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Spielerisch zur eigenen Essenz finden.
Als Kenso, der Mönch, die Bekanntschaft des freundlichen Herrn macht, hat er gerade alles hinter sich gelassen: das weltberühmte Bergkloster, den hohen Rang, seine Schüler, die Novizen und Mönche, die er unterwies in der Lehre der Authentizität. Ein fremdes Gefühl hatte ihn von dort fortgetrieben und nun war er hier, in der Stadt, in einer Bar. Kenso entschließt sich, zunächst einmal zu bleiben und sich den Fragen der Menschen zu widmen, die ihm der freundliche Herr vorstellt. So entspinnen sich wunderbar weise Dialoge über die wahre Liebe, das Geschenk der Vergänglichkeit oder ein wahrhaft authentisches Leben.
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Seitenzahl: 111
Veröffentlichungsjahr: 2017
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1. Auflage
Originalausgabe November 2017
© 2017 Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: © FinePic c/o Zero Werbeagentur
Lektorat: Judith Mark, Freiburg
fm • Herstellung: cf
Satz und Layout: Grafikdesign Storch/Ulrike Vohla, Rosenheim
E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-21062-5V001
www.goldmann-verlag.de
Für Melanie, Marie, Annika und Lisbet
Inhalt
1. Der Abschied vom Kloster
2. Der Weg
3. Der freundliche Herr
4. Der Berater mit einer nicht ganz klaren Frage
5. Die Psychologin mit einer Frage über die wahre Liebe
6. Der Künstler mit einer Frage über die Kreativität
7. Die Lehrerin mit einer Frage über das Wissen
8. Der Existenzgründer mit einer Frage über Investoren
9. Der Pfarrer mit einer Frage über Glaubwürdigkeit
10. Die ältere Dame mit einer Frage über die Zeit
11. Der Familienvater mit einer Frage über die Depression
12. Das Ehepaar mit einer Frage über das Verstehen
13. Der attraktive Mann mit einer Frage über Sex
14. Die Kinder mit einer Frage über das Kloster in den Bergen
15. Der Geschäftsmann mit einer Frage über Erfolg
16. Das Ereignis auf dem Marktplatz
Anhang
Glossar
Die erste Übung
Es war schon dunkel, als Kenso heimlich das Kloster verließ. Der Mond leuchtete hell, und die Nacht war klar. Kenso ging langsam und aufrecht. Über 15 Jahre war er hier gewesen. Die hügelige Landschaft um das Kloster mit ihrer satten grünen Vegetation war seine Heimat geworden.
Doch nun war er dabei, sie zu verlassen. Für immer. Es war seine bisher schwerste Entscheidung. »Warum gehe ich?«, dachte er sich. Er war nicht gebeten worden zu gehen. Ganz im Gegenteil: Die Obersten im Kloster hatten angedeutet, dass sie Kenso bald mit einer sehr wichtigen Aufgabe betrauen wollten. Sie hielten große Stücke auf sein ruhiges Wesen, seine Fähigkeit zur tiefen Versenkung, seine Disziplin im Praktizieren der Übungen und vor allem sein Wissen, das er aus der Welt mitbrachte und in der klösterlichen Bibliothek ständig erweiterte. Er war ohne Zweifel der geeignetste Nachfolger, um das weltbekannte Kloster mit seinen über 1000 Novizen und Mönchen weiterzuführen. Selbst Gäste, die für eine gewisse Zeit ins Kloster kamen, um dort Ruhe und Antworten zu finden, sprachen nach ihrem Aufenthalt oft von Kenso als sehr feinfühligem Meister.
