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Christoffer Carlsson

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Beschreibung

Die Nummer 1 aus Schweden! In einer kalten Novembernacht 1994 wird im kleinen südschwedischen Marbäck die Leiche einer jungen Frau gefunden. Alles weist auf ein Verbrechen hin, und ein Täter ist auch schnell ausgemacht: Edvard Christensson unterhielt eine Beziehung mit ihr; wie sein Vater ist er berüchtigt für einen aufbrausenden Charakter. Edvard wird verurteilt, und der Frieden kehrt ins Dorf zurück. Nur nicht für Edvards siebenjährigen Neffen Isak, der Edvard vergöttert hat. Isak ist besessen von der Vorstellung, dass er den Keim des Bösen in sich trägt, wie sein Onkel, wie sein Großvater. Zehn Jahre später sitzt Isak nach einem Diebstahl vor Vidar, der als junger Polizist bei der Ermittlung und Verhaftung von Edvard half. Und je mehr Vidar sich zurückerinnert, desto größer werden seine Zweifel an den Ermittlungen damals. Und dann verschwindet Isak. Vidar macht sich auf die Suche. Nach dem Jungen und nach der Antwort auf die Frage, was damals in der Nacht wirklich geschah.

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Seitenzahl: 518

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Christoffer Carlsson

Unter dem Sturm

Kriminalroman

 

 

Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann

 

Über dieses Buch

Die Nummer 1 aus Schweden

 

In einer kalten Novembernacht 1994 wird im kleinen südschwedischen Marbäck die Leiche einer jungen Frau gefunden. Alles weist auf ein Verbrechen hin, und ein Täter ist schnell ausgemacht: Edvard Christensson unterhielt eine Beziehung mit ihr; wie sein Vater ist er berüchtigt für einen aufbrausenden Charakter.

Edvard wird verurteilt, und der Frieden kehrt ins Dorf zurück. Nur nicht für Edvards siebenjährigen Neffen Isak, der Edvard vergöttert hat. Isak ist besessen von der Vorstellung, dass er den Keim des Bösen in sich trägt, wie sein Onkel, wie sein Großvater.

Zehn Jahre später sitzt Isak nach einem Diebstahl vor Vidar, der als junger Polizist bei der Verhaftung von Edvard half. Und je mehr Vidar sich zurückerinnert, desto größer werden seine Zweifel an den Ermittlungen damals. Und dann verschwindet Isak. Vidar macht sich auf die Suche. Nach dem Jungen und nach der Antwort auf die Frage, was in jener Novembernacht wirklich geschah.

 

«Carlsson schreibt tatsächlich besser als so ziemlich jeder andere. Nicht nur in diesem Genre, sondern unter den jungen Schriftstellern insgesamt.» Expressen

 

«Mit Sicherheit einer der besten Kriminalromane des Jahres.» Göteborgs-Posten

 

«Der Tag von Christoffer Carlsson muss mehr als 24 Stunden haben. Sein neuer Spannungsroman beeindruckt mit seinem gedämpften Tonfall und seinem musikalischen Sinn für Stil. Tief verwurzelt im lokalen Dialekt und auf dem Land von Halland, über einen Mord im Jahr 1994, der möglicherweise ungelöst ist. Ein beeindruckender Plot mit einem ungewöhnlich sympathischen Polizisten im Mittelpunkt.» Tara

 

«Carlsson gelingt es, diese scheinbar einfache Geschichte auf unglaublich spannende Weise zu erzählen – über die gesamte Strecke. Die Charaktere sind aus Fleisch und Blut, mit all den Fehlern und Mängeln der tatsächlichen Menschen. Eine unglaublich gut erzählte Geschichte.» Dast Magazine

 

«Ein unglaublich clever konzipierter Roman, melancholisch und spannend, wie der Realität entnommen.» Aftonbladet

 

«Eine starke Geschichte, die einen packt und bewegt. Carlsson beweist erneut, was für ein talentierter Schriftsteller er ist.» Upsala Nya Tidning

 

«Ein einzigartiger Spannungsroman.» Sveriges Radio P4 Halland

 

«Ein innovativer, wenn nicht brillanter Ansatz. ‹Unter dem Sturm› wird in diesem Jahr wahrscheinlich eine ganze Reihe von Auszeichnungen erhalten, und sie werden alle verdient sein.» M-magasin

 

«Einer der souveränsten Kriminalromanautoren unserer Zeit.» Dagens Nyheter

 

«Erstklassig.» BTJ

 

«Carlsson schreibt gekonnt darüber, wie sich eine Brandstiftung auf die Menschen in der Region auswirkt und wie ein Verbrechen weit über die rechtlichen Folgen hinausreicht.» Ölandsbladet

 

«Ein facettenreicher, atmosphärischer Spannungsroman.» Femina

 

«Das grundlegende Verbrechen ist die Gesellschaft selbst. Hier wie in den Romanen von Sjöwall/Wahlöö. Die Lebensbedingungen, unter denen wir aufwachsen, die Vorurteile, die wir haben, die Vorzeichen, die wir in anderen sehen. Ursache und Wirkung.» Smålandsposten

Vita

Christoffer Carlsson, geboren 1986, wuchs außerhalb von Marbäck an der Westküste Schwedens auf. Er promovierte in Kriminologie an der Universität Stockholm und wurde 2012 mit dem Young Criminologist Award der International European Society of Criminology ausgezeichnet. Für seinen Debütroman «Der Turm der toten Seelen» erhielt er 2013 als jüngster Preisträger mit 27 Jahren den Schwedischen Krimipreis. Die Reihe um den Polizisten Leo Junker erscheint in 20 Ländern und wird verfilmt. Sein Roman «Unter dem Sturm» war 2019 für den Schwedischen Krimipreis nominiert und auf Platz 1 der schwedischen Bestsellerliste. Als Doktor für Kriminologie ist Christoffer Carlsson ein gefragter Experte in den Medien.

 

Susanne Dahmann war nach dem Studium der Geschichte, Skandinavistik und Philosophie in Vertrieb und Lektorat eines Sachbuchverlags tätig. Seit 1993 arbeitet sie in Marbach am Neckar als freie Übersetzerin aus dem Schwedischen und dem Englischen. Sie übersetzt sowohl Belletristik als auch Sachbuch, und so gehören neben zahlreichen Kriminalromanen auch die Bücher von Jonas Hassen Khemiri und die Geschichte vom Inder, der mit dem Fahrrad nach Schweden fuhr, zu den von ihr übertragenen Titeln.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel «Järtecken» bei Albert Bonniers Förlag, Stockholm.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2021

Copyright © 2021 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Järtecken» Copyright © 2019 by Christoffer Carlsson

Redaktion Annika Ernst

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00597-6

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für die, welche einmal

das gelbe Haus am Toftasjön

draußen vor Marbäck besucht haben.

Früher träumte ich insgeheim davon, ich könnte einmal alles zusammenfügen, einen Schlußstrich ziehen unter alles. Um am Ende sagen zu können: so war es, so ging es zu, dies ist die ganze Geschichte.

Doch das wäre wider besseres Wissen.

PER OLOV ENQUIST

Kapitän Nemos Bibliothek

Marbäck, Halland

November 1994

1.

Man sagt, dass der Sensenmann einen holt. Das ist ein alter Ausdruck aus der Zeit, als der Tod eine reale Gestalt war, der man im Wald von Marbäck oder auf der Straße begegnen konnte. Eine eiskalte Hand greift einem an die Kehle, ein Schatten umhüllt den Körper, bis man nicht mehr atmen kann. So stellt man sich das als Kind vor.

Es gibt noch andere Sachen, die man sagt.

Es heißt nicht «unfreundlich» oder «gemein», sondern schäbig.

Ich verhalte mich schäbig.

Was ich getan habe, war schäbig.

So sagt man.

Und es heißt auch nicht «Ich wusste nicht, was ich tun sollte», sondern: Ich wusste nicht, wohin. Als ob es die erste Wahl wäre, an einen anderen Ort zu fliehen.

Heute Nacht lodern die Flammen zum Himmel. Die Wetterprognose lautete Dauerregen, doch es fällt kein Tropfen. Alles wird von Ruß und Asche bedeckt, die großen Bäume werden ganz schwarz. Der Geruch von Rauch zieht bis hinauf ins Simlångsdalen und in das Kilometer entfernte Skedala.

Es ist ein Ereignis, an das man sich erinnern wird, ein Referenzpunkt. Von da an gibt es ein Vorher und ein Nachher:

Wo warst du, als …

War das vor oder nachdem …

Unten in Tolarp liegen die Häuser und Höfe weit verstreut. Am dichtesten zum Haus der Markströms liegt Ulrika Antonssons Hof. Ein großes Feld trennt die Grundstücke voneinander. Ulrika ist es, die den Notruf absetzt.

«Es brennt», schreit sie in den Hörer. «Markströms Haus brennt wie verrückt. Schickt Feuerwehr, Polizei, Krankenwagen, alles schnell, verdammt!»

Sie läuft hinaus in die Novembernacht und hält das Feuer auf einem Foto fest. Sie ist nicht die Einzige. Später wird es Anfragen von den Zeitungen geben: Die Fotografen der Lokalblätter treffen erst ein, wenn die Feuerwehr schon mit den Löscharbeiten begonnen hat, ihre eigenen Bilder werden daher uninteressanter sein. Fast alle im Ort lehnen die Angebote ab, aber Ulrika braucht das Geld und verkauft ihre Amateurfotos heimlich und teuer. Bald sind sie überall zu sehen. Ihr Name wird nie im Zusammenhang mit den Bildern genannt, da steht nur Leserbild, trotzdem weiß es jeder.

