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Krötenzwerg – so nannten ihn seine Mitschüler, weil Jens ein kleiner und zurückhaltender Junge war. Aber keiner von ihnen hatte den Mut, den düsteren Wald am Dorfrand zu betreten, nur Jens traute sich das. Und was er dort erlebte, reicht für viele Erzählabende. Hinter den dunklen Bäumen verbergen sich geheime Ländereien, Fabelwesen treiben ihr Unwesen, sogar die Götter bekriegen einander. Und es gibt nur einen, der diese Welt in Ordnung und zum Frieden bringen kann. Ungeahnte Kräfte entwickelt Jens, neue Freunde gewinnt er und sogar das eigene Familienleben krempelt er völlig um. Aber wird es ihm tatsächlich gelingen, das Wundergetränk, den MET, aus Helheim zu entführen? Dieses Buch handelt von den verborgenen Schätzen, die sich hinter den Äußerlichkeiten seiner Protagonisten verbergen. Es zeigt, wohin die Sehnsucht nach Unbekanntem und die Überwindung der Angst, der Mut aufzubrechen und Neues zu versuchen, führen können. Es ist ein Gleichnis für die inneren Werte, aber auch zugleich ein Beispiel für die Großartigkeit und den Mut der menschlichen Forschernatur. Die Reise führt in eine Traumwelt, in der nicht nur der Starke gewinnt, sondern der, der seinen Verstand, sein Herz und seinen Willen für Gerechtigkeit, Frieden und ein menschliches Miteinander einsetzt. Spannend zu lesen, mit zahllosen überraschenden Wendungen versehen, ist es nicht nur für Jugendliche empfehlenswert.
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Seitenzahl: 251
Veröffentlichungsjahr: 2013
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© 2013 Kwasir
Titelbild von Junimond
ImprintDer magische MetKwasirpublished by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.deCopyright: © 2013KwasirISBN 978-3-8442-4542-4
Inhalt
Der Alltag
Der Schulweg
Der Aufsatz
Der Unfall
Dwalin
Die Verwandlung
Der Silberhain
Der Baum des Wissens
Kama, der Jäger der Liebe
Agni, der Fürst des Feuers
Rhabur, der Tyrann
Sarja, die schöne Schneiderin
Der Kampf
Der Entschluss
Die Suche
Wafudhar
Jamuna
Drahs Ritt
Sofos Rat
Die Rettung
Die Nereide
Brontee
Niflheim
Inte Nattenties
Der Wald war tabu. Verboten. „Alles Böse kommt aus dem Wald“, so sagte man seit Generationen im Dorf. Wann immer ein Unglück passierte: „Der Wald hat es ausgespuckt!“ Wann immer ein Mensch verschwand: „Der Wald hat ihn verschlungen!“ Sein Rauschen war anders als das Rauschen üblicher Wälder. Sein Grün war finsterer, sein Geruch süßlicher – anlockend irgendwie. Es heißt, dass bereits über hundert Menschen willenlos dem Duft gefolgt waren und nie mehr gesehen wurden.
Der alte Förster war der Einzige, der den Wald liebte. Er wohnte auch darin. Die Einwohner Grechems hassten und fürchteten den Alten, weil er sich mit der grünen Finsternis verbrüdert hatte. Ein Kind soll er dem Wald geopfert haben, um von ihm angenommen zu werden. Jetzt heißt es, er sei untrennbar mit dem Gehölz verbunden und könne nie mehr hinaus.
Nur einmal im Jahr betraten die Bürger freiwillig den Wald - am Waldfesttag. Dann sollte alles Böse für einen Moment überwunden werden. Fackeln wurden angezündet - am helllichten Tag. Lieder wurden gesungen. Man fasste sich bei den Händen und machte sich Mut. Angeführt vom Bürgermeister zog die Gemeinschaft in einer langen Reihe quer durch den Wald. Alle gingen den kaum mehr erkennbaren Hauptweg entlang, am alten Forsthaus vorbei bis zum erlösenden Licht der anderen Seite. Sie sangen laut, riefen und machten Lärm. Sie schlugen auf Kochtöpfen herum. Die Dorfältesten voran, dann die Mütter mit ihren Kindern und schließlich die erwachsenen Männer. Viele hatten ihre Gewehre geschultert. Sie waren stärker als der Wald – für einen Moment.
Nur Oma Ilse ging nicht mit. Kein Jahr, seit Jens sich erinnern konnte, nahm sie an diesem Spektakel teil.