Kenso war auch bei seinen Schülern sehr beliebt. Seine Unterrichtsstunden waren immer überfüllt, und er gestaltete sie mit einer Mischung aus Freundlichkeit und Klarheit, kombiniert mit Spannung und Heiterkeit. Man merkte Kenso an, dass er erst als 24-Jähriger ins Kloster gekommen war, gleich nachdem er sein Studium an einer westlichen Universität beendet hatte. Es waren seine Erfahrungen, die er in der Welt gemacht hatte, die ihn auf so eindrucksvolle Art und Weise unterrichten ließen. Und obwohl er erst recht spät ins Kloster eingetreten war, beherrschte er die jahrhundertealten körperlichen Übungen des Klosters annähernd perfekt und führte sie mit einer unglaublichen Eleganz, Leichtigkeit und Präzision aus. Mönche, die nicht in seiner Unterrichtsklasse waren, nahmen oft zusätzlich an seinen Stunden teil, um die fließenden Bewegungen von ihm zu lernen. Kenso war ein besonderer Mönch und für viele ein Vorbild. Doch auch wenn Schüler und vielleicht sogar die Obersten des Klosters so über ihn dachten – Kenso selbst machte sich nie Gedanken darüber, was er für andere war oder wie er auf andere wirkte. Er übte seine Aufgaben im Kloster mit großer Zufriedenheit aus und hätte sich nie vorstellen können, diesen Ort jemals zu verlassen.
Kenso spürte den steinigen Weg unter seinen Füßen. Er hielt an, drehte sich um und blickte nachdenklich zurück auf das Kloster, das silbrig schimmernd in der Nacht lag.
Es hatte vor zwei Jahren begonnen. Kenso war gerade mit seiner Morgenmeditation fertig geworden und auf dem Weg zu den Unterrichtsräumen gewesen, als er plötzlich etwas spürte, das er sich nicht erklären konnte. Erst dachte er nicht weiter darüber nach und sagte sich, dass es wohl etwas Einmaliges sei und nicht wiederkommen werde. Doch nach einiger Zeit wiederholte sich dieses Gefühl, und Kenso konnte es nicht mehr unbeachtet lassen.
Er selbst wusste sehr gut Bescheid über die verschiedenen Phasen, die junge Novizen und Mönche in ihrer Zeit im Kloster durchlebten. Es waren meist Zweifel und Fragen, die plötzlich wie aus dem Nichts auftauchten und die tägliche Arbeit und Konzentration erschwerten. Kenso konnte den jungen Mönchen dann immer gut helfen, indem er ihnen klärende Antworten gab und ihnen neue Übungen zeigte. Damit legte sich die Unruhe des Geistes wieder, und die jungen Mönche fanden in ihrer täglichen Ausbildung und Arbeit zurück zu Freude und Frieden.
Doch Kenso selbst hatte weder eine Frage, noch spürte er Zweifel an dem, was er tat. Das, was er da spürte, war etwas anderes.
Er suchte Rat bei Jetzu. Dieser Mönch war mit seinen fast 90 Jahren einer der ältesten und erfahrensten Mönche im Kloster. Nachdem Jetzu den Worten Kensos aufmerksam zugehört hatte, gab er ihm eine besondere Aufgabe in Verbindung mit einer körperlichen Übung mit. Solche kombinierten Aufgaben durften im Kloster nur von den ältesten Meistern aufgegeben werden, da sie speziell auf die jeweilige Person und Situation abgestimmt sein mussten. Kenso war die befreiende Wirkung dieser besonderen Kombinationen sehr bewusst. Es konnten damit wirklich große Veränderungen herbeigeführt werden. Und tatsächlich nahm er über ein Jahr lang dieses seltsame Gefühl, mit dem er zu Jetzu gegangen war, nicht mehr wahr. Doch plötzlich, in einer kristallklaren Nacht, als Kenso gerade auf seinem Bett lag, spürte er es erneut. Deutlicher als je zuvor. Nun war Kenso klar: Er musste gehen.
Kenso ging weiter und spürte, wie sich das Kloster hinter ihm immer weiter entfernte.
Der Weg führte hinab in die Stadt. Früher war Kenso diesen Weg zweimal pro Woche gegangen, um Geld und Reis für das Leben im Kloster zu sammeln. Die Mönche wurden von den Stadtmenschen sehr respektiert und gerne mit Spenden bedacht. Oft unterhielt man sich dabei kurz oder sprach ein gemeinsames Gebet, bis man sich mit einer respektvollen Verbeugung voneinander verabschiedete.