Gewaltige Feuerzungen lecken am schwarzen Himmel. Das braune Haus der Markströms ist ein alter Bungalow aus Holz, mit kleinen Fenstern und Flachdach. Es hat Kamin und Gasherd, schlechte Leitungen, alte Elektrik und staubtrockene Isolierungen. Vorher waren solche Details nicht sonderlich bekannt, doch bald sind sie allen bewusst. Wenn die Menschen in den Tagen nach der Tolarp-Katastrophe etwas lernen, dann ist es die Tatsache, dass fast alles ein Haus in Brand setzen kann.

Nicht alle wachen auf. Der kleine Isak Nyqvist oben auf dem Svanåsvägen schläft. Ebenso sein bester Freund, Theo Bengtsson. Ein paar Kilometer entfernt, zu Hause in der Diele des Polizeiassistenten Vidar Jörgensson, wandert Leo auf und ab. Sein Bellen reißt Vidar aus dem Schlaf, er öffnet die Augen und stellt die Fußsohlen auf den kalten Boden.

Der Labrador wartet an der Eingangstür und bellt, als wäre da ein Einbrecher.

«Was ist denn los mit dir?», sagt Vidar und gähnt. «Hier ist doch niemand.»

Er öffnet die Tür. Der Hund schaut hinaus. Die Novemberkälte ist eisig. Da nimmt auch Vidar den Geruch wahr. Als er auf den Rasen hinausgeht, kann er den Brand sogar sehen: Von hier aus ist er lediglich ein Lichtschein, eine orangefarbene Kuppel, die sich über den Tannenspitzen wölbt.

«Ich verstehe», sagte er, «ist gut, Leo. Gut, dass du gebellt hast.»

Leo schüttelt sich und sieht Vidar mit großen braunen Augen an.

«Nun dann, schauen wir mal.» Vidar steht im vom Raureif überzogenen Gras und versucht abzuschätzen, wie weit das Feuer entfernt ist. «Ja, vielleicht. Ich muss mir das angucken.»

Er kehrt ins Haus zurück, zieht sich an und steigt in die groben Stiefel. Dann presst er die Lippen auf Leos weichen Kopf, krault den Hund kurz hinter dem Ohr und geht los.

Doch er vermisst seine Uniform. Vier Jahre trägt er sie nun schon und hat in dieser Zeit viel zu sehen bekommen. Die Uniform ist wichtig, sie ist wie ein Schild. Oder eine Rüstung. Das, was einem begegnet, wird von ihr ferngehalten.

Natürlich nicht alles. Manchmal sieht man Dinge, vor denen einen auch die Uniform nicht schützt.

Vidar geht über alte Wege, die von hohem Wald und offenen Feldern gesäumt sind, von kleinen Höfen und Häusern. Marbäck ist ein Dorf, ungefähr zehn Kilometer östlich von Halmstad. Wer hier aufwächst, bekommt zu hören, dass er sich glücklich schätzen kann. Das stimmt wahrscheinlich. Katastrophen kommen hier nur selten vor.

Der Gestank des Brandes wird schlimmer, die glühende Kuppel immer höher. In der Entfernung heulen Sirenen.

Vidar kommt an Gut Marbäck vorbei und biegt über die kleine Brücke hinunter zu der Gegend ab, die Tolarp genannt wird.

Da ist es und dröhnt in der Nacht: Markströms Haus, das in Flammen steht. Der Rauch brennt in seinen Augen. Feuerwehr und Krankenwagen sind vor Ort, ebenso die Kollegen. Vidars Herz schlägt schneller, je näher er dem blau-weißen Absperrband kommt. Der Einsatzleiter, ein kräftiger Feuerwehrmann, an dessen Namen er sich nicht erinnert, spricht mit den Sanitätern.

«Ist jemand im Haus?», fragt Vidar.

«Es ist schwer, hineinzukommen, wir wissen es also nicht. Aber vermutlich nicht. Das Haus steht komplett in Flammen, wir können es nur noch niederbrennen lassen.»

«Kann ich etwas tun?»

«Sie sind Polizist, nicht wahr?»

Vidar nickt. «Ich wohne hier draußen.»

Der Einsatzleiter sieht zum Brand hinüber. Flammen wie lebendige Gestalten.

«Helfen Sie, wo Sie können. Aber bleiben Sie vom Feuer weg.»

Vidar geht zum Krankenwagen und leiht sich eine zusätzliche Jacke. Drüben bei einem der blau-weißen Streifenwagen gibt ihm ein Kollege einen Block und einen Stift. Im Schein des Feuers hilft er, für Ordnung zu sorgen, zu kontrollieren, dass niemand die Absperrung passiert, und spricht mit den Nachbarn. Fast alle sind aus ihren Häusern gekommen und starren auf den Feuerschein.

Ulrika Antonssons Grundstück liegt im Südwesten. Mit ihr hat man bereits gesprochen. Nördlich grenzt der Hof von Josefina Fransson an. Sie hat ihn ihrem alten Vater einige Jahre vor seinem Tod abgekauft, mit Tieren und allem anderen. Einen Tausender hat sie dafür bezahlt. Eine symbolische Summe. Sie ist fünfzehn oder zwanzig Jahre älter als Vidar, aber er mochte ihr Aussehen schon immer. Ihr dichtes Haar ist zwar von grauen Strähnen durchzogen, aber das Gesicht fast faltenlos. Josefina trägt Jeans und ein offenes, in der Taille geknotetes Hemd über einem dunklen T-Shirt, das die schweren Brüste verbirgt. Die waren schon immer sein Schwachpunkt. Ihm ist das bewusst, doch an manchen Dingen kann man nichts ändern.

«Ich habe Lovisa auf dem Fahrrad nach Hause kommen sehen», sagt Josefina. «Das war ungefähr gegen fünf. Sie arbeitet jetzt ja in der Stadt beim Brooktorpsgården, deshalb fährt sie immer mit dem Rad zur Bushaltestelle und dann am Nachmittag zurück.»

Von dem Fahrrad ist nur noch ein verkohlter Rahmen übrig.

«Hast du sie danach noch gesehen?»

Josefina schüttelt den Kopf.

«Ihre Eltern sind später weggefahren. Irgendjemand feiert seinen Fünfzigsten.»

«Lovisa war aber zu Hause?»

«Ich … ich glaube ja, ich bin mir aber nicht sicher. Seit sie nach Hause gekommen ist, hab ich sie nicht mehr gesehen.»

Vidar hat dem Feuer den Rücken zugewandt, aber er sieht es trotzdem. Die Flammen spiegeln sich in Josefinas glänzenden Augen.

Als er die Absperrung entlanggeht, hält er inne. Da, im Gras, liegt ein Arbeitshandschuh. Vidar dreht sich zum Haus um. Die Flammen lodern jetzt nicht mehr so kräftig, doch bis hierher sind sie auch nie gekommen. Vidar streicht mit der Hand über das gefrorene Gras. Es ist unberührt.

Er hebt die Hand und ruft einen Kollegen zu sich.

«Oje», sagt der.

«Ja», erwidert Vidar.

«Ich hole eine Nummerntafel. Bleibst du hier?»

Vidar nickt und wartet. Ohne die Uniform ist es kalt. Der Kollege kehrt zurück und drückt die Nummerntafel vorsichtig in den Boden.

Der Handschuh ist vom Feuer geschwärzt. Aus der Nähe sieht man Blutspritzer.

Es dauert eine Weile, bis der Kommissar eintrifft, aber plötzlich steht er mitten im Geschehen. Über einen Grundriss des Hauses gebeugt, von dem jemand in aller Eile eine Kopie besorgt hat. Das ist seine Art. Kommissar K.-G. Öberg ist ein grobschlächtiger Kerl und angezogen wie ein Waldarbeiter, mit schweren Stiefeln, Strickpullover und einer Hose mit vielen Taschen. Er ist ein guter Chef mit kräftiger Stimme. Sein Haar ist schütter und grau, sein Gesicht rund und aufgedunsen. Der Blick aus seinen Augen, der sich auf Vidar richtet, ist offen und warm. Trotz seiner Statur bewegt er sich lautlos – man hört ihn selten kommen.

«Der junge Jörgensson!», sagt er erstaunt. «Ja, natürlich, zum Teufel auch, Sie wohnen ja hier.»

«Ja.»

«Haben Sie nicht bald Dienst?»

«In siebeneinhalb Stunden.»

K.-G. wedelt mit der Hand.

«Gehen Sie nach Hause und schlafen Sie, verdammt noch mal. Wir brauchen Sie morgen.»

Vidars Augen brennen, seine Knochen schmerzen. Er war den ganzen Tag im Dienst und jetzt noch die halbe Nacht. Seine Schultern sind steif, der Rücken tut weh.

«Sie brauchen mich nicht mehr?», fragt er trotzdem.

«O doch, ich will Sie hierhaben. Aber nach sieben Stunden Schlaf.»

Vidar übergibt die Informationen, die er sammeln konnte, hängt die Jacke zurück, nickt seinen Kollegen zu und macht sich auf den Heimweg. Es ist noch lange hin bis zum Sonnenaufgang. Hinter ihm blinken lautlos die Blaulichter – Streifenwagen, Feuerwehrautos, Krankenwagen.

Er ist noch nicht weit gekommen, als er etwas aus dem Augenwinkel wahrnimmt. Im Wald. Vidar hält inne und atmet geräuschlos. Es ist vollkommen still.

Dann sieht er es.

«Hey!» Vidar wendet sich um und ruft in Richtung der Blaulichter. «Hey! Hier im Wald liegt jemand.»

Jemand, der nicht wusste, wohin.

