Der Lügner und sein Henker - Christoffer Carlsson - E-Book
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Der Lügner und sein Henker E-Book

Christoffer Carlsson

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Beschreibung

Einen Tag vor Mittsommer wird Charles Levin, Leo Junkers langjähriger Mentor und Freund, in einem kleinen schwedischen Urlaubsort ermordet. Leo ist schockiert, reist an den Tatort, um bei der Lösung des Falls mitzuhelfen; schließlich kannte keiner Levin so gut wie er – denkt er zumindest. Doch schon bald stellt Leo fest, dass ihm sein Freund vieles verschwiegen hat: seine dubiosen Verbindungen zum Geheimdienst in den Achtzigerjahren und die Existenz einer Tochter, die schwer traumatisiert ist. Nach und nach setzt Leo die neuen Puzzleteile aus Levins Leben zusammen – und gerät dadurch selbst in größte Gefahr …

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Zum Buch

Einen Tag vor Mittsommer wird Charles Levin, Leo Junkers langjähriger Mentor und Freund, in dem kleinen schwedischen Ort Bruket ermordet. Leo ist schockiert, reist an den Tatort, um bei der Lösung des Falls mitzuhelfen; schließlich kannte keiner Levin so gut wie er – denkt er zumindest. Doch schon bald stellt Leo fest, dass ihm sein Freund vieles verschwiegen hat: unter anderem seine dubiosen Verbindungen in den Achtzigerjahren zum Geheimdienst und die Existenz einer Tochter, die schwer traumatisiert ist. Nach und nach setzt Leo die neuen Puzzleteile aus Levins Leben zusammen – und gerät dadurch selbst in größte Gefahr …

Zum Autor

Christoffer Carlsson, geboren 1986, ist promovierter Kriminologe und hat bereits während des Studiums mehrere Thriller veröffentlicht. Inzwischen zählt er zu den erfolgreichsten Krimiautoren Schwedens. Seine Leo-Junker-Serie hat international höchstes Lob erhalten und erscheint in 18 Ländern. Nach Der Turm der toten Seelen und Schmutziger Schnee ist Der Lügner und sein Henker der dritte Teil der Serie.

Christoffer Carlsson

DER LÜGNER UND SEIN HENKER

Thriller

Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann

C. Bertelsmann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Mästare, Väktare, Lögnare, Vän bei Piratförlaget, Stockholm.
Copyright © 2015 by Christoffer Carlsson Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 beim C. Bertelsmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlag: buxdesign/München Umschlagmotiv: Arcangel/Tim Robinson 2016 Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-641-18081-2V003
www.cbertelsmann.de

Für Anna, Sofia, Christine und Astri

Do you know what love is?I’ll tell you:It is whatever you can still betray.

John Le Carré

Schweden …

Man erinnert sich an die Zeit und die Ereignisse, die sich über diese Seiten hier ergießen, und ahnt, dass die offizielle Erklärung, die Version, nicht die Wahrheit war. Der Verdacht ist berechtigt, aber es ist doch anders, als man glaubt. Die Wahrheit ist noch immer ein seltener Gast.

Es ist der Nachmittag des 18. Juni 2014.

Der Ort: Bruket. Er ist ein letztes Mal zurückgekehrt.

Schweden. Das, was passiert ist, war ein schweres Verbrechen, es hatte eine lange Geschichte und begann, wie so oft, mit zwei Menschen, die genötigt wurden, ein Geheimnis zu teilen.

Er war dabei, als es im Winter 1980 geschah, als nur noch Ruß und Asche übrig blieben, und er war dort, als das Wasser sie vier Jahre später holte. Da konnte man schon etwas ahnen, doch erst viel später begriff man das Ausmaß dessen, was geschehen war.

Schweden. Was dann folgt, zwingt die Schuldigen, sich zu unterwerfen.

Vergib ihnen.

Juni 2014

IRGENDETWAS STIMMT NICHT, ich weiß es, irgendetwas ist definitiv nicht so, wie es sein sollte.

Ich …

Ich habe keine Ahnung, wie ich weitermachen soll.

Mein Name ist Leo Junker. Ich bin vierunddreißig Jahre alt und sitze auf meinem Balkon. Manchmal kommt es mir so vor, als würde sich die Zeit rückwärtsdrehen, und in meinen Erinnerungen fühle ich mich älter, als ich es heute bin.

Ich laufe durch die Außenbezirke von Salem. Die Welt hat riesige Zähne und eine gespaltene Zunge, sie kann jeden beißen, der sich nicht in Acht nimmt. Ich bin zehn, vielleicht elf Jahre alt und auf dem Weg von Rönninge nach Hause. Soeben bin ich zum ersten Mal überhaupt in meinem Leben allein aus einem Bus gestiegen, und ich habe Angst, dass ich die falsche Haltestelle erwischt haben könnte und die Umgebung, die mich hier erwartet, nicht wiedererkenne.

Es ist Spätherbst, das Laub an den Bäumen ist schon trocken, und ich bin erleichtert, als ich die bekannten Häuser der Triade sehe. Obwohl ich eigentlich nach Hause gehen sollte, wandere ich weiter, meine neu gewonnene Freiheit – so fühlt es sich an – macht mich mutig. Ich habe einen Rucksack auf dem Rücken, und in dem ist mein neuer Walkman. Ich setze die Kopfhörer auf, höre auf den Puls der Musik, und als ich den Wasserturm erreiche, erhebt er sich wie ein Tempel vor mir.

Ich entdecke ein paar Jugendliche, die mehrere Klassen über mir sind. Sie hocken zusammen und teilen sich eine Zigarette. Sie scheinen zu lachen, aber ich höre sie nicht. Ich drücke mich am Rand des Kiesplatzes herum und sehe, wie einer der Jungs den Arm um eines der Mädchen legt, und einen anderen, der die Hand auf ihren Oberschenkel platziert.

Ich will hingehen, aber ich mache kehrt und laufe heim.

Das ist meine Kindheit.

Wie Papa und Mama riechen, wenn sie von der Arbeit nach Hause kommen. Die Sonne, deren Strahlen die Hausdächer glitzern lassen, und der Geruch von Gebratenem und Abgasen. Blaulicht, das ebenso plötzlich aufflackert wie die Angst in der Stille, die älteren Graffiti, tags und pieces und punitions, und wie wir die starken Farben betrachten und uns die Schwünge einprägen. Das Warten auf einen Vorortzug, der nicht immer kommt oder schon vorbeigerauscht ist, und Zigaretten, später Joints, und Geld, das den Besitzer wechselt, und der blaugraue, süßliche Rauch, der zwischen meinen Fingern aufsteigt, und ich erkenne, dass ich auch diesmal wieder mein komplettes Taschengeld verbrannt habe. Und später dann der Tag, an dem mein bester Freund Grim und ich aus einer Boutique an der Birger-Jarlsgatan Kleider klauen und darüber lachen. Meine Kindheit, das ist Rap von Nas, Illmatic mit The city never sleeps, full of villains and creeps, that’s where I learned to do my hustle. Und Grim und ich sitzen ganz oben auf dem Wasserturm, und mir kommt plötzlich der Gedanke, dass die Welt vielleicht irgendwo auch einen Platz für mich bereithält.

In den ersten Sommertagen 2014 denke ich viel an das, was einmal war, an all das Wasser unter den Brücken, und während der durchwachten Nächte bildet sich eine Erkenntnis heraus. Es wird etwas Entscheidendes geschehen.

Und am Nachmittag des 9. Juni kommt, wie eine Bestätigung, der Telefonanruf.

ALS TOVE WALTERSSON KLEIN WAR, fragte sie ihre Mutter, woher all die Häuser und Bäume kämen und warum Bruket so groß sei, warum es so lange Äcker gäbe und so dichte Waldstücke mit Ansammlungen von toten Bäumen. Die Büsche hatten seltsames Blattwerk, das sich ineinander und um alles zu schlingen schien, auf das es stieß: Stümpfe, Steine, verrostete Fahrzeuge und alte, unbewohnte Häuser.

Ihre Mutter antwortete ihr dann, dass Gott unzufrieden gewesen wäre, als er auf sie herabgesehen hätte, um sein Werk zu betrachten. Alles war zu klein, zu eng und zu gestaucht. Um es besser zu machen, hatte er seine gewaltigen Hände über sie gesenkt, hatte die Außengebiete von Bruket gegriffen und daran gezogen, so wie man einen Pullover lang zieht, aus dem man allmählich herauswächst.

Das war jetzt lange her, ja, seither waren bald dreißig Jahre vergangen, aber das Gefühl war noch dasselbe. Man vergisst es so leicht, wenn man eine Weile nicht hier gewohnt hat. Besucher klagen oft, dass ihnen die Sonne hier mehr zusetzt als anderswo. An einem 19. Juni ist Schatten eine Seltenheit und der Asphalt so heiß, dass die Luft über ihm flimmert.

Der Alvavägen ist mit einem blau-weißen Band abgesperrt, das schlapp zwischen den Laternenpfählen hängt. Tove hält das Auto an, dreht die Haare zu einem Knoten und nimmt die Sonnenbrille ab.

Zwei Streifenwagen warten bei der Absperrung. Brandén und Åhlund stehen jeder mit einer Dose Fanta in der Hand an die Motorhaube gelehnt da und unterhalten sich.

»Nummer 10«, sagt Brandén.

»Wer ist es?«, fragt Tove.

