahr?»

«Nein», antwortete Josh ungerührt und erwiderte rundheraus den Blick des Busfahrers.

Die Schamlosigkeit dieser Lüge brachte den Fahrer für einen Moment aus dem Konzept. Dann bedachte er Josh mit einem langen Blick, als wollte er ihm versichern, dass er kein Idiot sei und dass er ein Auge auf ihn haben werde. Schließlich stach er mit dem Finger nach ein paar Knöpfen auf seinem Fahrkartenautomaten, woraufhin sich eine Schlange aus drei aneinanderhängenden Tickets in Joshs erwartungsvoll ausgestreckte Hand kräuselte.

Josh schlenderte zum hinteren Teil des Busses und wartete, bis Chelle eine Zeitung, die in einer Ecke der Sitzbank gelegen hatte, für ihn ausgebreitet hatte. Dann ließ er sich grinsend darauf nieder, als ob zu Hause nicht die elterliche Inquisition auf ihn warten würde, wenn er, triefend wie eine ersoffene Ratte und mit Rost unter den Fingernägeln, heimkam.

Er hatte es geschafft. In diesem Augenblick hätte Ryan sich zwischen Josh und eine tödliche Kugel geworfen, hätte ihn mit seinem Körper abgeschirmt. Er wäre ihm durch die Wüste gefolgt oder für ihn durch einen von Blutegeln wimmelnden Sumpf gewatet. Ryan kuschelte sich in seine Gefühlsaufwallung, während Chelle redete und Josh sich die Sonnenbrille mit ihrem Tempo abwischte. Mit einem Mal hätte er sich am liebsten einer großen Gefahr gegenübergesehen oder einem schier unüberwindlichen Hindernis, um sich seines Helden würdig zu erweisen, und er war so gänzlich von diesem Wunsch erfüllt, dass er das Gefühl hatte, er würde sein Herz zum Platzen bringen, wie eine Kastanie ihre Schale.

Hätte Ryan zu diesem Zeitpunkt bereits so viel über Wünsche gewusst wie später, wäre er mit seinen Gedanken viel vorsichtiger umgegangen.

Die ersten zarten Zeichen einer Veränderung machten sich etwa eine Woche nach der Plünderung der Magwhite-Quelle bemerkbar. Ryan war der Erste, dem etwas auffiel, aber das war nichts Besonderes. Ryan sah die meisten Dinge früher als andere.

Eines Morgens erwachte er mit dem Eindruck, dass ihm gerade ein Traum entglitten war. Zurück blieb ein unbehagliches Gefühl, als wäre in dem Moment, in dem er dem Schlaf entkam, eine kalte Hand aus seiner geschlüpft. Dann wurde sein Kopf klar und die feuchtkalte Empfindung verschwand. Er roch Kaffee und wusste sofort, dass das Haus wieder kurz davor stand, belagert zu werden.

Seine Mutter hatte eine strenge Routine für die Tage entwickelt, an denen jemand kam, um ein Interview mit ihr zu führen. Sie glaubte fest daran, dass ein Haus nur dann einladend und gleichzeitig elegant wirkte, wenn es von dem Duft frisch gemahlenen, kostspieligen Kaffees erfüllt war. Unten im Erdgeschoss – in der Küche, im Wohnzimmer und im Wintergarten – brummten sich drei Kaffeemaschinen die Seele aus den Gehäusen.

Ryan griff nach seiner Brille und ertastete nur ein leeres Etui. Also war seine Mutter bereits in seinem Zimmer gewesen.

Als er mit dem Handrücken gegen das Glas Wasser stieß, das jede Nacht neben seinem Bett stand, kam ein Teil der Erinnerung an den Traum zurück. Diese Erinnerung roch nach Gewächshaus, nach feuchten Flecken an der Wand. Sie fühlte sich kalt und silbrig an, und da wusste Ryan, dass er wieder vom Glashaus geträumt hatte.

Etwa dreimal im Jahr träumte Ryan von diesem Glashaus, und zwar seit er denken konnte. Er hatte nie jemandem davon erzählt. Tatsache war, dass die Glashausträume eine merkwürdige, irgendwie säuerliche Spur in seinem Geist hinterließen und er sie immer so schnell wie möglich vergessen wollte. Diesmal allerdings kam ihm die verweilende Erinnerung irgendwie feuchter vor als sonst, als ob sich Tau darauf abgesetzt hätte.

Er kämpfte sich aus dem Bett und tastete sich zur Treppe und dann die Stufen hinunter ins Wohnzimmer. Sein Vater schaute von seinem Kreuzworträtsel auf, als Ryan durch die Tür taumelte.

«Hallo. Wo ist deine Brille?»

«Ich glaube, Mum hat sie», sagte Ryan.

«Oh nein, nicht schon wieder.» Sein Vater blickte über die Schulter in Richtung Küchentür und entschied wie üblich, dass seine Stimme allein – ohne den Rest seines Körpers – die Distanz überwinden konnte. «Anne!», schrie er.

«Schon gut», sagte Ryan hastig. «Mum mag es nicht, wenn man sie beim Kaffeevernebeln stört.»

«Anne!», schrie sein Vater noch einmal. «Unser Sohn läuft blind die Treppe hoch und runter und wird sich dabei wahrscheinlich den Hals brechen. Wäre es zu viel verlangt, wenn wir versuchen, unser Kind nicht umzubringen? Wir haben nämlich nur das eine.»

