Wenn die Nacht endet - Christoffer Carlsson - E-Book

Wenn die Nacht endet E-Book

Christoffer Carlsson

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Beschreibung

Nominiert für den Novel of the Year Award: der neue Halland-Krimi von Schwedens Spannungsstar. Ausgezeichnet mit dem Schwedischen Krimipreis 2023 Es muss einer von ihnen gewesen sein. Jemand in Skavböke wurde in der Nacht zum Mörder. An einem kalten Wintermorgen 1999 wird im halländischen Skavböke der 18-jährige Mikael Söderström erschlagen aufgefunden. Mit seinen Freunden war er in der Nacht zuvor auf einer Party, doch niemand im Dorf kann und will glauben, dass einer von ihnen der Täter ist. Bei den Ermittlungen stößt die Polizei immer wieder auf zwei Namen: Killian Persson und Sander Eriksson. Doch nachweisen kann man dem ungleichen Gespann, das seit der Kindheit unzertrennlich ist, nichts. Die Spuren verlaufen im Sande. Als 20 Jahre später Mikaels jüngerer Bruder in Skavböke ermordet wird, übernimmt Vidar Jörgensson von der Polizei Halmstad den Fall. Seine Ermittlungen führen zurück zu den Ereignissen von damals. Aber in den hellen Sommernächten beginnen sich Grenzen aufzulösen, flirrend wie das Licht verschwimmen Früher und Jetzt. «Einer der besten Kriminalromane des Jahres, hervorragend geschrieben und atmosphärisch, über das Erwachsenwerden und über Träume, alte Lügen und neue Erkenntnisse.» Dagens Nyheter

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Seitenzahl: 507

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Christoffer Carlsson

Wenn die Nacht endet

Kriminalroman

 

 

Aus dem Schwedischen von Ulla Ackermann

 

Vita

Christoffer Carlsson, geboren 1986, wuchs außerhalb von Marbäck an der Westküste Schwedens auf. Er promovierte in Kriminologie an der Universität Stockholm und wurde 2012 mit dem Young Criminologist Award der International European Society of Criminology ausgezeichnet. Für seinen Debütroman «Der Turm der toten Seelen» erhielt er 2013 als jüngster Preisträger mit 27 Jahren den Schwedischen Krimipreis. Die Reihe um den Polizisten Leo Junker erscheint in 20 Ländern. Sein Roman «Unter dem Sturm» war 2019 für den Schwedischen Krimipreis nominiert und stand auf Platz 1 der schwedischen Bestsellerliste, ebenso sein Roman «Was ans Licht kommt». Alle Bücher werden verfilmt. «Carlsson schreibt besser als so ziemlich jeder andere. Nicht nur in diesem Genre, sondern unter den jungen Schriftstellern insgesamt.» Leif GW Persson, Expressen «Der großartigste Kriminalautor, den wir in Schweden haben. Eine perfekte Kombination aus kristallklarer Prosa und präzisem Wissen.» David Lagercrantz

 

Ulla Ackermann studierte Skandinavistik, Germanistik und Anglistik in Münster/Westfalen und Lund. Nach dem Studium lebte sie mehrere Jahre in Stockholm. Seit 2015 arbeitet sie als freie Übersetzerin in Kiel und übersetzt vorwiegend Belletristik aus dem Schwedischen und Norwegischen. Unter anderem gehören die Kriminalromane von Anna Tell, Bo Svernström und Anders Roslund zu den von ihr übertragenen Titeln.

Impressum

Die schwedische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel «Levande och döda» bei Albert Bonniers Förlag, Stockholm.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg «Levande och döda» Copyright © 2023 by Christoffer Carlsson

Redaktion Peter Hammans

Covergestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich

Coverabbildung Shutterstock

ISBN 978-3-644-02013-9

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Stig

 

Weil Du gekommen bist und

weil es Dich gibt, weil Du

das wundervollste und hellste

Licht in meinem Leben bist.

Existiert keine Grenze

zwischen den Lebenden und den Toten?

Schwemmen die Toten

an den Ufersaum

treiben die Lebenden hinaus wie Holz

fast reglos?

Kerstin Ekman

Erster TeilIn Halland führen die Wege überallhin

1

Sie glaubte an die Wahrheit, vielleicht sogar an die Wahrheit um jeden Preis.

Dieser Glaube hatte sie zum Polizeiberuf geführt, der sie jetzt wiederum nach Skavböke führte. So kann man es wohl sehen. Manche Dinge im Leben sind so einfach.

Andere können deutlich komplizierter sein.

Möglicherweise ist es bezeichnend: An diesem kalten Vormittag im Dezember 1999, als das Ganze begann, hätte sie sich fast verlaufen. Obwohl das Haus eben noch zwischen den Bäumen aufgeblitzt war, hatte sie Schwierigkeiten, dorthin zu finden. Skavböke war vertrackt, die Pfade waren zu gewunden. Die Wälder zu tief. Keine durch weite Felder gegliederte, offene Landschaft, sondern zahllose kleine Höfe, Ackerflecken, morastige Waldstücke und dunkle Lichtungen.

Doch zu guter Letzt lag es vor ihr: das Haus der Familie Eriksson, zweigeschossig, auf einem von knorrigen alten Eichen und Birken gesäumten Grundstück.

Als der Sohn des Hauses öffnete, hatte er nasse Haare und trug Jogginghose und T-Shirt. Achtzehn Jahre alt, dünn und sehnig, eine Hand auf der Türklinke, Intelligenz im wachen Blick.

«Hallo», sagte sie. «Mein Name ist Siri Bengtsson. Ich bin von der Polizei. Darf ich hereinkommen?»

«Meine Eltern sind nicht zu Hause.»

«Ich möchte auch mit dir sprechen. Sander, richtig?»

«Worum geht es?»

Falls er es wusste, verbarg er es gut.

«Dazu würde ich mich gerne setzen.»

Als er ihr voraus in die Küche ging, fielen ihr Kratzer an seinen Unterarmen auf.

Das Haus wirkte kleiner, als es eigentlich war. Abgehängte Zimmerdecken, sperrige Möbel an den Wänden. In den Fenstern leuchteten Adventslichter, und zwischen den Gardinen glänzten rote Weihnachtskugeln. Als Siri sich auf eine knarrende Küchenbank setzte, zog vom Fenster her kalte Luft herein.

Auf der anderen Tischseite hatte Sander die Hände im Schoß verschränkt, als sei er zum Schuldirektor gerufen worden, um einen Rüffel zu kassieren. Sein Blick war offen und drückte aufrichtige Verwunderung aus, während der Rest seiner Miene Reserviertheit widerspiegelte. Siri kannte diese Art Gesicht: Sander Erikssons Züge würden mit den Jahren zunächst verhärten, dann aber wieder weicher werden.

Sie nahm ihren Notizblock aus der Tasche und zückte einen Stift.

«Würdest du mir bitte zuerst einmal deinen vollen Namen und deine Personenkennziffer nennen?»

Sander kam ihrer Aufforderung nach und wartete, während sie seine Angaben notierte.

«Wer wohnt außer dir noch hier?»

«Meine Eltern.»

«Keine Geschwister?»

Er schüttelte den Kopf.

«Es geht um einen Vorfall, der sich heute Nacht hier in der Nähe ereignet hat. Du hast vielleicht schon davon gehört?»

«Keine Ahnung. Was ist passiert?»

«Ein Jugendlicher wurde tot aufgefunden. Deshalb muss ich dir ein paar Fragen dazu stellen, was du gestern gemacht hast.»

Sander riss die Augen auf.

«Tot? Hier? Wer?»

«Wenn du meine Fragen beantwortest, werde ich anschließend versuchen, deine, so gut ich kann, zu beantworten. Klingt das fair?»

Er nickte. Sah wohl ein, dass er keine andere Wahl hatte.

«Also», begann Siri. «Was war gestern?»

«Ein ganz normaler Freitag, schätze ich.»

«Und das heißt?»

«Bis nachmittags Schule, abends Party. Davor war ich noch bei einem Kumpel.»

«Wie heißt dieser Kumpel?»

«Killian. Killian mit k, Killian Persson.»

Siri schrieb den Namen auf.

«Danke. Mikael Söderström», fuhr sie dann langsamer fort. «Sagt dir der Name etwas?»

Als Sander schließlich antwortete, wirkte er wie jemand, der sich über einen zugefrorenen See tastete und Angst hatte einzubrechen.

«Ist er tot?»

«Kennt ihr euch?»

«Wir gehen in eine Klasse, er wohnt hier ganz in der Nähe. Ich kenne ihn schon ewig, so, wie man sich eben kennt. Wir kommen aus demselben Ort … sind auf derselben Schule, haben dieselbe Freunde. Als wir klein waren, haben wir zusammen Fußball gespielt.»

«In Oskarström?»

«Sennan. Man spielt nicht in Oskarström, wenn man aus Skavböke kommt.»

«Er ist so alt wie du, achtzehn?»

«Ja, das stimmt.»

«Mit wem, würdest du sagen, ist Mikael befreundet?»

Er dachte nach, oder jedenfalls sah es so aus, als täte er es.

«Keine Ahnung, mit allen, schätze ich.»

«Mit wem trifft er sich am häufigsten?»

«Mit ein paar von den Leuten, die gestern auf der Party waren. Jakob Lindell und Pierre. Pierre Bäck. Da waren wir.»

«Die Party war also bei Pierre?»

Sander nickte.

«Und hast du Mikael da gesehen?»

«Ja, klar.»

«Seid ihr zusammen hingegangen?»

«Ich bin mit Killian hingegangen. Mikael war schon da, glaube ich. Ja, er war da. Seine Jacke hing im Flur, als wir kamen. Filip war auch auf der Party. Filip ist Mikaels jüngerer Bruder.»