»Ein älterer Mann.« Åhlund trinkt. »Charles Levin.«

»Der Charles Levin?«

Åhlund sieht Brandén an, der die Augenbrauen hochzieht.

»Wer?«, fragt er.

»Der Polizist Charles Levin.«

»Klasse und Östen waren zuerst vor Ort, die sind noch drin. Sprich mit denen. Vor einer halben Stunde ist in Halmstad ein Techniker losgefahren, der wird dann wohl auch in einer Viertelstunde hier sein.«

Am Alvavägen 10 steht ein hellgraues Holzhaus, heruntergekommen und alt. Von Weitem sieht es mehr wie eine Sommerhütte aus. Am Zaun hängt ein Briefkasten ohne Namensschild, und die Haustür steht offen. In den Fenstern ist kein Licht zu sehen, und wenn man für etwas dankbar sein kann, dann vielleicht dafür. Brennende Lampen im Haus eines toten Menschen sind etwas Unbehagliches.

Tove zieht die Schuhe aus und betritt die kleine Diele.

In einem Zimmer auf der rechten Seite steht Östen Vallman, sein Telefon in der Hand, und scheint etwas zu suchen. Ein Sofa passt dort auf einen Glastisch auf, und an der Wand hängt neben einem großen leeren Bücherregal ein Carl-Larsson-Bild. Entlang der anderen Wände stapeln sich Umzugskartons, auf denen GESCHIRR, GLAS oder BÜCHER steht.

»Links«, sagt Vallman, »in der Küche, da ist er.«

Am Küchenfenster steht ein Tisch mit zwei Stühlen. Levin liegt auf der Seite. Er trägt Bluejeans und ein hellgelbes Polohemd. Aus dem Loch an seiner rechten Schläfe ist viel Blut geflossen und hat eine Lache auf dem Boden gebildet. Es gibt keine Schleifspuren oder Abdrücke um ihn herum. Wahrscheinlich hat er auf dem Stuhl gesessen, als es geschah, und ist dann zusammengesunken und zu Boden gefallen. Der andere Stuhl steht ein wenig abgerückt vom Tisch, so als wäre dort jemand einfach aufgestanden und gegangen.

Auf der Tapete prangt in etwa eineinhalb Metern Höhe eine Wolke aus winzigen Blutspritzern.

Das Opfer ist ein hochgewachsener, schlanker Mann über sechzig, der sich aber offensichtlich bemüht hat, fit zu bleiben. Seine markanten, aber eleganten Gesichtszüge mit den hohen Wangenknochen sind von den ersten Sommerwochen gebräunt, und die Nase hat die Form eines Geierschnabels.

Er ist es. Zum Teufel.

»Wann kam der Notruf?«

»Vor einer Stunde, zwei Minuten nach elf«, sagt Vallman, den Blick unverwandt auf das Display des Handys gerichtet. »Ein alter Bekannter des Opfers, Lars-Erik Sunesson, hat angerufen. Die beiden hatten gestern miteinander telefoniert und sich für elf Uhr auf einen Vormittagskaffee verabredet. Als er hierherkam und an der Tür klingelte, öffnete niemand. Da hat er sich Sorgen gemacht und durchs Küchenfenster geschaut. Als er Blut auf dem Fußboden gesehen hat, hat er uns angerufen.«

»Wo ist Sunesson jetzt?«

»Klasse hat ihn nach Hause gefahren, um dort seine Daten aufzunehmen. Der Mann war ziemlich erschüttert.« Vallman senkt die Stimme, obwohl sie allein sind. »Ich glaube, der musste sich erst einmal einen genehmigen.«

Der Bauernsohn Östen Vallman hat das Gesicht eines Hundes und die Hände eines Knechtes. Als Teenager war er der beste Kugelstoßer von Bruket, und einmal gewann er sogar die Bezirksmeisterschaft in seiner Altersklasse, was mit einer Notiz in der Zeitung belohnt wurde. Er war hübsch auf eine Weise, wie dumme Jungs es in der Oberstufe manchmal sein konnten, einfach nur, weil ihre Blicke so leer waren.

»Hat er das vielleicht selbst getan, was meinst du?«, fragt er und sieht auf den Toten hinunter.

»Sich selbst erschossen?«

»Ich meine«, fährt er fort, »so wie die Kugel eingedrungen ist und wie er liegt.«

»Siehst du eine Waffe?«

Vallman sieht sich hoffnungsvoll um, das Telefon in seiner groben Hand wirkt winzig. Als er nichts entdeckt, wendet er sich wieder Tove zu.

»Könnte es …«

»Und die beiden Tassen auf dem Tisch, weisen die vielleicht darauf hin, dass er mit sich selbst Kaffee getrunken hat? Mit einem eingebildeten Freund?«

Vallman schaut sie an und legt den Kopf schief.

»Du könntest ruhig ein bisschen netter sein. Kein Wunder, dass die Leute dich nicht leiden können.«

»Sie werden mich sowieso bald versetzen. Mach dir keine Sorgen.«

Vallman zuckt mit den Schultern.

»Trotzdem.«

HIER WOHNEN NICHT MEHR als viertausend Menschen. Die meisten in den Vierteln hinter dem Marktplatz, der in der Nähe der Bundesstraße liegt und von dem sich kleinere schmalere Straßen aus dem Ort hinausschlängeln. An einer davon wohnt sie jetzt, in einer Reihenhaussiedlung mit alten kleinen Häusern. Hier wohnt nur, wer sich nichts Besseres leisten kann oder kein schlechtes Gewissen haben will, weil es einem scheißegal ist, wie man wohnt. Es ist nämlich unmöglich, sich hier gemütlich einzurichten.

Tove war mit einundzwanzig von hier weggezogen, als sie ihre Ausbildung in Stockholm begonnen hatte. Drei Jahre nach Markus, aber während er mit guten Noten und besten Beurteilungen abschloss, schaffte es Tove nur knapp. Sie bekam nie eine Dienststelle in Göteborg oder Malmö, wie sie gehofft hatte, sondern immer nur in Orten wie Trollhättan, Nässjö oder Varberg.

Vor einem halben Jahr dann landete sie wieder hier. Ihr Bruder pflegte immer zu sagen, dass Leute wie sie zu einem Leben hier verdammt seien und nichts anderes tun könnten, als es mit so viel Würde wie möglich zu tragen.

Manchmal denkt sie, dass er recht hatte. Und sein Schicksal hat es bestätigt: Weil Markus Bruket verlassen hatte, musste er sterben.

In der letzten Zeit ist es schlimmer geworden. Wann immer sie sich der Ortsgrenze nähert, muss sie wieder umkehren. Übelkeit überkommt sie, ihre Hände zittern, der kalte Schweiß läuft ihr über den Rücken, und sie beißt die Zähne zusammen, bis ihr schwarz vor Augen wird und sie am Straßenrand anhalten und mehrere Minuten atmen, atmen, atmen muss, ehe sie wieder fahren kann.

Und dann fährt Tove immer zurück.

Nach dem Tod von Markus war sie neun Monate lang krankgeschrieben, erst Vollzeit, danach Teilzeit, aber seit drei Monaten ist man der Ansicht, dass es ihr gut genug geht, um wieder arbeiten zu können. Jetzt muss sie auf dem örtlichen Revier ihren Dienst versehen, denn woanders gab es keinen Platz für sie. Außerdem, so sagte man ihr, würde sie ja jetzt hier wohnen.

Als ob das die Sache besser machen würde.

Ihre neuen Kollegen, alles Bekannte von früher oder alte Freunde ihrer Mutter oder ihres Vaters, haben bedauert, was mit ihrem Bruder passiert ist. Sie haben gesagt, sie würden sich noch an ihn erinnern, als er und Tove Kinder waren. Wie sie beide immer dagestanden und mit großen Augen neugierig durch die Eingangstür ins Revier gestarrt hätten. Ob sie das auch noch wüsste?

Ja, hat sie erwidert. Sie erinnert sich.

Sie haben gefragt, wie es sich anfühle, wieder zu Hause zu sein, und wie es ihrer Mutter gehe. Manchmal würde man sie sehen, die Mutter, auf dem Friedhof.

Gut, hat Tove gelogen. Es geht ihr gut.

Hier brauchen sie keine Kriminalpolizistin, und sie wollen auch keine, deshalb ist sie weder willkommen, noch kann sie sich nützlich machen. Sogar ihr Chef, Ola Davidsson, findet, dass sie überflüssig ist, und die meisten wünschen sich wohl, dass sie zusammenbrechen und wieder krankgeschrieben werden würde.

Vor dem Haus hält ein Auto. Tove und Vallman gehen hinaus, um die Technikerin zu begrüßen, die sich als Fanny Söderlund vorstellt, die Assistentenzeichen auf Vallmans Schulterklappen betrachtet und dann nach seinem Chef fragt. Als Vallman auf Tove zeigt, sieht die Technikerin erstaunt aus.

»Ich hatte einen Mann erwartet«, sagt sie.

»Ich auch.«

Söderlund hat trockene Hände, feine Gesichtszüge und silbrig-weißes Haar, das sie im Nacken zusammengebunden trägt. Sie nimmt die schwarze Tasche mit, die an einen Werkzeugkasten erinnert, und geht dann vorsichtig den Weg zur Eingangstreppe entlang, während sie schon mit der Spurensicherung beginnt.

Es dauert eine Weile, ehe sie das Haus betritt, und als sie dann endlich in der Küche steht und den Toten sieht, runzelt sie die Stirn.

»SIE HÄTTEN MICH RUHIG darauf vorbereiten können, dass er es ist«, sagt sie.