Jens ging in die zehnte Klasse. Er liebte die Natur. Er motivierte seine Mitschüler durch allerlei Aktionen zum Umweltschutz und überwachte die Krötenwanderung. Letzteres hatte ihm den SchimpfnamenKrötenzwergeingebracht. Jens war sehr klein. Und, da es an jeder Schule die Dummköpfe aller Klassen sind, die, um von ihreneigenenFehlernabzulenken, den Spott gezielt auf jene mit sichtbaren Gebrechen lenken, hatte Jens eben auch unter diesen zu leiden. Es gab Tage, da wäre er für bloße körperliche Gewalt dankbar gewesen.
Jens lebte bei seiner Oma. Sein Vater war ein Unbekannter und seine Mutter bei seiner Geburt verstorben. Er kannte sie nur von alten Photos, die Oma Ilse in einem Schuhkarton im Wohnzimmer aufbewahrte. Eines der Bilder hatte er liebevoll in seinem Zimmer an die Wand gehängt. Er mochte das Gesicht seiner Mutter. Auch wenn er sie nie gekannt hatte, hatte sich ihr Gesicht, ja ihr ganzes Wesen tief in seine Vorstellung und seine Träume geprägt. Auch seinen Opa kannte Jens nicht. Dass er nicht in einer richtigen Familie aufwuchs, störte ihn nicht. Von seiner Großmutter wurde er nach Strich und Faden verwöhnt, denn auch, wenn eine Oma die Mutterrolle übernehmen muss, bleibt sie immer noch Oma.
Das Haus, in dem die beiden lebten, war der Rest eines alten Gehöfts. Eigentlich waren nur noch vier Zimmer bewohnbar, aber diese waren stets so gepflegt, dass man sprichwörtlich vom Boden hätte essen können. Die Einrichtung war rustikal. Schwere alte Bauernschränke und massive Eichenmöbel prägten das Bild. Solche Möbel waren typisch für diese Gegend. Die Stube wurde von einer schlanken Stehlampe beleuchtet, aus deren trichterförmigem Messingkopf die Glühbirnen wie an Krakenarmen hingen. Direkt daneben stand das Sofa mit seinen vielen verschiedenen Kissen und der karierten Wolldecke über der Lehne. Es war der beste Ort zum Lesen. Jens allerdings machte wenig Gebrauch von dieser Beschäftigung. Zur Mitte des Raumes führte ein neuer hellgrüner Läufer. Jens hatte ihn seiner Oma zum letzten Geburtstag geschenkt. Es war ihr dreiundsechzigster. Auf dem Boden unter dem Esstisch, an welchem acht Personen bequem Platz finden würden, sorgte ein grobgeknüpfter Teppich für Wohnlichkeit. Ein Kruzifix, ein schlechtes Ölgemälde, worauf ein Ochsenkarren abgebildet war und zwei kleinere Spiegel bevölkerten die sehr ornamentale Tapetenlandschaft. Omas Schlafzimmer war klein und bestand eigentlich nur aus ihrem Bett, es war ein großes französisches – ihr ganzer Stolz.
Die Diele entlang zu Jens’ Zimmer tickte die schlichte Standuhr satt vor sich hin. Sein eigenes Reich war groß. Ein Jugendzimmer mit antiken Akzenten: Der Teetisch, die Wäschekommode und vor allem der Sekretär mit dem Geheimfach. Jens liebte dieses Möbel und wie in einem Tabernakel bewahrte er darin sein Allerheiligstes auf. Für den Schulkram und das alte Spielzeug war genug Platz in den blauen Sperrholzmöbeln. Der Schreibtisch war immer überfüllt und unaufgeräumt und meistens, wenn er daran saß, blickte er zum Fenster hinaus in seine Gartenlandschaft und ließ sich durch Gedankenspiele von den Hausaufgaben ablenken.
Neben diesen Zimmern gab es noch das „dunkle Zimmer.“ Jens mochte den Raum unter dem Dachboden nicht. Er hatte kein Fenster und kein Licht. Es lag kein Strom unterm Dach. Alles, was man nicht in der Wohnung gebrauchen konnte, wurde hier aufbewahrt. Der Raum war das schlechte Gewissen des Hauses. Als kleines Kind hatte Jens sich gefürchtet hineinzugehen. Wenn seine Oma ihn dennoch bat etwas herunterzuholen, schlich er mutig vor bis an jenen großen knorrigen Tisch, zu welchem das wenige Licht, das einfiel, wenn man die Tür aufmachte gerade noch gelangte. Dahinter gähnte die Finsternis. Dorthin ging er selbst dann nicht, wenn seine Oma ihn mit einer Taschenlampe bewaffnet hatte. Die Dielen wippten und knarrten hier oben und erzeugten beim Laufen ein leicht schwebendes, unsicheres Gefühl. Heute noch überkam ihn manchmal ein unbegründeter Schauer, wenn er das dunkle Zimmer betrat.