«Wie alt ist Filip?»

«Sechzehn. Ist Mikael wirklich tot?»

Mit einem Mal klang seine Stimme kindlich. Er schien es selbst zu merken und errötete. Siri wartete, versuchte zu entscheiden, wer ihr gegenübersaß. Bisher konnte sie es unmöglich sagen. Vielleicht war er nur ein besorgter Freund und Klassenkamerad. Die meisten waren letzten Endes nicht mehr als das.

«Ich verstehe, dass das nicht leicht ist, aber wir müssen meine Fragen zuerst klären. Wie lange seid ihr auf der Party geblieben?»

«Bis eins ungefähr. Killian war ziemlich blau, ich auch, und da haben wir beschlossen, nach Hause zu gehen.»

«Weißt du, wer alles vor euch gegangen ist?»

Sander kniff die Augen zusammen, als wolle er seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen.

«Filip, Mikaels Bruder, ist früh abgehauen. Zusammen mit einem Mädchen. Sie sind als Erste weg. Kurz darauf ist Mikael gegangen. Dann Jakob. Und dann Killian und ich.»

«Und du bist sicher, dass es eins war?»

«Ja, im Flur hängt eine Uhr. Wir sind um eins abgehauen.»

«Welchen Weg seid ihr gegangen?»

Siri wünschte, sie hätte eine Karte, während Sander seinen Nachhauseweg beschrieb.

«Und dein Freund, Killian?», fragte sie, als Sander verstummte.

«Was ist mit ihm?»

«Welchen Weg ist er gegangen?»

«Habt ihr nicht mit ihm geredet?»

«Wir werden mit allen Anwohnern sprechen. Aber jetzt interessiere ich mich für deine Geschichte.»

«Zuerst hatten wir denselben Weg, und als wir uns getrennt haben, ist er eben in seine Richtung weitergelaufen. Es dürfte noch eine Weile gedauert haben, bis er zu Hause war. Er wohnt ein bisschen außerhalb.»

«Aber du bist sicher, dass er nach Hause gegangen ist?»

«Ja.»

«Warum?»

«Warum was?»

«Entschuldige, ich drücke mich undeutlich aus.» Siri änderte ihre Sitzhaltung. Allmählich begann sie, in ihrer Uniform zu schwitzen. «Ich meine, warum du sicher bist, dass Killian nach Hause gegangen ist.»

«Er hat es gesagt. Wohin hätte er sonst gehen sollen. Er war ziemlich stramm.»

«Du klangst so sicher, als hättest du ihn nach Hause gebracht. Das hast du also nicht?»

«Killian ist mein bester Kumpel», sagte Sander, als müsste er sich verteidigen. «Wäre er woanders hingegangen, hätte er es mir gesagt. Aber vielleicht ist unterwegs irgendwas passiert. Vielleicht hat er irgendwen getroffen und beschlossen, bei demjenigen zu pennen. Aber es war mitten in der Nacht. Wer hätte das sein sollen?»

Siri schwieg einen Moment, als sei die Frage durchaus interessant und keinesfalls bloß rhetorisch.

«Geht ihr oft zu Fuß nach Hause?»

«Kommt drauf an. Aber es fährt kein Bus nach Skavböke. Von Oskarström muss man sehen, wie man nach Hause kommt. Zu Fuß, mit dem Rad, dem Mofa oder dem Auto.»

«Und was hast du gemacht, als du zu Hause warst?»

«Nichts. Ich bin ins Bett gegangen und vor ungefähr einer Stunde aufgewacht.»

«Wie viel hast du auf der Party getrunken?»

«Ein paar Bier. Sechs, sieben vielleicht.»

«Der Heimweg, den ihr nach der Party genommen habt.» Siri trommelte mit dem Stift auf ihrem Notizblock. «Habe ich dich richtig verstanden, dass ihr nicht durch den Wald gelaufen seid?»

«Nein, sind wir nicht. Nicht direkt. Die meiste Zeit sind wir auf der Straße geblieben.»

«Also seid ihr doch durch den Wald gelaufen?»

«Was?»

«Du hast gesagt, ihr seid die meiste Zeit auf der Straße geblieben.»

«Ach so, nein. Wir sind nicht durch den Wald gelaufen. Was ist mit Mikael?», fragte Sander wieder.

Diesmal fand Siri keinen Grund, nicht zu antworten.

«Er liegt ermordet in einem Auto, ungefähr zwei Kilometer von hier.»

Sander saß wie erstarrt da, sein Blick war vollkommen ausdruckslos.

«Was?», flüsterte er.

«Was denkst du darüber?»

«Was ich … Was ich darüber denke? Das ist furchtbar. Wisst ihr, wer ihn umgebracht hat?»

«Das versuchen wir herauszufinden. Hatte er mit irgendwem Streit?»

«Nein. Nicht, dass ich wüsste.»

«Du hast nichts in der Richtung gehört? Auf der Party, zum Beispiel. Hat irgendjemand Mikael gedroht? Es gab keinen Streit, keine Auseinandersetzung oder irgendwas?»

«Doch, aber das war nur normaler Partystreit, nichts Ernstes.»

«Und Mikael war daran beteiligt?»

«Ja. Er und Jakob.»

Siri blätterte in ihrem Notizblock.

«Jakob Lindell?»

«Ja. Jakobs Familie geht es finanziell nicht so gut. Ich weiß, dass sich Jakobs Vater Geld von Mikaels Vater leihen wollte. Ich hab keine Ahnung, ob er welches bekommen hat. Gestern habe ich gehört, wie Mikael … keine Ahnung. Wir saßen auf dem Sofa und haben gequatscht, Mikael sagte irgendwas über Geld. Und später haben sich Mikael und Jakob oben im ersten Stock gezofft. Aber wie gesagt, das war nichts Ernstes.»

«Hast du Mikael und Jakob öfter während der Party zusammen gesehen?»

Sanders Gesicht hatte alle Farbe verloren.

«Ja, klar. Mehrere Male.»

«Und wie haben sie sich da verhalten?»

«Sie haben nur geredet. So sah es jedenfalls aus. Worum es ging, konnte ich nicht hören. Aber Jakob ist ein netter Kerl, total ausgeglichen. Er würde nie …»

Siri nickte.

«Ich verstehe. Und die da?»

Sander folgte ihrem Blick zu den Kratzern an seinen Armen. Wie ertappt, wollte er sie im ersten Moment mit den Händen verdecken, dann besann er sich anders und ließ sie sinken.

«Was ist damit?», sagte er leise

«Woher hast du die?»

«Das muss passiert sein, als ich Killian gestern bei seinem Häuschen geholfen habe. Wir haben ziemlich viel Gerümpel geschleppt, und dabei hab ich mir die Arme aufgeschürft.»

 

Als sie im Auto saß, ging Siri ihre Notizen durch, fügte ein Wort hinzu und kreiste es ein, wie um eine Art Arbeitsthese zu formulieren: lügt.

2

Später, als der Ablauf der Ereignisse bekannt wurde und man im Dorf zu verstehen versuchte, wie es dazu hatte kommen können, dachten viele an ebendiese Begegnung. Dort, am Küchentisch in Sander Erikssons Elternhaus und bei der Befragung, die Siri Bengtsson am Morgen des 18. Dezember 1999 mit Sander führte, sahen viele eine Art Anfang.

Jede Geschichte braucht einen Anfangspunkt. Häufig herrscht die Vorstellung eines eindeutig ersten Ereignisses, als könnte man in der Zeit zurückreisen und schließlich sagen: Hier. Genau jetzt setzen sich die Zeiger der Uhr in Bewegung.

Doch so ist es nicht. Um aufzudecken, was den Jungen aus Skavböke widerfahren ist, muss ein Blickwinkel festgelegt werden, von dem aus das Geschehen betrachtet werden kann.

Vielleicht begann es weder mit Sander noch mit Killian und auch nicht mit Jakob Lindell, sondern mit den beiden Brüdern, Mikael und Filip. Oder mit Madeleine, und mit Felicia. Irgendwer ist schließlich immer schuld.

Oder liegt die Schuld bei ihnen allen? Womöglich beim gesamten Dorf? Kleine Provinznester haben oft eine eigene Stimme. Gut möglich, dass sie, geht es böse aus, auch imstande sind, sich selbst zu vernichten.

Die Menschen, die zwischen den Seiten dieser Geschichte ein und aus gehen, verdunkeln das Bild, stören den Gedanken. Das sollen sie, wenngleich man wünschte, sie täten es nicht. Die Geschichte schert sich nicht um Wünsche oder Erwartungen, um nichts dergleichen. Stattdessen: ein Sortiment von Personen, die reden und handeln, die Zeugenaussagen machen, verlogene wie der Wahrheit entsprechende, die einander ablehnen oder idealisieren. Einige entziehen sich, wollen nicht sichtbar in Erscheinung treten, wirken aber dennoch im Stillen; ihr Handeln erzeugt einen Widerschein in vollkommen anderen Lebensgeschichten.

Ja, so ist es wohl.

Also, warum nicht, wie soeben geschehen, mit der Befragung beginnen.

Oder doch: ganz woanders.

Mit einem scheinbaren Randereignis des Ganzen vielleicht?

Ja, auch das ist ein Anfang. Lassen wir die Geschichte mit einem verschwundenen Teenager beginnen und damit, wie Siri Bengtsson, drei Jahre nach den Vorkommnissen in Skavböke, den Polizeiberuf an den Nagel hängte.