2.

Isak Nyqvist wohnt oben am Svanåsvägen in dem roten Haus beim Wendeplatz der Sackgasse. In einer Reihe stehen sie dort, die kleinen Einfamilienhäuser, und nur drei Häuser weiter wohnt Theo.

Wie jeden Morgen sitzt seine Mutter an seinem Bett und weckt ihn. Er nimmt ihren Geruch im Schlaf wahr, der ist immer das Erste, das ihn erreicht. Sie ist schon seit einer Stunde auf und hat sich fertig gemacht, um zur Arbeit zu gehen.

«Isak. Isak, Liebling. Es ist halb acht, Zeit zum Aufstehen.»

Jeden Morgen dieselben Worte, doch diesmal öffnet er nicht deshalb die Augen, sondern wegen der Art, wie sie es sagt. Ihre Stimme klingt heute anders, irgendwie abwesend, als würde sie gleichzeitig einen spannenden Film sehen, aber auch nur nebenher. Da ist etwas zwischen den Worten. Mama klingt ängstlich.

«Was riecht so?»

Sie antwortet nicht. Ihre Augen sind ein wenig gerötet. Das sind sie sonst nicht.

Isak quält sich hoch. Warum ist es so schwer, aufzuwachen, wenn man in die Schule soll, während es samstags und sonntags so leicht ist? Das ist eine der großen Fragen des Lebens.

Die Alten sagen Haag anstelle von Garten. Isak hat kürzlich bemerkt, dass die Alten manchmal anders reden, Wörter benutzen, die für ihn ungewöhnlich sind. Sie klingen schön. Edvard sagt immer, dass Wörter eine Verbindung zu denen sind, die nicht mehr unter uns weilen.

Vom Küchenfenster aus kann Isak am Haag vorbei bis zum Schopf am Waldrand sehen, der auf der anderen Seite des Fahrradwegs liegt, hinter der mit Spierstrauch und Wasserholler überwachsenen Steinmauer. Er weiß nicht, wem der Schopf gehört, aber da drin gibt es riesige Weberknechte. In der Nähe stehen alte Bäume mit vollen roten Weihnachtsäpfelnund gelben runden Pflaumen, aber an die kommt man schwer ran, die brennenden Nazzeln stehen viel zu hoch. Aber im vergangenen Jahr hat jemand sie nach einer der ersten Frostnächte zerfetzt, so als wäre ein riesiges Tier mit mächtigem Kiefer vorbeigekommen und hätte die Nesseln abgebissen. Endlich war der Pflaumenbaum zugänglich, sodass Isak und Theo hochgeklettert waren und sich vollgefuttert hatten.

Seither hat er keine Pflaumen mehr gegessen, ihm war so flau im Magen gewesen, dass allein der Gedanke daran ihm schon Übelkeit verursacht.

Jetzt streut er viel zu viel Zucker auf die Cornflakes, der zu richtig leckeren Klumpen in der Dickmilch wird. Normalerweise protestiert seine Mutter, aber heute nicht. Sie sitzt nicht einmal mit ihm beim Frühstück, sondern ist mit Papa im Wohnzimmer. Er ist noch nicht zur Arbeit gefahren, obwohl er sonst immer um Viertel vor sieben aufbricht.

Hast du ein bisschen geschlafen?, fragt Papa.

Nein, erwidert Mama. Ich bringe ihn heute hin. Der Schulbus fährt da vorbei, den kann er also nicht nehmen. Verdammt, ich weiß bloß nicht, wie wir stattdessen fahren sollen.

Isak sitzt allein am Frühstückstisch und weiß nicht, wo er hinschauen soll. Das ist ein neues Gefühl für ihn, und er möchte am liebsten zu seiner Mutter gehen, spürt aber, dass er das nicht tun sollte. Daher spielt er stattdessen, die Cornflakes im Teller wären Helden, vielleicht Cowboys oder Soldaten, und die Dickmilch lebensgefährliche Lava.

In der Diele sieht er Schuhabdrücke, große, grobe. Sie stammen nicht von Papa. Also hatten sie während der Nacht Besuch.

Dieser Montagmorgen ist kalt und feucht. Isak sitzt auf dem Weg zur Schule im Simlångsdalen auf dem Rücksitz. Seine Mutter fährt einen längeren Weg als sonst. Noch kein Schnee. Sie kommen an den alten Gebäuden der Papierfabrik vorbei. Hinter den Bäumen, runter in Richtung Tolarp, kann Isak graue Streifen sehen, die zum weißen Himmel aufsteigen.

«Was ist denn passiert, Mama?»

«Was meinst du, Liebling?»

«Du und Papa, ihr seid so komisch. Und es riecht, wie wenn wir Feuer machen.»

Seine Mutter schweigt lange.

«Ich weiß nicht genau, was passiert ist.»

Dann sagt sie nichts mehr, und er fragt auch nicht. Ihre Hände umklammern das Lenkrad so fest, dass die Knöchel weiß hervortreten. Als sie da sind, rennt Isak über den Schulhof, um nicht zu spät zu kommen.

Auch in der Schule ist etwas anders. Isaks Lehrerin Iréne sieht aus, als hätte sie etwas Wichtiges verloren. Sie lächelt, aber ihr Lächeln erreicht ihre Augen nicht, und in den Pausen raucht sie mehr als sonst.

Als die Schule aus ist, wartet seine Mutter auf ihn. Ihre Miene ist hart, als würde ihr irgendetwas weh tun, sie es aber nicht zeigen wollen.

Als sie nach Hause kommen, sieht Isak frische fremde Schuhabdrücke in der Diele, und die Fußmatte liegt anders da als gewöhnlich.

«Mama, wer war hier?»

«Was meinst du?»

«Die Matte liegt komisch. Und solche Schuhe haben wir nicht.»

Seine Mutter murmelt etwas, abwesend.

Kurz darauf klingelt Theo an der Tür.

In der Schule kommt es vor, dass Theo sich komisch benimmt, wenn sie mit anderen zusammen sind. Dann ist es, als würde er Isak wegschieben. Er schnauzt ihn an oder seufzt. Isak weiß nicht recht, warum, aber es geschieht nur, wenn andere wie Torbjörn oder Håkan oder Malin und Cecilia dabei sind. Doch das ist selten, ansonsten ist es eine klare Sache, dass Theo und er beste Freunde sind. So ist es einfach. Fast wie ein Naturgesetz, das Wort haben sie neulich oben im Klassenzimmer in der Breared-Schule gelernt.

«Hallo», sagt Theo.

«Hallo.»

«Sollen wir was machen? Königsstein spielen?»

Isak zieht seine Jacke an und rennt in die Küche.

«Mama, darf ich …»

Sie steht an der Spüle, starrt aus dem Fenster und hat die Arme um sich geschlungen, als würde sie frieren. Tränen laufen ihr über die Wangen. Als sie Isak sieht, zuckt sie zusammen, wischt sich über die Augen und blinzelt schnell.

«War das gerade Theo? Wollt ihr rausgehen?»

Isak steht mit offener Jacke und einem beklemmenden Gefühl in der Brust da.

«Mama, bist du traurig?»

Sie lächelt, schüttelt den Kopf, während sie weiter die Tränen wegblinzelt.

«Was ist denn passiert, Mama?»

«Warum fragst du? Haben sie in der Schule etwas erzählt?»

«Nein, aber …»

«Was?»

Es ist schwer in Worte zu fassen. Aber etwas ist da.

Als er nichts sagt, beugt sie sich zu ihm hinunter, umarmt ihn fest und flüstert, dass alles in Ordnung sei. Kein Problem, alles wird gut.

«Jetzt geh und spiel mit Theo.»

«Aber …»

«Nein, alles ist gut.» Sie lächelt durch die Tränen hindurch. «Ich bin nur müde.»

«Okay.»

«Wann bist du wieder zu Hause?»

«Um fünf.»

«Und was tust du, wenn etwas passiert?»

«Ich hole einen Erwachsenen.»

«Gut.»

Sie küsst ihn auf die Stirn. Isak geht mit Theo raus.

Kein Problem. Alles wird gut.

Das klang fast wie ein Gebet.

3.

Nicht weit von Markströms Haus gibt es einen versteckten Ort. Eine Öffnung in dem dichten Waldstück von Marbäck führt hinunter zu einem Abschnitt des Fylleån, wo die Strömung besonders reißend ist.

Edvard war es, der Isak zum ersten Mal mit dorthin genommen hat. Ihn mag Isak von allen wohl am liebsten. Abgesehen von Mama vielleicht. Aber das würde er niemals jemandem sagen. Und auf keinen Fall Papa.

Es ist nicht November, sondern Sommer, ein warmer Sonntag im August. Isak hält Edvards Hand, während sie zwischen den Bäumen hindurchgehen.

«Hörst du, Isak?», fragt er.

«Nein, was denn?»

«Horch mal.»

Seine Haare sind ebenso dunkel wie Mamas, die Augenbrauen markant und die Augen braun und groß, mit einem warmen Blick. Die starken Kontraste lassen Edvard fast ein bisschen wie eine Karikatur aussehen, so als wäre er gerade einem Comic entstiegen.

Alle sagen, dass Isak und Edvard sich ähnlich sehen. Manchmal versucht er, seinen Onkel nachzumachen, aber das ist schwer. Wenn er sich bemüht, so zu gehen oder sich zu bewegen wie Edvard, wirkt es nur steif und ungelenk.

Isak sieht ihn an und horcht.

«Hörst du es jetzt?»

Über ihm rascheln die Blätter der Bäume leicht im Wind, die Insekten summen, Göran Antonssons alter Traktor knattert in der Ferne. Und da ist noch etwas: ein dumpfer, rauschender Klangteppich im Hintergrund.