Die übrigen Räume, außer dem Bad und der Küche natürlich, waren verfallen und unbewohnbar. Der Zustand des Hauses war allerdings nichts Außergewöhnliches in Grechem. Der Ort war eine Kleinstadt, die ihren Ursprung in den umliegenden Bauernhöfen hatte. Die Höfe waren zwar bewohnt, aber Landwirtschaft wurde kaum noch betrieben.
Jens machte das Beste aus dem Leben abseits der Stadt. Er liebte es, die Landschaft nach seinen Vorstellungen zu formen und hatte darin bereits einiges Talent entwickelt. In den letzten Wochen war der dunkelblonde Krauskopf damit beschäftigt, ein riesiges Loch im Garten auszuheben. Kaum kam er nach Hause, ging er schon wieder mit Spaten und Schaufel bewaffnet hinters Haus. Er wollte ein Biotop bauen, um alle Rätsel der Natur zu verstehen. Vielleicht würde er es sein, der eines Tages die Geheimnisse des Waldes ergründet.
Richtige Freunde hatte der Außenseiter kaum. Eigentlich gab es da nur Monika, die Nachbarstochter. Ja, Monika war am ehesten so etwas wie ein Freund. Sie hatte ihn nie gehänselt wegen seiner Größe und oft hatte die Klassenkameradin ihm auf dem Heimweg Trost zugesprochen oder auf dem Hinweg Mut gemacht. Sie teilte sogar ein Geheimnis mit ihm: Eines Morgens, sie kannten sich gerade erst eine Woche, kam sie völlig verheult aus dem Haus. Ihre Mutter brachte sie bis zur Tür und rief ihr vorwurfsvoll nach: „Das kommt eben von deinem dummen Aberglauben, mein Fräulein. In dem Alter kann man doch nicht mehr so naiv sein. Ich wünsche keine Diskussion! Du gehst jetzt zur Schule und siehst zu, wie du es erklärst.“
Jens beobachtete die Szene vom Bürgersteig. Er verstand nicht, was da los war. Doch dann sah er im Näherkommen, dass Monika einen fürchterlichen Ausschlag auf der Lippe hatte. Dicke gelbe Blasen. Natürlich fragte er nach und nach langem Zögern berichtete sie ihm schluchzend, sie habe im Glauben an einen reichen Märchenprinzen einen Frosch geküsst und müsse nun wenigstens eine Woche mit diesem Ekelherpes leben. Jens gab sich Mühe nicht zu lachen und versuchte sie zu trösten. Er musste schwören, es niemals jemandem zu verraten, wenn er mit ihr befreundet sein wolle. Und tatsächlich hatte er bis heute nie ein Wort darüber verloren und wollte es auch in Zukunft nicht tun.
Die beiden hatten einen weiten Schulweg, da sie außerhalb wohnten und kein Schulbus fuhr. Sie hätten die Strecke zwar abkürzen können, aber dafür blieb nur der Weg durch den gruseligen Wald. Also standen sie lieber jeden Morgen eine halbe Stunde früher auf und nahmen die Umgehungsstraße am Grechmer Busch entlang.
Wie Granaten schlugen die dicken Hagelkörner auf die schutzsuchenden Menschen nieder. Eine alte Frau lag verletzt am Boden. Sie blutete. Niemand eilte ihr zur Hilfe. Alle flohen panikartig in Hauseingänge, Autos oder unter Bushaltestellen. Seit einer halben Stunde heulte unaufhörlich das Martinshorn. Dann endlich war es vorbei. Zögerlich, misstrauisch wagte man sich vor, die Verletzte zu bergen. Hämisch lachte der Himmel die Szene aus, so als wäre nichts gewesen.
An diesem Freitag waren die Schüler aufgerufen, ein Referat zum Thema „Tierverhalten und Klimaveränderung“ zu halten. Jeder hatte am Tag zuvor im Losverfahren einen Stichwortzettel gezogen. „Erdbeben“ war Jens‘ Aufgabe. Seine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Den ganzen Donnerstag saß er da und überlegte, was er wohl schreiben könnte. Das Erdkundebuch lieferte nur eine magere Ausbeute an allgemeinen Informationen, z. B. über die Verschiebung der Erdplatten usw. Doch das interessierte Jens nicht. Nein, er fragte sich, warum im letzten Monat hier, nur fünfzig Kilometer entfernt im Örtchen Beikirch, die Erde gebebt hatte. Noch nie - jedenfalls solange es Menschen in dieser Gegend gab - hatte es hier Beben gegeben.