3

Das Ganze begann mit einem Zugriff auf ein Zeltcamp. Zeltcamps dieser Art hat es schon immer hier und da im Land gegeben, an in Vergessenheit geratenen, abgeschiedenen Orten. Ende der Neunzigerjahre und zu Beginn des neuen Jahrtausends hatten sich ihre Anzahl und Größe vervielfacht.

Im Grunde waren die Bewohner nicht daran interessiert, Blicke auf sich zu ziehen, doch angesichts der Klientel waren Gewalt und Missbrauch in diesen Camps an der Tagesordnung. Dort lebten jene, die sich die moderne Gesellschaft einverleibt und dann wieder ausgespien hatte: Obdachlose und Ausgestoßene, Kranke und Mittellose, Junkies und alte Gauner. Fühlte sich Otto Normalbürger gestört, traten Medien und Polizei auf den Plan.

Ebendieses Camp lag im tiefsten Halland, zwischen Fegen und Djuparp, und hatte lange ungestört existiert, weil man den Weg dorthin nur fand, wenn man vom Weg abgekommen war. An einem warmen Augustmorgen im Jahr 2002 wurde Siri Bengtsson zusammen mit einem Dutzend Kollegen aus Halmstad und Falkenberg dorthin geschickt.

Die Anweisung war simpel: Vertreibt das Gesindel und reißt alles ab!

Falls die Beamten Sinn oder Freude bei der Ausführung dieser Aufgabe empfanden, war es nicht zu erkennen.

Das Camp war zwischen den Bäumen zu sehen. Unrat und Müll, Spritzen und alte Socken, Wolldecken, Papiertüten und verrottete Umzugskartons säumten den Waldweg. Es stank nach Urin und Exkrementen. Fernes Stimmengemurmel, vermischt mit spätsommerlichem Insektensummen, drang zu ihnen herüber.

«Jetzt ist Schluss mit lustig», sagte einer von Siris Kollegen freudlos.

Im Camp lebten etwa hundert Leute, Männer und Frauen, Junge und Alte. Einige leisteten Widerstand, ein paar wenige sogar tätlich, doch der Großteil fügte sich friedlich. Sie lasen ihre Habseligkeiten auf und gingen fort, beschämt und niedergeschlagen.

Ein junger Mann beobachtete Siri von Weitem. Er stand am Rand des Camps und streifte sich einen Pullover über, vielleicht hatte er sich gerade gewaschen. Als ihre Blicke sich trafen, griff er nach einem Rucksack und rannte in den Wald.

Als sei er vorbereitet gewesen. Niemand versuchte, ihn aufzuhalten.

Siri sah den Rücken des Mannes zwischen den Bäumen verschwinden und hatte das starke Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben. Aber die Entfernung war groß, schätzungsweise fünfzig Schritte, und ganz sicher war sie nicht.

«Wisst ihr, wer das war?», erkundigte sie sich bei etlichen Campbewohnern. «Der Mann mit dem Rucksack, der weggelaufen ist?»

Kaum jemand antwortete. Die wenigen, die etwas sagten, wussten nicht viel.

«Er ist kein Mann», meinte einer. «Nur ein Junge.»

«Er war neu», sagte ein anderer. «War noch nicht lange hier. Ein kräftiger Bursche, hilfsbereit, hat mit angepackt, und das, was er hatte, hat er mit uns allen geteilt. Er ist abgehauen? Sieh einer an.»

Siri machte sich belanglose Notizen. Im Camp war es schwül und stickig, die Luft stand still. Der Geruch verursachte ihr Übelkeit, sie schwitzte und bekam feuchte Hände. Siri und ihre Kollegen blieben im Wald und arbeiteten, bis es dunkel wurde und der Mond einsam und rund hoch oben über den Baumwipfeln stand.

Als sie nach Hause kam, duschte sie lange, ehe sie sich an den Küchentisch setzte und nachdenklich hinaus in die Spätsommernacht blickte.

 

In jenem Herbst begann sie, alte Vermisstenfälle durchzugehen. Der junge Mann im Wald ging ihr nicht aus dem Kopf. Vielleicht war es sein Alter oder die Tatsache, dass er, zumindest aus der Entfernung, gesünder ausgesehen hatte als die anderen, lebendiger. Und die Selbstverständlichkeit, mit der er sofort geflohen war, als habe er nicht wirklich ins Camp gehört und etwas Schlimmeres zu verbergen als die anderen.

In Halland gab es zahlreiche Vermisstenfälle, darunter vor allem Jugendliche und Senioren. Die meisten Vermissten wurden binnen vierundzwanzig Stunden gefunden, fast alle anderen kurze Zeit später, größtenteils lebend. Einige waren tot, als man sie auffand, und ein paar vereinzelte Unglückselige blieben verschwunden, als habe die Zeit sie verschluckt.

Einer von ihnen war Hampus Olsson.

 

Siri erinnerte sich an ihn. Sie hatte sein Gesicht in den Schlagzeilen gesehen, als Skavbökes Nachrichtenwert abgeflaut war. Skavböke. Ihr wurde bewusst, dass sie so daran dachte. Drei Jahre waren seither vergangen. War es wirklich schon so lange her? Sie las die alten Berichte über Hampus Olsson mit einem Gefühl wachsender Kälte im Bauch.

Er kam aus Rydöbruk, gut vierzig Kilometer von Halmstad entfernt, und war zum Zeitpunkt seines Verschwindens siebzehn Jahre alt. Ein aufgeweckter Junge, der sich für Eishockey und Autos interessierte, sich seit der Oberstufe aber auf Abwegen befand, selten zu Hause und noch seltener in der Schule war und seine Zeit stattdessen mit einer Gruppe Gleichgesinnter aus der Gegend verbrachte. Heiligabend 1999 hatte er sich bemüht, das Fest im elterlichen Heim durchzustehen, weil seine Mutter, ein Sozialfall aus Knäred, ihn auf Knien angefleht hatte, zu Hause zu bleiben.

Doch offenbar hatte er nicht bis zum Ende durchgehalten. Seiner Mutter zufolge hatte Hampus sich gegen sieben Uhr abends eine fast volle Flasche Zaranoff-Wodka von der Küchenzeile gegriffen, war hinaus in die Dunkelheit verschwunden und seitdem von niemandem mehr gesehen worden.

Er trug schwarze Baggy-Pants, einen weiten marineblauen Kapuzenhoodie, eine schwarze Daunenjacke und, wie üblich, eine bordeauxrote NHL-Basecap mit dem Logo der Colorado Avalanches, seines Lieblings-Eishockeyteams. Es gab Zeugenaussagen, wonach Hampus von Torup aus getrampt sein könnte. Passanten hatten einen Teenager mit herausgehaltenem Daumen am Straßenrand stehen sehen, doch das hatte nicht bestätigt werden können.

Angesichts von Hampus’ Vorgeschichte war die Suche nach ihm lange fortgesetzt worden, und die Vermutungen, was ihm zugestoßen sein könnte, wurden zunehmend pessimistischer. «Wahrscheinlich liegt er tot in irgendeinem Straßengraben», sagte einer von Siris Halmstader Kollegen mit erschöpfter Stimme, als sie anrief, um sich zu erkundigen.

Wenn Hampus zum Zeitpunkt seines Verschwindens siebzehn gewesen war, musste er heute um die zwanzig sein, sofern es tatsächlich Hampus Olsson gewesen war, den sie im Wald gesehen hatte. Vielleicht. Doch. Sie war sich sicher.

Siri legte die Angelegenheit beiseite und machte weiter. Sie hatte gestresste Chefs, und auf ihrem Schreibtisch stapelten sich Berge an Dingen, die abgearbeitet werden mussten. Die Tage gingen ihren gewohnten Gang, an den Abenden aber kehrte die Gestalt am Waldrand zu ihr zurück. Sie erwog, die Sache mit einem Vorgesetzten zu erörtern, entschied sich jedoch letzten Endes dagegen.

Stattdessen tastete sie sich voran, heimlich, als suche sie nach einer Antwort, die sie in Wahrheit gar nicht finden wollte. Sie sprach mit Hampus’ ehemaligen Lehrern am Kattegat-Gymnasium und bat sie um ihren Eindruck von Hampus als Schüler, bei den wenigen Malen, die er am Unterricht teilgenommen hatte.

«Ich war immer der Meinung, dass es besser für ihn gewesen wäre, die Schule zu wechseln», sagte John Lundström, Hampus’ Schwedischlehrer. «Er hat ein ganzes Stück entfernt gewohnt. Wir haben es ihm mehrmals vorgeschlagen, um seiner Schwänzerei entgegenzuwirken. Für einen Jungen wie Hampus gibt es viele Verlockungen entlang des Wegs, um es mal so zu formulieren. Aber weder er noch seine Mutter haben einen Schulwechsel in Angriff genommen, also wurde nichts daraus. Es ist schade. Hampus war nicht dumm. Aber er hatte viel Pech.»

Pech, ja, so konnte man es wohl sehen. Siri hörte sich in Hampus’ Umfeld in Rydöbruk um, traf seine Mutter in einer Entzugsklinik in der Nähe von Falkenberg und sprach mit Hampus’ Freunden, die noch in der Gegend wohnten.

Sie wollte ihn nur finden. Das war alles. Sie war der Meinung, dass er es verdient hatte. Wenn man mit siebzehn Jahren spurlos verschwindet, muss es jemanden geben, der nach einem sucht, und alle anderen schienen aufgegeben zu haben.

Sie studierte Umgebungskarten, um einzugrenzen, welche Wege er genommen habe könnte. Nach Dienstschluss behielt sie oft ihre Uniform an, und anstatt nach Hause zu fahren, fuhr sie weiter, hoch in die halländischen Wälder. Sie stellte ihr Auto außer Sichtweite ab, damit sich niemand wunderte, warum sie nicht in einem Streifenwagen kam, klopfte an Türen, zeigte Fotos und stellte Fragen. Die Leute schüttelten den Kopf und bedauerten, nicht helfen zu können.