Das leise Zischen einer Sprühflasche war zu hören, dann die Stimme von Ryans Mutter: «Sag ihm, er soll seine Kontaktlinsen einsetzen, Jonathan. Er muss sich an sie gewöhnen.»

«Ganz besonders, wenn die Gefahr besteht, dass er einem Fotoapparat vor die Linsen laufen könnte, nicht wahr?», schrie Ryans Vater. Ryan war bewusst, dass andere Menschen dafür sorgten, im selben Zimmer zu sein, bevor sie miteinander sprachen. Seine Eltern allerdings fanden es völlig normal, Gespräche zu führen, wenn sie sich an entgegengesetzten Enden des Hauses befanden. Diese Gespräche waren naturgemäß recht lautstark. Im Übrigen gaben sie dieser Gewohnheit nicht nur in ihren eigenen vier Wänden nach. «Über welches deiner Opfer wirst du denn heute befragt?»

«Jonathan, du sollst nicht ‹Opfer› sagen!»

Ryan gab sich alle Mühe, die Leute, über die seine Mutter schrieb, nicht als Opfer zu betrachten. Manchmal war das ziemlich schwer. Sie war eine «inoffizielle Biografin», was zu bedeuten schien, dass man sich viel Mühe geben und alle Hebel in Bewegung setzen musste, um Prominente auf Partys kennenzulernen und dann über sie zu schreiben, ohne sie um Erlaubnis zu bitten. Die Titel der Bücher seiner Mutter waren in glänzenden Buchstaben vorne auf den Einband gedruckt, und hinten standen Worte wie «sensationell» und «schonungslos», und die Prominenten waren meistens gar nicht glücklich darüber. Eine Künstlerin namens Pipette Macintosh war so erbost gewesen, dass sie die Hecke vor Ryans Haus mit einer Sprühdose pink eingefärbt hatte. Ryans Mutter wiederum hatte sich äußerst erfreut gezeigt, weil das bedeutete, dass noch mehr Journalisten um Interviews baten.

«Aber wenn du es genau wissen willst: Vorhang auf! will mit mir über das Buch reden, das ich im Augenblick über Saul Paladine schreibe. Du weißt schon, der Schauspieler.»

«Ach der.» Ryans Vater war Theaterkritiker, obwohl er Jura studiert hatte und auch beinahe sein Examen bestanden hätte. Ryan war der Meinung, dass aus seinem Vater ein vorzüglicher Anwalt geworden wäre, groß, adrett und gut aussehend, wie er war. Er hätte sich fabelhaft gemacht in einer scharlachroten Robe mit einer blendend weißen Perücke, vor den Geschworenen auf und ab schreitend, um dann innezuhalten und sie mit einem langen, verschwörerischen Zwinkern zu beglücken. Man hatte oft den Eindruck, dass er seine Worte so wählte, als wollte er jemanden, den außer ihm niemand sehen konnte, mit seinem Humor beeindrucken.

«Rattert seinen Text wie ein Postbote herunter», murmelte Ryans Vater. Er war nun in dramatische Gedanken versunken, und Ryan war ihm aus dem Sinn entschlüpft. Der wusste, wann sein Stichwort gefallen war, und glitt aus dem Zimmer, und zwar wortwörtlich. Die Böden des Flurs, des Wohnzimmers und der Küche bestanden aus polierten Holzpaneelen, deren Faserlinien in eine Richtung wiesen. Ryan hatte schon vor langer Zeit festgestellt, dass er auf Socken auf diesen Linien entlangschlittern konnte.

Auf einem Fuß rutschend, glitt er in die Küche und musste sich mit der Hand an der Wand abstützen, um das Gleichgewicht zu halten. Die Wand war feucht von Kaffeedampf, und wieder berührte ihn der Traum mit kalten Fingern. Ganz kurz dachte er an eine Wand aus tropfnassem Glas, gegen die er die Hand drückte. Sein Traum-Ich war, wie er sich vage erinnerte, mit einem Gefühl der Unruhe und Dringlichkeit durch das Glashaus gehastet …

Doch als er blinzelte, sah er, dass sich die Küche keineswegs in Glas verwandelt hatte, selbst wenn die Konturen ein wenig verschleiert waren. Seine Mutter stand an einem Tisch und zupfte und ruckte an einer Orchidee in einer Vase herum, als ob sie den Sonntagsanzug eines kleinen Kindes richten würde. Ihr Gesicht war für ihn nur ein verschwommener Schemen, aber er sah, wie ihr langes, schwarzes Haar schwang und schaukelte, als sie mit einer kurzen und knappen Bewegung den Kopf schüttelte, wie so oft, wenn sie ungeduldig oder aufgeregt war.

«Mum, kann ich bitte meine Brille wiederhaben?»

«Du siehst ohne sie viel besser aus.» Der Mutter-Schemen näherte sich. «Lass dich anschauen.»

Ryan fühlte, wie die Finger seiner Mutter auch an ihm zupften und ruckten, genau wie an der Orchidee. Er fragte sich manchmal, ob sie glaubte, dass er, wenn sie nur lange genug an ihm herumschob und -drückte, sich in etwas verwandeln würde, das interessanter war als sein ursprüngliches Selbst. Doch seine Haare und Augen blieben schlammfarben, und kein Zwicken und Zwacken konnte ihn größer oder eindrucksvoller machen.