Jens wollte den großen Zusammenhang der Naturgewalten ergründen. Er suchte die Ursachen für die vielen außergewöhnlichen Naturphänomene der letzten Jahre. Wenn das Wetter so wie überall gewesen wäre, dann hätte er sich tiefergehende Gedanken sparen können. Er hätte sich der allgemeinen Meinung angeschlossen. Aber Jens wusste es besser. Er hatte seit drei Jahren alles aufgeschrieben. Damals im August schneite es stundenlang dicke Flocken vom Himmel. Aber nur in Grechem. Nirgends sonst. Dann im Winter des gleichen Jahres: am Heiligen Abend 25 Grad über Null! Er hatte auch aufgeschrieben, als der kleine Hügel am anderen Stadtrand im Frühjahr abrutschte und die Fahrbahn für Tage blockierte. Erst zu Anfang dieses Jahres knickte ein Sturm zahlreiche Bäume und Straßenlaternen wie Strohhalme um. Zwei Autos wurden begraben und wieder hatten die Nachrichten nichts aus anderen Städten gemeldet. Nein, hier in diesem Ort musste etwas Besonderes vorliegen. Vielleicht, dachte er sich, hatte Grechem ein eigenes Mikroklima. Er wusste nicht, was er schreiben sollte. Er glaubte nicht, dass daran allein der Wald schuld war.
Oma Ilse war in diesem Falle keine große Hilfe. Sie hatte ihre ganz eigene Erklärung für diese Phänomene. Als Jens sie fragte, was sie von der Entwicklung in Grechem und dem Beben in Beikirch halte, nahm sie ihn bei den Schultern, blickte ihm tief in die Augen und seufzte: „Die Götter führen wieder Krieg, mein Junge. Wenn das so weitergeht, wird alles zerstört!“ Sie sagte das so unheimlich, so ernst, dass es Jens kalt den Rücken hinunter lief. Oma Ilse drehte sich um, bekreuzigte sich und ging zu Bett. Sie pflegte nachmittags eine, manchmal auch zwei Stunden zu schlafen. Jens stand noch ein paar Sekunden wie betäubt im Wohnzimmer, dann schüttelte er sich, lachte kurz und lief in sein Zimmer.
Irgendwie hatte er dann doch bis heute morgen etwas zusammengeschrieben und wartete nun vor dem Nachbarhof auf Monika.
Die Tür ging auf und sie kam ihm entgegen. „Morgen“, sagte Jens, „und, alles klar?!“
„Geht so“, antwortete sie und hatte dabei diesen schmollenden Ausdruck im Gesicht, der sich jedes Mal einstellte, wenn Monika mit etwas nicht zufrieden war.
„Wieso, was ist denn?“, fragte er.
„Mein Referat - ich hab keins geschrieben. Ich hab keine Ahnung von dem Thema. Hoffentlich komm ich heut nicht dran.“
„Sie wird’s eh einsammeln. Was ist denn dein Stichwort?“
Monika wollte antworten. Dann stockte sie. Sie wollte ihn nicht verletzen.
„Sag schon“, forderte er.
Sie stotterte: „Kr- Kr- Krötenwanderung.“
Jens zuckte zusammen. Er blickte auf den Boden. Wurde rot. Dann fasste er sich.
„Macht doch nichts. Da kenn ich mich aus. Komm ich helfe dir. Das schreiben wir noch schnell.“
„Supi“, rief sie – sie rief immer supi, das war so eine Art Markenzeichen, wie das Schmollgesicht, nur umgekehrt - „Supi, komm wir gehen in die Scheune, da ist ein Tisch!“
Die beiden rannten, um nicht von Monikas Eltern entdeckt zu werden, um den Hof herum zur Scheune und setzten sich an den schäbigen Tisch. Monika packte ihre Sachen aus.
„Also. Überschrift und Datum hab ich schon“, kicherte sie, „diktier einfach. Aber langsam, so dass ich mitkomme.“
Jens überlegte einen Moment, suchte erst nach ein paar Formulierungen, so dass der Einstieg etwas holprig klang, aber nach etwa fünf Minuten war er ganz in seinem Element. Er diktierte das perfekte Referat über mehr als zwei Seiten.
„Mann, was du alles weißt“, sagte Monika als sie ihre Sachen wieder einpackte. Dann schaute sie auf die Uhr: „Mein Gott schon so spät! Das schaffen wir nicht mehr!“
„Wir können doch durch den Wald laufen“ schlug Jens vor, „dann schaffen wir’s vielleicht doch noch.“
„Bist du verrückt! – Mann, das ist doch Selbstmord!“
„Komm, Monika, du fürchtest dich doch nicht wirklich vor alten Bäumen - oder? Die spinnen doch alle!“
„Aber der Förster! Du weißt doch, was man sagt.“
„Quatsch“, entgegnete Jens „das sagen die Leute nur, weil man ihn nie sieht. Weil er nie in die Stadt kommt. Ich frag mich, wie der sich ernährt. Vielleicht lebt er ja gar nicht mehr. Du brauchst keine Angst zu haben, Monika, wenn der wirklich ein Mörder wäre, säße der längst im Gefängnis! - Und außerdem, wir können ja ganz schnell am Forsthaus vorbeirennen, der alte Knacker würde uns sowieso nicht kriegen.“
Schließlich ließ Monika sich überreden. Und die beiden liefen los.