Sie schlief eine Weile im Auto und fuhr weiter.

 

Irgendwo muss es eine Spur geben. Die gibt es immer, man muss nur wissen, wonach man sucht.

Zu guter Letzt fand Siri sie.

Einen Monat später reichte sie ihre Kündigung ein.

4

Der Beamte der Umwelt- und Naturschutzbehörde war ein ordentlicher Mann. Er hatte die Gewohnheit, jedes Fitzelchen Unrat in einem Müllsack einzusammeln und selbigen auf dem Heimweg auf der Deponie bei Vallås zu entsorgen; die leere Patronenhülse jedoch, die er gerade in einem entlegenen Winkel des Naturreservats von Långhultamyren aufgelesen hatte, musste der Polizei übergeben werden. Er steckte sie in den Müllsack und fuhr auf direktem Weg zum Präsidium.

Dort fanden Müllsack und Patronenhülse den Weg zu einem jungen Polizeischüler, der in dieser Woche mit Siri in Oskarström Dienst tat. Sie waren nach Halmstad gefahren, um einen Betrunkenen in die Ausnüchterungszelle zu stecken, saßen nun zusammen im Pausenraum und unterhielten sich über die frisch aus den USA importierte Halloween-Feierei. Oben in Stockholm war dieser Brauch in den letzten Jahren immer mehr in Mode gekommen, und es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis er auch zu ihnen überschwappte.

«Ich sehe uns schon hinter Besoffenen in Spiderman-Kostümen, mit Scream-Masken vor den Gesichtern oder als Gandalf verkleidet herrennen», sagte Siri. «Das wird ein Spaß.»

«Wer ist Gandalf?», wollte der junge Polizeischüler wissen.

«Ein Zauberer aus Herr der Ringe.»

Als der junge Mann sie verständnislos anblickte, steckte ein Kollege den Kopf zur Tür herein und erkundigte sich, ob sie Zeit hätten.

«Hier ist jemand, der eine leere Patronenhülse abgeben möchte», sagte er. «Sie wird wohl von der Jagd sein, aber ich kann mich nicht darum kümmern, ich bin mit etwas anderem beschäftigt.»

Siri stand auf.

«Wir übernehmen das.»

Der Polizeischüler trottete hinter ihr her wie ein verängstigter Welpe.

«Die Patrone ist in dem Müllsack», teilte ihnen der Beamte der Umwelt- und Naturschutzbehörde gehetzt mit. Er hatte lange warten müssen, bis sich jemand seiner annahm. «Den Rest können Sie wegwerfen. Das ist nur Müll. Einen schönen Tag.»

Siri spähte in den Müllsack und erstarrte.

«Sie? Hallo? Warten Sie!»

Der Beamte der Umwelt- und Naturschutzbehörde wandte den Kopf. Vorsichtig nahm Siri eine verschlissene, rote Basecap aus dem Müllsack. Sie trug das Logo der Colorado Avalanches: ein verblichenes, bordeauxrotes A mit einer darüber hinwegspülenden Welle, die ein C bildete.

«Wo haben Sie diese Kappe gefunden, sagten Sie?»

 

Der Beamte der Umwelt- und Naturschutzbehörde hatte in Richtung seiner Füße genickt und zu Gummistiefeln geraten, aber Siri hatte keine. Kurz darauf stand sie mitten im Wald, mit nassen Füßen und zitternd vor Kälte. Er zeigte ihr die exakte Fundstelle. Siri untersuchte sie sorgfältig.

Sie befanden sich auf einem schmalen Pfad, der sich tiefer in den Wald schlängelte.

«Wie weit führt dieser Weg?»

«Keine Ahnung», antwortete der Beamte der Umwelt- und Naturschutzbehörde. «Weit.»

«Bis Rydöbruk?»

«Irgendwann bestimmt. In Halland führen die Wege überallhin, man muss nur weit genug gehen.» Er zog eine Karte aus seiner geräumigen Jackentasche und studierte sie unter Zuhilfenahme eines Kompasses. «Rydöbruk liegt von hier aus genau in Richtung Norden. Aber zu Fuß ist es ein ganzer Tagesmarsch.»

Die Basecap gehörte Hampus Olsson, daran bestand kein Zweifel, aber bis Rydöbruk war es ein weiter Weg für einen Teenager. Vielleicht war er tatsächlich getrampt, wie Zeugen ausgesagt hatten.

Einen Kilometer entfernt entdeckte Siri am Wegrand eine Flasche der Marke Zaranoff. Als sie die Flasche vorsichtig aufhob, spürte sie ein Kribbeln in der Brust, ganz so, als sei ein Geist in der Nähe.

Sie fühlte sich verpflichtet weiterzumachen. Blieb sie stehen, würde die Spur verblassen, davon war sie überzeugt. Doch dafür waren weitere Füße nötig, ausgestattet mit dicken Socken und Gummistiefeln. Sie spürte ihre Zehen nicht mehr.

Zurück in Halmstad erstattete Siri Meldung über ihre Fundstücke und bat darum, einen Suchtrupp organisieren zu dürfen. Es fand sich eine große Teilnehmerzahl, und sie durchkämmten das Gelände unermüdlich über eine Woche lang. Sogar der Beamte der Umwelt- und Naturschutzbehörde, der das Gebiet gut kannte und sich als hilfsbereiter Zeitgenosse erwies, nahm daran teil.

Nach ein paar Tagen erreichten sie die Gegend um Mjäla, wo der Wald weiten Äckern und Feldern kurz vor dem Winterschlaf wich. In der Ferne erahnte Siri einen Bauernhof. Sie ließ den Suchtrupp anhalten, bat die Teilnehmer, sich auszuruhen und über den weiteren Suchradius zu beratschlagen, während sie losging, um mit dem Hofeigentümer zu sprechen. Sie blieb fast eine Stunde fort, und als sie zurückkam, sagten die Leute, sei sie nicht mehr dieselbe gewesen. Wortkarg und zerstreut hielt sie ein Stück Papier in der Hand und schien zu zögern, die Suche wieder aufzunehmen.

Zuletzt verwies jemand auf die fortgeschrittene Uhrzeit – es würde nur noch etwa eine Stunde lang hell sein – und schlug vor, die Suche am nächsten Tag fortzusetzen.

«Ja», murmelte Siri abwesend. «So machen wir es.»

«Hat er was gesagt?», erkundigte sich der Beamte der Umwelt- und Naturschutzbehörde und deutete auf das Papier in Siris Hand.

Sie faltete es zusammen und schob es in die Hosentasche.

«Wer?»

«Der Bauer. Hat er etwas gesehen?»

«Ach so.» Siri schüttelte den Kopf. «Nein, nichts. Er sagt, Hampus sei nicht dort gewesen. Aber davon werden wir uns selbst überzeugen. Wir haben seine Erlaubnis, uns frei auf dem Land zu bewegen. Wir sollen nur vorsichtig sein. Wir sehen uns morgen.»

 

Der Suchtrupp kam nie wieder zusammen.

Zweiter TeilDer Junge auf der Brücke

5

Diejenigen, die Sander Eriksson und Killian Persson damals kannten, sagten, sie seien unzertrennlich gewesen.

Zwei Einzelkinder, das stand ihnen förmlich auf der Stirn geschrieben, und vielleicht war es so simpel. Ging Sander durch Skavböke, war Killian an seiner Seite. Killian war das Gegenteil seines besten Freundes. Groß und stämmig und blond, mit schweren Händen und einem gutmütigen, leicht verunsicherten Blick. Sie waren ein ungleiches Gespann und zugleich alles andere als das. Was der eine im anderen fand, war unschwer zu erkennen.

Killian, mit weichem k, wie das sch in Schach. Der Name klingt einerseits urhalländisch, andererseits auch wieder nicht. Seine Wurzeln liegen wohl im Irischen oder Schottischen. Irgendwann, vor langer Zeit, gelangte er nach Schweden, wurde in männlicher Linie weitervererbt und ging über auf einen groß gewachsenen Jungen aus Skavböke, der im Winter 1999 achtzehn Jahre alt war.

Killians Eltern waren geschieden, sein Vater Sten war ausgezogen, und Killian wohnte allein mit seiner Mutter Linda am Rand des Dorfs. Killians Familie, wie auch Sanders, gehörte zu denen, deren Vorfahren nie Bauern gewesen waren.

«Manche sind nicht einmal arme Bauern», besagt ein halländisches Sprichwort. «Sie sind nur arm.»

Killian kam nur zum Essen oder Schlafen ins Haus. Auf dem Grundstück stand ein alter Werkzeugschuppen, und vor einem halben Jahr hatte er beschlossen, den Schuppen abzureißen und stattdessen ein Haus zu bauen, in dem er wohnen wollte. Er nannte seinen Plan Das Häuschen.

Sander half ihm. Nur das Steinfundament ließen sie stehen, dem Rest rückten sie unter einer sengenden Julisonne mit zwei Vorschlaghämmern zu Leibe. Mörtel und Holzspäne stoben um sie herum. Es war befreiend, etwas zu zerstören, das im Grunde intakt war.

Doch es dauerte verflucht lange, und sie wurden beide müde. Am Abend saßen sie erschöpft da, jeder mit einer Dose Bier in der Hand, und betrachteten den halb abgerissenen Schuppen.

«Es muss einen leichteren Weg geben», meinte Sander.

Sie nahmen ein paar Bier mit und schlenderten durchs Dorf. Kurz darauf standen sie hinter der Scheune von Kjell Östholms Hof und spähten sehnsüchtig auf Kjells alten Traktor.

