Der Mann der nicht ankommen wollte - Martin Mylonas - E-Book

Der Mann der nicht ankommen wollte E-Book

Martin Mylonas

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Beschreibung

Zwei Jahrzehnte trieb es den Kaufmann Ulisse Flottante durch die verschiedensten Länder Südeuropas. Kurz entschlossen hatte er einst, als sich unverhofft die Möglichkeit bot, die Familie mitsamt dem Erbe zurückgelassen. Er wollte damit der Enge seiner Heimat Ithaka und den rigiden Vorstellungen seines Vaters entkommen. Doch diese Flucht gestaltete sich anders, als er sich das vorgestellt hatte: Das ungeklärte Verhältnis zu seinem Vater lässt ihn nicht ruhen, mit zunehmender Entfernung erkennt er überrascht, dass die frühere Ablehnung schwindet. Selbst die verschmähte Heimat lockt allmählich mit freundlicheren Tönen. Deshalb entschließt sich Ulisse, als er andeutungsweise von fragwürdigen Vorfällen im Leben seines Vaters hört, zu einer Rückkehr. Er will auf Ithaka diesen Gerüchten nachgehen. Dabei hofft er, die alte Distanz zum Vater ließe sich vernachlässigen und er könne auf der Insel sein Erbe antreten. Doch anders als er sich das erträumt hat, wird er nicht mit offenen Armen empfangen: Frau und Sohn haben auf diesen Heimkehrer schon lange nicht mehr gewartet. Und der Vater lebt zwar noch, erkennt aber den eigenen Sohn nicht mehr. Dennoch wird Ulisse bald Zeuge einer rätselhaften Drohung, die der Vater wie gegen einen Unbekannten ausstößt. Offenbar hat der damit verbundene Vorfall einst eine besondere Bedeutung gehabt. Als Ulisse begreift, dass er selbst dieser Unbekannte ist, ahnt er, dass es da eine Verbindung zu einem der Wendepunkte in seinem Leben gibt. Da er den Vater nicht mehr befragen kann, muss er sich alleine auf die mühsame Spurensuche begeben. Immerhin gibt der rätselhafte Satz einen Anhaltspunkt, wo er mit der Suche zu beginnen hat. Zeugen, die über die damaligen Vorgänge Auskunft geben könnten, sind nicht leicht zu finden, dennoch gelangt er allmählich zu der verstörenden Erkenntnis: Der Vater hat seine Flucht einst gezielt gefördert und zugleich lange versucht, sie in seinem Sinn zu steuern. Welche Gründe gab es für solch widersprüchliches Verhalten? Auch mit eigenem, lange zurückliegendem Versagen ist Ulisse konfrontiert. Bei all dem lässt ihn das Gefühl nicht los, dass die scheinbar isolierten Fäden, die er nach und nach aufnimmt, auf geheimnisvolle Weise miteinander verknüpft sind. Deshalb beunruhigt ihn zunehmend die Frage: Welcher Wahrheit kommt er da näher? Wird er sie ertragen oder wird er Ithaka wieder verlassen müssen und dann vielleicht für immer?

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Veröffentlichungsjahr: 2012

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www.tredition.de

Martin Mylonas

Der Mann der nicht ankommen wollte

Roman

www.tredition.de

© 2012 Martin Mylonas

2. Auflage

Umschlaggestaltung, Illustration: Martin Mylonas

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN: 978-3-8472-8733-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1

Es war die frühe Stunde, gleich nach Sonnenaufgang, und noch herrschte auf der Iraklio die gelassene Aufbruchstimmung eines heraufziehenden Spätsommertages, wenn der für kurze Zeit auf der Stelle tritt. Wie jeden Morgen steuerte ich den Tisch des Kapitäns an, doch diesmal nicht zu belanglosem Geplauder. Beim Frühstück wollte ich Volpone endlich mit dem konfrontieren, was in langem Schweigen herangereift war. Es glich einem Überfall. Denn bis dahin hatte ich jede Andeutung vermieden, die auf mein Vorhaben hätte schließen lassen. Nur so konnte ich darüber entscheiden, wann ich den ersten Schritt täte. Ist der Stein erst ins Rollen gebracht, bestimmen ohnehin Gefälle und auftretende Hindernisse den weiteren Lauf, nicht selten sogar das Ziel.