«Ach je, was ist denn das?» Sie drehte seine Hand hin und her und hielt sie dicht vor ihr Gesicht. Mit dem Daumenballen rieb sie über etwas zwischen seinen Fingerknöcheln, fest, aber nicht schmerzhaft. Trotzdem merkte Ryan, dass er sich wünschte, sie würde damit aufhören. Die Haut an dieser Stelle fühlte sich merkwürdig überempfindlich an. Seine Mutter kratzte leicht an dem besagten Etwas, und Ryan fühlte, wie der Fingernagel über eine leichte Erhebung auf der Haut fuhr.

«Hm. Ich glaube, es ist eine Warze oder etwas Ähnliches. Ryan, wenn du noch mehr davon bekommst, sag mir Bescheid. Dann bringe ich dich zu einem Spezialisten.» Ryans Mutter liebte Spezialisten. Immerhin hatte sie jetzt genug Geld. Sie zeigte so manches Mal ihre Liebe für Ryan, indem sie ihn zu einem Spezialisten schleppte. Manchmal fragte er sich, ob er nicht eines Tages einen davon in Geschenkpapier gewickelt unter dem Weihnachtsbaum vorfinden würde.

Langsam schlitterte Ryan aus der Küche zur Hintertür. Wenn er seine Kontaktlinsen einsetzen würde, wäre seine Mutter glücklich, aber in dieser Beziehung war Ryan dickköpfig. Ihm war klar, dass er nicht darum herumkam, aber er wollte den Moment so lange wie möglich hinauszögern. Die Hintertür glitt auf, wobei die Jalousie laut gegen die Fensterscheibe klapperte, und die Sonne legte ihre heiße Hand auf sein Gesicht.

Er hopste von einem warmen Pflasterstein zum nächsten, bis er die kleine, grün gestrichene Bank unter dem Kirschbaum erreichte. Er setzte sich verkehrt herum darauf, sodass er in Richtung Rückenlehne blickte, und ließ sich dann nach hinten sinken, bis seine Hände das Gras berührten und er das Haus auf dem Kopf stehend betrachten konnte. Irgendwie hatte er das Gefühl, eine Situation besser unter Kontrolle zu haben, wenn er das Haus auf diese Weise auf den Kopf stellen konnte.

Josh war der einzige Mensch, dem er je davon erzählt hatte.

Als Ryan im Alter von sieben Jahren auf der Waites Park Grundschule eingeschult wurde, waren da so viele beängstigende Jungen gewesen. Ryan hatte den Kopf eingezogen, vorsichtig hinter seinen Brillengläsern geblinzelt und gehofft, dass niemand ihn bemerken würde. Aber als die Zeit gekommen war, wo der Rasen des Spielfeldes zu schlammig war, um darauf Fußball zu spielen, und die Gullys von fauligem Laubschlamm verstopft wurden, kannte Josh aus irgendeinem Grund seinen Namen und sprach ihn unbefangen an.

Und dann, als die Zeit für den Heuschnupfen wieder gekommen war, schienen sie unerklärlicherweise Freunde geworden sein. Ryan wurde sich eines Tages darüber klar, als er kopfüber an einem Klettergerüst hing, das in der Ecke des Schulhofs stand. Josh hing neben ihm, und Ryan erzählte ihm von der Frau mit den umgedrehten Augen. Davon hatte er noch nie jemandem erzählt.

Ryan besaß ein Buch über optische Täuschungen. Auf einer Seite war das auf dem Kopf stehende Gesicht einer Frau abgebildet. Es sah so aus, als ob sie hübsch sei und lächelte – bis man das Bild andersherum drehte. Dann bekam man einen Schock, wenn man erkannte, dass das Bild so arrangiert war, dass Augen und Mund nun die Plätze getauscht hatten. Das Lächeln war nur dann ein Lächeln, wenn das Buch richtig herum lag. Falsch herum zeigte sich das Ding, das ein Lächeln gewesen war, als ein schreckliches, verkrampftes Stirnrunzeln aus zusammengepressten Zähnen, und ihre Augen waren verkehrt herum.

Josh war der einzige Mensch, dem Ryan anvertraute, wie sehr ihn dieses Bild verstört hatte. Es hatte ihm gezeigt, dass die Dinge ganz plötzlich fremd und furchterregend werden konnten, wenn man sie aus einem neuen Blickwinkel betrachtete. Von da an war es ihm wichtig, die Dinge auf so vielfältige Art zu begutachten wie möglich, damit er auf alles vorbereitet war.

Als Ryan Josh davon erzählte, war er sich über zweierlei klar geworden. Erstens: Josh würde sein Geheimnis nicht verraten und niemanden aufstacheln, sich wegen der umgedrehten Augen über ihn lustig zu machen. Zweitens: Josh hatte ein ehrliches Interesse an dem, was Ryan erzählte. Hin und wieder lachte er, wenn Ryan erklärte, dass umgedrehte Zypressen so aussahen wie ein Schwall grüne Flüssigkeit, die aus einem Loch in einem Feld gegossen wird, und dass man, wenn man sich auf dem Kopf stehende Menschen vorstellte, automatisch denken musste, dass sie bestimmt klebrige Füße hatten – genauso wie Fliegen –, weil sie ansonsten in den Himmel fallen würden. Er hatte gelacht, und dann hatte er Fragen gestellt und über die Antworten nachgedacht.