«Was ist das?»

«Komm, ich zeig’s dir.»

Sie laufen weiter vorwärts zwischen alten Baumstümpfen und groben Wurzeln, die über den Weg wuchern. Das Brausen in Isaks Ohren wird stärker, die Aufregung wächst in seiner Brust.

Manchmal ist Edvard ein bisschen wie ein Vater. Isak sagt das nicht laut, er will seinen Vater nicht verletzen, aber manchmal denkt er es. Papa ist viel unterwegs und arbeitet oft bis spät, weil sie das Geld brauchen. Manchmal ist er auch übers Wochenende verreist, als Mechaniker für einen Typen in der Stadt, der Rennwagen fährt, und die Rennen finden fast immer samstags oder sonntags statt.

Die Tage mit Edvard sind die besten. Sie erfüllen Isak gleichzeitig mit Spannung und Geborgenheit. In den Wald zu gehen und dabei Edvards große Hand zu halten gibt ihm ein Gefühl von Zuhause.

«Hier», sagt Edvard schließlich und zeigt nach vorn. «Schau mal, Isak.»

So etwas hat er noch nie gesehen. Der Wasserfall ist derart gewaltig, dass das Wasser weiß und braun schäumt, zornig auf die Steine schlägt und aufspritzt. Zugleich ist der Wasserfall höher als die größten Tannen, und man muss fast schreien, um das Rauschen zu übertönen.

Plötzlich stößt ein Vogelschwarm von etwas erschreckt gen Himmel, und Isak zuckt zusammen. Edvard legt beruhigend seinen Arm um ihn.

«Hey, Kleiner, ganz ruhig. Ist doch schön, oder?»

«Das ist riesig.»

«Weißt du, wie dieser Ort hier heißt?»

«Nein.»

«Dänenfall.»

Um sie herum ist alles feucht, die Luft schwer. Edvard und Isak setzen sich auf den warmen Waldboden. Hier in der Gegend kennt Isak sich schon aus. Edvard, Mama und tatsächlich auch Papa haben ihm beigebracht, wie man die Natur als Wegweiser nutzen kann, sofern man sie zu lesen weiß. Wenn er sich umsieht, kann er erkennen, wie weit es bis zum Wasserfall ist, wie weit nach Hause, wo der nächste Weg zum Feld dort oben verläuft.

«Hattest du einen guten Sommer, Isak?»

«Ja. Du auch?»

«Supergut.»

«Ich mag Lovisa», sagt Isak. «Du solltest sie öfter treffen.»

Edvard lacht.

«Ich treffe sie ständig.»

«Aber nicht, wenn ich dabei bin.»

«Nein, aber wir arbeiten beide. Anders als du haben wir keine Sommerferien.»

«Ist das so, wenn man erwachsen ist?»

«Zumindest ist es so, wenn man fünfundzwanzig ist.»

«Bist du jetzt fünfundzwanzig?»

«Klingt das alt?»

«Ja. Ich bin erst sieben.»

«Dann bist du gar nicht so klein.»

Isak betrachtet den hohen Wasserfall vor ihnen. Hier kann ihm nichts Böses zustoßen. Solange Edvard an seiner Seite ist, wird alles gut.

«Warum heißt es Dänenfall?»

«Ich erzähl's dir», sagt er. «Das war vor langer, langer Zeit in einem Sommer, genau wie jetzt», beginnt er, als handele es sich um ein Geheimnis. «Schweden lag im Krieg mit Dänemark. Der schwedische König war damals Karl XI., und die Schweden gewannen eine wichtige Schlacht. Und die Dänen flohen nach ihrer Niederlage in die Wälder rund um Marbäck. Sie folgten dem Flusslauf und gelangten hierher.» Edvard zeigt auf die oberste Kante des Wasserfalls: «Siehst du die beiden größten Tannen da, auf jeder Seite?»

Isak schaut mit zusammengekniffenen Augen in den hellen Himmel.

«Ja, die sehe ich.»

«Zwischen diesen Bäumen war mal eine Hängebrücke befestigt, über die man die Stromschnellen überqueren konnte. Und genau das mussten die Dänen tun. Die Brücke war ziemlich schmal, sie schwankte und schaukelte.»

Etwas in Isaks Brust beginnt zu flattern. Er legt seine Hand auf Edvards.

«Und dann, als die Dänen mittendrauf stehen, da passiert es: Die Brücke bricht. Die Soldaten fallen ins reißende Wasser.»

Sie fallen. Isak kann sie sehen, sieht, wie die Leiber sich gegen den weißen Wasserfall wehren und schließlich doch in den Fluten verschwinden.

 

«Aber», Edvard hebt den Zeigefinger, «es war kein Unglück. Da oben, hinter den Tannen, warteten der schwedische König und seine Soldaten. Insgeheim waren sie den Dänen gefolgt, und im entscheidenden Augenblick zerstörten sie die Brücke.»

«Wie gemein», flüstert Isak und umklammert die Hand seines Onkels.

«Man sagt, dass der schwedische König hinterher genau hier, wo wir jetzt sitzen, stand und das reißende Wasser betrachtete, in das die Dänen gefallen waren. Deshalb heißt dieser Ort Dänenfall.»

«Wahnsinn.»

«Und der allergrößte Stein da, siehst du den?»

Im Zentrum des Flusses erhebt er sich, groß wie ein Mensch, glänzend und uralt.

«Ja.»

«Den nennt man Königsstein.»

Edvard hebt einen Kiesel auf. «Und jetzt bringe ich dir etwas bei, das deine Mutter und ich mal von unserem Vater gelernt haben und was ihm vorher irgendwann sein Vater beigebracht hat.»

«Was denn?»

Edvard lächelt.

«Du wirst schon sehen.»

4.

Isak erinnert sich, das Gefühl gehabt zu haben, damals etwas sehr Großem nahe gewesen zu sein. Einfach phantastisch zu wissen, dass der schwedische König unten am Fylleån gewesen war und er es geschafft hatte, die fiesen Dänen umzubringen.

Aber stimmt das? Laut Isaks Lehrerin war König Karl XI. niemals hier gewesen. Sie meint, die ganze Geschichte klinge unwahrscheinlich.

Aber sie konnte ja trotzdem wahr sein.

Isak und Theo stellen ihre Fahrräder ein Stück vom Wasser entfernt ab. Kälte und Feuchtigkeit nehmen im Schatten des Tannenwalds zu, und Theos Wangen und Nase färben sich beim Steinesammeln rot. Als sie fertig sind, stehen sie schniefend und mit vollen Taschen da und spähen zum Königsstein hinüber.

«Du fängst an», sagt Isak.

«Immer ich.»

«Weil du es nie schaffst zu sagen: Du fängst an.»

Die Regeln sind einfach: Man muss den Königsstein treffen. Schafft man es nicht, muss man einen Schritt Richtung Wasser machen. Trifft man, darf man stehen bleiben. Ist man zu zweit, endet das Spiel, wenn ein Spieler sich nicht traut, noch einen Schritt vorzugehen. Wenn mehr als zwei Spieler mitmachen, endet das Ganze, wenn alle bis auf einen aufgegeben haben.

Sobald der erste Spieler einen Schritt ins Wasser macht, müssen die anderen, falls sie den Stein nicht treffen, sich aber noch an Land befinden, zwei Schritte vorwärts gehen. So kann derjenige, der schon im Wasser steht, die anderen vom Ufer in ein unvermeidliches Ende mitziehen.

Unglaublich schlau, denkt Isak. Man fragt sich, wer sich ein solches Spiel wie den Königsstein ausdenken konnte. Nicht einmal Edvard ist so schlau.

Theo wirft zuerst. Der Stein saust durch die Luft und schlägt auf der Wasserfläche auf.

Er verzieht das Gesicht und macht einen Schritt vorwärts.

«Ziemlich dicht, dafür, dass es der erste Wurf war.»

Isak verfehlt auch. Theo schickt einen weiteren Stein in schönem Bogen durch die Luft. Er schlägt mit einem herrlichen Klack – eines der besten Geräusche, die es gibt – gegen die rechte Seite des Königssteins und hüpft in die Stromschnellen.

In dieser Runde verfehlt Isak nicht, aber in der nächsten, und so folgen sie einander weiter ins Wasser hinein.

«Weißt du noch, als Anton mit dabei war?», fragt Theo, grinst, nimmt Anlauf und wirft.

Anton geht in ihre Parallelklasse und wohnt weiter oben, Richtung Simlångsdalen. Er stand damals schon im Wasser und zielte auf den Königsstein, verpasste ihn aber mit Abstand. Dann wandte er sich den anderen zu, zuckte mit den Schultern und lächelte, aber alle bemerkten die Angst in seinem Blick.

Plötzlich schien es, als würde eine unsichtbare Hand unter Wasser seine Knöchel packen und daran ziehen. Ein dumpfer Laut war zu hören, wie wenn man mit Stiefeln auf eine Fußmatte stampft, als Antons Hinterkopf unter der Wasseroberfläche auf etwas Hartem aufschlug.

Und dann war er vollkommen reglos.

«Anton!», rief Theo. «Alles in Ordnung?»

Anton reagierte nicht. Seine dicken Winterkleider sogen sich voll Wasser, und der Strom begann, ihn mit sich zu ziehen.

Isak und Theo eilten ins Wasser hinaus und packten Anton an der Jacke. Mit vereinten Kräften zogen sie ihn wieder an Land. Er war schwer, viel schwerer als gedacht. Schlaff und kraftlos lag er auf dem Rücken. Theo sah verängstigt aus.