Volpone protestierte sofort: „Ein Abbruch!“

Ich korrigierte selbstbewusst: „Nein, es soll ein Aufbruch werden.“

„Zum endgültigen Festmachen im heimischen Hafen?“

„Nennen wir es lieber Besuch der heimischen Basis. Ihr kennt mich, Volpone, so leicht lasse ich mich an keine Kette legen.“

Es hat ihn alles andere als beruhigt: „Das ist es gerade! Wovor läufst du wieder davon? Nicht, dass ich dir einen Landgang missgönnen würde. Aber ausgerechnet Ithaka? Und dann gleich sechs Wochen. Ich dachte, du hättest hier deine Aufgabe gefunden. Wo gehörst du eigentlich hin?“

Soweit der erste Schlagabtausch mit Enrico Volpone, einem ansonsten väterlich wohlwollenden Gesprächspartner, seit ich als Purser auf der Iraklio arbeitete. Er war mein direkter Vorgesetzter und mit diesem Schiff kaum weniger verwurzelt als auf Ithaka ein Olivenbaum mit seinem Flecken Berghang. Nur so war zu erklären, wie sehr ich ihn verunsichert hatte. Denn er starrte mich an wie ein Gläubiger, dem sein Schuldner gestanden hat, er müsse die Tilgung aussetzen. Dabei hatte ich nichts anderes gewagt als leise erst, danach entschlossener jenes Anliegen vorzubringen, das mich seit langem beschäftigte: „Volpone, wir haben oft darüber gesprochen. Ich habe die Insel einen Großteil meines Lebens umschifft. Das lag an meinem Vater Ercole. Doch ich habe ungewöhnlich lange keine Nachricht mehr von dort erhalten. Und es geht nicht nur um den unnachgiebigen Alten. Ihr wisst, ich habe dort auch Frau und Sohn. Inzwischen raubt mir die Ungewissheit oft den Schlaf. Ich muss endlich nach dem Rechten sehen, muss Ordnung bringen in das, was wie eine liegengelassene Arbeit auf mich wartet. Legt bei der Reederei ein Wort für mich ein. So werde ich euch und eurem Schiff nicht verlorengehen.“

Seit vielen Jahren fuhr ich zwei-, mitunter dreimal die Woche an der Insel vorbei. Mal von Italien kommend auf dem Weg nach Griechenland, ein andermal in umgekehrter Richtung. Die Ankunfts- und Abfahrtszeiten in Patras, die festlegten, wann wir Ithaka passierten, brachten es mit sich, dass die Insel stets mehr zu erahnen als wirklich wahrzunehmen war. Das hat im Laufe der Zeit dazu beigetragen, dass sie wie eine geschickt verhüllte Geliebte mehr und mehr meine Phantasie beschäftigte. Entweder tauchte sie gerade – wobei sie mehr verborgen hielt, als sie preisgab – aus den Morgennebeln auf, oder sie war vom Schleier der aufziehenden Nacht geheimnisvoll umhüllt; auch dabei bot sie der Phantasie unzählige Möglichkeiten. Dann ließen sich über flackernde Lichtnester, die wie vom Wind bewegte Blumen in die Dunkelheit gestreut waren, menschliche Ansiedlungen erraten, manchmal konnte ich hinter flimmernden Lichtperlen Straßen vermuten, die sich an einem nicht wahrnehmbaren Hang hinaufzogen, ein andermal erkannte ich an dem schnellen Wechsel von kaltem und warmem Licht die Scheinwerfer oder Bremslichter von Fahrzeugen, die wie Glühwürmchen nur zu erahnende Serpentinen entlangglitten. Schon immer hatten solche von See her zu beobachtenden Spuren menschlichen Lebens an Land meine Neugier geweckt. Es ist, nehme ich an, die Art von Wissensdurst, wie sie den Astronomen beim Anblick ferner Sterne überkommt. Bei Ithaka kam eine gefühlsmäßige Nähe hinzu. Sie hatte wie angetrockneter Bodensatz in lange nicht benutztem Gefäß sogar mein Ausreißen überdauert. Selbstverständlich sprach für Ithaka nicht weniger, was ich mir als geistesgegenwärtiges Zupacken zugutehielt. Vergeltung ist ein zu hartes Wort, doch meinen Vater Ercole in Erklärungsnöte bringen, das hätte manches wiedergutgemacht.