«Cool», hatte er schließlich gesagt.

Josh konnte begreifen. Allein dafür betete Ryan ihn an. Und wenn Josh gelegentlich «umgedrehte Augen» erwähnte, dann fing er Ryans Blick ein, um ihm zu versichern, dass er sich nicht über ihn lustig machte, dass es ein Geheimnis war, das nur ihnen beiden gehörte. Dann stieg in Ryan ein warmes, unbehagliches, merkwürdig nervöses Gefühl von Stolz auf.

Er stand auf und schwankte leicht, als ihm das Blut aus dem Kopf nach unten in seinen Körper rauschte. Er tapste zum Haus zurück und tastete sich zum Badezimmer.

«Ryan!» Seine Mutter hatte offenbar das Knarren der Stufen gehört. «Im Bad stehen Töpfe mit heißem Kaffee. Sei vorsichtig, Liebling.»

Der Übertopf mit dem Weihnachtsstern-Muster, der immer im Badezimmer stand, wenn er nicht gebraucht wurde, war auf eine schlanke Blumensäule mit Löwenfüßen platziert worden. Sie war so zierlich, dass Ryan ohne den Schatten eines Zweifels wusste, dass er sie eines Tages umwerfen und alles zerbrechen würde. Es kam ihm so unfair vor, dass er sich wegen etwas schuldig fühlen musste, das er noch nicht einmal angestellt hatte. Sehr behutsam machte Ryan einen Bogen um den Ständer und tastete auf dem Fenstersims nach dem Behälter mit seinen Kontaktlinsen.

Der Spiegel war mit Kaffeedampf beschlagen, und Ryan konnte sein Gegenüber nur geisterhaft erkennen. Der Spiegel-Ryan streckte den Kopf vor und versuchte, besser zu sehen. Er holte die erste Kontaktlinse aus dem Behälter, bog sie ein paar Mal hin und her, um festzustellen, welche Seite aufs Auge gehörte, und balancierte sie dann auf der Spitze seines rechten Zeigefingers.

Ryan streckte den freien Arm aus und wischte mit seinem Ärmel einen Glasbogen frei. Ein Streifen von jenem anderen Ryan wurde sichtbar, wenn auch immer noch verschwommen. Es kam Ryan fast so vor, als ob in dem Raum im Spiegel mehr Dampf waberte als im eigentlichen Badezimmer, und wieder kam ihm kurz sein Traum in den Sinn. Er wehrte die Erinnerung ab und riss das Auge auf, während er das Gesicht zur Hand neigte und die harte Fremdartigkeit der Kontaktlinse auf seinem Augapfel spürte. Er richtete sich auf, versuchte, nicht das Gesicht zu verzerren, und sah – einen Moment lang – aus diesem einen Auge klar und deutlich sein Spiegelbild. Er keuchte auf.

Der Ryan, den er in dem freigewischten Teil des Spiegels sehen konnte, hatte beide Augen geschlossen. Die Wimpern waren dunkel und schwer vor Feuchtigkeit, und aus den geschlossenen Augen flossen Tränen über sein Gesicht. Die Augenlider, sowohl die unteren wie auch die oberen, zitterten, als ob sie darum kämpfen würden, sich öffnen zu können – oder als ob sie hofften, geschlossen bleiben zu dürfen. Dann fingen beide Augen an, sich zu öffnen, und schmutziges Wasser floss zwischen den Lidern hervor und warf Blasen auf den Wangen.

Ryan machte einen Satz rückwärts, stieß mit den Kniekehlen gegen den Badewannenrand und verlor das Gleichgewicht.

Drei Stunden nach der Sache mit dem Spiegel versuchte Ryan, Josh anzurufen. Aber irgendetwas stimmte mit dessen Anschluss nicht, und daher rief er stattdessen Chelle an.

«Hallo?» Chelles Stimme klang am Telefon noch höher und piepsiger als sonst.

«Hallo, Chelle.» Ihr musste man die Wahrheit immer schonend beibringen. «Chelle, ich habe die Blumensäule zerbrochen. Es ist aber nicht so schlimm, weil ich gleichzeitig umgekippt bin und mir den Kopf angestoßen und die Hand an einem heißen Kaffeetopf verbrannt habe, deshalb war mir niemand wirklich böse.»

Im Gegenteil: Statt Ryan wegen seiner Ungeschicklichkeit auszuschimpfen, war seine Mutter wütend auf sich selbst. Eine ganze Weile hatte sie davon gesprochen, Ryan persönlich in die Notaufnahme zu bringen. Den Leuten von der Zeitung würde sie entweder absagen, oder Ryans Vater sollte ihnen ausrichten, dass sie eine Rabenmutter war, die ihr eigenes Kind bei lebendigem Leib in der Badewanne verbrühte. Aber als Ryan den Ausdruck von Enttäuschung auf dem Gesicht seiner Mutter sah, hatte er sie natürlich davon überzeugt, dass die Brandwunde nicht so schlimm war. Er hatte sich selbst für seine Tapferkeit beinahe bewundert. Schließlich hatte sie nachgegeben und den Interviewtermin nicht abgesagt.