«Weißt du, wie man den fährt?», fragte Killian.

«Nein. Du?»

«Ich glaub schon. Das Ding hat nur verflucht viele Schalthebel.» Killian trank sein Bier aus und sah sich um. «Ist Kjell zu Hause?»

«Sein Auto steht nicht auf dem Hof.»

«Scheiße, wir versuchen es einfach. Was kann schon groß passieren?»

Sie kletterten in die Fahrerkabine. Sander, schon leicht beduselt, verschüttete dabei Bier auf den Motor. Als Killian den Zündschlüssel umdrehte, gab dieser bloß ein müdes Seufzen von sich. Killian probierte es erneut. Der Traktor hustete, schüttelte sich und soff ab.

Killian blickte auf die Bierdose in Sanders Hand.

«Vielleicht hat er Durst. Gib ihm noch einen Schluck.»

Sander beugte sich aus der Fahrerkabine und kippte sein Bier über dem Motor aus. Killian unternahm einen dritten Versuch. Der Motor knackte, stotterte und knarrte verdrießlich, dann aber erwachte er prustend zum Leben, wach und bereit.

Sander und Killian boxten triumphierend in die Luft.

Nach einem etwas holprigen Start tuckerten sie an dem lauen Sommerabend durchs Dorf. Das Knattern eines Traktors war in Skavböke so natürlich wie Vogelgezwitscher und Kuhgebrüll. Zurück auf dem Grundstück ließ Killian die Frontschaufel herunter, kniff ein Auge zu und nahm die Überreste des Schuppens ins Visier, ein halb eingestürztes Dach und vier eingeknickte Wände.

«Ich denke, wir schaufeln ihn einfach weg. Kannst du mir vorher noch ein neues Bier holen?»

«Aber», gab Sander zu bedenken, als er mit zwei Bier zurück in die Fahrerkabine kletterte, «das ist nicht ganz so, als würdest du Sand mit einer Schaufel wegschippen.»

«Nicht ganz», erwiderte Killian und trank einen großen Schluck Bier. «Aber fast.»

Er betätigte die Hebel, der Traktor sprang an und rumpelte vorwärts; die groben Reifen zogen tiefe, braune Furchen durchs Gras. Sie walzten den Schuppen platt, Entschlossenheit voraus, Frontschaufel hinterdrein.

Bei der Kollision fiel Killian sein Bier aus der Hand, schäumendes Carlsberg floss über den Boden der Fahrerkabine. Mit einem bestürzten Stöhnen ließ er das Lenkrad los, beugte sich nach unten und griff nach der Dose.

«Killian, das Lenkrad!»

Sander beugte sich über Killian und versuchte, den Traktor unter Kontrolle zu behalten, während die Schaufel sich durch den Schuppen grub.

Beziehungsweise darüber hinweg. Anstatt die vordere Wand mit der Schaufel zu erfassen, kroch der Traktor die Wand hinauf, wie ein Hund, der versucht, über einen viel zu hohen Baumstamm zu klettern. Der Motor ächzte heiser, und der Traktor geriet zunehmend in Schieflage.

«Geh vom Gas runter!», brüllte Sander und klammerte sich an einen Haltegriff, um nicht von seinem Sitz zu fallen.

«Was?», brüllte Killian zurück. Er hatte die Bierdose zu fassen bekommen und blickte hinein, ob noch etwas drin war.

Die Vorderwand des Schuppens barst. Der Traktor fauchte, und die Welt um sie herum begann sich zu neigen. Sie waren kurz davor umzukippen.

«Du musst vom Ga…»

Ein Deckenbalken gab unter dem Gewicht des Traktors nach, und nach einem letzten tiefen Röcheln begann der Motor zu stottern. Es gab einen lauten Knall, der Traktor kippte wie ein verwundetes Tier auf die Seite, und Sander und Killian fielen aus der Fahrerkabine. Der Boden bebte, Erde spritzte auf und regnete herab, als eine Ecke der Fahrerkabine sich in den Rasen bohrte. Der Motor krepierte und verstummte.

Killian lag auf dem Rücken. Sander ebenfalls. Sie hielten immer noch ihre Bierdosen in Händen. Killian hob den Kopf, schleuderte seine leere Dose ins Gebüsch und sah Sander an.

«Das lief doch wie geschmiert.»

«Fast wie Sand wegschippen», meinte Sander.

«Eine Staplerschaufel wäre besser gewesen.»

«Ja, die hat uns wohl gefehlt.»

 

Es brauchte Zeit, viele heiße Sommertage und kühle Herbstmorgen, doch rechtzeitig zum Winter, fast ein halbes Jahr später, stand dort, wo der alte Werkzeugschuppen gestanden hatte, ein nagelneues Häuschen. Es roch genauso wie in ihren Träumen, frisch und neu, nach Holz und Öl. Sie hatten das Häuschen eigenhändig gebaut, hatten die Wände aufgestellt und sich mit Isolierung und Dämmung beschäftigt, hatten Holzdielen verlegt, das Dach abgedichtet und den Wohnraum so gemütlich eingerichtet, wie sie konnten. Im Fußboden hatten sie eine kleine Luke eingebaut, kaum größer oder tiefer als ein herkömmlicher Schuhkarton. Sie nannten es ihr Bierversteck.

Als Sander an jenem Tag in der kalten Dezemberdämmerung bei Killian eintraf, sah er, wie sein Freund etwas über den Rasen wuchtete, ein unförmiges, eisernes Ungetüm.

«Was ist das?»

Killian richtete sich auf. Trotz der Kälte schwitzte er.

«Ein Aggregat. Es ist saukalt geworden. Ich hab es von Frans. Er meint, es funktioniert nicht mehr. Aber ich glaube, er irrt sich. Sollen wir es ausprobieren?»

Sander stellte die Tüte mit Bier ab, die er dabeihatte, und half Killian beim Tragen.

«Verdammt schwer.»

«Hier», sagte Killian. «Hier steht es gut. Ich hab ein kleines Loch in die Wand gebohrt.»

Eine einzelne kahle Glühbirne baumelte von der Decke. Killian versuchte, das Kabel durch das Loch in der Wand zu pfriemeln, um es mit dem Aggregat zu verbinden.

«Wäre toll, wenn ich das Ding zum Laufen kriege, bevor wir zu Pierre abhauen. Dann kann ich heute Nacht hier draußen pennen. Und falls ich bei Pierre eine Flasche abstauben kann, wandert sie ins Bierversteck.»

Dann, als sei ihm gerade wieder etwas eingefallen, blickte er auf. «Übrigens, wie ist es heute Nachmittag gelaufen? Was hat er gesagt? Ich habe gesehen, dass ihr weggegangen seid und euch unterhalten habt.»

Ja, das hatten sie.

6

Er hatte einen Mann aus Stockholm mit funkelnden blauen Augen kennengelernt. Sein Name war Ardelius, und als Sander ihn ansah, war es, als täte sich ein Spalt in der Kulisse auf, hinter dem das wahre Leben lockte und verlockte.

Es erforderte ein wenig Mühe oder gründliche Betrachtung, es so zu sehen. Auf den ersten Blick wirkte Ardelius gewöhnlich, nahezu dröge. Sein braunes Jackett hing schlaff um seine Schultern, seine Handgelenke waren faltig und mager, seine Wangen blass und fleckig wie die Wände eines Wartezimmers. Doch seine Augen verrieten, dass etwas Außergewöhnliches an ihm war. Womöglich haben Stockholmer solche Augen.

Und seine Stimme. Tief und angenehm, melodisch, trotzdem fest. Er saß entspannt da, als habe er alle Zeit der Welt, zurückgelehnt, ein Bein über das andere geschlagen, die Finger ums Knie geschlungen, den Blick gelassen und neugierig auf Sander auf der anderen Tischseite gerichtet.

 

Sander hatte es Lundström zu verdanken, dass er hier saß. Lundström hieß mit Vornamen John, aber niemand nannte ihn so. Alle sagten Lundström. Lundström kam aus Åled und war, so erzählte man sich, in seiner Jugend einer der besten Schachspieler von ganz Halland gewesen. Auf diese Weise hatte er den weiten Weg bis nach Stockholm gemeistert und war dort, als er das Schachbrett zugunsten anderer Probleme in den Schrank räumte, an der Universität gelandet und dort geblieben. Philosophie, hieß es. Doch dann war er, warum auch immer, nach Halland zurückgekehrt. Sanders Klasse hatte Lundström im Herbst als Tutor und Religions- und Schwedischlehrer bekommen, und er hatte mit ihnen eine Gastvorlesung an der Hochschule in Halmstad besucht. Redner war Magnus Ardelius, Dekan der juristischen Fakultät der Stockholmer Universität und ehemaliger Studienkamerad von Lundström, und sein Vortrag behandelte das Verhältnis der Rechtswissenschaft zu Ethik und Moral. Der kleine Mann mit den funkelnden blauen Augen sprach von Überzeugungssystemen und Maximen, von alten goldenen Regeln und neuen.

«Das Recht», sagte er, «ist der äußerste Punkt der Gesellschaft. Dort verläuft die Grenze. Bis dorthin ist alles Verhandlungssache, aber dann.» Kunstpause. «Nichts. Die Entscheidung zwischen richtig und falsch kann in einem Augenblick getroffen werden.»

Eine äußerste Grenze. Das klang verlockend. Am Ende der Vorlesung beugte Lundström sich zu Sander, der vor ihm saß, und sagte:

«Du hast doch gerade einen Aufsatz über Recht und Gesetz geschrieben. Du solltest runtergehen und mit ihm reden.»

«Worüber?»