Volpone ahnte, dass es um mehr ging als nur darum, nach dem Rechten zu sehen. Wortlos saß der breitschultrige Hüne in der weißen Uniform mir gegenüber, als solle er wie ein mächtiger, von Kyklopenhand niedergelegter Findling den Weg versperren. Minutenlang spielte er ohne eine Miene zu verziehen mit der Lesebrille, dann schüttelte er heftig den sonnenverbrannten Schädel: „Es soll schon vorgekommen sein, mein lieber Ulisse, dass es einen entflogenen Vogel in die Nähe seines Käfigs zog. Überwand er, Neugier oder Gewohnheit folgend, die Scheu vor dem Gitter, war er die längste Zeit frei. Ein solches Gefängnis öffnet sich so leicht kein zweites Mal. Vernünftig betrachtet ...“ Er hielt inne, sah mich mit durchdringendem Blick an: „Und überhaupt, du wirst doch nicht wegen jenes Unbekannten, der eine rätselhafte Bemerkungen über deinen Vater fallen ließ und sich wenig später in Luft auflöste …?“

„Ihr meint diesen Dr. Hübner? Um ehrlich zu sein, der …“

Jetzt war für ihn alles klar. Sein Unverständnis baute sich wie eine mächtige Woge auf: „Klar, so gesehen wartet eine ungeheure Herausforderungen auf dich. Wenn ich mich recht entsinne: Wenige, eher vieldeutige Worte damals… ein Faden, nein Fädchen, das du seitdem in der Hand hältst …und dafür verlierst du den eingeschlagenen Weg aus den Augen! Mach dir nichts vor, mein Lieber! Das Leben in Ithaka ist wie alles Leben an Land vor allem eines: unübersichtlich und beschwerlich. Zugegeben: Von der endgültigen Heimkehr träumen alle. Doch wir tun gut daran, es nicht so bald soweit kommen zu lassen. Und du? Du meinst, du müssest nach einem halben Leben Abwesenheit wieder einmal in Ithaka vorbeischauen. Glaub mir: Du bist auf See besser aufgehoben, an Land verlieren sich deine Spuren!“

Wo ich hingehöre, hatte er wissen wollen und, um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, auch gleich die Antwort mitgeliefert. Ich war mir in dieser Frage weniger sicher.

Dass ich als Sohn eines betuchten Landbesitzers überhaupt auf See geriet, ist schon ungewöhnlich. Mein Vater Ercole hatte ganz andere Pläne für mich. Genau genommen das Übliche: Ein Leben wie er es führte, wenn möglich besser und von allem ein wenig mehr! Was ihn von anderen Vätern unterschied: Das war für ihn kein Fernziel, sondern dauerhaft angelegte Richtschnur. Obwohl er das Gegenteil erreichen wollte, hat er mir mit seinen starren Vorgaben das Landleben und gleich auch noch das Leben an Land verleitet. So lernte ich früh schon, die Flucht zu ergreifen, wo Gewöhnung drohte, andererseits die Stirn zu bieten, wenn andere zum Rückzug bliesen.

„Wie lange hast du dich eigentlich auf Ithaka nicht blicken lassen?“, wollte Volpone wissen.

„Es lag nicht an mir … allein! ‚Für wen hab ich das alles aufgebaut? Nicht für einen, der sich in der Welt herumtreibt. Wenn du nur zu Besuch kommst, kannst du mir gleich gestohlen bleiben!’ hat mein Vater Ercole bei jedem Versuch, mich der alten Heimat zu nähern, gedroht. Zu manchen wäre ich bereit gewesen, nur nicht dazu, mir von ihm die Bedingungen vorgeben zu lassen. Da er sich schon gar nichts diktieren lassen wollte, mussten sie sehr lange ohne mich auskommen. Ich kann es selbst kaum glauben: Es ist mehr als zwei Jahrzehnte her, seit ich der Insel den Rücken gekehrt habe.“