»Kannten Sie sich?«

Söderlund schüttelt den Kopf.

»Nur flüchtig. Aber er war schließlich ein Kollege.«

»Wir können jemand anders anfordern.«

»Am Tag vor Mittsommer? Viel Glück.« Söderlund sieht zu Vallman, der mit irgendjemandem telefoniert. »Schicken Sie den raus, der tänzelt hier herum wie ein aufgeregter Chihuahua.«

»Also«, beginnt Tove, »bis vor einem Monat war Levin Leiter der Reichspolizeileitung, oder?«

»Ja.«

»Was hat er dann hier verloren? Wohnt er hier? Ist das sein Haus?«

»Keine Ahnung.« Söderlund starrt zu Vallman. »Schaffen Sie den hinaus. Sein Herumgetänzel macht mich wahnsinnig.«

Tove dirigiert Vallman in die Diele und dann über die Treppe nach draußen, damit Söderlund in der Küche in Ruhe arbeiten kann.

Die Hitze hat zugenommen, und es wird nur noch schlimmer werden. Die Luft scheint pulsierend stillzustehen. Dicke Schweißtropfen laufen Tove vom Scheitel an den Ohren entlang und hinunter zum Hals. Ihre Kopfschmerzen nehmen zu. Sie geht wieder ins Haus, bekommt Latexhandschuhe aus Söderlunds Tasche und fragt sie, ob es in Ordnung sei, wenn sie sich ein wenig im Haus umsähe.

»Eigentlich nicht.« Söderlund seufzt. »Aber … bewegen Sie sich halt vorsichtig.«

Das Wohnzimmer hat eine Hintertür, die wohl auf eine Veranda oder Terrasse hinausführen sollte, die zu bauen man vergessen oder die Lust verloren hat. Jedenfalls geht die Tür direkt auf eine Wiese hinaus.

Mehrere der Schreibtischschubladen sind leer, die Schränke nur halb gefüllt mit Kleidern. Im Badezimmerschrank steht ein Necessaire mit Zahnbürste und Zahnpasta, in der Dusche eine einsame Flasche Duschgel. Das ist alles. Der Rest ist in Kisten verpackt. Die stehen in jedem Zimmer. Umzugskartons. Er hat sich nicht viel Mühe gemacht, die Wohnung zu möblieren.

Er war mit etwas anderem beschäftigt.

Man kann es fast in der Luft spüren, in der Stille.

Im Schlafzimmer steht in einer Ecke ein kleiner Schreibtisch, auf dem Ladekabel für einen Computer und ein Handy liegen. Neben dem Tisch lässt das aufgerissene Maul eines Umzugskartons Bücher und Papiere in einem unsortierten Haufen erkennen. In dem Karton sieht es aus wie in Toves Kopf.

Tove kniet sich hin, um den Fußboden unter dem Tisch und dem Bett zu inspizieren. Vor dem Schreibtisch steht ein kleiner Bürostuhl. Tove setzt sich darauf und sieht aus dem Fenster, das an der Rückseite des Hauses auf den kleinen Garten hinausgeht.

Sie zieht den Umzugskarton zu sich heran. Ein Locher, ein Hefter, einzelne Papiere und zahlreiche Bücher. Sie hebt sie heraus und legt sie beiseite. Auf dem Boden des Kartons befindet sich ein Stapel Aktenordner, insgesamt vier Stück, einige von der älteren Sorte mit Metallverstärkung, andere neu und aus Plastik. Sie angelt sich einen davon. Er enthält Kopien, Teile von Ermittlungsprotokollen und technischen Analysen von Fällen, die ihr unbekannt sind. Jemand, vielleicht Levin selbst, hat die Berichte am Rand mit Anmerkungen und Notizen versehen. Sie blättert auch noch in den anderen drei Ordnern: gleicher Inhalt, aber andere Fälle.

Die Bücher: Geschehnisse am Wasser von Kerstin Ekman, Der Spion, der aus der Kälte kam von John le Carré und Die Weisheit des Blutes von Flannery O’Connor. Darunter Der Richter und sein Henker von Friedrich Dürrenmatt. Tove blättert die Bücher durch. Nichts außer alten Eselsohren und ab und zu einer lose sitzenden Seite.

Aber aus dem unsortierten Papierhaufen ragt etwas heraus, ein Polaroidfoto von einem Mann, einer Frau und einem vielleicht fünf oder sechs Jahre alten Mädchen. Der Mann trägt ein kurzärmeliges weißes Hemd und Jeans, die Frau Bluse und beigen Rock, das Mädchen ein blaues Kleid. Sie sehen glücklich aus.

Auf der Rückseite steht: Marika, Eva und ich, Frühjahr 78.

Irgendetwas ist merkwürdig an dem Bild, denkt Tove, aber ihr ist nicht klar, was sie stutzig macht.

Sie dreht sich auf dem Bürostuhl herum und betrachtet die Wände. Hinter den dreien auf dem Foto ist dieselbe blassgrüne gemusterte Tapete zu sehen.

Da begreift sie.

Das Foto ist in diesem Zimmer aufgenommen worden.

TOVE FÄHRT STRASSEN ENTLANG, die ihr so bekannt und zugleich doch fremd und unvorhersehbar vorkommen. So ist das mit den Orten, die man verlässt und an die man später zurückkehrt, sie sind unverändert, man fühlt sich wie einst – und doch auch nicht.

Ein breiter, mit Bierkisten beladener Kleinlaster biegt vor ihr aus einer Straße. Der Mann am Steuer trägt eine Kappe und sitzt allein im Auto.

Das Haus, in dem Lars-Erik Sunesson den größten Teil seines Lebens verbracht hat, ist von Algen und Moos verfärbt und von alten Laubbäumen umgeben, die aussehen, als wären sie auf bestem Wege, das Gebäude zu verschlingen. Das Grundstück ist von einem klapprigen, unregelmäßigen Zaun umgeben, das Gartentor steht offen.

In der Küche sitzen Sunesson und Polizeiassistent Klas Mäkinen am Tisch. Mäkinen umfasst seine Kaffeetasse mit beiden Händen, während Sunesson sein Glas leert und dann nach der Flasche angelt. Seine Augen sind verquollen.

»Das Fräulein Kriminalpolizei«, sagt Sunesson. »Ziemlich beschissener Mittsommeranfang dieses Jahr.«

Mäkinen sieht Tove mit flehendem Blick an. Vor ihm liegt ein Block, auf dem er noch nicht viel notiert hat.

Tove zieht sich am kurzen Ende des Tisches einen Stuhl heran, setzt sich und wendet sich Mäkinen zu.

»Dich braucht man jetzt am Alvavägen mehr als hier.«

Mäkinen, ein Mann ohne jeden Charme, der besser Wachmann als Polizist geworden wäre, erhebt sich.

»Viel Erfolg«, sagt er.

»Was für ein verdammter Tag«, brummt Sunesson und füllt mit feuchten Augen sein Glas.

Auf der Spüle drängen sich schmutzige Teller und Gläser. Im Hintergrund blubbert eine Kaffeemaschine. Bald hören sie Mäkinen sein Auto starten und davonfahren.

Sunesson seufzt und hält die Flasche hoch, eine polnische Version von Famous Grouse.

»Willst du?«

»Nein. Aber danke.«

An der Wand hinter ihm hängt ein gerahmter, gestickter Sinnspruch: Alles Schöne seiner Zeit fällt hier in Vergessenheit.

Sunesson hat in der Glasfabrik gearbeitet, so wie einst auch sein Vater. Als die Fabrik stillgelegt wurde, fuhr er für eine Spedition Lastwagen, und zwar, soweit man weiß, bis zu seiner Rente. Toves Kollegen sind ziemlich sicher, dass er nicht nur die Aufträge für seine Firma erledigte, sondern in seinem Laster auch Alkohol geschmuggelt hat, doch das konnte man nie beweisen, und jetzt ist es zu spät. Tove fragt sich, wie viel davon er für sich zurückbehalten hat und ob er irgendwo im Haus ein Lager angelegt hat. Sie hat ihn niemals unten am Marktplatz beim Systembolaget einkaufen sehen, und da ist sie selbst ziemlich oft, seit sie wieder hier wohnt.

»Wie geht es dir, Lars-Erik?«

»Was für ein verdammter Tag.« Er nimmt einen Schluck von dem Whiskey. »Blut«, fährt er fort und schüttelt den Kopf. »Blut, Blut, Blut. Verdammt.«

»Wann hast du das letzte Mal mit Charles gesprochen?«

»Gestern Abend, als ich ihn angerufen hab und wir ausgemacht haben, dass wir um elf einen Kaffee trinken.«

»Zu welcher Uhrzeit hast du ihn angerufen?«

»Das habe ich deinem Kollegen schon gesagt, wie heißt er doch noch … na, der Sohn von Gösta, Klas. Also, es war so gegen halb zehn.«

»Wie verlief euer Gespräch?«

Sunesson schaut sie verwirrt an.