Als sie die ersten Schritte im Wald gegangen waren, zog sich der Himmel plötzlich zu. Ein lautes Krachen kündigte den Platzregen an. Das Wasser fiel in Mengen auf das Laubdach und verursachte eine unheimliche Geräuschkulisse.
„Wenigstens sind wir hier etwas geschützter als auf der Straße“, sagte Jens.
„Aber es ist so dunkel“, entgegnete Monika.
Tatsächlich ließen die dunklen Gewitterwolken und das dichte Grün kaum mehr Licht hindurch. Der Regen wurde heftiger und auch die Bäume konnten jetzt den Großteil nicht mehr zurückhalten. Monika steckte ihre langen blonden Haare hinten in den Kragen ihrer weißgepunkteten Sommerbluse, um sie zu schützen. Jens liebte es, wenn sie mit ihren Haaren hantierte. „Ich sehe gleich aus wie ein Schwein“, wütete sie und bekam wieder das Schmollgesicht. Sie trug weiße Söckchen und hochmoderne helle Plateauschuhe und mit jedem Schritt versanken diese im matschigen Boden. Jens hingegen hatte keine Sorgen mit seiner Kleidung. Er trug eine seiner geliebten kniekurzen Hosen und ein altes Holzfällerhemd. Socken hatte er im Sommer nie an und seine alten Treter hielten eine Menge aus.
Das Einzige, was er fürchtete, war, dass Monika ihm die Schuld für alles geben würde. Aber dazu blieb keine Zeit, und sie dachte wohl offensichtlich auch gar nicht daran, denn von weitem war schon das alte Försterhaus zu sehen. Eines der Fenster schien erleuchtet. Der Puls der beiden erhöhte sich ebenso, wie das Tempo ihrer Schritte. „Komm, lass uns schnell vorbeigehen!“, sagte Jens. Sein Mut von vorhin war offensichtlich gewichen. Sie rannten los. Als sie unmittelbar am Haus waren, donnerte und blitzte es ohne Unterbrechung, als wäre der Jüngste Tag gekommen. Die Kinder rannten als sei der Teufel hinter ihnen her. Monika blieb ein wenig zurück, so dass Jens sein Tempo verlangsamen musste. Er drehte sich um.
„Komm, komm schon!“, schrie er gegen das Gewitter an. In diesem Moment ging die Tür des Hauses mit einem Krachen auf und der alte Förster stand auf dem Weg und blickte Monika nach. Die Augen der riesigen Gestalt blitzen unter seinem dunklen Hut hervor.
„Aahh!“, schrie Monika und lief so schnell sie konnte.
„Beeil dich!“, brüllte Jens nicht sehr hilfreich. Dann fasste er sie bei der Hand und die beiden rannten unter dem ohrenbetäubenden Lärm den gesamten Weg durch den Wald. Als sie aus der Dunkelheit hervortraten und die letzten Meter zur Schule nahmen, klärte sich das Wetter ebenso plötzlich wieder auf, wie es gekommen war.
Als Jens und Monika den Schulhof betraten, begann das große Gekicher. Sie hatten nicht bemerkt, dass sie in der Aufregung gemeinsam nebeneinander gingen und sich immer noch bei der Hand hielten. „Moni geht mit Krötenzwerg, Moni geht mit Krötenzwerg!“, schallte es aus allen Mäulern. Jens schoss das Blut in den Kopf. Er wäre am liebsten verschwunden, aber wie gelähmt bliebt er stehen. Monika riss sich panikartig von ihm los, da ertönte die Schulklingel zur ersten Stunde und sie lief schnurstracks in den Klassenraum.