„Und du bist sicher, sie kennen dich noch?“

Alles andere als sicher konnte ich mir sein. Gut, erkennen würde man mich vermutlich. Die Frage war: Wollte man mich nach so langer Zeit noch kennen? Doch ich war überzeugt, es sei jetzt an der Zeit, alles oder zumindest das Wesentliche, was Ithaka betraf, in Ordnung zu bringen. Selbstverständlich meine ich mit Ithaka mehr als diesen von Wasser umgebenen kleinen, scheinbar auf dem Meer schwimmenden Flecken Land. Es gab eine uneingestandene Neugier, es gab den latenten Drang, die Möglichkeit einer endgültigen Rückkehr nicht ganz verfallen zu lassen. Mir stand dort einiges zu, und das war nicht wenig. Es gab tatsächliche Pflichten, die ich eher nachschob: Ich hatte dort Frau und Sohn, auch wenn mir die mit diesen Begriffen verbundene Erfahrung weitgehend fremd ist.

Und es gab vor allem diese rätselhafte Begegnung auf der Iraklio. Volpone hatte seinen Spott darüber ausgegossen, von einem Fädchen gesprochen, das ich in der Hand hielt. Für mich hatte das ganz andere Dimensionen! Das Ereignis lag mehr als zwei Jahre zurück, doch es blieb mir trotz allem, was ich seitdem erlebt habe, in Erinnerung, als sei es gestern gewesen. An der Bar auf dem Hinterdeck hatte er mich in ein Gespräch verwickelt. Dieser leutselige ältere Herr, ein Passagier, der sich als Dr. Hübner aus Vorarlberg vorstellte. Beiläufig hatte ich, ohne meinen Namen zu nennen, erwähnt, ich hätte lange auf Ithaka gelebt. Doch die Verbindung nach dort sei seit zwei Jahrzehnten so gut wie abgerissen. Das ließ ihn völlig unbefangen über seine gelegentlichen, auch schon etwas zurückliegenden Besuche auf der Insel und am nahen Festland plaudern. Er hatte vor seinem Ruhestand lange Jahre als Einkäufer eines Lebensmittelkonzerns von Triest aus Griechenland und den Balkan bereist. Dabei, ließ er mich wissen, hatte er es auf meiner Insel mit einem Griechen zu tun, der aus Italien zugewandert war. Mir war sofort klar: Das konnte nur mein Vater Ercole sein. Schließlich hat der lange die Interessen der dortigen Landbesitzer vertreten und musste auch seine eigenen Produkte aus Wein- und Olivenanbau verkaufen. Was mich nicht überraschte: Hübner hatte ihn als schwierigen Geschäftspartner in Erinnerung. Ich wollte bestätigen: „Und ich erst!“, doch das hätte mich verraten. Auch was mich einst wenig interessierte, mir aber auf Grund meiner Konflikte mit ihm selbstverständlich schien, wusste Hübner zu berichten: Ercole war in mancherlei Händel auf der Insel verstrickt. Andererseits, wem, sofern er zu den einflussreichen Landbesitzern gehörte, konnte man das nicht nachsagen? Dickköpfe mit Ich-bin-ich-Mentalität allesamt! Doch dann ließ der geschwätzige Österreicher eher nebenbei einfließen, was mir wie ein kalter Schauer entgegenschlug. Die Verblüffung verhinderte, dass ich mich verriet. Denn nur schwer konnte ich das mit dem Alten, wie ich ihn erlebt hatte, in Verbindung bringen: „Was war der Grund für solche Zerwürfnisse? Na, was schon: Ist ja immer dasselbe, wenn wir Männer wegen einer aneinandergeraten. Haben aber beide dafür bezahlt!“ Der weißhaarige alte Herr zog die Augenbrauen zusammen und lachte vielsagend.