«Über das, was du geschrieben hast.»

Sander schüttelte den Kopf, trieb aber im Strom der Studierenden mit und stand kurz darauf zusammen mit Lundström vor Ardelius.

«Das ist Sander, einer meiner Schüler. Er würde sich gerne ein wenig ausführlicher mit dir unterhalten.»

Ardelius musterte ihn freundlich.

 

Jetzt saßen sie hier, im Café in der Nähe des großen Hörsaals, und Sander war soeben verstummt.

«Das klingt nach einem interessanten Aufsatzthema. Wie schön für John, dass er so talentierte Schüler hat. Interessierst du dich für Jura?»

«Ja, ich denke schon.»

«Du machst im Sommer Abitur, nicht wahr? Wie sehen deine weiteren Pläne aus?»

«Ich weiß es noch nicht. Aber meine Zensuren sind ganz gut.»

Ardelius hob seine Aktentasche vom Fußboden auf, nahm einen dicken Katalog mit der Aufschrift Universität Stockholm heraus, schlug ihn auf, blätterte zu einer bestimmten Seite, knickte ein Eselsohr hinein, klappte den Katalog zu und schob ihn zu Sander hinüber.

«Vielleicht interessiert es dich.» Er lächelte leicht. «Schweden ist ein großes Land. Es hat viele Gesichter. Stockholm ist nur eines davon, und vielleicht möchte man, wie John, nicht für immer dort bleiben. Aber für eine gewisse Zeit ist es gar keine schlechte Idee.»

Sander blinzelte.

«Was Sie in Ihrem Vortrag gesagt haben. Über die äußerste Grenze, oder den äußersten Punkt, Sie sagten Punkt.»

Ardelius hob eine Augenbraue.

«Ja?»

«Sie meinen, dass die Rechtswissenschaft, oder das Gesetz, eine Art Grenze für uns bedeutet. Oder habe ich das falsch verstanden?»

«Nein, so in etwa habe ich es gemeint. Das Gesetz ist die äußerste Grenze für das menschliche Verhalten.»

«Aber die Menschen verstoßen andauernd gegen das Gesetz. Was liegt jenseits davon?»

Ardelius lächelte.

«Eine sehr gute Frage. Aber», fuhr er fort, «ich muss leider los. Mein Zug.» Er streckte die Hand aus. «Die Frage können wir im Herbst an anderer Stelle weiter erörtern, wenn du möchtest.»

«Danke», erwiderte Sander. «Darauf freue ich mich. Sehr.»

«Ich denke, in dem Fall sind wir es, die sich für dein Vertrauen bedanken. Ich wünsche dir besinnliche Feiertage.»

Besinnliche Feiertage. Eine Ausdrucksweise, mit der Sander nicht vertraut war. Er war mit alldem hier nicht vertraut. Ardelius war ein wichtiger Mann, mit so großen und komplizierten Fragestellungen beschäftigt, dass man wohl aus Stockholm kommen musste, um sie zu begreifen. Sander wünschte, der Dekan der juristischen Fakultät würde auf dem Stuhl ihm gegenüber sitzen bleiben. Er wollte weiter das Gefühl haben, aus einem neuen Fenster zu blicken, neue Gedanken zu denken. Nur noch ein kleines bisschen.

Aber alles hat ein Ende. Hier, an diesem Punkt, war Sander Eriksson im Dezember 1999 angelangt. Vielleicht würde er an diesem Punkt bleiben.

Ardelius hatte sich diskret, fast lautlos, erhoben. Im Weggehen drehte er sich noch einmal um und zwinkerte Sander zu, als teilten sie von nun an ein Geheimnis.

7

«Wie heißt das?»

«Juridicum, die rechtswissenschaftliche Fakultät der Stockholmer Uni wird Juridicum genannt. Da finden die Vorlesungen statt, wenn man sich fürs Jurastudium einschreibt.»

Studium im Unterschied zu Gymnasialzweig. Zweige waren dünn und machtlos, sie konnten jederzeit zerbrechen. Ein Studium war etwas Größeres, Solideres. Wurde man zu einem Studium zugelassen, war man etwas Besonderes, dachte Sander.

Killian wiederholte das Wort Juridicum, und obwohl er es gerade mehrmals gehört hatte, schien er unsicher zu sein, ob er es richtig aussprach.

«Cool», murmelte er und widmete sich wieder Glühbirnenkabel und Aggregat.

«Ich habe mich noch nicht entschieden. Ich muss darüber nachdenken. Man kann sich erst im neuen Jahr bewerben, und dann heißt es abwarten, ob ich überhaupt angenommen werde.»

«Das wirst du sicher.»

«Du könntest mitkommen. Wir könnten zusammen gehen. Mir ist klar, dass du nicht unbedingt studieren willst, aber es ist Stockholm. Da gibt es auch Jobs für dich. Haufenweise. Und Kneipen und Bars. Frauen. Du solltest die in der Universitätsbroschüre sehen, die ich bekommen habe, ich zeig sie dir.»

Es kam nicht so heraus, wie er es geplant hatte. Sander hatte sich seine Argumentation genau zurechtgelegt, so wie er sich immer alles zurechtlegte. Wortwahl und Strategien waren Finger, die komplizierte Knoten lösen konnten. Diesmal aber redete er zu schnell, zu überstürzt, vielleicht weil er nervös oder unsicher war, ob das, was er sagte, die Wahrheit war.

«Ja», sagte Killian, als interessiere es ihn nicht übermäßig oder als wolle er sich nicht anmerken lassen, dass der Gedanke ihn traurig stimmte. «Vielleicht.»

Er blickte sich im Häuschen um, einen seltsamen Ausdruck im Gesicht.

«Von hier abzuhauen ist dein Traum, das weißt du, oder?», sagte er.

«Ein Teil meines Traums, jedenfalls.»

«Das hier ist meiner.»

«Was jetzt?»

«Mir ein eigenes Haus zu bauen, mit ein paar Zimmern mehr als jetzt, wenn ich die nötige Kohle habe. Ein größeres Bierversteck.» Killian lachte, wurde aber gleich wieder ernst. «Einen Job zu haben. Hier irgendwo in der Nähe. Eine Familie. Autos, an denen ich rumschrauben kann. Ich fühle mich wohl hier. Ich brauche nicht viel mehr.»

«Weil du nie darüber nachgedacht hast.»

«Das habe ich. Weil du so viel davon geredet hast, habe ich auch … Aber das ist nichts für mich, glaube ich.»

Darauf wusste Sander nichts zu sagen. Das Häuschen schien mit einem Mal eine Art Monument zu sein, ein Symbol für das, was er womöglich hinter sich lassen würde.

«Okay.» Killian stand auf. «Los. Mach das Licht an.»

Sie hatten den Lichtschalter vor ein paar Wochen angebracht. Er saß da, wo er sollte, bloß ein bisschen schief. Sander drückte darauf. Die Glühbirne flackerte auf und knackte, draußen erklang ein Knall. Das Aggregat.

«Scheiße. Vielleicht ist das Ding doch kaputt.»

Killian ging nachsehen, was schiefgelaufen war. Der kalte Winterabend wehte durch die offene Tür herein und ließ Sander erschaudern.

 

Ein paar Meilen von der Küste entfernt, da, wo der Flusslauf des Nissan eine Biegung beschreibt und die ganze Schönheit Hallands offenbart: Genau da liegt Skavböke; und alle waren in jenem Jahr achtzehn geworden, alle bis auf Filip. Noch lösten die Tage einander ebenso unmerklich ab wie eh und je. Die Leute gingen ihrer Arbeit nach, Autos fuhren morgens aus der Einfahrt und kehrten in der Abenddämmerung zurück, die Jugendlichen bolzten auf Schotterwegen, kurvten mit Schlittschuhen über den zugefrorenen See und sahen während der Erntezeit den Mähdreschern zu, die vor einem Hintergrund aus tiefem Wald und klarem Himmel ihre Bahnen auf den Feldern zogen.

Doch ein Umbruch stand bevor: Die Neunzigerjahre neigten sich dem Ende zu. Vieles habe sich verändert, sagten die Eltern, an manchen Tagen kenne man sich kaum noch aus. Es herrsche keine Klarheit mehr darüber, was es hieß, in Schweden zu leben, was es hieß, schwedisch zu sein. Die weite Welt hatte Einzug gehalten, es war überall zu spüren: Läden erhielten neue Namen, wenn die alten untergingen, Namen, die man bislang nur aus dem Fernsehen gekannt hatte. Das Kapital bewegte sich schneller denn je, und wohin es auch ging, es ließ Ruinen zurück. So drückte es ein Politiker im Fernsehen aus.

Es gab Gewinner und Verlierer, und Skavböke zählte zweifellos zu Letzteren, doch wie es dazu gekommen war, konnte sich niemand so recht erklären. Das ganze Land sollte doch leben. Das sagten auch die Politiker. Aber Dinge, für die früher Hände nötig gewesen waren, wurden längst von Maschinen ausgeführt, bald würden es Computer sein.

Vielleicht gab es keine Grenze dafür, wie überflüssig der Mensch werden kann.

Bargeld war Mangelware, anderes dagegen scheinbar im Überfluss vorhanden: Salz und Zucker, Gerste, Weizen und Hafer, Kartoffeln und Schweinefleisch, und natürlich Milch. Milch in rauen Mengen. Man nannte sie das weiße Gold. Die halländischen Kühe hatten einst mehr Milch gegeben als alle anderen Kühe im Land zusammen. Bis vor einigen Jahren hatten auf dem Söderström’schen Gut in Skavböke mehrere Hunderte Milchkühe gestanden. Heute waren es deutlich weniger, und wo das Geld geblieben war, wusste niemand zu sagen. Vielleicht war es in Alkohol geflossen, oder in andere Dinge, die das Dasein erträglich machten.