»Äh, gut.«

»Ich meine«, erklärt Tove, »worüber habt ihr geredet?«

»Über nichts Besonderes. Ich hab ihn vorgestern beim Einkaufen unten am Marktplatz getroffen und gefragt, was in aller Welt er denn hier macht, und da hat er gesagt, er wohnt jetzt hier. Wir haben Telefonnummern ausgetauscht, und ich hab mich gestern bei ihm gemeldet und einen Vormittagskaffee vorgeschlagen. Wir haben eine Zeit ausgemacht, und das war alles.« Sunesson trinkt sein Glas leer. »Ich kannte den Kerl kaum, hab ihn über dreißig Jahre nicht gesehen.«

»Das heißt, er hat früher auch schon hier gewohnt?«

»In den Siebzigern. Er muss um 1971 hierhergekommen sein, da hatte ich mir gerade ein neues Auto gekauft, einen Volvo P1800. Ich war stolz wie ein Pfau auf dieses Auto, stand unten am Markt und gab damit an. Und da hat er ihn wohl gesehen.«

»Wer?«, fragt Tove. »Wer hat was gesehen?«

»Oskarssons Sohn, Malte. Der ihn geklaut hat.«

»Er hat dein Auto geklaut?«

»Und zwar am selben Abend«, bestätigt Sunesson und nimmt noch einen Schluck von dem Whiskey. »Dieser verdammte Nichtsnutz. Ich bin also aufs nächste Revier, und weil das zuhatte, bin ich zur Polizei in die Stadt, und da saß er. Ich hatte Charles noch nie gesehen, du musst wissen, zu der Zeit … Wann bist du eigentlich geboren?«

»1981.«

»Dann erinnerst du dich ja vielleicht doch, wie das war. Da haben hier viel mehr Leute gewohnt, ich glaub, es waren fast achttausend. Inzwischen ist das ja anders, das Hotel ist geschlossen, und Ende des Jahres wird auch das Systembolaget in Frieden ruhen. Wusstest du das?«

»Nein.«

»Egal, jedenfalls kannte damals nicht jeder jeden. Aber Charles hat meine Anzeige aufgenommen, das hat er, und nett war er auch, obwohl er aus Stockholm kam. Und«, fügt Sunesson hinzu und hebt einen Finger, »das Auto hat er in null Komma nichts gefunden. Zwei Tage später hatte ich es wieder in meiner Garage, und zwar, obwohl die Sache bei den Stümpern hier auf dem Schreibtisch lag. Da hab ich begriffen, dass er ein guter Mann ist.«

Er senkt den Blick und nickt bedächtig über seine eigenen Worte.

»Wann ist er weggezogen?«

Sunesson sieht auf, seine Augen sind wässrig.

»Wie?«

»In den Siebzigerjahren ist er hierhergekommen. Dann muss er ja irgendwann wieder weggezogen sein.«

»Ja, klar. 1980 ist er weg.«

»Und wann ist er dann wieder hergezogen?«

»Ich weiß nicht, aber ich glaube erst vor Kurzem.«

Er leert sein Glas, behält den Whiskey im Mund und lehnt sich zurück, legt den Kopf in den Nacken und gurgelt laut und lange, ehe er schluckt und sich dann die Lippen leckt.

»Wo hat er in den Siebzigern gewohnt?«

»Am selben Ort.«

»Du meinst, im selben Haus? Warum hat er ausgerechnet dieses Haus gekauft?«

»Das weiß der Teufel. Er war ein schweigsamer Kerl, der Charles.«

»Hatte er Feinde?«

Sunesson streckt sich wieder nach der Flasche.

»Du meinst hier?«

»Ja.«

»Nä.« Er gießt ein paar Fingerbreit ins Glas und stellt die Flasche mit einem Krachen ab, als wolle er seinen Worten Gewicht verleihen. »Nä.«

»Du scheinst dir deiner Sache sehr sicher zu sein.«

»Ich vermute nur, Fräulein Kriminalpolizei. Aber so was sollte die Ordnungsmacht ja wohl ohne meine Hilfe herausfinden können.«

»Ja, das können wir. Danke.« Sie klopft mit dem Stift auf den Block. »Fällt dir denn jemand ein, der mehr von ihm erzählen könnte?«

Nein, Sunesson fällt niemand ein. Oder vielleicht doch, aber er hat jetzt keine Lust mehr, mit ihr zu reden.

Sie zeigt ihm die Fotografie von 1978.

»Kennst du diese Personen?«

»Das da ist Charles, das sehe ich.« Er zieht die Augenbrauen hoch. »Und das andere ist wahrscheinlich seine kleine Familie.« Sunesson wedelt mit der Hand. »Aber darüber musst du mit jemand anders reden. Ich erinnere mich nicht an die.«

»Das hier ist doch ein kleiner Ort. Jeder kennt jeden. Irgendwas wird dir doch wohl einfallen, oder?«

»Es ist so lange her. Wenn ich mich recht entsinne, war es ein Autounfall. Schrecklich.«

»Ein Autounfall«, wiederholt Tove und betrachtet ihn eingehend.

»Oder so was in der Art. Ich erinnere mich nicht.«

Er lügt nicht, das ist klar, aber er ist besoffen und lallt. Verdammter Mist, sie hätte ihm das Foto gleich zu Anfang zeigen sollen.

Tove fragt noch einmal nach, aber Sunesson erhebt nur sein Glas, trinkt daraus und schüttelt dann den Kopf. Sein Blick ist nun vollkommen leer.

»Hast du eigentlich meinen Lieblingsstuhl gesehen?«, fragt er plötzlich.

»Nein.«

»Der steht da draußen. Hat meiner Oma gehört, ich glaube, sie hat ihn sogar selbst gebaut. Das war verdammt noch mal eine gute Frau. So eine hätte Charles haben sollen, dann wäre ihm das nie passiert. Ich sitze an trüben Tagen immer dort und trinke meinen Kaffee. Wo wir gerade davon reden, jetzt will ich mir mal einen genehmigen.« Er lacht. »Bei Charles hab ich ja keinen gekriegt.«

Tove steht auf und geht, ohne noch etwas zu Sunesson zu sagen, der auch nichts anderes erwartet zu haben scheint, und erst als sie wieder im Auto sitzt, bemerkt sie ihn: den alten Schaukelstuhl aus Metall, der, vom Rost zerfressen, einsam auf dem Rasen steht.

ALS SIE WIEDER BEI DER ABSPERRUNG ankommt, ist er schon da: Kommissar Ola Davidsson, breitbeinig, die Hände in die Hüften gestützt, den Bauch vorgereckt. Dieser Bauch wird mit jedem Jahr dicker, aber wenn jemand eine Bemerkung darüber macht, dann grinst er nur, streichelt ihn und sagt, er würde halt ein Dach über dem Vergnügungszentrum bauen.

»Wir müssen die Sache zunächst selbst übernehmen«, sagt er. »Aber ich habe fast eine Stunde lang mit Stockholm am Telefon gehangen, um das Bürokratische zu klären. Wir können diese Ermittlung schon rein personell nicht durchführen, und wenn wir es könnten, dann sollten wir es im Hinblick auf die Identität des Opfers nicht tun. Die Reichskripo kommt her, die haben in Stockholm schon eine Soko einberufen. Wir sollen ihnen von allem, was wir machen, Kopien schicken.«

»Wann kommen sie?«, fragt Tove.

»Frühestens Sonntagabend, vermutlich erst Montag. Wenn sie nicht gerade mit den Medien fechten, dann sind sie mit dem Doppelmord in Krokom beschäftigt. Und Mittsommer ist auch noch.«

»Aber wir sind hier nicht mehr als fünf Personen. Wir können keine Mordermittlung stemmen.«

»So ist es eben«, sagt Davidsson und stützt wieder die Hände in die Hüften und schielt zu dem Haus hinüber, das dort in der Sonne wartet. »Das weißt du doch selbst. Natürlich wird es Verstärkung aus der Region geben, aber kaum mehr als ein, zwei Mann. Das wird ein schöner Mittsommer.«

Drinnen im Haus des Alvavägen 10 bewegt sich Söderlund gerade mit einer Kamera in der Hand von Zimmer zu Zimmer. Entweder ist sie mit der Leiche schon fertig, oder sie braucht eine Pause. Davidsson und Söderlund begrüßen einander, und dann fragt er, wann Levin gestorben ist.

»Ich bin kein Gerichtsmediziner, aber wahrscheinlich so zwischen zehn und elf gestern Abend.« Söderlund justiert einen der Regler an der Kamera. »Durch einen Schuss in die Schläfe, vermutlich hat der Schütze einen Revolver benutzt. Die Waffe habe ich noch nicht gefunden.«

Davidsson sieht zu den Kaffeetassen auf dem Tisch.

»Dann hatte er also eine Verabredung mit dem Täter?«

»Möglicherweise«, meint Söderlund.

Sie macht ein Bild vom Lichtschalter des Zimmers. Davidsson streckt sich und zieht eine saure Miene. Tove gibt sich Mühe, nicht zu lachen.

»Wenn Sie nichts dagegen haben«, fährt Söderlund fort, »dürfen Sie gern den Raum hier verlassen.«

Etwas summt, und Davidsson holt sein Handy heraus.

»Schon wieder Stockholm«, stellt er fest und zeigt mit dem Telefon auf Tove. »Du bleibst hier.«

Tove und Söderlund sehen ihm nach, als er aus dem Haus trampelt.

»Ist das ein anständiger Mensch?«, fragt Söderlund und bringt Tove damit nun doch zum Lachen.

HEUTE IST MEIN ERSTER URLAUBSTAG, und ich verbringe ihn auf dem Balkon. Ich fühle mich betrogen.

Irgendwer hat meiner Chefin Anja Morovi gesteckt, dass ich nach wie vor auf Tabletten bin. Derjenige, der sie informiert hat, hat ihr ein Röhrchen Halcion präsentiert, das aus meiner Tasche stammte.