Es war der längste Schultag, den Jens je erlebt hatte. Die Stunden wollten kein Ende nehmen. Mathematik, Deutsch, Englisch gleich zwei Stunden lang und schließlich Erdkunde. Hier wurden die Referate zu den Projekttagen eingesammelt, jedoch nicht ohne zuvor zwei oder drei Schüler auszuwählen, die ihre Arbeit vortragen mussten. Frau Janek, die Klassenlehrerin, pirschte wie ein auf Beutejagd befindliches Raubtier durch die Reihen. Ihre Augen flogen über die Köpfe der Kinder, wobei sie einige ihrer Opfer etwas länger fixierte. Dann schoss sie los: „Susi, Michael, Jens! In dieser Reihenfolge!“
Es hatte ihn getroffen. Ausgerechnet heute. Sonst machte es Jens niemals etwas aus zu referieren - aber ausgerechnet heute! Er konnte ja überhaupt keinen klaren Gedanken fassen. Susi stand bereits vorne und begann mit ihrem Vortrag. Irgendetwas über obere und untere Luftschichten. Mehr nahm Jens nicht wahr. Er konnte nur daran denken, dass auch er gleich vorne stehen muss, mit dem Rücken zur Tafel. Er war sowieso nicht zufrieden mit seinem Referat und heute, heute würden sie ihn zerreißen. Furchtsam blickte er durch den Klassenraum. Die Rabauken aus der hintersten Reihe zogen ihm Grimassen und deuteten mit dem Daumen nach unten. Jens blickte wieder nach vorne. Irgendwie war schon Michael mit seinem Vortrag an der Reihe, ohne dass Jens den Wechsel bemerkt hatte.
„Autsch!“ Eine Krampe traf Jens ins Genick. Reflexartig drehte er sich um. Er blickte Ulrich an. Der warf seine langen feuerroten Haare in den Nacken und fuhr sich mit dem Daumen langsam quer über den Hals. Jens schluckte. Er hatte nicht bemerkt, dass er bereits wiederholt aufgefordert worden war, nach vorne zu treten und sein Referat zu beginnen. Frau Janek stand jetzt direkt vor ihm. In gewollt jugendlicher Manier hockte sich die Mittfünfzigerin mit einer Pobacke auf Jens Tisch und schlug irgendwelche Zettel lässig in ihre Handfläche. „Herr Kroll braucht wohl eine Extraeinladung, wie?!“, giftete sie ihn an. „Würdest du dich jetzt bitte nach vorne bequemen und anfangen!“ Jens stand auf, nahm seine Zettel in die Hand und schlich zur Tafel. Er drehte sich um und stierte auf seine Blätter. Er zitterte und die Schrift verschwamm vor seinen Augen. Er sortierte die Zettel immer wieder um, so als suche er den Anfang.
„Fang schon an, du Pfeife!“, grölte es von hinten, doch Jens nahm überhaupt nichts war. Die Stimmen im Klassenraum schienen ihm ein einziges Rauschen im Ohr zu sein. Sein Kopf war leer und voll zugleich und verzweifelt blickte er immer wieder auf seine Arbeit, doch er konnte nichts entziffern. Es pochte und dröhnte in seinem Kopf und plötzlich, ohne dass er es wollte, kamen ihm Omas Worte in den Sinn. Mit der Wut des Beleidigten schrie er in die Klasse: „Die Götter führen wieder Krieg!“
Schon von weitem sah er Ulrich und dessen Kumpels. Sie warteten am Ausgang des Schulhofes auf ihn. Er ahnte schon, was kommen würde. Vorsichtig ging er weiter dem Gittertor am Ende des Hofes entgegen. So, als würde er sie nicht sehen, versuchte er sich an der Bande vorbeizuschleichen. Da packte ihn der ungepflegte Rotschopf beim Arm und riss ihn herum. Er hob ihn hoch und presste ihn mit dem Rücken gegen das Eisengitter des Tores. Dann drückte Ulrich seine Stirn gegen die Stirn von Jens und brüllte ihn unter Auswurf seines übelsten Atems an: „So! Jetzt vergreift sich der Krötenzwerg schon an kleinen Mädchen, was?! Ist ja ekelhaft. So was sollte bestraft werden!“
Die Bande lachte schallend. Jens bettelte: „Lass mich runter, bitte“, doch der bullige Tyrann dachte nicht daran, sein Opfer loszulassen. „Runter, runter, runter, runter ...“, äffte er Jens nach und gab ihm bei jedem „runter“ eine Ohrfeige. „Es gibt Völker, die Zwergenwerfen machen!“, lachte er hämisch und schubste Jens in die Büsche neben dem Tor. Jens wollte sich gerade aufrappeln und so schnell wie möglich abhauen, als die Meute bereits langsam auf ihn zu kam und bedrohlich skandierte: „Zwer-gen-wer-fen! Zwer-gen-wer-fen!“ Endlich stand er auf den Füßen und rannte was das Zeug hielt in Richtung Wald. Ulrichs Leute versperrten ihm die anderen Richtungen.