Warum ausgerechnet die Bauern die Aufgabe erhalten haben, die Erde zu verwalten? Es ist, wie es ist, trotzdem kann man darüber nachdenken.

Achtzehn sein in Skavböke. Alles, woran man dachte, waren Geld, Sex und Freiheit. Schwer zu sagen, was wichtig und was unwichtig war, selbst scheinbare Bagatellen schienen entscheidend: Jacke oder Hoodie? Blickkontakt zu bekommen. Sich eine Zigarette anzustecken und mit leiser, ernster Stimme zu reden. Man war unsicher.

«Alles klar.» Killian kam ins Häuschen zurück und betrachtete die Glühbirne, die von der Decke baumelte. «Versuch’s noch mal. Dann hauen wir ab zu Pierre.»

Sander kam Killians Aufforderung nach. Die Glühbirne flackerte auf, und einen Augenblick später leuchtete sie hell und klar. Sander blickte Killian an, und sie grinsten beide.

Ein Augenblick im Herzen von Halland, in den letzten Tagen eines Jahrhunderts.

8

Der Mord geschah in der Nacht, nach der Party bei Pierre. Sander und Killian waren da gewesen, darüber bestand kein Zweifel. Sie trafen zusammen im Bäck’schen Einfamilienhaus in Årnilt ein und verließen es zusammen; auch dies eine weitere wichtige Beobachtung.

In vielerlei Hinsicht war es eine Party wie jede andere. Jemand, der an diesem Abend durchs Haus gegangen wäre, hätte Gesprächsfetzen, Musik und den einen oder anderen Streit aufgeschnappt. Irgendwer hatte sich gerade ein teures Handy zugelegt, aber niemand begriff den Grund dafür. Hier draußen hockte man in einem Funkloch, der nächste Mobilfunkmast stand in Amböke. Handys waren in Skavböke nutzlos und würden es etliche Jahre lang bleiben.

Von Einwegkameras, die einige Partygäste dabeihatten, flammten Blitze auf, Gläser klirrten, und die Musik, die aus den Boxen wummerte, wurde zunehmend lauter. Sander und Killian diskutierten die bevorstehende Partie zwischen Oskarström und Breared. Für Oskarström sah es schlecht aus, in dem Punkt waren sie sich einig. Aber Wunder geschahen schließlich immer wieder, auch wenn der Herrgott sich selten in derart profane Dinge einmischte wie Oskarströms Fußballmannschaft.

Niemand wusste, wo Felicia steckte, ob sie zur Party gekommen und irgendwo im Haus war. Sander hatte keine Ahnung, was er tun würde, wenn er sie sah. Vielleicht gar nichts. Das war wohl die sicherste Alternative, wenn er daran dachte, wie es beim letzten Mal zwischen ihnen gelaufen war.

Es war im Sommer gewesen, eine warme Nacht Ende August. Sie hatten bei Alice Fredriksson allein in der Küche gestanden. Aus irgendeinem Grund hatte sich der Rest der Party nach draußen auf den Rasen verlagert. Sander hatte ihr die Episode mit dem Traktor und dem Schuppen erzählt, die damals erst zwei Wochen zurücklag. Felicia hatte gelacht und ihn und Killian Idioten genannt. Doch ihre Augen hatten dabei gefunkelt. Davon ermutigt, hatte er ihr die Konstruktion des Bierverstecks erklärt, das zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als eine Idee gewesen war, oder treffender: eine Vision. Und Felicia hatte wieder gelacht, worauf Sander gehofft hatte.

Dann hatten sie sich geküsst.

Früher am Abend hatte sie seinen Namen gesagt, beiläufig, und er hatte sich gefühlt, als höre er ihn zum ersten Mal. Im Rausch des Alkohols hatte es ihn berührt, wie sein Name klang, wenn er aus Felicia Grenbergs Mund kam. Sander.

Unendlich weich in den Konsonanten, ein wenig wie ein Lied.

Ihr Kuss fand jedoch ein jähes Ende, als Felicia den Kopf abwandte und sich ins Spülbecken übergab. Sander stand vollkommen perplex da, unsicher, ob sie den Kuss fortsetzen würden, wenn Felicia sich ausgekotzt hätte.

Sie habe zu viel getrunken, entschuldigte sie sich, ohne ihn anzusehen. Aber Felicia schien nicht so enttäuscht zu sein wie er. Als habe der Schutzreflex ihres Körpers etwas unterbrochen, woran sie in Wahrheit nicht übermäßig interessiert gewesen war.

Jetzt hockte Sander im Wohnzimmer auf dem Ledersofa von Pierres Eltern und kippte ein Bier in sich hinein. Felicia konnte genauso gut wegbleiben. Sie würde in Skavböke bleiben, wie alle anderen, er aber war auf dem Weg fort von hier.

Er dachte daran, wie Ardelius ihm zugezwinkert hatte, ein winziges Detail, das alles bedeuten konnte, trotzdem bewahrte er es in sich, wie ein Versprechen, das bald eingelöst werden würde. Als er nach dem Gespräch zurück zur Schule gegangen war, hatten die kahlen Äste der Bäume rings um den Parkplatz des Kattegatt-Gymnasiums geknarrt, und die Pflastersteine der Skepparegatan waren mit Schneematsch bedeckt gewesen. Die Welt hatte aus Backsteinen, engen Klassenzimmern, Winterkleidung und der nachmittäglichen Mathestunde bestanden, alles war wie immer gewesen und trotzdem anders. In seinem Rucksack steckte die Universitätsbroschüre, und die Welt erstrahlte in einem neuen Glanz. Von Orten und Menschen geht ein spezielles Licht aus, sobald man begreift, dass man sie hinter sich lassen kann.

Pierre kam ins Wohnzimmer gelatscht, hockte sich neben ihn auf die Armlehne und lallte, dass zu viele Leute da wären, obwohl noch fast niemand gekommen war.

Ein Weihnachtsstern leuchtete friedlich und warm im Fenster. In einer Ecke stand ein grüner runder Weihnachtsbaum mit Lametta und roten Kugeln geschmückt. Es war der letzte Freitag vor Weihnachten, und das alte Jahrtausend hatte nur noch zwei Wochen vor sich. Es würde ein ungewöhnliches Silvester werden: auf den Höfen und in den Häusern würden die Leute steif und nervös vor den Fernsehapparaten hocken, bereit, nach unten in die Keller zu rennen, sollte der Untergang kommen. Es hieß, Computerprogramme würden abstürzen, Banksysteme ausfallen, Satelliten vom Himmel krachen und der elektrische Strom für alle Zeit versiegen. Ihre Eltern hatten viel davon gesprochen. Nicht alle schenkten den Gerüchten Glauben, doch einige taten es und gingen lieber auf Nummer sicher.

«Mein alter Herr wollte von dem ganzen Weltuntergangsgerede zuerst nichts wissen, aber jetzt nimmt er es ein bisschen zu ernst», erzählte Jakob Lindell. «Gestern, bevor meine Eltern gefahren sind, hat er unsere gesamten Ersparnisse von der Bank geholt, weil er gehört hat, dass Kjell Östholm es so gemacht hat. Jetzt haben wir alles, was wir besitzen, cash im Haus. Buchstäblich.»

«Wie viel kann das schon sein? Ein Tausender?», höhnte Mikael Söderström.

«So in etwa.» Jakob lachte, aber es klang hohl, als würde man auf ein leeres Fass trommeln, und er verschüttete seine zusammengebraute Alkoholmixtur auf der Jeans. «Nein, keine Ahnung. Es sind natürlich keine Milliarden, aber eine kleine Summe ist es schon.»

«Reicht vermutlich gerade mal, um die Raten für eure Glotze abzustottern.»

Jakob starrte in Mikaels halb angetrunkenes Grinsen.

«Kannst du aufhören?»

«Hoppla, da habe ich wohl einen wunden Punkt getroffen.»

«Lass es sein, Mikael», sagte Pierre leise.

«Aber es ist doch wahr.»

«Man muss nicht alles sagen, was wahr ist», murmelte Sander und trank einen Schluck Bier.

Jakobs Vater hatte früher Lastwagen repariert, war aber vor gut einem Jahr entlassen worden. Jetzt versuchte er, den ehemaligen Landwirtschaftsbetrieb wieder auf die Beine zu bekommen, aber die Lindells besaßen nicht viel: ein paar Hühner, ein, zwei Schweine und ein wenig Land, das sie bestellten. Jakobs Vater hatte Mikaels Vater einmal um Geld gebeten, aber weder Mikael noch Jakob wussten, ob er welches bekommen hatte. Die Familien Söderström und Lindell waren mehr oder weniger Nachbarn, und hier in der Gegend liebte man seine Nachbarn oder man hasste sie. Einmal hatte Jakob Sander anvertraut, dass seine Eltern schon mehrere Male kurz davor gewesen waren, den Hof zu verkaufen und in eine Wohnung in Oskarström zu ziehen.

«Wo bewahrt er die Kohle denn auf?», wollte Killian wissen und sah sich nach einem neuen Bier um.

«In einem Kissen auf der Küchenbank. Genau wie Kjell. Ich glaube, wenn meine Eltern zurückkommen, will er es woanders verstecken. Scheißegal. Lasst uns über was anderes reden.»

«Du hast davon angefangen», sagte Mikael.

Jakob funkelte ihn an.

«Hast du nicht einen kleinen Bruder, für den du Babysitter spielen musst?»

Mikael lachte grob.

«Wow, was für eine Retourkutsche.»

«Können wir mal damit aufhören», sagte Pierre.