«Hör mal, Chelle», fuhr Ryan fort, «meinst du, ich könnte heute Nachmittag zu dir kommen? Und könntest du Josh bitte auch Bescheid sagen?» Die Sache mit dem Spiegel war etwas, das er von Angesicht zu Angesicht besprechen wollte. Chelle fragte ihre Mutter und kam gleich darauf wieder zum Telefon.

«Sie sagt, ich darf. Sie meint, dann würde ich wenigstens nicht im Weg herumstehen, wenn Miss Gossamer kommt.»

Miss Gossamer war eine Freundin von Chelles Großmutter gewesen. Nachdem Chelles Großmutter still und in aller Ruhe aus dem Leben getreten war, war Miss Gossamer still und in aller Ruhe in Chelles Familie eingetreten. Ryan fand, dass Chelles Eltern sich sehr großherzig verhielten, aber irgendwie kam es ihm merkwürdig vor, wie in einem dieser Träume, wo ein vertrautes Gesicht von einem unbekannten Antlitz ersetzt wird, ohne jede Erklärung. Und obwohl Chelle nie ein Wort darüber verlor, war sich Ryan sicher, dass sie genauso empfand.

Ryans Mutter fühlte sich immer noch schuldig wegen des Kaffee-Unfalls, sodass sie ihn zu Chelle fuhr, anstatt ihn durch den Park laufen zu lassen.

Chelle wohnte in einem Reihenhaus – einem von vielen – mit hohen, schmalen Fenstern und breiten, tiefen Fensterbänken, die sich wunderbar als Katzenbalkone eigneten. Wie viele ältere Häuser hatte auch dieses ein Souterrain. Von einem kleinen Vorplatz vor dem Haus führten zwei Stufen zur Haustür hinauf und ein halbes Dutzend zum Tiefparterre hinunter.

Die beiden untersten Fenster gehörten zum Souterrain und lagen unterhalb des Straßenniveaus. An einem sah Ryan Chelles Gesicht. Sie lächelte und winkte ihm zu. Gleichzeitig öffnete sich die Haustür.

«Hallo Ryan», sagte Chelles Mutter, ohne ihn wirklich zu beachten. Stattdessen schaute sie zum Auto seiner Mutter. «Kommt deine Mutter nicht auf ein Tässchen Tee herein?»

«Sie hat eine Verabredung … ähm, irgendwo …. ähm, dringend.» Seine Mutter winkte vom Wagen aus mit dem strahlenden, breiten Lächeln, das sie immer aufsetzte, wenn sie sich unbehaglich fühlte – bei Leuten wie Chelles Mutter, die sie zu gerne ins Haus gelockt und mit ihr über die berühmten Leute getratscht hätte, die sie kannte.

«Wie schade!», sagte Chelles Mutter und warf dann einen geistesabwesenden Blick auf Ryan, als ob sie prüfen wollte, ob der Postbote auch das richtige Paket abgeliefert hatte.

Chelles Mutter hieß Michelle. Als Kind hatte man sie «Chelle» genannt, und das hatte ihr so gut gefallen, dass sie ihre dritte Tochter auf diesen Namen hatte taufen lassen. Er stand auf ihrer Geburtsurkunde. Ryan fand, dass Chelles Mutter genau der Typ war, der so etwas für eine gute Idee hielt.

Sie hatte große, zaudernde Augen und ein breites, zauderndes Lächeln, und sie war immer irgendwie beschäftigt, so wie eine Motte beschäftigt ist, wenn sie gegen einen Lampenschirm prallt. Als sie hörte, dass Chelles Schulkameraden sie «Schneckengehirn» nannten, meinte sie bloß: «Kinder sind schon witzig, nicht wahr?»

Ryan folgte Chelles Mutter durch die Diele, wo ihn der Griff von Miss Gossamers Regenschirm, der im Schirmständer stand, mit seinem Papageienschnabel in die Hand zwickte, wie üblich.

Bei Chelle zu Hause war immer so viel Lärm, dass Ryan sich fragte, wie es die Leute hier überhaupt schafften, miteinander zu reden. In der Küche lief das Radio, im Wohnzimmer der Fernseher; oben wurde gestritten, und alle paar Minuten rannte irgendjemand die Treppe hoch oder runter.

Chelle erwartete ihn in der Küche. Ihre Begrüßung ging in dem Geschrei unter, mit dem der Streit im Obergeschoss eskalierte. Dann herrschte plötzlich Ruhe, ehe Celeste, Chelles älteste Schwester, mit ihrem Fahrradhelm auf dem Kopf zur Haustür donnerte. Jemand anderes, vermutlich Chelles zweite Schwester Caroline, reagierte darauf mit heftigem Türenknallen.

Ryan und Chelle besorgten sich etwas zu trinken und stiegen dann die enge Treppe zur Höhle hinunter.