«Ist er … ist er tot?»

Isak schüttelte den Kopf.

«Er atmet doch.»

«Was sollen wir tun?», fragte Theo.

In dem Moment verzog Anton schmerzverzerrt das Gesicht, hielt sich den Nacken und versuchte, sich aufzusetzen.

«Alles okay», brach es aus Theo heraus. «Er ist okay. Erzähl es bloß niemandem, sonst dürfen wir nie wieder Königsstein spielen! Du bist doch okay, oder?»

«Ich glaube schon», piepste Anton.

Sie liefen nach Hause, und nie war Isak einer Katastrophe näher gewesen als damals.

Bis jetzt vielleicht. Schwer zu sagen. Es war so ein seltsamer Tag heute. Mama ist traurig. Und irgendetwas war auch mit Iréne. Und dann diese Schuhabdrücke auf dem Teppich in der Diele.

«Warum sind alle so komisch?»

«Heute Nacht hat doch ein Haus gebrannt», antwortet Theo mit kräftiger Stimme und sieht dabei so aus wie die Erwachsenen, wenn etwas Ernstes passiert ist.

«Schon, ich weiß, aber …»

«Du hast nicht getroffen, du musst einen Schritt machen.»

Der Wind ist kalt. Der Rauch hängt noch in der Luft. Isak wagt einen Schritt. Theo wirft. Es hat heute Nacht doch ein Haus gebrannt. Das klingt so schäbig.

«Wessen Haus?»

«Das braune Haus in Tolarp.»

«Wer wohnt da?»

«Weiß ich nicht genau», gesteht Theo. «Papa will nicht mehr erzählen. Ich werde Jacke fragen, wenn er nach Hause kommt.»

Jacke ist Theos großer Bruder. Sie werfen weiter. Isak verfehlt den Königsstein. Er wagt sich zwei Schritte hinaus in das schwarze Wasser, aber die Kälte ist so beißend, dass er das Gefühl hat, seine Füße würden abfallen. Die Eiseskälte kriecht ihm in die Beine. Er fängt an zu zittern.

«Sollen wir sagen, wir sind quitt?»

«Klingt gut», erwidert Theo schlotternd.

 

Am Abend, als Isak in seinem Bett liegt, belauscht er ein Gespräch seiner Eltern durch die Wand.

Das muss ein Missverständnis sein, sagt Mama.

Hoffen wir mal, erwidert Papa. Aber du weißt ja …

Was weiß ich?

Nein, nichts, ich … ich dachte nur an August.

An Papa? Mama klingt fast wütend. Warum das denn?

Dann ist es still. Isak hört sein eigenes Herz schlagen, so still ist es.

Aber plötzlich dringen seltsame, raue Laute zu ihm herein. Schluchzen und Schniefen. Sie kommen von seiner Mutter. Er möchte hinüberlaufen und sie umarmen, aber er traut sich nicht, manchmal weiß man einfach, dass es besser ist, sich fernzuhalten.

Ehe er einschläft, denkt Isak noch an die Cornflakes vom Morgen, seine Cowboys und Soldaten, wie sie langsam von der Dickmilch, der glühenden Lava, verschlungen werden.

5.

Der Stammbaum von Vidar Jörgensson ist tief im Marbäcker Boden verwurzelt. Vidar stammt ebenso von hier wie sein Vater, sein Großvater und sein Urgroßvater. Hier fühlt er sich wohl, in diesem gelben kleinen Haus mit den weißen Ecken, dem offenen Kamin und einem Hund, den seine Bekannten ausführen, wenn Vidar Überstunden machen muss.

Der Beruf des Polizisten ist ein Teil des Erbes. Vidars Vater Sven war Polizist. Dann wurde er krank und starb. Das ist drei Jahre her, und Vidar lebt seither mit einer tiefen Leere in der Brust, etwas in ihm ist, ja, wie sagt man, erstarrt.

Die Nacht steckt ihm in den Knochen. Viele Fragen sind noch offen. Den ganzen Morgen wurde im Radio über das brennende Haus berichtet, direkt im Anschluss an die Nachricht, dass das schwedische Volk in der ersten Volksabstimmung seit der Atomkraftfrage vor vierzehn Jahren sich dafür ausgesprochen hat, der EU beizutreten. Mit knapper Mehrheit. Fast die Hälfte will das nicht, in Marbäck hat so gut wie keiner dafür gestimmt. Die Diskussionen im Dorf waren zahlreich, langwierig und hitzig. Angesichts des brennenden Hauses in Tolarp kommt einem die EU-Frage weit weg und unbedeutend vor. Alle sind wie gelähmt.

 

Früh am Morgen betritt Vidar das Revier in Halmstad. Es steht beim Schlosspark und dem Amtsgericht, ein grau-weißes, sechsstöckiges Gebäude aus Stahl und Glas, das von fern eher aussieht wie eine psychiatrische Anstalt. Wie ein wachendes Auge erhebt es sich über Halmstad, die kleine Stadt an der Küste, die erheblich gewachsen ist.

Vidar zieht sich um. Mit dem Anlegen der Uniform hat er fast das Gefühl, ein neuer Mensch zu werden, die Erschöpfung verfliegt, und die Gegenwart erhält scharfe Konturen. Mehrere Kollegen, die gerade ihre Schicht beenden, sind während der Nacht draußen in Marbäck gewesen, aber erst dort eingetroffen, als Vidar schon wieder zu Hause war.

«Das war kein schöner Anblick.» Markus holt sich eine Tasse Kaffee aus dem Automaten im Umkleideraum. «Als sie die rausgetragen haben, meine ich.»

Markus Danielsson ist genauso alt wie Vidar und stammt aus Laholm. Sie haben zusammen den Wehrdienst abgeleistet, sich aber erst in der Anwärterzeit angefreundet, als sie feststellten, dass sie die Einzigen in der Klasse aus der Region Halland waren. Markus’ Uniform ist von der Nacht noch fleckig und verrußt.

«Du weißt es noch nicht», sagt Markus, als er Vidar ansieht. «Tut mir leid, ich dachte …»

«War sie es? Lovisa?»

«Ja», antwortet Markus. «War sie.»

Vidar holt sich auch einen Kaffee aus dem Automaten. Ein Gewicht auf seinen Schultern, ein kleiner Stich ins Herz. Er nimmt den ersten Schluck, der zu heiß und zu bitter ist.

«Weiß man, wie der Brand entstanden ist?»

Markus schüttelt den Kopf.

«Offenbar noch nicht. Du, bevor ich es vergesse, wegen Sonntag … Ich kann Hanna bitten, jemanden mitzubringen, wenn du willst.»

«Ist nicht nötig.»

«Sicher?»

«Jo, sicher.»

Vidar hört die Geräusche im Revier und draußen auf der Straße. Der Geruch von Uniformen und Leder, wie die Schränke im Umkleideraum geöffnet und wieder zugeschlagen werden. Er sieht sich im Spiegel. Selbst wenn etwas Schreckliches passiert, ist es ein gutes Gefühl hierherzugehören.

«EU oder nicht.» K.-G. Öberg steht am Fenster, die Hände in den Taschen und den dicken Bauch Richtung der kleinen Topfpflanzen vorgestreckt, die seine Sekretärin mühevoll am Leben zu erhalten versucht. «Atomkraft oder nicht. In Schweden ist es immer entweder – oder, ist Ihnen das schon mal aufgefallen? Schwarz oder weiß, rauf oder runter. Das klingt einfach. Aber verdammt noch mal, das macht nicht den geringsten Unterschied.»

Obwohl Vidar schon seit vier Jahren hier arbeitet, ist er zum ersten Mal in diesem Zimmer. Als Polizeiassistent erledigt man, was kein anderer übernehmen will oder zeitlich schafft. Man läuft Streife durch die Straßen, sucht nach Patienten, die aus der Psychiatrie ausgebrochen sind, kümmert sich um Aluhütchen-Träger, rückt aus, steht am Pass-Schalter, schickt Stoff ans Drogendezernat, nimmt Hinweise aus der Bevölkerung entgegen und schreibt Anzeigen. Die Kommissare der Behörde aufzusuchen gehört nicht zu den üblichen Aufgaben.

«Es wird bestimmt einen Unterschied machen», meint Vidar, «im Laufe der Zeit.»

«Steuern muss man trotzdem bezahlen, und sterben muss man früher oder später auch. Die großen Dinge im Leben ändern sich einfach selten.»

Das Büro von K.-G. ist kleiner, als Vidar es sich vorgestellt hat. Ein Schreibtisch und ein Stuhl, ein String-Regal mit blauen Ordnerrücken. Massenhaft Papier, ein paar Fotos. Ein Diplom über einen Kurs für Führungskräfte. Mehr nicht.

«Lovisa Markström», sagt er jetzt, «was für ein schrecklicher Anblick.»

«Jo, hab schon gehört.»

Der Kommissar sieht ihn an.

«Kannten Sie sie?»

«Das wäre zu viel gesagt.»

«Aber was wissen Sie über Lovisa? Sie kommen doch von dort.»

«Sie ist um die zwanzig, möglicherweise genau zwanzig. Sie arbeitet im Brooktorpsgården hier in der Stadt. Tüchtiges, kluges Mädchen. Kann mir nicht vorstellen, dass sie bei uns schon mal auffällig geworden ist. Lovisa ist anständig und so. Süß und nett, einziges Kind. Ihre Eltern, Hans und Erika, sind gute Leute, in der Gegend beliebt. Und Lovisa auch», fügt er hinzu. «Die Leute, mit denen ich geredet habe, sagten, dass Hans und Erika in der Stadt auf einer Geburtstagsfeier waren. Sie wollten mit dem Taxi zurückfahren. Aber ich habe sie nicht gesehen.»