„Ja, lauf nur in den Wald, wo Zwerge hingehören!“, rief einer ihm nach. Als Jens schließlich im Wald verschwand, hörte er noch Ulrich rufen: „Komm ja nicht wieder raus! Wir warten hier auf dich.“
Offenbar - und dies war Jens Glück - hatten die Großmäuler nämlich Angst davor, in den Wald zu laufen. So war Jens zunächst eine Gefahr los, jetzt musste er sich nur der nächsten stellen und unbehelligt am Forsthaus vorbeikommen. Dieses war nach wenigen Minuten bereits in Sichtweite und Jens wurde erneut von einem mulmigen Gefühl ergriffen. Er fühlte eine Art von Furcht, die er bis dahin noch nicht kannte. Ständig fixierte Jens mit seinen Blicken die Tür des Hauses und so bemerkte er die Kuhle im Boden erst, als er hineingetreten war. „Au!!“, schrie er laut. Er war mit dem Fuß umgeknickt und fiel hin. Sofort stand er auf, konnte aber nicht richtig auftreten.
Er humpelte einige Schritte und lehnte sich dann an einen Baum. „Mist“, fluchte er „tut das weh!“ Er zog seinen Schuh aus und betrachtete den schmerzenden Knöchel. Wie er wieder aufblickte, blieb ihm fast das Herz stehen. Vor ihm stand der riesige Alte und blitzte ihn mit seinen funkelnden Augen an.
„Warte!“, befahl die kräftige Stimme. Jens wusste nicht, wie ihm geschah. Der Förster hob ihn hoch und trug ihn ins Haus. Die Stube war dunkel und voller alter Möbel. Es roch nach nassem Holz und Leder. Mit dem Fuß schlug der Alte die Türe hinter sich zu und setzte Jens auf einen Holzstuhl an den Tisch. „Warte!“, wurde Jens wieder ermahnt. Der Förster verschwand im Nebenzimmer und Jens hörte, wie er mit irgendetwas klapperte. Jens blickte sich noch halb im Schock um. Über der Haustür hing ein riesiges Hirschgeweih und mehrere kleine waren über die Wände verteilt neben allerlei Spiegeln, Fotos und Gemälden in antiken Rahmen. Alles hing quer durcheinander und schief an den Wänden. Man hatte den Eindruck, dass im nächsten Augenblick alles in sich zusammenstürzen müsse. Nur ein Foto schien besonders herausgehoben, weil sich im näheren Umkreis nichts anderes befand. Es hing gerade. Es war ein sehr, sehr altes Hochzeitsfoto. Als Jens es näher betrachten wollte, betrat der Förster wieder den Raum. Er hielt eine weiße, mit Wasser gefüllte Emailleschüssel in den Händen und stellte sie auf dem Esstisch ab. Dann zog er einen Hocker hervor, setzte sich Jens gegenüber und nahm die arg verbeulte Schüssel auf seine Knie. „Zeig mal her“, raunzte er, nahm Jens’ Fuß hoch und reinigte ihn. Dann betrachtete er den Knöchel genauer und drückte an verschiedenen Stellen herum. „Tut das weh?“, fragte er.
„Etwas“, antwortete Jens.
„Nur leicht verstaucht“, murmelte der Alte, „ruh dich etwas aus und halt das hier drauf“, fuhr er fort, indem er ein nasses Handtuch um den Fuß wickelte. Dann stand er auf, stellte die Schüssel wieder auf den Tisch und zog seinen dunklen Mantel aus. Er hängte ihn an das Hirschgeweih über der Tür und kramte in den Taschen. Schließlich zog er ein schwarzgrünes Holzkistchen hervor, öffnete es und entnahm eine dunkle kleine Zigarre. Dann packte er das Kistchen zurück und durchwühlte von neuem die Manteltasche. Als er die Streichhölzer gefunden hatte, zog so etwas wie ein Lächeln über sein zerfurchtes Gesicht.
Unter leisem genüsslichen Ächzen bewegte er sich in die andere Ecke des Zimmers und ließ sich in einem alten ausgefransten Ohrensessel nieder. Mit einem Holzhebel an der Seite klappte er eine Fußstütze hervor und brachte sich in eine leicht liegende Position. Dann zündete er seine Zigarre an. Er drehte sie immer wieder über der Flammenspitze und machte viele kleine Züge bis eine helle Glut entstand und die Flamme schließlich übersprang. Mit der linken Hand schlug er das Streichholz aus und mit der rechten hielt er die Zigarre vor seine Augen und beobachtete, wie die kleine Flamme noch ein Weilchen auf dem Zigarrenende tanzte, bis sie schließlich erlosch. Jetzt nahm er einen langen Zug und unter einem tiefen wohligen Seufzer blies er den Rauch in Richtung Zimmerdecke.