«… hast du dir schlimm die Hand verbrannt?» Chelles nervöses, unentwegtes Geplapper wurde erst wieder vernehmlich, als sich die Zimmertür hinter ihnen schloss. «Oh, aber nicht den Verband abmachen! Ich will’s gar nicht sehen. Ich hasse Narben und so etwas, dann habe ich immer das Gefühl, als ob sich mein Magen schält …»

Keine von Chelles Schwestern hatte ins Tiefparterre ziehen wollen. Die Fenster ließen kaum Licht ein, und die Lampe gab ein nervtötendes Pick-pick-pick von sich. Auf der Decke breiteten sich gelbliche Feuchtigkeitsflecken aus, die nach und nach eine Art Landkarte bildeten. Und so hatte Chelle den ganzen riesigen, nasskalten, kerkerähnlichen Raum für sich, und sie liebte ihn mit einer Leidenschaft, die ihre Schwestern vor Neid hätte erblassen lassen, wenn sie davon gewusst hätten.

Die Höhle war ideal für geheime Treffen. Ryan fand es toll, nach oben aus dem Fenster zu schauen und die Füße der vorbeigehenden Menschen zu betrachten, die keine Ahnung hatten, dass sie beobachtet wurden.

«… es ist blöd, weil sie mir immer das Gefühl gibt, na ja, du weißt schon, wie wenn dich jemand beobachtet und du merkst, dass dir trockenes Laub hinten in den Pulli gefallen ist …»

Ryan hatte keine Ahnung, wovon Chelle gerade redete. Aber das Gute daran war, dass Chelle gar nicht erwartete, dass ihr jemand zuhörte. Wenn man sich an sie gewöhnt hatte, konnte man ihrem Mundwerk einfach freien Lauf lassen und hatte gleichzeitig die Gelegenheit, lange und gründlich darüber nachzudenken, was man selbst als Nächstes sagen wollte.

Ryan und Chelle fühlten sich immer etwas merkwürdig, wenn sie nur zu zweit waren, ohne Josh. Auf gewisse Art war es unbekümmerter, denn Josh war wie eine Rakete, und man wusste nie genau, in welche Richtung er explodieren würde. Wenn er nicht da war, dann sprachen sie offener miteinander und merkten häufig, dass sie einer Meinung waren. Irgendwie wurden beide dann ein bisschen größer und lauter, um die Lücke zu füllen, die Joshs Abwesenheit hinterließ. Aber es war beängstigend, diesen Abgrund auszustopfen. Früher oder später stellte einer von ihnen die Frage, was Josh davon halten würde, und dann fingen sie fröhlich an, über ihn zu reden, was dazu führte, dass der abwesende Josh so mächtig anschwoll, dass er die Lücke selbst füllte.

Ryan wusste, dass es auch heute nicht lange dauern würde, bis er Joshs Namen erwähnte, aber erst wollte er Chelles Meinung hören, nicht das, was Chelle für Joshs Meinung hielt.

«… und anfangs dachte ich, es sei das Radio, aber dann stellte sich heraus, dass ich es war, und ich weiß immer noch nicht, wovon ich da geredet habe.» Chelle zog eine Grimasse, und Ryan sprang in ihr momentanes Schweigen.

«Chelle, da … da ist etwas, das ich dir sagen wollte. Es geht um den Grund, warum ich in die Badewanne gefallen bin.»

Chelle wartete darauf, dass er weitersprechen würde, ihre eigene Geschichte völlig vergessend.

«Meine Eltern denken, dass es daran lag, dass ich nichts sehen konnte und der Boden feucht war vor Dampf, aber das war es nicht. Chelle … ich habe etwas gesehen, und ich wich zurück, um von diesem Etwas wegzukommen. Es ist passiert, als ich meine Kontaktlinsen einsetzen wollte. Klar, mir tränten die Augen und ich hatte keine Brille auf und außerdem war überall Kaffeedampf, aber trotzdem konnte ich mein Gesicht im Spiegel erkennen. Nur dass es das nicht war.»

«Es war was nicht?»

«Es war nicht mein Gesicht.»

Die Glühbirne füllte die Stille mit ihrem Pick-pick-pick an, während Chelle auf der Luft herumkaute und dann schluckte.

«Es sah zwar aus wie ich», fuhr Ryan fort und merkte, wie seine Stimme schrill wurde, «meine Haare und meine Augenlider und alles, aber wieso konnte ich meine Augenlider sehen? Meine Augen waren doch offen! Und als mein Spiegelbild die Augen öffnete, begann Wasser herauszuströmen. Nicht nur Tränen, sondern ganze Wasserfälle. Und das Wasser hatte eine falsche Farbe. Ich meine, jede Farbe ist falsch für Tränen.»

«Das ist echt unheimlich», sagte Chelle piepsend. Sie versuchte ihm nicht einzureden, dass er sich das alles nur eingebildet hätte. Ryan fühlte eine Welle der Erleichterung. «Ich wünschte, Josh wäre hier», fügte sie hinzu.

«Kommt er nicht?»

«Doch, aber später. Er muss wieder seinen Dienst ableisten, hast du das nicht gewusst? Weil er doch ganz schlammig und grün vom Brunnen war, als er heimkam, und nicht sagen wollte, wo er gewesen war.» Joshs Eltern hielten es für eine sinnvolle pädagogische Maßnahme, ihn jedes Mal, wenn er etwas angestellt hatte, zu nützlichen Diensten zu verdonnern, die aus ihm einen besseren Menschen machen sollten. Meistens musste er in dieser Zeit bei seinen ältlichen Tanten wohnen, die seine Mutter verabscheute, musste für sie Gartenarbeit verrichten oder die Schuppen ausfegen. Statt ihn mit Hausarrest zu bestrafen und ihm zu verbieten, das Haus zu verlassen, verboten ihm seine Eltern, sein Heim zu betreten. Er musste seinen Hausschlüssel abgeben und hatte keinerlei Zugang zu den Dingen, die ihm gehörten, bis er seine Strafe abgebüßt hatte.