Dieses Röhrchen hatte ich nicht direkt in der Apotheke erstanden, und deshalb musste ich gestern bei ihr antanzen.

»Leo«, sagte sie, »Sie verstehen sicher, dass ich darüber nicht einfach hinwegsehen kann. Ich muss Maßnahmen ergreifen.«

Morovi kommt vom Dezernat für familiäre Gewalt und ist erst seit März bei uns. Von ihrer Bürowand leuchtet das Magisterzeugnis in Kriminologie, und obendrein hat sie den Ruf, eine der besten Schützinnen Stockholms zu sein. Als ihr die Leitung der Mordkommission – oder der »Schlangengrube«, wie sie unter Polizisten genannt wird – angeboten wurde, hat sie aus irgendeinem Grund angenommen.

»Olausson war es, oder?«, fragte ich.

Olausson ist Staatsanwalt, ein aalglatter Typ, der mich noch nie gemocht hat.

»Leo«, sagte sie wieder und klang jetzt müder. »Versuchen Sie, sich jetzt auf die wichtigen Dinge zu konzentrieren.« Sie beugte sich vor. »Ich kann Sie hier gut gebrauchen, aber nur, wenn Sie sauber sind. Und funktionieren. Ist das klar?«

»Ja.«

Das war die Wahrheit. Es war mir klar. Wirklich.

»Ich schlage vor, dass Sie einen ausgedehnten Urlaub nehmen. Laut Plan sollten Sie erst am …« Sie senkte den Blick auf ein Papier vor ihr. »… am 30. Juni in die Ferien gehen. Das sollten Sie korrigieren«, fuhr sie fort und reichte mir einen neuen, leeren Urlaubsantrag, »und schon ab morgen, dem 19., frei machen. Nehmen Sie noch ein paar der Tage, die Sie aufgespart haben, dazu, und dann sehen wir uns am Montag, dem 18. August, wieder hier. In der Zeit unterziehen Sie sich einer Behandlung und einer Therapie. Ich werde dafür sorgen, dass ein Therapeut Sie anruft, damit Sie umgehend einen Termin vereinbaren können. Ich will, dass Sie clean sind, wenn wir uns wiedersehen.«

Ich sah auf meine Hände. Es musste Olausson gewesen sein. Wer sonst wusste denn noch davon? Gabriel Birck natürlich, mein Kollege und der Einzige in der Truppe, den ich als Freund bezeichnen würde. Er wusste es, würde mich aber nie anschwärzen. Oder doch?

»Verstehen Sie, Leo?«

»Ich verstehe, dass Sie das vorschlagen«, erwiderte ich. »Aber ist es denn nur ein Vorschlag?«

»Nein.«

»Das hatte ich befürchtet.«

Später an dem Tag klingelte das Telefon und zeigte eine Nummer an, die ich nicht kannte. Der Therapeut. Ich ging nicht ran, saß auf dem Balkon, rauchte Zigaretten und starrte über Stockholm.

Aus gestern wurde heute, der 19., mein erster Urlaubstag.

Der Telefonanruf am Nachmittag, das viermalige Klingeln in der Sonne, vom Balkontisch meiner Wohnung in der Chapmansgatan – ich habe darauf gewartet, dass etwas passieren würde.

Ich melde mich und höre Morovis kühle Stimme.

»Wie geht es Ihnen?«, fragt sie.

»Großartig.«

»Sarkasmus kleidet Sie nicht.«

Ich überlege, was ich sagen soll, wie sehr ich lügen muss.

»Ist schon okay. Ich komme klar.«

Sie holt tief Luft.

»Ich bin der Meinung, dass Sie es direkt von mir hören sollten.«

»Was hören? Was ist los?«

»Levin.«

»Was ist mit ihm?«

Schweigen. Aus dem Radio auf der Küchenzeile dringt Is there somebody who still believes in love?

»Hallo?«, frage ich. »Hallo? Was ist los?«

Während sie berichtet, taucht Kit an meiner Seite auf, erst leise und dann, als er merkt, dass irgendwas nicht stimmt, vernehmlicher miauend. Ich klemme mir das Telefon zwischen Schulter und Ohr, hebe ihn hoch, gehe in die Küche und mache die Balkontür hinter mir zu.

Levin ist tot. Sie vermuten Mord.

Ich weiß nicht, ob Morovi erwartet, dass ich etwas sage, also schweige ich. Im Radio wird die Musik von den Nachrichten unterbrochen: Ein Mann mit Sprengstoffgürtel hat das Parteibüro der Moderaten in Gamla Stan betreten und droht, das Gebäude in die Luft zu jagen.

»Kann ich etwas für Sie tun, Leo?«

»Was könnte das sein?«

Keine Antwort. Ich höre sie atmen und frage mich, ob meine eigenen Atemzüge so schwer klingen, wie sie sich anfühlen.

»Das ist jetzt nicht das Mittsommerwochenende, das ich Ihnen gewünscht habe.«

»Ich weiß.«

»Werden Sie mit Sam zusammen sein?«

»Sie fährt morgen mit ihrer Mutter nach London. Das haben sie schon lange geplant.«

Wieder Schweigen. Der Nachrichtensprecher erklärt, dass der Sprengstoffmann in Gamla Stan schwer bewaffnet sei. Und jetzt kommen neue Informationen: auch die Kanzlei der Sozialdemokraten soll bedroht sein.

»Es klingt, als hätten Sie gerade andere Sorgen«, sage ich.

»Geben Sie Bescheid, wenn ich Ihnen helfen kann.« Damit beendet sie das Gespräch.

MEIN MENTOR IST TOT. Vielleicht sollte ich denken, mein Freund ist tot, aber das geht nicht, ich weiß nicht, warum. Irgendetwas an dem Wort Freundschaft passt nicht zu meiner und Levins Beziehung.

Ich kannte ihn nie richtig, obwohl ich lange Zeit eng mit ihm zusammenarbeitete, erst bei der Mordkommission, wo Levin Kommissar war, und später im Dezernat für Interne Ermittlungen. Ich bildete mir ein, dass er mich unter seine Fittiche genommen hätte. Es fühlte sich einfach gut an, einmal mit jemandem zu arbeiten, der mein Potenzial sah und mir half, es zu verwalten.

Ich vertraute ihm.

Ja, das tat ich wirklich.

Levin konnte einen dazu bringen, zu reden und Dinge zu offenbaren, die man sonst niemals jemandem erzählen würde, und zwar ohne dass er selbst dabei ein einziges Detail aus seinem Leben preisgab. Dennoch hatte man das Gefühl, er würde auch an seinem Leben teilhaben lassen. Deshalb bekam man leicht den Eindruck, er würde nichts verbergen. Erst viel später, wenn der Zauber gebrochen war, begriff man, dass Levin niemals etwas über sich selbst gesagt hatte.

Und dann ging vor etwas mehr als einem Jahr im Hafen von Visby alles zur Hölle.

Die Affäre Gotland. Das war ein Fehler, mein Fehler.

Bis heute verfolgen mich die Toten tagsüber in meinen Gedanken und nachts in meinen Träumen.

Nach dem, was da passiert war, musste sich die Polizei selbst schützen, und ich wurde der Politik und den Medien als Sündenbock vorgesetzt. Ich brauchte Tabletten, um damit fertigzuwerden, erst Sobril, um nicht zu ertrinken, später bin ich dann auf Halcion umgestiegen.

Allmählich kam mir dann der Verdacht, dass Levin mich als Schutzschild benutzt hatte: Wenn etwas schiefging, sollten sich die Scheinwerfer auf mich richten.

Unser Kontakt blieb sporadisch, und unsere Gespräche waren von bedrücktem Schweigen bestimmt. Manchmal wollte ich ihn anschreien, und ich glaube, dass er hin und wieder wünschte, er hätte die Wahrheit sagen können.

Schon zu der Zeit trauerte ich um ihn, um den Mentor, den ich verloren hatte. Am Ende war der Graben zwischen uns so ungeheuer tief.

Jetzt ist er tot. Vielleicht wird die Wahrheit ewig im Dunkeln bleiben. Vielleicht werden die schwersten Verbrechen nie aufgeklärt.

Die Luft ist stickig wie die Trauer, und auf dem Balkon sitzend warte ich auf einen Regen, der nicht kommt.

MY GIRL, MY GIRL, don’t you lie to me singt jemand aus einem Radio in der Küche des Reviers, tell me where did you sleep last night? Mittlerweile ist es Nachmittag, und Tove sollte nach Hause fahren.

Stattdessen sitzt sie auf einem Stuhl am Fenster im Besprechungsraum und wartet darauf, dass das kleine Revier eine erste Ermittlungskonferenz organisiert.

Seit dem frühen Morgen standen die Fenster weit offen, um den Raum kühl zu halten. Das ist nicht gelungen, die Haare kleben ihr im Nacken, die Achselhöhlen sind nass und die Handflächen glitschig.

Sie hat nach dem Tischventilator gesucht, aber keiner weiß, wo der sein könnte. Wahrscheinlich steht er drinnen bei Davidsson.

In der Zeit, die sie hier ist, hat sie gelernt, welche Gegenstände begehrt sind und welche nicht: Fernsehapparate will keiner mehr haben, man hat aber auch kein Recht, sich ihrer zu entledigen. Wer einen oder mehrere davon in seiner Nähe stehen hat, empfindet das als Strafe. Wenn man einen der großen Kaffeebecher haben will, und das will man, dann sollte man früh vor Ort sein, denn davon gibt es nur sehr wenige, und wer einen ergattert, behält ihn für den Rest des Tages.