Filip, Mikaels kleiner Bruder, war zwei Jahre jünger. Alle wussten, dass er kotzte, sobald er nur einen Tropfen Alkohol getrunken hatte, und dass Mikael ihn regelmäßig mit nach Hause schleppte. Filip hatte gesagt, er würde zur Party kommen, war bisher aber noch nicht aufgetaucht.

Killian erhob sich schwankend vom Sofa und taumelte zum Klo. Sander ging in den Flur und fragte, ob jemand Felicia gesehen hätte. Keiner hörte ihn. An der Wand hing eine hölzerne Pendeluhr, groß und verschnörkelt. Sie zeigte Viertel nach elf. Das Zifferblatt stellte eine alte schwedische Landkarte dar. Sander betrachtete sie, als sei sie ein Rätsel.

Ein großes Land mit vielen Gesichtern, hatte Ardelius gesagt.

Bald wäre er, Sander, weit fort von hier. Der Gedanke war wohltuend, wie eine Befreiung.

9

Es gingen Dinge vor, die nicht sichtbar waren, oder vielleicht waren sie es, nur schenkte ihnen niemand Beachtung. Siri und ihre Kollegen sollten im Nachhinein sehr viel Zeit damit verbringen, Klarheit über Einzelheiten zu gewinnen, denen niemand Bedeutung beigemessen hatte.

Glas und Porzellan gingen zu Bruch. Sander fand Filip auf dem Küchenboden und richtete ihm aus, dass sein großer Bruder hier wäre, irgendwo, und ihn suche. Filip schraubte mit ungeschickten Fingern den Deckel von einer Petflasche.

«Er war vorhin megafies zu Jakob», fuhr Sander fort.

«Wundert mich nicht», murmelte Filip.

«Warum nicht?»

«Er denkt, dass Felicia Grenberg auf Jakob steht. Oder Jakob auf sie. Was weiß ich.»

«Und?»

«Das ist seine Art, darauf zu reagieren; sich anderen gegenüber wie ein Schwein zu verhalten und den Überlegenen zu markieren.» Filip sah Sander mit flackerndem Blick an. «Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.»

«Worauf zu reagieren? Ist Mikael scharf auf Felicia?»

Filip lachte auf, als verstünde sich die Antwort von selbst.

Filip war klein und schlaksig, mit kahl rasiertem Schädel. Er hatte kantige, scharfe Gesichtszüge, eine spitze Nase, schmale Lippen und ein stumpfes Kinn, das einem W ähnelte. Er war dunkler als sein Bruder, besaß ein düsteres Gemüt. So war er von klein auf gewesen. Er hatte größere Schwierigkeiten in der Schule und weniger Freunde, mehrmals waren Vertrauenslehrer hinzugezogen worden. Aber er konnte auch lustig sein, impulsiv, und man wusste nie genau, woran man bei ihm war, ob er einen verarschte oder nicht.

Der Schraubverschluss fiel Filip aus der Hand und kullerte über den Boden.

«Scheiße. Ich hasse es, wenn das passiert.»

Sander bückte sich und hob den Deckel auf.

«Ist sie hier?», fragte er.

«Wer?»

«Felicia.»

«Keine Ahnung. Was du alles fragst.» Filip nahm ihm den Verschluss ab. «Danke.»

«Steht sie auf Mikael?»

«Woher zum Teufel soll ich das wissen? Aber normalerweise kriegt mein Bruder, was er will. Auf die eine oder andere Weise.»

Filip torkelte davon, und Sander blieb allein in der Küche zurück. Seine Welt hatte einen weiteren Riss bekommen. Felicia würde es wahrscheinlich nicht einmal merken, wenn er von hier wegginge. Als er sich Mikael und Felicia vorstellte, eng umschlungen in einem geheimen Winkel des Hauses, flammte heißer Zorn in ihm auf.

Aus dem Obergeschoss drangen laute Stimmen herunter. Tumult. Weitere Gegenstände gingen zu Bruch.

«Hallo!», brüllte Pierre. «Hört auf. Hört auf, verdammt noch mal! Beruhigt euch.»

Die Leute neigten zu schnell zu Gewalt. Hatten zu viel in den Händen und zu wenig im Kopf.

Sander kehrte ins Wohnzimmer zurück und hockte sich neben Killian aufs Sofa. Als Pierre kurz darauf aus dem ersten Stock herunterkam, sank er erschöpft auf den Fußboden und streckte sich der Länge nach aus.

«Ich schmeiß nie wieder eine Party», stöhnte er.

«Was war los?», fragte Sander.

«Jakob und Mikael haben sich geprügelt.»

«Wer hat gewonnen?»

«Die Lage ist unter Kontrolle. Ich hab sie getrennt.»

Dann war Mikael jedenfalls nicht mit Felicia zusammen. Die erste gute Nachricht des Abends. Sander begann wieder, sich nach ihr umzusehen. Killian lehnte sich zu ihm herüber und schrie, um die Musik zu übertönen. Er hatte angefangen zu lallen.

«Madeleine hat sich heute verletzt. Ich glaube, Felicia ist deshalb zu Hause geblieben.»

«Ihre Mutter hat sich verletzt? Was ist passiert?»

«Sie ist irgendwie vom Dach gefallen. Ich hab gehört, wie Alice und Isabelle darüber geredet haben, als ich auf dem Klo war.»

«Aha. Okay.»

Killian senkte die Stimme.

«Ich frag mich, wie viel es wohl ist.»

«Hä? Wovon redest du?» Sander lallte jetzt ebenfalls.

«Von der Kohle auf Jakobs Küchenbank, Mann.»

«Keiner hier hat wohl besonders viel.»

«Nein, aber trotzdem.»

«Es wird kaum etwas sein.»

Sanders Worte bewirkten eine Veränderung in der Luft zwischen ihnen.

«Warum sagst du so was?», wollte Killian wissen.

«Was?»

«Als würdest du auf andere Leute herabsehen.»

«Das tue ich nicht.»

«Aber es klingt so.»

«Aber das tue ich nicht, ehrlich.»

Auf dem Fußboden kam wieder Leben in Pierre.

«Ich brauch noch ein Bier, oder was Stärkeres. Ich glaub, im Kühlschrank steht noch ’ne Flasche Wodka.»

Ein paar Leute verschwanden in die Küche, andere gingen nach draußen auf den Hof, ein paar verdrückten sich ins Obergeschoss, um Sex auszuprobieren oder um zu kiffen. Bei der Prügelei war ein Bild kaputtgegangen, und irgendwann stolzierte Pierre die Treppe herunter, den Rahmen um den Hals, eine Flasche Wodka in der Hand, und skandierte: Hierrr kommt ein wahrrrerrr Feinschmeckerrr! Aus dem Shithole derrr Hauptstadt! Speichel sprühte aus seinem Mund. Er stolperte über den Flurteppich und knallte mit dem Kopf gegen die Wand. Die Pendeluhr fiel von ihrem Haken und traf Pierre am Schädel. Er lachte und lallte: Oohhh, das warrr aberrr wahrrrlich an derrr Zeit! Während Sander ihm dabei half, die Uhr wieder aufzuhängen, kicherte Pierre unentwegt in sich hinein. Kamerablitze flammten auf.

Kurz danach flaute die Partystimmung ab. Die Leute waren müde, zu betrunken oder mussten los, um sich ins Haus zu schleichen, bevor die Eltern wach wurden. Filip hatte gekotzt und torkelte mit einem Mädchen an der Hand in die Winternacht hinaus. Etwas später standen Sander und Killian im Flur, Killian mit Schlagseite und einer Kippe in der Hand. Von der geöffneten Haustür zog kalte Luft herein.

Er machte einen Schritt auf die Vordertreppe hinaus.

«Ich weiß, dass du nicht vorhast zu bleiben. Ich bin nicht bescheuert. Ich kapier das. Und ich kapiere, warum du von hier weg willst. Was du da vorhin im Wohnzimmer gesagt hast. Das ist die Wahrheit, oder? So denkst du wirklich.»

«Nicht bei dir.»

«Ich meine nicht mich, ich meine …» Killian schien nachzudenken. «Alles.»

«Ich komme in den Semesterferien nach Hause. Und vielleicht ziehe ich ja auch irgendwann wieder hierher. Aber ich weiß nicht, ich muss … Du kannst mitkommen.»

Killian schüttelte den Kopf.

«Was dich von hier fortzieht, ist dein Grips. Deine Noten. Da kann ich nicht mithalten.»

«Du bist klug.»

«Nicht so wie du.» Killian atmete aus, streckte seine Glieder und blickte hinaus in die Dunkelheit, auf den Wald auf der anderen Seite des Årniltsvägen. «Ich werde für immer hier bleiben. Aber so will ich es haben. Ich komme schon klar. Hast du es deinen Eltern gesagt?»

«Nein. Aber sie werden es verstehen.»

In Wahrheit fühlte er sich bei Weitem nicht so sicher, wie er klang. Killian legte ihm eine schwere Hand auf die Schulter.

«Sollen wir den Abflug machen?»

Sander blickte auf die bestrumpften Füße seines Freundes.

«Du hast keine Schuhe an.»

Als wäre ihm dieser Umstand neu, blickte Killian mit hochgezogenen Augenbrauen auf die vereiste Vordertreppe.

«Da scheint was dran zu sein. Ich glaube, ich bin doch ziemlich voll.»

Hinter ihnen, im Wohnzimmer, flammten neue Kamerablitze auf und verewigten eine Partyleiche, die über die Armlehne sabbernd auf dem Sofa ihren Rausch ausschlief. Sander blinzelte. Einen kurzen Moment lang standen zwei Killians vor ihm.

«Ich auch, glaube ich.»