Ich bekam kaum mehr etwas mit, als er danach über andere Geschäfte schwatzte; sie interessierten mich nicht. Mehr erfahren hätte ich gerne über den einen und dessen Zerwürfnisse mit – ja mit wem eigentlich? Aber er kam nicht mehr auf Ercole zu sprechen, und mich hielt an diesem Abend die übertriebene Befürchtung zurück, es könnte mit der unbekümmerten Redseligkeit des Österreichers vorbeisein, wenn ich mein besonderes Interesse und damit meine Identität preisgäbe. Nach einer schlaflosen Nacht war ich dann entschlossen, die Anonymität aufzugeben. Das Bedürfnis, Details über das Unerwartete zu erfahren, ließ mich alle Bedenken vergessen. Widersprach, was dieser Hübner angedeutet hatte, nicht in allem dem, wie ich meinen Vater Ercole erlebt hatte? Ein unnahbarer, herrischer Einzelgänger. Andererseits, wie gut kannte ich ihn? Seine Kurzreisen nach Patras hinüber waren mir eingefallen. Sie schienen einem regelmäßigen Fahrplan zu folgen, und doch wusste keiner Genaues. Und dann die vierwöchigen Reisen im Frühjahr. Ercole hatte stets von Geschäftlichem gesprochen, andere nickten und grinsten vieldeutig. Was hatte das zu bedeuten? Ferner: Wer war der – oder die – andere? Hübner hatte ja von zweien gesprochen.

Als ich mich am nächsten Tag zu erkennen geben wollte, war dieser Hübner nicht mehr aufzufinden. Er war in der Nacht bei einem Zwischenstopp in Korfu von Bord gegangen. Danach habe ich ihn auf keiner Passagierliste mehr entdeckt, obwohl ich sie regelmäßig überprüfte. Ich weiß, es ist eine lächerliche Vorstellung, doch manchmal rede ich mir ein, es habe eine mir unbekannte Vorsehung diesen Boten geschickt. Als eine Art Lockvogel, der in mir die Kräfte weckte, mit denen ich die Geheimnisse um Ercole nicht anders als die Untiefen, auf die ich dabei stoßen sollte, angehen konnte. Und der mir vielleicht den entscheidenden Vorsprung verschaffen würde, was die fällige Abrechnung mit meinem Vater anging. Wie auch immer, seit jener Begegnung nagte der Drang, auf Ithaka mehr und Genaueres zu erfahren, heftiger und überwand selbst hartnäckige Bedenken, die gegen eine Rückkehr sprachen. Ithaka hatte plötzlich weniger die Konturen einer geheimnisvoll Lockenden. Jetzt galt es, mutig einen Schleier zu lüften, hinter dem jede Menge Unerwartetes darauf wartete, entdeckt zu werden.

2

Und dann war ich nicht mehr nur in Gedanken auf Ithaka. Erster, aber nachhaltiger Eindruck: Diese lange vernachlässigte Geliebte gab sich abweisender als befürchtet.

Am Tag nach der Rückkehr fuhr ich mit dem Pick-up zum Hafen hinunter, um mein Gepäck zu holen. Ich hatte es bei der Ankunft dort untergestellt. Die holprige Fahrt über spitz aus dem Boden ragende Steine und um Schlaglöcher herum, in denen leicht der größere Teil eines Wagenrads verschwinden konnte, war lästig und erforderte Konzentration. Zudem war die Lenkung wenig präzise, die Bremsen griffen erst bei entschlossenem Nachtreten. Baute diese Familie, ging es mir durch den Kopf, etwa darauf, dass ich mit dem Wagen nicht zurechtkäme und so das Entsetzen, in dem sie mein unerwartetes Erscheinen hatte erstarren lassen, sich bei der Fahrt bergab von alleine löste? Nein, diesen Gefallen wollte ich ihnen nicht tun! Ich würde mit meinen Habseligkeiten zurückkommen und, ob ihnen das passte oder nicht, erst einmal unübersehbar da sein. Je unwillkommener, desto hartnäckiger! Allmählich gewann ich mein Selbstvertrauen zurück, hielt ein mäßiges Tempo bei und versuchte, den Verdruss rauchend fernzuhalten.