«Nein, wir haben sie direkt in die psychologische Notfallbetreuung gebracht.»

Der große Mann wendet sich seinem Schreibtisch zu und reicht Vidar ein Papier.

«Sie hat keine Rußpartikel im Mund. Nicht in der Kehle und auch nicht in den Lungen», erklärt er.

Vidars Blick gleitet über das Blatt, den technisch kühlen Text. Das ist das Erste, was man überprüft, deshalb liegt das Ergebnis so schnell vor. Lovisa Markström hat, wie es im Bericht heißt, nicht die Brandumgebung eingeatmet.

Vidar starrt auf das Papier.

«Sie war schon tot, als es anfing zu brennen.»

«So ist es», bestätigt K.-G.

«Wissen wir, woran sie gestorben ist?»

«Stumpfe Gewalteinwirkung am Kopf.»

«Es ist also …»

«Genau.»

K.-G. betrachtet Vidar, blinzelt schwer und reicht ihm ein weiteres Blatt Papier.

«Das habe ich eben bekommen. Die Liste ist natürlich in aller Eile erstellt worden, nach den ersten Gesprächen mit den Leuten. Die meisten wurden auch noch mitten in der Nacht geführt, man muss sie also erst einmal so hinnehmen. Aber kennen Sie die Leute hier?»

Vidar betrachtet die Liste. Fünf Namen stehen darauf.

«Ich glaube schon.»

«Vermissen Sie einen Namen auf der Liste?»

Es fühlt sich nach einer großen Sache an, dem Kommissar hier so gegenüberzusitzen. Jetzt sollte er etwas Kluges sagen.

«Das sind alles, soweit ich weiß, Leute aus dem Ort. Sollte man nicht mitbedenken, dass es jemand von außerhalb gewesen sein könnte?»

«Fast immer hat der Täter eine Verbindung zum Opfer, also gehen wir im Moment davon aus. Aber wieso, denken Sie an jemand Bestimmten?»

«Nein. Aber ich glaube nicht, dass es einer von denen auf der Liste war, und Sie haben bestimmt recht. Allerdings gibt es zum Beispiel eine Einbrecherbande, die in der letzten Zeit in Nord-Skåne runter bis Laholm unterwegs ist. Ganz zu schweigen von all den Flüchtlingen, die ins Land geströmt sind. Sogar in Marbäck haben wir einen, einen Jungen namens Nali. Ich will ja nicht behaupten, dass es einer von denen war, aber das sind zumindest die Verbindungen, die die Zeitungen herstellen werden. Und es wäre gut, wenn wir die im Vorfeld widerlegen könnten. Zum Beispiel indem wir veröffentlichen, dass im Haus nichts fehlt – wenn es denn so ist.»

«Klug gedacht, Jörgensson. Sehr klug. Ob etwas gestohlen wurde, ist schwer zu sagen, wenn man bedenkt, was durch den Brand alles zerstört wurde. Da ist nicht viel übrig geblieben, und die Reste zu untersuchen, wird einige Zeit dauern. Zeit, die wir im Moment nicht haben. Für Jugos und Serben und der Teufel weiß, woher die alle kommen, habe ich nicht so viel übrig, aber was sollten Kriegsflüchtlinge hier oben in Marbäck wollen? Und von dieser Bande haben wir hier noch nicht viel bemerkt. Also werden die es wohl auch nicht gewesen sein. Aber trotzdem, gute Ideen.» Er deutet auf die Liste. «Fehlt Ihnen da sonst noch jemand?»

«Ja … Sie war mit Edvard Christensson zusammen.»

«Stimmt.» K.-G. fährt sich mit der groben Hand über den Bart. «Den habe ich hier nicht aufgenommen. Was wissen Sie über Christensson?»

«Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Er ist ein paar Jahre jünger als ich. Er war schlau, aber hat, wenn ich mich richtig erinnere, immer Ärger gemacht. Die ganze Familie Christensson ist ein bisschen anders, zumindest die Männer. Er hat als Junge ziemlich viel Mist gebaut, in der Hinsicht ist er ganz wie sein Vater.»

«Wie heißt der Vater?»

«August. Er hat viele Jahre in der Papierfabrik gearbeitet, bis die geschlossen wurde, und in der letzten Zeit vor seinem Tod hat er wohl ziemlich viel getrunken. Und er hat seine Frau Sara sehr … barsch behandelt, oder wie immer man das sagen soll.»

Vidars Vater hatte immer Geschichten über August Christensson erzählt. Als Kind hatte Vidar selbst Sara mehrmals blau geschlagen und hinkend gesehen, aber erst viel später begriffen, was das bedeutete.

«Vermutlich war August kein wirklich schlechter Mensch», fügt Vidar hinzu. «Mein eigener Vater hatte mehrmals mit ihm zu tun und war derselben Ansicht. Aber August hatte etwas Aufbrausendes an sich.»

K.-G. lacht auf.

«Etwas Aufbrausendes, ja, das kann man wohl sagen. Kein schlechter Mensch, sagen Sie? Aber ab wann ist man kein guter Mensch mehr? Ich habe auch einige Dinge über ihn gehört. Manchmal hat er seine Frau grün und blau geschlagen. So etwas vererbt sich oft.»

Vidar wird rot.

«Ist schon gut, Jörgensson. Man sollte offen sein, das ist wichtig. Sie mögen recht haben, ich glaube es bloß nicht. Was macht Christensson jetzt? Ich meine, Edvard?»

«Ich weiß, dass er in Teilzeit im Altersheim im Simlångsdalen arbeitet, aber ich meine, er hätte noch einen Zusatzjob als Barkeeper in der Stadt, im Billard & Bowling. Ich kann mir gut vorstellen, dass wir ihn wegen der einen oder anderen Sache in unseren Akten haben. Ich bin nicht ganz sicher, ob er sich immer auf dem rechten Weg hält, wenn Sie verstehen, was ich meine.»

«Er hat eine Schwester, oder?»

«Eva», erwidert Vidar mit einem Nicken.

«Und wie steht's mit ihr?»

«Sie wohnt auch da oben, aber am Svanåsvägen. Eva arbeitet beim Zahnarzt und ist mit einem Automechaniker verheiratet. Sie haben ein Kind, einen kleinen Jungen.»

«Ist das alles?»

«Na ja …», Vidar kratzt sich gedankenverloren am Kinn, «Lovisas Vater war sicherlich nicht begeistert von Christenssons Verhältnis mit seiner Tochter. Er mag Christensson nicht, warum auch immer. Aber man kann es wohl ahnen.»

K.-G. macht sich keine Notizen. Das tut er nie. Böse Stimmen behaupten, es sei ihm egal, andere, respektvollere, sagen, er müsse Fakten nicht extra aufschreiben, um sie sich zu merken. Unmöglich zu wissen, was stimmt. Vielleicht schließt das eine das andere nicht aus.

«Gibt es sonst noch etwas?»

«Ja …», antwortet Vidar zögerlich. «Als ich Sonntagnacht auf dem Weg nach Hause war, habe ich Edvard im Wald bei Markströms Haus gefunden, voller Brandwunden, blutig und total fertig.»

«Exakt. Das ist vielleicht das Einzige, was wirklich zählt.»

«Haben Sie mit ihm gesprochen?»

«Er behauptet, immer noch zu angeschlagen zu sein. Aber wir werden es tun.» K.-G. zeigt auf die Liste. «Diese Leute kommen ja alle aus Marbäck, also tun Sie mir einen Gefallen und sprechen Sie mit ihnen. Nehmen Sie ihre Alibis und alles Übliche auf und sorgen Sie dafür, dass alles seine Ordnung hat. Fragen Sie aber vor allem, was die Leute über Christensson wissen.»

Vidar sieht die Liste an. Deshalb steht Christensson nicht darauf.

«Oder wollen Sie lieber an den Pass-Schalter, Jörgensson?», K.-G. lacht, halb im Scherz, doch es ist auch eine subtile Drohung.

«Nein danke.»

«Gut. Dann raus mit Ihnen.»

6.

Er hätte Edvard am Sonntag treffen sollen, aber daraus wurde nichts. Stattdessen fuhr Isak mit Mama und Papa zum Gekås in Ullared zum Großeinkauf. Eine seltsame Sache, wenn man überlegt, dass der Weg dorthin weit ist und Benzin teuer.

Isaks Vater arbeitet als Automechaniker, wenn Isak also etwas gelernt hat, dann das mit dem Benzin. Sein Vater sagt, dass man deshalb die Partei der Moderaten wählen soll, weil sie die Einzigen sind, die finden, dass man Auto fahren sollte. Alle anderen wollen, dass man Fahrrad fährt oder irgendwas anderes Idiotisches.

Nach Ullared ist es weit. Das muss ziemlich viel Sprit kosten. Man sagt nicht «Benzin», sondern Sprit. Vielleicht ist im Gekås alles billiger, seine Mutter läuft immer mit viel «Aaah» und «Oooh» dort um die Shampoo-Flaschen, Putzlappen und Kerzen herum, aber wenn man alles zusammenrechnet und dann noch den Sprit dazu und die Tatsache, dass sie an dem Tag ins Restaurant gehen müssen, weil Mama es nie schafft, Butterbrote zu schmieren, ist es dann nicht trotzdem teurer, als wenn man nebenan beim ICA in Dalen einkauft?

Jedenfalls ist das der Grund, weshalb Isak letzten Sonntag seinen Onkel nicht sehen konnte, denn er war ja mit den Eltern im Gekås. Sonst ist er fast jeden Sonntag bei Edvard, damit seine Eltern einen Tag in der Woche zu zweit verbringen können.