Heute ging Kenso diesen Weg zum letzten Mal. Er spürte die Mischung aus Unsicherheit und Gewissheit, aus Traurigkeit und Erleichterung. Obwohl er diese Gefühle deutlich wahrnahm, dachte er nicht weiter über sie nach. Er ließ sie einfach zu, genauso wie die Träne, die über seine Wange lief.
Normalerweise dauerte der Weg in die Stadt vier Stunden, doch Kenso konnte nicht sagen, wie lange er gelaufen war, als er die Stadt erreichte. Die Zeit war einfach vergangen, und da die meisten Läden schon geschlossen hatten, musste es wohl schon gegen Mitternacht sein. Es war ungewöhnlich für Kenso, um diese Zeit in der Stadt zu sein. Die wenigen Menschen, die noch unterwegs waren, wirkten zwar etwas überrascht, um diese Zeit noch einen Mönch auf der Straße zu sehen, aber sie grüßten ihn dennoch freundlich.
Kenso ging weiter zu dem Platz, wo er immer für das Kloster gesammelt hatte, und sah sich um. Er besaß nichts weiter als sein Gewand, einen Gürtel und ein paar zusätzliche Leibchen. Am Ende des Platzes entdeckte er ein warmes Licht, das aus der offenen Tür einer kleinen Bar auf den Steinboden des Platzes fiel. Ohne zu überlegen ging er in diese Richtung. Während er sich näherte, wurden die sanfte Musik und das Gemurmel von sich unterhaltenden Menschen immer deutlicher. Er ging bis zur Tür, hielt kurz inne und trat ein.
Die Bar war nur halbvoll, und fast alle Köpfe drehten sich zu Kenso, als er in seinem Gewand auf der Türschwelle erschien. Die meisten Gäste waren etwas verunsichert. Sie hatten noch nie einen Mönch in einer Bar gesehen. Einige grüßten ihn freundlich. Andere wandten sich grußlos wieder ihren Gesprächspartnern zu. Kenso ging an die Theke. Der Barmann nickte ihm freundlich zu und fragte, was er trinken wollte.
»Ein Glas Wasser bitte«, sagte Kenso.
Während der Barmann das Wasser holte, setzte Kenso sich auf einen Barhocker. Er spürte die Blicke einiger Gäste in seinem Rücken. Der Barmann kam zurück, stellte das Wasserglas vor Kenso hin und sagte: »Das geht aufs Haus.«
»Danke«, erwiderte Kenso und nahm sich Zeit, das Wasserglas in Ruhe zu betrachten und dann einen Schluck daraus zu trinken. Seine Bewegungen waren so ruhig und konzentriert, als ob es in diesem Moment nur dieses Glas Wasser geben würde und alles andere nicht existierte.
Kenso stellte das Glas wieder ab und saß aufrecht und entspannt auf seinem Barhocker. Er selbst hatte keine genaue Vorstellung von dem, was passieren würde, oder ob er etwas tun musste. Er wusste nur, dass es richtig war, jetzt hier zu sein.
Es dauerte nicht lange, als ein freundlicher Herr vom anderen Ende der Bar auf ihn zukam und neugierig fragte: »Warum sind Sie hier und nicht im Kloster?«
»Weil ich das Kloster heute verlassen habe«, antwortete Kenso.
»Nur für heute oder für immer?«, fragte der freundliche Herr verwundert.
»Für immer«, antwortete Kenso ruhig.
»Darf ich fragen, warum? Das Kloster ist doch weltberühmt, und ich weiß von keinem, der je dieses Kloster verlassen hat«, fragte der freundliche Herr.
»Ich folge dem, was ist, und es hat mich hierher geführt«, antwortete Kenso.
»Hm, interessant. Dem folgen, was ist«, wiederholte der freundliche Herr nachdenklich und machte eine kleine Pause. Da er die Aussage nicht so recht einordnen konnte, fragte er weiter: »Was wird denn eigentlich in dem Kloster gelehrt?«
»Das Kloster unterrichtet die Lehre der Authentizität«, sagte Kenso. »Wir möchten den Menschen dabei helfen, ein authentisches Leben zu führen.«
»Und wie geht das?«, wollte der freundliche Herr weiter wissen.