Und so weiter. Das ist alles Firlefanz, aber hier aus irgendeinem Grund von Bedeutung.

Das Revier liegt im Erdgeschoss und im ersten Stock in einem Gebäude in der Paulsgatan direkt beim Marktplatz. Es ist ein viereckiger Jahrhundertwende-Ziegelsteinklotz, einer der ersten, die gebaut wurden, nachdem die Glasfabrik ihre Tore geöffnet hatte und zu expandieren begann. Innen ist das Haus moderner, aber hässlicher. Davidsson behauptet immer, als er als Polizist angefangen habe, sei er einer von über zehn Angestellten gewesen. Jetzt ist die Anzahl halbiert, und wenn die Umstrukturierung kommt, werden sie vermutlich noch weniger werden.

Auf dem Tisch vor Tove liegt die kleine Biografie, die sie über Charles Levin zusammengestellt hat aus dem Material, das sie in den Registern, zu denen sie unmittelbar Zugang haben, gefunden hat, und aus den Hinweisen, die sie per E-Mail von der Gruppe bei der Reichskripo erhalten hat. Es ist nicht viel.

Verdammt. Sie hätte wirklich gern einen Ventilator.

CHARLES JAN LEVIN wird am 25. Januar 1947 in der Gemeinde Maria Magdalena auf Södermalm in Stockholm geboren. Er wächst mit seinem vier Jahre älteren Bruder Mark bei den Eltern auf. Der Bruder stirbt im August 2008 an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Charles’ Vater arbeitet als Tischler, und die Mutter ist abwechselnd Hausfrau und Putzfrau in einem Hotel in der Nähe ihrer Wohnung auf der Wollmar Yxkullsgatan. Charles ist ein wilder Junge, und es fällt ihm schwer, in der Schule stillzusitzen, doch seine Zensuren sind hervorragend und erfüllen die Arbeiterklasse-Eltern sicher mit zahlreichen Zukunftshoffnungen für den Sohn. Der beginnt seine Polizeiausbildung 1966.

Im Herbst 1969 landet er auf dem ersten Revier in der Stockholmer Innenstadt, wo er schnell in den Kreis der Ermittler aufsteigt. Neben seinem Dienst studiert Levin an der Universität Staatswissenschaften, Jura und Psychologie. Er macht einen Abschluss in Staatswissenschaften und ist damit in seinem beruflichen Umfeld ein ungewöhnlich gebildeter und belesener Mann. Trotzdem gilt er als guter, reeller Polizist, und die positiven Beurteilungen rieseln wie Schneeflocken auf ihn herab.

Als er vierundzwanzig Jahre alt ist, wechselt Charles Levin im Herbst 1971 von der Stockholmer Polizei zur Polizei Halland, wo er als Ermittler im Gewaltdezernat in der Innenstadt tätig ist. Im dortigen Einwohnermelderegister wird er zusammen mit einer Eva Alderin, geboren 1949, als wohnhaft am Alvavägen in Bruket vermerkt.

Die beiden heiraten am 12. Dezember 1971. Eva Alderin wird zu Eva Levin. Es ist eine Winterhochzeit.

Im Jahr darauf wird ihre Tochter Marika geboren.

Tove nimmt noch einmal das alte Foto in die Hand, liest den Text erneut. 1978. Dann dreht sie es um und studiert erst das Gesicht des Mädchens, anschließend das der Mutter. Eva Levin stirbt im Winter 1980 und wird auf dem örtlichen Friedhof beerdigt.

»In einer Viertelstunde«, sagt Åhlund, der mit einer Käse-Schinken-Stulle in der Hand an der Tür zum Besprechungszimmer aufkreuzt. »Wir sind eben mit der Klingelrunde bei sämtlichen Nachbarn fertig geworden. Ich warte noch auf Brandén, der muss schnell ein Foto entwickeln.«

»Ein Foto?«

»Das hat er jedenfalls gesagt.« Åhlund nimmt einen Bissen von der Stulle. »Davidsson ist im Anmarsch.«

Tove wendet sich wieder den Papieren zu.

1981 wird Charles Jan Levin im Einwohnermelderegister wieder als in Stockholm wohnhaft vermerkt, diesmal zusammen mit seiner Tochter Marika in einer kleinen Dreizimmerwohnung im Stadtteil Gärdet.

Bilder ziehen vor Toves innerem Auge vorüber: die Leiche von Charles Levin, die beiden Tassen auf dem Tisch in seiner Küche. Im Schlafzimmer die Ladekabel zu Computer und Handy, der Umzugskarton, die Tapeten im Arbeitszimmer. Sunesson, der sein Glas in Richtung Tove erhebt, der einsame Schaukelstuhl auf dem Rasen.

Es gehört zum Seltsamsten an diesem Beruf, an das man sich nie gewöhnen kann: Immer wieder wird man ohne Vorwarnung in das Leben anderer Menschen geworfen und muss sich darin herumwälzen, ohne zu ahnen, was ihnen zugestoßen ist.

»ALSO, WIR HABEN DA mit einem Zeugen gesprochen«, sagt Brandén, und sein Blick wandert zwischen dem Notizblock vor ihm und Davidssons regloser Miene hin und her.

Davidsson trommelt mit den Fingern auf den Ordner.

»Und?«

»Also …« Brandén gleicht einem Laufburschen, der sich in eine Vorstandssitzung verirrt hat. »Wir haben mit echt vielen geredet. Ich glaube, wir haben ungefähr dreißig Personen in direkter Nähe des Tatorts abgearbeitet.«

»Gut.« Davidsson hält sich die Hand vor den Mund und niest, dass es im Raum widerhallt. »Verdammt.«

»Also, in der Gegend gibt es insgesamt so an die fünfundzwanzig Häuser, einige am Alvavägen, aber viele im Wald und an kleinen Straßen und Feldern in der Umgebung verstreut. Die haben wir auch überprüft. In zwei Häusern am Alvavägen war niemand da, und wir haben die Leute auch noch nicht erreichen können.« Brandén schlägt ein Blatt auf seinem Block um. »Im Großen und Ganzen hat keiner von denen, mit denen wir geredet haben, den Schuss gehört.«

»Was meinst du mit ›im Großen und‹ …«, fragt Tove.

»Du hast von einem Zeugen gesprochen«, unterbricht Davidsson sie. »Ist etwas Besonderes mit ihm? Oder mit ihr?«, fügt er hinzu und sieht zu Tove.

»Mit ihm«, präzisiert Brandén und findet die richtige Seite in seinem Block. »Und ja, um eure beiden Fragen zu beantworten, er ist wahrscheinlich der Einzige, der den Schuss gehört hat. Alfred Berg heißt er. Ester Annerberg hat uns auf ihn hingewiesen. Ester wohnt am Alvavägen 16, einige Häuser vom Tatort entfernt. Sie ist zweiundachtzig Jahre alt, seit zehn Jahren Witwe und die Geliebte des sechsundachtzigjährigen Alfred Berg.« Brandén räuspert sich. »Das ist der Ausdruck, den Ester selbst benutzt hat. Wie auch immer. Gestern Nachmittag ist Alfred offenbar mit seinem Fahrrad zu ihr gefahren – doch, er kann noch Rad fahren – und hat bis ungefähr halb zehn am Abend bei Ester gesessen. Dann ist er nach Hause geradelt. Er fährt also den Alvavägen in entgegengesetzter Richtung hinunter, auf demselben Weg, den er gekommen ist, und da begegnet ihm ein dunkles Auto, das, wie er sagt, ›langsamer geworden ist, so als wolle es anhalten‹. An die Farbe des Autos kann er sich nicht erinnern, es war möglicherweise dunkelgrau, blau oder schwarz. Aber der Wagen ist vor dem Haus des Opfers stehen geblieben. Da ist Berg sich ganz sicher, denn er hat dem Auto nachgesehen, weil er es nicht kannte.«

»Das könnte also der Täter gewesen sein«, sagt Tove, »der um halb zehn ankam.«

»Ich glaube, dass es so ist.« Brandén blättert wieder eine Seite in seinem Block um. »Alfred hatte seine alte Spiegelreflexkamera dabei, um für Ester einige ihrer Blumen zu fotografieren, jetzt, wo sie am schönsten sind. Und als er fast den ganzen Weg nach Hause geradelt ist, was knapp zwanzig Minuten dauert, fällt ihm ein, dass die Kamera immer noch auf Esters Küchentisch liegt. Mittlerweile ist es schätzungsweise zehn Uhr. Alfred macht sich nicht die Mühe, Ester anzurufen, und zwar aus dem einfachen Grund, weil die Dame fast taub ist, was ich übrigens bestätigen kann, sondern dreht um und fährt zurück.. Dabei passiert er das dunkle Auto, das noch immer vor Levins Haus steht. Ungefähr um zehn Minuten nach zehn ist Alfred bei Ester und geht in die Küche, um die Kamera zu holen – er hat einen eigenen Schlüssel, weil sie so schlecht hört. Ester ist in dem Moment auf der Toilette. Und als sie gerade spült, ist, wie Alfred sagt, ein Knall zu hören.«

»Ein Knall«, wiederholt Davidsson.

»Ja«, sagt Brandén. »Ein Knall – das war das Wort, das er benutzte. Er denkt nicht weiter darüber nach, was vielleicht natürlich ist, sondern begrüßt Ester, und die beiden reden ein paar Minuten.«

»Wie redet man mit jemandem, der fast taub ist?«, fragt Davidsson.