Der erste Schnee ist gefallen und macht die Welt hell und still. Isak läuft dick eingepackt draußen durch den Schnee. Während er darauf wartet, dass Theo und Karl kommen, versucht er, schon mal einen großen Schneeball zu rollen. Es geht, ist aber schwer, weil der Schnee immer noch sehr pulverig ist.

Plötzlich muss Isak dringend aufs Klo. Er schlittert zurück zum Haus und öffnet die Eingangstür. Sein Vater ist nach Hause gekommen, es wird schon dunkel. Während er auf der Toilette sitzt und pinkelt, hört er die Eltern drinnen in der Küche reden.

Lovisa Markström, sagen sie.

Das kann ja wohl nicht Edvards Lovisa sein, die sie meinen. Isak muss an jenen Sommertag mit Edvard im Wald denken, als er zum ersten Mal die Geschichte vom Königsstein gehört hat. Ihm wird warm in der Brust. So fühlt es sich wahrscheinlich für Edvard an, wenn er an Lovisa denkt.

Leise schleicht er aus der Toilette und nimmt das kabellose Telefon mit in sein Zimmer. Er wählt Edvards Nummer und wartet.

Es klingelt. Edvard geht nicht ran.

Hinter ihm knarrt es. Isak dreht sich um, immer noch das Telefon am Ohr.

Da steht sein Vater.

«Isak, wen rufst du an?»

«Ich …»

«Isak, gib mir das Telefon.»

«Ich wollte nur anrufen», sagt er leise.

Sein Vater nimmt ihm das Telefon ab. In dem Moment kommt seine Mutter herein, ihre Augen sind gerötet.

«Ist etwas passiert?», fragt sie.

Als sie die Nummer sieht, verzieht sie den Mund.

«Ist Lovisa tot?», flüstert Isak. «Edvard ist bestimmt total traurig, ich wollte nur anrufen und fragen, wie es ihm geht.»

«Liebling», sagt sie und legt die Arme um ihn, jetzt versteht er gar nichts mehr.

Da klingelt es an der Tür.

Theo und Karl sind gekommen.

7.

Vidar hat auf der Ostseite Marbäcks geparkt. Es nieselt, und er kann sich das Chaos vorstellen, das gerade um den Tatort in Tolarp entsteht, weil die Techniker sich beeilen, ihre Funde zu schützen. Sie sind zu viert dort, zwei Kriminaltechniker und zwei Brandtechniker, und je weiter ihre Arbeit fortschreitet, desto klarer wird der Verlauf der Ereignisse.

Es hat alles in der Küche angefangen. Dort wird Lovisa Markströms Leben ausgelöscht, mit dem schwarzen Kerzenleuchter ihrer Eltern. Irgendwann zwischen halb zwölf und Mitternacht wurde ihr der Schädel eingeschlagen. Danach geht der Täter in die Garage und holt einen Benzinkanister.

Schnell steht das Haus in Flammen, ein Bild, das Vidar nicht vergessen wird. Jetzt ist es später Nachmittag, Vidars Tag war lang und hatte mit den Männern um Lovisa Markström zu tun. Keine besonderen Vorkommnisse.

Ein Ex-Freund, Jon-Erik Pettersson aus dem Simlångsdalen, konnte zunächst nicht ausfindig gemacht werden. Dann stellte sich heraus, dass seine Wohnung zwangsgeräumt wurde und er in Halmstad bei einem Freund wohnt. Zur Tatzeit hatte er schon geschlafen, was sein Freund bezeugen konnte, weil dieser von Jon-Eriks verdammtem Schnarchen aufgewacht war und ihn kurz vor Mitternacht still und zufrieden im Bett hatte liegen sehen. Jon-Erik hatte nichts Schmeichelhaftes über Edvard Christensson zu sagen, aber dafür einiges andere: Einsperren sollte man diesen verdammten Kerl. Der ist gefährlich. Ich habe gesehen, wie er vor etwa einem Jahr im B&B einen Typen halb totgeschlagen hat.

Ein Kollege vom Team Sportia hatte wiederum Tom Johansson, einem der Stammkunden vom Brooktorpsgården, ein Alibi gegeben. Tom hatte auch nicht viel Positives über Christensson beizusteuern. Und auch nicht viel anderes: Ich weiß nicht, war Lovisa jetzt mit dem zusammen?

Hampus Lundberg war bis nach Mitternacht auf einem Familienfest in Steninge gewesen und hatte erst dann die gut fünfundvierzig Minuten lange Heimreise angetreten, weshalb auch er als Täter ausgeschlossen werden kann.

Aber im Grunde geht es ja auch nicht darum, einem möglichen Täter auf die Spur zu kommen. Hier handelt es sich um die Überprüfung von Alibis, und in jeder Ermittlung bearbeitet man Dutzende davon, manchmal Hunderte. Das ist nur ein Teil des Ganzen.

Dennis Götmark wohnt in einer alten Bruchbude. Er ist ein Freund von Billy Oredsson, der offensichtlich vor einem Jahr Interesse an Lovisa Markström gezeigt hat. Am Sonntag soll sich Billy den ganzen Abend über bei Dennis aufgehalten haben, laut eigener Aussage traf er gegen sieben Uhr ein und blieb bis weit nach Mitternacht.

Dennis ist gerade eben nach Hause gekommen, die Fahrertür des Autos steht noch offen, und er schleppt zwei schwere Werkzeugkästen zum Hauseingang. Seine Arbeitskleidung hat weiße Flecken.

«Vidar?», sagt er erstaunt. «Lange nicht gesehen.»

Früher waren sie zusammen zur Schule gegangen, wie fast alle hier in der Gegend. Vidar erinnert sich, dass Dennis es beim Weitsprung auf über fünf Meter gebracht hat. Hatte er nicht auch einen Preis gewonnen? Doch, so war es.

«Ich will nicht lange stören», erklärt Vidar, «wie du siehst, bin ich im Dienst.»

Das fühlt sich komisch an, als würde man jemanden, den man gut kennt, auf eine Armeslänge von sich wegschieben.

«Geht es um den Brand?»

«Jo.»

«Das ist so schrecklich.» Dennis schüttelt den Kopf. «Stimmt es, dass sie ermordet wurde?»

Vidar holt seinen Notizblock heraus.

«Ich weiß es nicht. Die sagen uns nicht so viel. Meine Aufgabe ist es, die Aussagen aller Leute über diesen Tag zu sammeln. Vielleicht hat jemand etwas gesehen oder gehört, ohne zu wissen, dass es von Bedeutung sein könnte. Wir wollen einfach auf der sicheren Seite sein.»

Dennis schließt die Autotür.

«Komm rein. Ich koch uns einen Kaffee.»

Kurz darauf sitzen sie an einem kleinen Küchentisch, jeder mit einem geblümten Becher vor sich. Wer kauft eigentlich noch solche Becher? Die hat Dennis bestimmt von seiner Mutter oder so. Vidar gießt ein wenig Milch hinein.

«Wie läuft’s bei der Arbeit?», fragt Vidar.

Das ist die Standardfrage. Ein einfacher Anfang.

«Bescheiden. Du weißt ja, wie es ist.» Dennis’ breite Schultern sinken herab. «Nur noch Polacken und Jugos und der ganze Scheiß. Die letzten großen Bauvorhaben sind an die Firmen in der Stadt gegangen. Weißt du, als wir klein waren, da gab es hier im Dorf noch Jobs. Aber jetzt muss man rauf nach Dalen. Aber selbst da gibt es bald nichts mehr. Und bei dir?»

«Eigentlich bin ich ja wegen dieser Sache hier», antwortet Vidar, als wolle er ausdrücken, wie unangenehm er die Situation findet. «Kannst du mir sagen, was du am Sonntag gemacht hast? Also», fügt er hinzu, «vor allem am Abend.»

«Das war ein ganz gewöhnlicher freier Tag. Ich bin rumgefahren, hab ein paar Sachen erledigt, ein bisschen eingekauft und so, am Nachmittag, ehe die Läden zugemacht haben. Kann nicht sagen, dass ich was Besonderes gesehen habe. War alles wie immer.»

Vidar wartet.

«Und am Abend?»

«Oh, abends hatte ich Besuch.»

«Von wem?»

«Billy, weißt schon, Billy Oredsson.»

Vidar notiert den Namen.

«Wann kam er?»

«Gegen sieben oder acht. Wir haben zusammengesessen, Karten gespielt und Blödsinn geredet, ein paar Bier getrunken und so. Eigentlich ist er nur gekommen, um die zurückzugeben», fügt er hinzu und zeigt auf eine Bohrmaschine draußen in der Diele. «Die hatte er sich von mir geliehen. Aber dann ist er geblieben.»

«Wie lange ungefähr?»

«Och du, das weiß ich nicht. Auf jeden Fall bis nach Mitternacht.»

«Musstet ihr nicht am nächsten Tag früh aufstehen und zur Arbeit?»

«Doch.» Dennis zieht die Augenbrauen hoch. «Wieso?»

«Na ja, ich meine nur, dass man dann vielleicht ein bisschen früher nach Hause geht.»

«Ach so», sagt Dennis, senkt den Blick und windet sich ein wenig auf dem Stuhl. «Aber wir haben ja trotzdem noch ein paar Stunden Schlaf gekriegt. Das war kein Problem.»

«Billy hat Lovisa gekannt, oder?»

«Ja, hat er.»

«Ich habe gehört, dass er sie mochte, wenn du verstehst, was ich meine.»

«Hast du mit ihm geredet?»

«Ja.»