«Und alles nur, um mich loszuwerden», hatte Josh einmal gesagt. «Sie würden mich am liebsten zurückschicken, wenn sie die Quittung finden könnten.»

Ryan konnte sich nicht vorstellen, wie er sich fühlen würde, wenn ihn seine Eltern in diese Art von Exil verbannen würden. Josh, der die meisten Strafen mit einem grimmigen Humor hinnahm, reagierte auf das Arbeitslager in Merrybells – so hieß das Haus seiner Tanten – mit einer merkwürdigen fiebrigen Stimmung, die an Wahnsinn grenzte und so ganz anders war als all seine anderen Launen. Seinen Tanten, die er nicht leiden konnte, gehorchte er mit einer dumpfen, bedrohlichen Verschlossenheit – entweder das, oder seine Strafe wurde verlängert –, aber für alle anderen wurde der Umgang mit Josh zu einem Spaziergang über ein Minenfeld.

Irgendwo klingelte ein Telefon, und dann näherten sich Schritte der Tür zur Höhle. Chelles Schwester Caroline öffnete mit dem Telefon in der Hand die Tür.

«Es ist Josh. Fünf Minuten, klar? Ich erwarte einen Anruf.»

Chelle wartete, bis Caroline die Tür hinter sich wieder geschlossen hatte, bevor sie den Hörer ans Ohr legte.

«Hallo Josh, wir haben uns schon gefragt, wo du … oh nein, aber Ryan hatte so ein komisches Erlebnis … nein, er ist hier.»

Mit einem unguten Gefühl im Bauch nahm Ryan das Telefon im Empfang. Wenn Josh Chelle nicht ausreden ließ, war er in einer sehr schlechten Stimmung.

«Es geht schneller, wenn ich’s dir sage», begann Josh ohne Umschweife. In seiner Stimme lag ein scharfer, knöcherner Unterton, gedämpft durch ein schwaches Surren im Hintergrund, wie von einer schleudernden Waschmaschine. «Ich bin bei den Tanten. Ich kann nicht in die Höhle kommen. Wenn es etwas Wichtiges zu sagen gibt, sag’s mir jetzt, bevor sie wiederkommen.»

Ryan versuchte Josh zu sagen, was er Chelle erzählt hatte, aber schnell, damit Josh nicht ungeduldig wurde.

«Die Geschichte wäre noch besser, wenn eins der Augen aus der Höhle fallen und an einem Stück Schnur hängen würde», sagte Josh gänzlich unbeeindruckt. «Mist, die Tanten sind wieder da.»

Ryan merkte plötzlich, dass es nicht Joshs Launenhaftigkeit war, die ihn unruhig machte. Etwas störte ihn, irgendetwas; es war wie das sanfte Klopfen von Fingerspitzen auf seinem Nacken. Es dauerte eine ganze Weile, bis er erkannte, dass das vertraute Pick-pick-pick der Glühbirne sich beschleunigte.

«Ich muss los. Wenn du Angst vor deinem eigenen Gesicht hast, halte dich von Spiegeln fern.»

«Josh …»

Pick.

Pick.

Pick.

Pick. Pick. Pick. Pick-pick-pick-pickpickpickpickpickpick …

Als Josh auflegte, flammte der Glühfaden, der mit jedem leisen Klicken leicht geflackert hatte, blendend weiß auf. Eine kleine Weile leuchtete der Draht noch nach, wie ein winziges rotes Glühwürmchen in der Dunkelheit. Dann erstarb er.

In dieser Nacht schlief Ryan schlecht. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, war der Unsichtbare wieder da, der sanft gegen seinen Nacken geklopft hatte, als er der Glühbirne beim Sterben zugehört hatte. Im Moment hockte er auf seinem Bett und tippte auf die Haut zwischen den Knöcheln seines verbrannten Handrückens. Seine Hände bewegten sich unwillkürlich, um das Kitzeln wegzuwischen. Die forschenden Fingernägel seiner anderen Hand ertasteten eine Ansammlung von kleinen Erhebungen auf seiner Haut und kratzten darüber, erweckten ein schlafendes Jucken zum Leben.

Es war so heiß. Jedes Mal, wenn er drauf und dran war einzuschlafen, breitete sich das Kitzeln in juckende Flächen aus, die größer als seine Hände waren und pulsierten wie die Glühbirne in der Höhle, ehe sie den Geist aufgab. Der Verband kam ihm mit jedem Pochen enger vor. Irgendwann taumelte er ins Badezimmer und hob eine Ecke davon an.

Die Schwellungen auf seiner Hand waren nicht das Resultat der Verbrennung. Sie waren weiß und spannten wie frische Brennnesselstiche, waren aber so gewölbt und rund wie Tautropfen. In jeder befand sich in der Mitte ein dünner Schlitz wie der erste, kaum wahrnehmbare Spalt in einer Kastanienschale. Die Schlitze waren mit zarten schwarzen Härchen besetzt, die bei jedem Vibrieren leicht flatterten.