Eine Weile verging in Stille. Dann begann der Alte: „Du bist der Jens nicht war, - Jens Kroll, oder?!“
„Woher wissen Sie dass?“
„Du bist Deiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.“
Jens stutze. Diese Antwort hatte er nun überhaupt nicht erwartet. Schließlich sagte er: „Sie können meine Mutter gar nicht kennen. Ich kenne sie ja selber nicht. Sie ist vor vielen Jahren gestorben.“
„Oh doch, ich kannte sie“, entgegnete der Förster in einem warmen und schwärmerischen Ton, „sie war ein wunderschönes junges Mädchen. Ihre helle Haut glich fast dem Weiß der Birken in der Schonung hinterm Haus, ihr Haar war glänzend braun, wie das der Kastanien, die zur Reifezeit durch meinen Kamin fallen. Ja, ihre dunkelgrünen Augen hatten ganz die Farbe meines Waldes nach einem warmen Sommerregen. Wirklich, wenn ich durch den Wald gehe, meine ich sie überall wiederzusehen ... und doch - hier hab ich sie verloren.“ Er wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und nahm einen tiefen Zug von der Zigarre.
Jens fuhr auf. „Das stimmt nicht, das stimmt nicht!“, brüllte er weinerlich, „meine Mutter ist tot und nicht verloren! Sie kannten sie nicht! Sie sind ein Lügner!“
„Ich verstehe Deinen Schmerz“, suchte der Alte ihn zu beruhigen. „Ich selbst habe meine Frau verloren wegen dem, was damals geschehen ist. Deine Mutter kam wirklich oft zu mir und ließ sich den Wald und seine Geheimnisse von mir erklären. Ja, im Sommer gingen wir täglich die verschlungensten Wege.“ Er lachte laut auf im Erinnern. „Sie meinte dann überall Gnome und andere Fabelwesen zu erkennen und lief ihren Phantasiegestalten nach. Und dann“, er wurde ernst und seine Stimme klang bedrückt, „und dann eines Tages, es war in ihrem 20sten Lebensjahr und du warst gerade wenige Wochen alt, verlor ich sie an ihrem Lieblingsplatz für immer aus den Augen. Sie war einfach weg“, er schluckte traurig „tagelang haben wir nach ihr gesucht. Doch nicht das kleinste Zeichen war zu sehn. Meine Frau gab mir die Schuld am Verschwinden des Mädchens und verließ mich nach kurzer Zeit. Ich hätte besser Acht geben müssen. Sie konnte mir die Schuld nicht vergeben. Man sagte, die junge Mutter sei entführt worden, ein Triebtäter hätte ihr aufgelauert im Wald und schließlich ging das Gerücht, ich hätte sie ermordet“. Unendlicher Schmerz mischte sich in seine Stimme. Nichts mehr war von ihrer bedrohlichen Kraft geblieben, vielmehr klangen die Worte jetzt gebrochen, als wäre er der Sprache nicht mächtig. „Vielleicht stimmt es ja in gewissem Sinne. Wo waren nur meine Augen. Einfach weg ... sie war einfach plötzlich weg.“
Der Alte tat Jens Leid und dennoch musste er fragen: „Wo war das, ihr Lieblingsplatz? Ich würde ihn gern sehen.“
„Oh nein“, antwortete der Förster, „ich werde dich nicht hinführen.“
„Bitte, bitte“, bettelte Jens „ich möchte sehen, wo meine Mutter verschwunden ist – habe ich nicht ein Recht darauf?“ Er wickelte das Tuch von seinem Fuß, biss die Zähne zusammen und ging mühsam lächelnd im Zimmer auf und ab. „Sehen Sie, ich kann schon wieder laufen. Es tut gar nicht mehr weh. Bitte führen Sie mich hin. Ich laufe auch bestimmt nicht weg und es kann gar nichts passieren.“
Unruhig wippte der Alte in seinem Sessel hin und her.
„Na gut“, sagte er schließlich „komm!“
Er stand auf, nahm Hut und Mantel und öffnete die Tür. Jens ging hindurch und bevor der Förster die Türe hinter sich zuzog, nahm er noch sein Gewehr von der Wand und schulterte es. Für einen kurzen Moment dachte Jens daran, was sich die Leute erzählten, doch dann schüttelte er sich, wie als wolle er den Gedanken von sich abwerfen und blickte fragend auf seinen Führer. „Da lang“, brummte dieser und deutete auf einen schmalen Pfad, der ins dichte Grün des Waldes führte.
Etwa eine Viertelstunde gingen die beiden zwischen Nadelbäumen her, die einander so ähnelten, dass sich jeder Fremde hätte unweigerlich verirren müssen. Dann auf einmal tat sich vor ihnen eine lichte Stelle auf, die von den urwüchsigsten Bäumen bewohnt war, die Jens je gesehen hatte.