»Mit Gesten und indem man brüllt und den Mund aufreißt. So erklärt es Alfred jedenfalls.«

»Erzähl weiter«, bittet Tove.

»Zwischen zehn und zwanzig Minuten nach zehn verlässt er den Alvavägen 16 mit der Kamera vor der Brust. In dem Moment geht ein Mann auf das Auto zu, das am Alvavägen 10 geparkt ist. Als der Mann sich in den Wagen setzt, nimmt Alfred seine Kamera und macht dieses Bild hier. Wie ihr sehen werdet, ist nicht viel darauf zu erkennen, aber das ist alles, was wir haben.«

Brandén holt das Foto aus einer Mappe und legt es auf den Tisch.

Es ist körnig und unscharf, vielleicht war die Linse beschlagen. Der Mann im Auto ist verschwommen, er scheint sich gerade hinunterzubeugen, um beim Beifahrersitz etwas auf den Boden zu legen. Seine Gesichtszüge sind unmöglich zu erkennen. Wären darunter nicht ein paar Schultern zu sehen, würde man nicht einmal sicher sein, ob das überhaupt ein Gesicht ist. Der Mann sitzt in einem dunklen Volvo neueren Baujahrs, der teuer aussieht und dessen Kühler an das Gesicht eines Raubtiers gemahnt.

Das Kennzeichen ist schwach zu erkennen.

»Warum hat er das Foto gemacht?«, fragt Tove.

»Er sagt, er habe einfach ›ein komisches Gefühl‹ gehabt«, erwidert Brandén. »Aber er hat es nicht mit dem Knall verbunden.«

»Wann ist das entwickelt worden?«

»Vor ungefähr dreißig Minuten«, erklärt Brandén. »Alfred hat in seinem Keller eine kleine Dunkelkammer. Wir mussten mehrere Abzüge machen, bis das Kennzeichen deutlicher war.« Etwas zögerlich fährt er fort: »Nachdem ich es jetzt eine Weile angesehen habe, glaube ich, dass dort entweder FOR 528 steht oder FOR 523. Aber FOR 523 ist ein dreißig Jahre alter Opel, der in Atvidaberg zugelassen ist, er scheidet wohl aus.«

»Gute Arbeit.« Davidsson studiert das Foto. »Und FOR 528?«

»Also … da haben wir ein Problem.« Brandén räuspert sich noch einmal. »Dieses Auto gibt es nicht.«

»WIE, GIBT ES NICHT?«, fragt Davidsson. »Was soll das heißen?«

»Also …« Brandén schielt auf das Bild. »Das Auto gibt es nicht. Es ist nicht registriert.«

Davidsson lässt das Foto auf den Tisch fallen, und es landet vor Tove. Die Innenbeleuchtung des Wagens fällt kalt und grell auf die Person und lässt nur die Umrisse des Gesichts erkennen.

Davidsson erhebt sich von seinem Stuhl, geht mit den Händen in den Taschen um den Tisch und schließt das Fenster. Brandén betrachtet eingehend seinen Block.

»Falsche Kennzeichen?«, schlägt Tove vor.

»Das nehme ich an.«

Die Tür geht auf, und Fanny Söderlund kommt mit einem Aktenordner unter dem Arm herein.

»Ich habe eine Stunde, dann muss ich wieder nach Halmstad.«

Sie lässt sich am kurzen Ende des Tisches nieder, wo eben noch Davidsson gesessen hat. Das ärgert ihn, doch Söderlund ist das entweder egal, oder sie bemerkt es nicht.

»Okay«, sagt Davidsson und sinkt neben Brandén auf einen anderen Stuhl, der bedenklich unter seinem Gewicht knarrt.

»Rein beweistechnisch handelt es sich um einen verhältnismäßig zahmen Tatort«, beginnt Söderlund, schlägt ihren Aktenordner auf und entfaltet einen handgezeichneten Lageplan des Hauses. »Wir haben eine Diele, an deren Ende Toilette und Badezimmer liegen, nach links geht es in eine Küche, rechts in ein Wohnzimmer und dahinter ein kombiniertes Schlaf- und Arbeitszimmer, das ich im Weiteren als ›Arbeitszimmer‹ bezeichnen werde. Davor gibt es ein kleines Zimmer, das leer steht. Insgesamt hat die Spurensicherung sehr wenig Fasern, Haare oder dergleichen ergeben. Das interessanteste Material ist bereits markiert und auf dem Weg in die Rechtsmedizin in Stockholm oder nach Halmstad, und da muss es sich dann in die Warteschlange einreihen. Also wird es wahrscheinlich noch ein paar Tage dauern, bis wir ein Ergebnis haben, mindestens bis jemand von der Reichskripo einen Hörer in die Hand nimmt und darum bittet, dass die Sache vorgezogen wird.«

Davidsson niest. Wie um nur etwas zu tun zu haben, dreht Söderlund die Zeichnung um.

»Die Beweislage ist also sehr dünn. Zum Beispiel habe ich diese Kaffeetasse sehr gründlich untersucht, und der Einzige, der sie angerührt hat, ist Levin. Bemerkenswerterweise ist die Küche für uns erstaunlich unergiebig, da gab es nicht einmal eine Tüte im Mülleimer. Natürlich habe ich auch den Eimer selbst angesehen, doch da ist nichts außer Levins Fingerabdrücken. Das Arbeitszimmer ist dafür umso interessanter. Da scheinen nämlich«, sagt Fanny Söderlund und zieht ein Foto aus dem Ordner, »eine Reihe von Gegenständen zu fehlen. Ein Computer, ein Handy und ein Gerät, das meiner Vermutung nach ein Drucker oder ein Scanner war.«

Das Bild, das sie ihnen über den Tisch schiebt, zeigt den Bereich mit dem Schreibtisch in der Ecke des Zimmers.

»Und woran sehen wir …«, beginnt Brandén.

»Der Staub«, wirft Tove ein. »Oder besser gesagt, die Abwesenheit desselben.«

»Ganz genau. Wie Sie sehen, ist der Staub die hellere Partie auf der Tischplatte.«

»Haben Sie ›Scanner‹ gesagt?«, fragt Davidsson. »Wer zum Teufel hat denn noch einen Scanner.«

»Es kann, wie gesagt, auch ein Drucker sein«, antwortet Söderlund eisig. »Oder beides, so eine Kombination. Das vermute ich aufgrund der Platzierung auf dem Schreibtisch und der Größe dessen, was da gestanden hat.«

»Man ermordet doch niemanden, um einen Computer und einen Drucker zu stehlen«, sagt Brandén.

»Kommt auf den Inhalt an«, gibt Tove zu bedenken.

»Oder man sieht seine Chance, wenn man schon mal da ist, das Zeug auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen und ein bisschen die Kasse klingeln zu lassen«, schlägt Davidsson vor. »Es sind schon seltsamere Dinge passiert.«

»Diese Puzzleteile können vielleicht im Licht anderer Beweise richtig platziert werden, wenn wir die Berichte aus Halmstad und vom SKL haben«, fährt Söderlund fort. »Aber es gibt noch eine Sache, ein Detail, das uns aus dem Haus führt.«

DAS BESAGTE DETAIL sind kleine Gummispuren auf dem Fußboden, wie von einer Sackkarre, und zwar sowohl im Schlafzimmer wie auch im Wohnzimmer.

»Sackkarre?«, fragt Davidsson.

»Ja, wieso?«

»Was zum Teufel ist eine Sackkarre?«

»So eine L-förmige kleine Lastkarre mit zwei Rädern, die man hat, wenn man Umzugskartons verfrachtet«, erklärt Tove.

»Ich bin nicht sicher, ob die Spuren von einer solchen Karre kommen«, sagt Söderlund. »Ich habe kleine Abdrücke genommen und ans SKL geschickt, also warten wir mal ab, was die meinen. Wir finden solche Abdrücke oft in Häusern, in denen kürzlich Leute eingezogen sind, sie sind also nichts Besonderes. Allerdings haben wir die Sackkarre selbst noch nicht gefunden, was vielleicht doch darauf hindeutet, dass die Spuren von etwas anderem stammen.«

»Vielleicht hat er sich die Karre von jemandem geliehen?«, schlägt Brandén vor.

»Ja.« Aber Söderlund wirkt nicht so, als würde sie das glauben. »Vielleicht. Oder der Täter hat sie mitgenommen. Wenn es sich nun überhaupt um solche Spuren handelt. Sie führen zur Hintertür im Wohnzimmer, die verschlossen war und wo sich auch keinerlei Hinweise darauf finden, dass sie aufgebrochen worden sein könnte, das möchte ich noch hinzufügen. Ich habe den Bereich um die Hintertür, sowohl im Haus als auch draußen, sehr gründlich untersucht.«

»Und?«, fragt Davidsson.