Ruhiger geworden warf ich, sobald ich die asphaltierte Piste erreichte, neugierige Blicke auf die schmalen Felder, Weingärten und Olivenhaine rechts und links der Straße. Hatten die sich verändert oder ich mich? Draußen in der Fremde, da hatte ich im Abstand von einigen Jahren zunächst mit verhaltenem, dann offenerem Stolz schon mal von den fetten Böden Ithakas, seinen glutheißen Weinbergen und silbern flimmernden Olivenhainen fabuliert. Ab und zu, ich hatte mich schon damals rauchend schnell wieder davon distanziert, zog es mich sogar dorthin zurück. Mich, der sich einst gegen alles gesträubt hatte, was nach Ithaka und Landwirtschaft klang! Anfangs kreidete ich mir solche Seitensprünge des Gefühls als Schwäche an und lehnte mich dagegen auf, später fügte ich mich, mit anderem beschäftigt, dem – wie mir schien – Unvermeidbaren, irgendwann hielt ich es gar für selbstverständlich, dass sich so etwas wie Zuneigung zu vielem, vor dem ich ausgerissen war, einstellte. Vorübergehend erstarrte solch gefühlsmäßige Annäherung wieder, wenn der Alte auf eine meiner seltenen und unverbindlichen Anfragen hin Bedingungen für die Rückkehr zu diktieren versuchte: „Wenn du nur zu Besuch kommst, kannst du mir gleich gestohlen bleiben!“

Nun, da alles zum Greifen nahe lag, fragte ich mich: Waren diese schmalen Streifen Land, waren Weingärten und Olivenhaine denn der Aufmerksamkeit wert, die ich ihnen aus der Ferne geschenkt hatte? Waren sie anders als die Äcker der Länder, durch die mich zahllose Ortswechsel geführt hatten? Anders als in Italien oder drüben auf der iberischen Halbinsel? Diese hier waren, worauf mein Vater Ercole stets mit erhobener Stimme aufmerksam machte, in harter Arbeit von Generationen dem felsigen Boden abgetrotzt. Die Verpflichtung zum Nesthocker, die er daraus abzuleiten schien, hat mich nie erreicht.

Wie überall um diese Jahreszeit waren Bauern und ihre Tagelöhner zwischen den Rebzeilen mit der Ernte beschäftigt, heizte die herbstliche Mittagssonne kräftig ein, standen Traktoren und Kleintransporter mit Plastikwannen am Weg, trotteten Esel fressend an einer Böschung entlang oder dösten im Schatten von Bäumen, vibrierte die Luft von heiserem Gekrächze der verbliebenen Zikaden. Diese Normalität war es nicht, die mich an das verschlafene Ithaka fesseln konnte. Hatte ich einst nicht unzählige Gründe gefunden, all dies schnellstens hinter mir zu lassen, wenn möglich für immer zu vergessen? Wäre es nicht um mich gegangen, ich hätte den Kopf schütteln und lauthals lachen können über einen Reisenden mit dem stolzen Namen Ulisse, der sich darüber wundert, wie er sich an den Ausgangspunkt seiner Flucht verlaufen konnte. Nein, endgültig hier angekommen zu sein wie angeblich mein ferner Namenspatron – da hatte Volpone schon recht – das wäre schwer zu ertragen. Schneller als erwartet ahnte ich, für einen Feierabend auf der Insel war es zu früh. Ich akzeptierte den ernüchternden Befund, indem ich mir versicherte, das sei ohnehin nicht Zweck meines Aufbruchs gewesen.

Noch heute erinnere ich mich an jede Einzelheit. Ich meine den bereits erwähnten Tag nach der Rückkehr. Mein Gepäck wollte ich holen. Verdruss hatte sich schon gleich nach dem Aufstehen breitgemacht, nicht lange vor jener Fahrt im Pick-up. Ungewohnt missmutig trat ich aus der schattigen Vorhalle eines Hauses, das ich am Abend zuvor, nachdem ich letzte Zweifel überhört hatte, selbstbewusst als mein Heim betrat. Was war von solcher Entschlossenheit nach einem Abend und einer Nacht geblieben? Das helle, leicht milchige Licht eines spätsommerlichen Vormittags stach in die Augen. Es lärmten abwechselnd einzelne Zikaden; sie schienen mich in immer neuem Einsatz zu verhöhnen. Andererseits Windstille, die Welt um mich herum war, was die Menschen betraf, beunruhigend ausgestorben. Trotzig, um sie aus der Reserve zu locken, trat ich auf den freien Platz hinaus, der zwischen Wohnhaus und Wirtschaftsgebäude liegt. Ich hätte darauf gewettet, die da drinnen beobachteten mich hinter schützenden Fensterläden, fragten sich, was ich, in ihren Augen nichts anderes als ein lästiger Eindringling, hier zu suchen habe.