Ryan drehte das kalte Wasser auf und hielt seine Hand unter den Strahl. Ich habe das nicht gesehen; es gibt nichts, was so aussieht; ich schlafe; wenn ich sie nicht anschaue, dann sehen sie nicht so aus … Ein Panikpfropfen saß ihm in der Kehle.

Erst als seine Hand so taub vor Kälte war, dass es wehtat, wagte er, sie aus dem Waschbecken zu nehmen. Zwischen seinen Knöcheln saßen fünf weiße, verschrumpelte Warzen. Nichts weiter.

Wusste ich doch, dass sie nicht so aussehen. Ryan ging wieder ins Bett, entschlossen, niemandem davon zu erzählen; dann wurde es nämlich auch nicht wahr. Er legte sich hin und ließ seine Hand in einen Becher mit Wasser hängen. Jemand hatte ihm mal erzählt, dass man ins Bett pinkelt, wenn einem im Schlaf die Hand nass wird. Er hoffte inständig, dass das nicht stimmte.

Am nächsten Tag lauerten ihm seine «Träume» auf.

«Gute Idee!», lobte seine Mutter, als sie ihn von Schulbüchern umringt an seinem Schreibtisch sitzen sah. Er verriet ihr nicht, dass er verzweifelt versuchte, sich mit Mathe abzulenken. Die kalten, glatten Zahlenreihen nahmen immer seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, sodass er an nichts anderes denken konnte.

Aber heute fühlte sich selbst Mathe heiß an. Gerade als er seine Konzentration auf die Aufgaben gelenkt hatte, riss ihn das Klingeln des Telefons wieder heraus. Aber am anderen Ende der Leitung war nichts zu hören außer einem schabenden, knirschenden Geräusch und einem hohen Sirren, das wie ein Käsemesser durch sein Gehirn schnitt.

«Wahrscheinlich irgendein Fax-Gerät», sagte seine Mutter. «Wir hatten heute Morgen schon drei solcher Nachrichten auf dem Anrufbeantworter.»

Ryan öffnete das Fenster. Die Blätter der Bäume glänzten wie Münzen. Der Unsichtbare war ihm gefolgt und tipp-tipp-tippte auf seine bandagierte Hand.

«Ryan!», rief seine Mutter. «Chelle ist am Telefon!»

Als er den Hörer nahm, schlug ihm eine Wand von unentwirrbaren Worten gegen das Ohr.

«Chelle, Moment mal, mach langsam», unterbrach sie Ryan so freundlich, wie er nur konnte.

«Es ist schon wieder passiert! Aber diesmal war es richtig schlimm, weil Miss Gossamer da war und sie mich so merkwürdig angeschaut hat. Ich bin sicher, sie dachte, ich würde über sie reden … und ich weiß nicht mal, ob’s so war oder nicht!» In ihrem Atem lag ein leichtes Kratzen, und Ryan wusste, dass sie sich wegen irgendetwas so große Sorgen machte, dass wieder ein Asthmaanfall drohte.

«Chelle, was genau ist wieder passiert?»

«Du weißt doch – ich … ich habe dir gestern davon erzählt …»

Mit einem sich rasch ausbreitenden Schuldgefühl erkannte Ryan, dass Chelle ihm irgendwann am gestrigen Tag etwas Wichtiges anvertraut hatte und dass er keine Ahnung hatte, was es war.

«Ähm … na, dann erzähle mir doch, was diesmal passiert ist», bat er mit sanfter Stimme.

«Ach, es war genauso wie gestern, nur dass wir diesmal einkaufen waren, und plötzlich kamen diese ganzen groben Worte aus meinem Mund über irgendjemanden, der in der Schlange steht und drängelt, und über jemand anderen mit einem fetten Hintern …»

Andererseits, selbst wenn ich ihr zugehört hätte, hätten ihre Worte nicht viel Sinn ergeben.

«… und ich habe versucht, Josh anzurufen, aber wenn jemand ans Telefon geht, dann gibt es dieses komische Geräusch, als ob man neben einem Schaufelbagger steht, und ich konnte nichts hören, nur irgendwie eine Stimme, ganz schwach, und ich glaube, es war Josh. Und ich glaube, er sagte, dass wir irgendetwas tun müssten, bevor uns noch mehr Köpfe wachsen würden, aber irgendwann gab er es auf und sagte einfach nur noch ‹Merrybells›, wieder und wieder, als ob er ganz sicher sein wollte, dass ich es auch höre.»

«Er hat immer noch Tanten-Dienst.»

«Ryan …», sagte Chelle zitternd, «was, glaubst du, hat er damit gemeint?»

«Wir müssen mit ihm reden.» Ryan zögerte. «Es ist Zeit für eine Mission. Wir müssen nach Merrybells. Versuchen wir mal, ob der Wasseruhren-Plan funktioniert.»

Ehe er aufbrach, überprüfte Ryan insgeheim noch einmal den Anrufbeantworter und sah, dass eine weitere Nachricht eingegangen war. Auch diese war wegen des statischen Rauschens und ohrenzerfetzenden Surrens kaum verständlich, aber da war tatsächlich eine Stimme, die in dem grauen Lärm ertrank.

«… das ist nicht mehr lustig …» Das klang nach Josh, aber ohne Joshs übliche Selbstsicherheit.

Eine Stunde später kletterten Chelle und Ryan vorsichtig an einer riesigen Uhr hinauf.