«Wie geht es ihm?»

Vidar denkt nach.

«Nicht so gut, vermute ich.»

«Ich glaube, dass er Lovisa richtig doll gemocht hat. Genau wie Jon-Erik oben in Dalen. Der war auch verdammt mies drauf, als ich ihn heute Morgen getroffen habe. Hast du mit dem auch geredet?»

«Ja, habe ich», antwortet Vidar. «Ich dachte … Edvard Christensson. Was weißt du über ihn?»

«Nicht sonderlich viel. Oder, na ja, hier kennen sich alle, aber eigentlich auch nicht. Also weiß ich wohl das, was alle wissen.»

«Und was ist das?»

«Er wohnt seit ein paar Jahren da oben in Skärkered. Deshalb sehe ich ihn nicht besonders oft. Er arbeitet im Altersheim in Dalen und manchmal in der Stadt bei B&B. Edvard ist chaotisch und aufbrausend, genau wie sein Vater.»

«Hast du das selbst schon mal mitbekommen?»

«Nein, aber ich kenne Leute, die es erlebt haben.»

«Ist er auch gewalttätig?»

«Bestimmt.» Dennis zuckt mit den Schultern. «Würde mich zumindest nicht wundern. Glaubt ihr, dass … Ich meine, sie waren doch zusammen, oder? Alle sagen, dass er es war.»

«Sagen sie das? Dann wissen sie mehr als ich.» Vidar nimmt einen letzten Schluck Kaffee. «Danke dir, Dennis. Ich werde mal wieder vorbeikommen. Karten spielen und Bier trinken klingt gut.»

«Wenn er es war», jetzt sieht Dennis Vidar ernst an, «dann hoffe ich, dass ihr den verdammten Kerl erschießt.» In seinem Blick ist nichts als Aufrichtigkeit zu erkennen.

Auf dem Weg zurück zum Auto streicht Vidar Billy Oredsson von seiner Liste.

Nur ein Name bleibt noch, ein schlaksiger Mann, einige Jahre älter als Vidar. Er hat öfter den Brooktorpsgården besucht, wo Lovisa gearbeitet hat, und sich angeblich etwas seltsam verhalten. Genauere Informationen gibt es nicht. Der Mann heißt Martin Thorsén, und als Vidar an seiner Tür in Skedala klingelt, öffnet Thorsén mit einem eingegipsten Arm.

Das sieht nicht gut aus, denkt Vidar misstrauisch.

Thorsén behauptet, gegen Abend bei seinen Eltern in Brogård zu Besuch gewesen zu sein, um ihnen mit ihrer Satellitenschüssel zu helfen. Er sagt, er sei dabei hingefallen und habe sich das Handgelenk gebrochen, deswegen habe er zwischen acht Uhr abends und halb fünf am Morgen in der Notaufnahme gesessen.

Vidar ruft die Notaufnahme des Krankenhauses in der Stadt an.

«Ja», bestätigt die Frau am Telefon, «den hatten wir hier. Eingeliefert um 19 Uhr 50, und dann wurde er um halb fünf am Morgen wieder nach Haus entlassen.»

«Okay, haben Sie vielen Dank.»

Und als Vidar Martin Thorsén nach Edvard Christensson fragt, kommt dieselbe Antwort, fast wie ein Echo: «Dieser verdammte Kerl. Von dem hat man doch schon gehört. Zur Hölle, ich hoffe, dass ihr den drankriegt, verdammt noch mal.»

8.

Isak hat Brillengläser, dick wie Flaschenböden. Als er sich selbst im Spiegel beim Optiker auf der Brogatan betrachtete, war er so entsetzt, als würde man langbeinige Weberknechte im Holzschuppen anschauen. Was er sah, war beinahe ekelhaft. Er war total entstellt.

Wenn sie in den Pausen Basketball oder Bandy spielen, dann fällt die Brille manchmal auf den Boden. Einmal ist sie auch kaputtgegangen. Als er sich beschämt herunterbeugte, um sie aufzuheben, hörte er Gekicher im Hintergrund.

Es gibt so viele Dinge, die Isak nicht an sich mag. Er kann nicht schwimmen. Er ist zwar nicht dick, aber ein bisschen pummelig. Aber das ist für ihn ja wohl nicht schlimmer als für andere Kinder, oder? Alle werden doch mal gehänselt, für irgendwas. Er hat gehört, wie seine Eltern einmal so über ihn gesprochen haben.

Manchmal trägt Isak in der Schule eine Perücke, die er gefunden hat, oder ein Furzkissen oder eine Clownsnase. Sonst lachen sie ja auch über ihn, aber eben, weil er er selbst ist. So wie wegen der Brille. Es ist besser, wenn die anderen über etwas lachen, was man absichtlich tut, als über das, was man einfach ist.

Das hat er niemandem erzählt. Nicht einmal Edvard.

Immerhin ist es für Isak nicht so schlimm wie für Nali, den merkwürdigen Jungen mit den seltsamen Klamotten, dem dunklen Haar und den braunen Augen, der voriges Jahr in die Parallelklasse gekommen ist. Er konnte kaum Schwedisch, und alle kriegten zu hören, dass sie sich von ihm fernhalten sollten. Einmal hat er einen Lehrer geschlagen, ein andermal einen Stein durchs Klassenzimmerfenster geworfen, sodass die Glassplitter über die Bänke regneten. Am nächsten Tag hat er Torbjörn mit einem Messer gejagt. Außerdem verhält er sich jedes Mal, wenn er ein Flugzeug hört, total seltsam.

Nali hat keine Eltern. Im Vergleich zu Isak geht es ihm also viel schlechter. Isak hat zwar einen Vater, der oft weg ist, aber es gibt ihn wenigstens.

Auch das lernt man: dass es immer jemanden gibt, dem es noch schlechter geht. Man muss also trotz allem dankbar sein.

Isak ist es eigentlich gewohnt, dass die Leute ihn komisch ansehen, aber jetzt ist es anders. Jetzt wirken manche fast ängstlich. Andere schauen ihn an, als wäre ihm ein großes Unglück widerfahren.

Theo und er radeln über die glitschige Brücke über den Fluss in Richtung Tolarp. Das Wasser schießt unter ihnen hindurch, und die starke Nachmittagssonne macht alle Schatten lang.

Das Gebiet ist abgesperrt, man kann nicht dicht herankommen.

«Wow», flüstert Theo. Die Mütze unter dem Fahrradhelm sitzt schief, und seine Augen sind groß und rund. «Guck mal.»

Sie sind so nah herangefahren, wie sie es sich getraut haben. Vom Haus ist nur eine schwarze Ruine übrig, und das von Raureif überzogene Gras ist von der Asche grau. Das Absperrband flattert im Wind. Soweit Isak erkennen kann, sind sie allein hier. Wahrscheinlich haben alle schon alles gesehen, was sie ertragen können.

«Das sieht gruselig aus», sagt Isak.

Über die Fahrräder gelehnt, stehen Isak und Theo vor einem Ort, an dem der Sensenmann tatsächlich umgegangen ist. Vielleicht sehen Theos Augen deshalb so aus, er wirkt fasziniert und angstvoll zugleich.

Und Isak?

«Also, wenn ein Haus anfängt zu brennen», sagt Theo, «wie lange dauert es wohl, bis es ganz runtergebrannt ist? Ich glaube, zehn Sekunden. Was glaubst du?»

«Bisschen länger.»

«Fünfzehn?»

Isaks bester Freund kennt sich nicht gut aus mit der Uhr, obwohl er schon acht Jahre alt ist. Aber das mit dem Feuer ist eine schwierige Frage, und vielleicht hat Theo recht, jedenfalls würde man dann nicht weit kommen.

Der Anblick des niedergebrannten Hauses verursacht etwas Dunkles und Kaltes in seinem Bauch. Ein Loch, das Isak blinzeln lässt, um nicht plötzlich loszuheulen.

«Weißt du, wie es Edvard geht?», fragt Theo.

«Nein.»

«Hast du ihn nicht gesehen?»

«Ich werde ihn am Sonntag sehen.»

«Jacke meint, die Leute würden komische Sachen über ihn erzählen.»

«Was für Sachen?»

«Dass er …» Theo kratzt mit seinem Tretorn-Gummistiefel in der Erde. «Ich weiß nicht genau. Aber ich glaube, irgendwas ist nicht in Ordnung.»

«Lovisa ist tot. Edvard ist bestimmt supertraurig.»

Es muss so schrecklich für ihn sein, Lovisa zu verlieren. Fast als ob er selbst Edvard verlieren würde. Isaks Hals schnürt sich zusammen.

«Sie sagen auch Sachen über dich.»

«Über mich?» Isak sieht seinen Freund an. «Was denn?»

«Hallo, Jungs.»

Jemand taucht hinter ihnen auf, und sie machen Platz. Es ist Göran Antonsson, der Elvira ausführt, eine braun-schwarze alte Schäferhündin mit müdem Blick. Angeblich war Görans Frau Ulrika die Erste, die den Brand bemerkte.

«Was macht ihr hier?»

«Man kommt da nicht vorbei», antwortet Isak, und als Göran ihn erkennt, passiert es wieder.

Der Alte erstarrt und verzieht den Mund, sein Blick beginnt zu flackern, als wolle er vermeiden, ihn anzusehen.

«Aha», sagt er. «Ach so. Ja, ich verstehe. Solltet ihr nicht besser nach Hause gehen, Jungs? Komm, Elvira.»

Der Hund folgt Göran gehorsam entlang der Absperrung.

«Ich will auch einen Hund», sagt Theo.

Ich will, dass hier niemand mehr stirbt, denkt Isak.