»Wir beginnen immer damit, den äußeren Raum zu betrachten. So wie jede Pflanze einen äußeren Raum hat, in dem sie gedeihen kann, so gibt es bei uns Menschen ebenfalls Räume, die uns aufleben lassen«, erklärte Kenso.
»Hm, und wie kann man sich das vorstellen?«, fragte der freundliche Herr.
»Im Kloster gibt es unterschiedliche Räume, in die wir eintreten, dort verweilen und wieder herausgehen können. Jeder Raum wirkt bei jedem Menschen anders, da wir alle unseren eigenen Raum mitbringen«, sagte Kenso und machte eine kurze Pause. Er konnte sich noch sehr gut an seinen Raum erinnern, mit dem er damals ins Kloster gegangen war.
»Der Raum, den wir mitbringen, ist unser innerer Raum. Dieser Raum wird von unserem eigenen Leben gestaltet«, fuhr Kenso fort. »Diesen Raum können wir nie verlassen. Wir können ihn nur verändern.«
Der freundliche Herr schaute Kenso nachdenklich an und fragte nach einer kurzen Pause: »Und um Ihren inneren Raum zu verändern, sind Sie ins Kloster gegangen?«
»Nein. Ich wusste damals nichts über die Räume im Kloster und meinen eigenen inneren Raum. Ich bin dorthin gegangen, weil ich nach Antworten suchte«, sagte Kenso.
»Und, hat das Kloster Antworten für Sie gehabt?«, wollte der freundliche Herr wissen.
»Ja. Auf alle meine Fragen konnte ich im Kloster eine Antwort finden«, sagte Kenso.
»Das freut mich zu hören!«, sagte der freundliche Herr. »Ein Freund von mir ist für zwei Monate in ein Kloster gegangen, um dort Antworten auf seine Fragen zu finden. Es wäre wirklich sehr schön, wenn er dort fände, was er sucht«, sagte der freundliche Herr lächelnd.
»Zwei Monate sind eine lange Zeit, um mal aus dem Alltag auszubrechen, aber eine sehr kurze Zeit, um eine Antwort zu finden und diese richtig zu verstehen«, sagte Kenso mit ruhiger Stimme.
»Wie meinen Sie das?«, wollte der freundliche Herr wissen.
»Der Kopf sucht immer Antworten auf die Fragen, die er sich selbst erschaffen hat«, sagte Kenso. »Im Kloster lernen und lehren wir, genau dies zu erkennen.«
»Und wie macht man das?«, fragte der freundliche Herr.
»Die Lehre der Authentizität besagt, dass der innere Raum eines jeden Menschen lediglich drei Ebenen umfasst. Diese drei Ebenen sind bei jedem Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt, und unser Denken und Handeln wird von der Ebene bestimmt, die am meisten Raum in uns einnimmt.« Kenso machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: »Bei einer Frage, die wir im Kopf mit uns herumtragen, befinden wir uns auf der Ebene des Denkens. Wir suchen auf dieser Ebene die Antwort zu unserer Frage. Doch um sie zu finden, ist der erste Schritt, den Ursprung der Frage bzw. des Gedankens zu finden, aus dem die Frage entstanden ist.«
»Aber warum muss ich denn zu dem Ursprung, um eine Antwort für mich zu finden?«, fragte der freundliche Herr.
»Jeder Gedanke hat seinen Ursprung. Genauso wie jeder Fluss seinen Ursprung hat. Ohne den Ursprung würde es weder den Fluss noch den Gedanken geben! Da die Frage aber vorhanden ist, kann ich sie am besten beantworten, indem ich ihren Ursprung finde«, antwortete Kenso.
»Interessant«, meinte der freundliche Herr etwas nachdenklich und machte eine kleine Pause. »Und was ist das mit diesen Ebenen? Für was benötige ich denn diese drei Ebenen?«, wollte er dann wissen.
Kenso musste lachen. »Man benötigt diese drei Ebenen nicht, sie sind einfach da, in jedem von uns. Sie bestimmen unseren inneren Raum. Von unserer Geburt an bis zum unserem Tod.«