»Es könnte sein, dass jemand zum Beispiel mit einer Sackkarre auf diesem Weg das Haus verlassen hat. Das Gras vor der Hintertür sieht ein wenig niedergedrückt aus, wie von zwei Rädern. Wenn das eine Sackkarre war, dann muss sie voll beladen gewesen sein, um einen solchen Abdruck zu hinterlassen. Aber«, fügt Söderlund hinzu, »das sind alles nur Spekulationen. Ich habe ebensolche Spuren auf der Schwelle zur Eingangstür gefunden. Wenn wir davon ausgehen, dass es sich um eine Sackkarre handelt, dann könnte der Täter mit Umzugskartons, Computer, Drucker oder Scanner zur Hintertür hinausgegangen sein. Aber es ist genauso gut möglich, dass jemand, zum Beispiel Levin, sowohl den Eingang als auch die hintere Tür benutzt hat, um schwere Umzugskartons ins Haus zu bringen.«

»Er ist vor ungefähr einem Monat eingezogen«, sagt Tove. »Die Spuren auf der Rückseite des Hauses sind ja wohl frischer, oder?«

»Richtig«, stimmt Söderlund zu, »aber Sie haben ja gesehen, wie das Haus aussah. Er hatte es kaum eingerichtet, und es scheint, als wollte er das, wenn überhaupt, in Etappen erledigen. Ich möchte Sie einfach darauf aufmerksam machen, dass es in seinem Haus und darum herum Spuren gibt, die zweideutig sind.«

Davidsson verdreht die Augen und macht eine Notiz auf seinem Block. »Gut«, sagt er. »Gut. Danke.«

Brandén unterdrückt ein Gähnen. Tove hat nicht übel Lust, mit irgendwas nach ihm zu werfen.

»Wie auch immer«, fährt Söderlund fort und wendet sich wieder ihrem Aktenordner zu, »ich habe auch den übrigen Rasen und Teile des Walds hinter dem Haus untersucht. Dort verläuft ein kleiner Pfad, auf dem es keine vergleichbaren Spuren oder Abdrücke gab. Aber«, fügt sie hinzu, »das ist ein Pfad, der ein Stück tiefer im Wald mit einem anderen zusammenläuft, und das ist offenbar ein Spazierweg. Ich habe dort ein paar Fotos von Schuh- und Stiefelabdrücken gemacht, aber die werden wir erst gebrauchen können, wenn wir sie mit anderen vergleichen können.«

Söderlund blättert um. Davidsson hustet.

»Ein Stück entfernt gibt es eine Lichtung, auf der manchmal Hundebesitzer ihre Autos parken. Ich habe auch dort Fotos gemacht, von Reifenabdrücken. Sie stammen von mindestens zwei verschiedenen Reifentypen, jeweils allerdings Personenwagen.«

»Könnte eines der Autos das hier sein?«, fragt Brandén und schiebt das Foto von dem Volvo zu Söderlund hinüber.

Sie betrachtet es kurz.

»Das lässt sich nicht sagen.«

»Wir glauben ja wohl auch kaum, dass dieser Volvo sowohl vor dem Haus als auch im Wald geparkt stand, oder?«, wendet Tove ein.

»Ich rate nicht gern«, sagt Söderlund, »aber wenn ich trotzdem versuchen soll, den Tatort zu interpretieren, dann ist mein Eindruck, dass die außerhalb des Hauses, zum Beispiel auf dem Waldweg und der Lichtung, gefundenen Spuren wahrscheinlich nicht mit diesem Fall zusammenhängen. Aber ich habe die Abdrücke trotzdem dokumentiert, und sei es auch nur, um sie als irrelevant für die Ermittlung streichen zu können.«

»Gut«, sagt Davidsson und hustet noch einmal. »Verdammt, also auch in diesem Jahr eine Mittsommererkältung. Meiner Meinung nach ist das Auto bisher unsere stärkste Spur. Wir müssen das Bild an alle Kollegen im Land schicken und die Leute hier in der Gegend fragen, ob sie den Wagen gesehen haben. Wenn es die Mühe überhaupt noch wert ist, wo doch bald die Reichskripo kommt.«

»Was ist das denn für eine miese Einstellung?«; Söderlund starrt ihn an. »Hier geht es schließlich um einen Kollegen, verdammt noch mal.«

»Ja, ja.« Er weicht ihrem Blick aus. »Das stimmt.«

Es wird still. Söderlund starrt Davidsson weiterhin an. Alle begreifen, dass der Fall jetzt schon der Reichskripo gehört. Alle wollen von der Verantwortung befreit sein. Alle wollen nach Hause gehen.

»TOVE«, SAGT DAVIDSSON, als keiner die Stille länger ertragen kann. »Du hast doch seine Sachen durchgesehen, oder?«

»Ja.«

»Dann erzähl uns davon, sei so gut.«

»Es ist nicht ganz leicht zu erkennen, womit er beschäftigt war.« Sie holt aus ihrer Tasche Kopien von den Papieren, die in dem Umzugskarton lagen. »Vielleicht war er ja einer von denen, die nach der Pensionierung versuchen, nicht aufgeklärte Verbrechen zu lösen.«

Sie beschreibt kurz die Fälle, die in den Unterlagen dokumentiert sind: vier schwere Gewaltverbrechen, alle im Umkreis von Stockholm. Ein Messermord in Farsta 1997, eine Vergewaltigung in Enskede vier Jahre später, ein Mord auf der John Ericssonsgatan und dann Notizen zu einem Mordversuch in der Stockholmer Innenstadt 2005.

Davidsson sortiert die Papiere.

»Wo ist der Rest von all dem hier?« Er blättert durch einen der Stapel. »Zu den anderen gibt es richtige Unterlagen, sogar mit Voruntersuchungen und Zeugenverhören, aber bei diesem Mordversuch von 2005 kann ich nichts außer Gedächtnisnotizen finden. Nicht einmal die erste Aufnahme des Falles.«

»Mehr war da nicht«, sagt Tove. »Das ist wirklich seltsam. Wir wissen nicht einmal, wer das Opfer war.«

Davidsson zieht die Augenbrauen hoch und fischt dann die Gedächtnisnotiz heraus.

»Ein Rodrigo Serraz notiert das hier am 10. Mai 2005 um 16.03 Uhr. Eine Frau um die dreißig greift einen doppelt so alten Mann auf der Vasagatan an. Das Opfer hat nach eigener Aussage aus dem Augenwinkel gesehen, wie sich eine Person mit einem Gegenstand in der Hand auf ihn zubewegte. Er pariert und bekommt einen Schlag in die Seite. Dann versucht er, sich zu wehren, ehe Passanten eingreifen und die Polizei rufen, die nach weniger als zwei Minuten vor Ort ist. Der Mann wird mit dem Krankenwagen in die Sabbatsberg-Klinik gefahren und die Frau von der Polizei ins Untersuchungsgefängnis Kronoberg.« Er sieht auf. »Das ist alles.«

»Ist es möglich«, beginnt Brandén, »dass der Täter eines dieser Verbrechen erfahren hat, dass Levin an den Fällen arbeitete, und fürchtete, Levin könnte die Wahrheit herausfinden?«

»Und ihn dann erschießt, meinst du?«, fährt Davidsson fort. »Der Gedanke gefällt mir.«

»Aber warum nimmt er dann Handy, Computer und Scanner mit?«, fragt Söderlund.

»Das hat Ola doch gesagt«, antwortet Brandén. »Um sich ein bisschen was dazuzuverdienen.«

»Das passt.« Davidsson sieht sehr zufrieden aus, weil er Zustimmung erhalten hat. »Weiter, danke.«

»Außerdem lagen eine Reihe von Büchern in dem Karton«, sagt Tove. »Spionage- und Kriminalromane. Und das hier.«

Sie zeigt den Kollegen das Polaroidfoto: der Mann, die Frau, das Kind und auf der Rückseite: Marika, Eva und ich, Frühjahr 78.

»Wie jung er da ist.« Söderlunds Stimme ist plötzlich ganz, ganz dünn. »Dreißig höchstens, vielleicht einunddreißig.«

»Das Foto wurde in demselben Zimmer aufgenommen, in dem die Kiste stand«, erklärt Tove gedehnt. »Also im Haus, am Tatort.«

»Im selben Haus?«, fragt Davidsson.

»Im selben Zimmer«, verdeutlicht Tove.

»Das kann doch nur mit dem Teufel zugehen. Hier stinkt etwas. Wie hieß seine Familie?« Er dreht das Foto um. »Marika und Eva. Sind die von hier? Ich kenne sie nicht. Obwohl, wartet mal.« Davidsson kneift die Augen zusammen und hält das Foto so nah vor sein Gesicht, dass es seine Nasespitze berührt. »Doch, verdammt … Moment mal.«

»EVA A«, SAGT ER. »A-irgendwas. Sie hat einen komischen Nachnamen. Wo zum Teufel habe ich die denn schon mal gesehen?«

»Sie ist tot«, erklärt Tove. »Und bevor sie heiratete, hieß sie Eva Alderin.«

Davidsson sieht enttäuscht aus.

»Das hättest du ja wohl auch sagen können, oder?«

»Es steht in Levins Biografie, von der ich annahm, dass du sie gelesen hättest.«

»Na gut«, murmelt Davidsson und befingert das Foto. »Eva Alderin. Genau.« Er nickt zweimal vor sich hin, jetzt erinnert er sich wieder. »Das war tragisch. Ein Autounfall, nicht wahr?«

»Das meinte Sunesson auch.«

»Eine Nacht im Dezember«, fährt Davidsson fort. »Ich war damals gerade Assistent geworden. Sie hatte ihre Tochter von einer Freundin abgeholt, geriet ins Schleudern und kam von der Straße ab. Das Mädchen hat es geschafft, aus dem Autowrack rauszukommen.« Er lässt das Foto auf den Tisch fallen. »Die Mutter nicht.«

»Mein Gott«, sagt Brandén. »Was für eine Tragödie. Da kann ich verstehen, warum er hinterher weggezogen ist.«

»Sind wir sicher, dass ihr Tod nicht mit dem von Levin zusammenhängt?«, fragt Tove.