Schon deshalb war ich entschlossen, mir den Unwillen nicht anmerken zu lassen, sah mich, als hätten die da drinnen, nicht ich, ein Problem, gespielt gleichgültig um; so, als gehe es darum, mir die Wartezeit zu vertreiben. Mein Blick fiel auf die bekannten Mauern, die irgendwann während meiner Abwesenheit einen frischen Anstrich erhalten hatten, auf den mächtig gewachsenen Nussbaum, den ich schon in Kindertagen als Sonnenschutz geschätzt hatte, auf die Reben am Haus, die überdachte Veranda, schließlich auf eine Bank, die einst mein Vater Ercole hatte zimmern lassen. All diese Gegenstände waren halb vergessene Wegmarken, waren als stumme oder leicht zu überhörende Zeichen irgendwo in meinem Gehirn abgelegt. Was mir an jenem Tag in mühsam überspielten Verdruss nicht bewusst wurde, war mir später, nachdem ich einigen Abstand gewonnen hatte, klar: Sie standen mir trotz meiner tatsächlichen oder eingebildeten Sehnsucht nach Ithaka, trotz einer langen Beziehung fremd wie Bilder aus einer längst vergangenen Schwarz-weiß-Zeit gegenüber, unbeweglich, nichts bewegend, wie das Inventar aus einer Schattenwelt, dem mit der Farbe das Vermögen fehlt, Freude, Furcht oder auch nur Neugier auszulösen. Unsicher geworden fragte ich mich mehr noch als am Abend zuvor, was mich nach Ithaka getrieben hatte. Wenn es der vertraute Ort nicht war, was war es dann? Waren es die Menschen, die mir ablehnend gegenüberstanden, wie Orte das nicht können? Vermutlich handelte es sich bei dem von mir herbeigeträumten Ithaka samt seinen Bewohnern um ein Produkt der Phantasie, das in meinem Schädel herangereift war, eine Kopfgeburt sozusagen, die ich vor Licht und Luft hätte schützen sollen, wie man das mit einem liebgewordenen, in die Jahre gekommenen Pastell tut. Doch dazu war es, nachdem ich erst einmal auf dem Hof stand, zu spät.

Als ich an jenem ersten Vormittag aus dem Haus trat und zur Sonne aufsah, bestätigte mir deren Stand vorwurfsvoll, womit mich zuvor schon die Uhr überraschte: Ich hatte lange geschlafen an diesem ersten Tag in der alten Heimat, viel länger, als es meiner Gewohnheit entspricht. Mich treibt, wenn ich an Land bin, im Sommer das Licht, sobald es ins Zimmer fällt, im Winter die erste Unruhe, die sich in die Dunkelheit mischt, aus dem Bett. Ich mag die frühen Stunden des Tages, lasse von der Dusche die Benommenheit vertreiben, gewinne mit dem Rasierwasser die Anspannung zurück, die Neugier mit dem flüchtigen Blick auf die Zeitung, eine Art Aufbruchsstimmung mit dem Kaffee. So gerüstet habe ich stets, wann immer ich an Land war, mit einem Blick auf die noch schlafende Stadt die wohltuende Illusion genossen, die Welt eine kurze Zeit lang für mich alleine zu haben. Vor allem dieses Gefühls wegen lernte ich die Momente am Anfang eines neuen Tages schätzen! War ich an Bord eines Schiffes, machte ich mir auf ähnliche Weise den kleinen, schwimmenden Kosmos untertan. Als einer der ersten erschien ich an der Theke des verschlafen blinzelnden Stewards, stellte mein Frühstück zusammen, begab mich zu dem um diese Zeit leeren Hinterdeck und lauschte für einige Minuten in die Stille des heraufziehenden Tages. Außer Volpone traf ich auf dem noch nächtlich ruhigen Schiff nur selten jemanden.

Doch an diesem ersten Vormittag auf Ithaka war wie bei einem aus den Gleisen geworfenen Zug der Zeitplan ohne mich abgelaufen. Ursache war der reichlich und nüchtern genossene Wein des Vorabends, vielleicht auch die Wärme eines Bettes, das ich mir manchmal in den letzten Jahren meiner Abwesenheit tatsächlich herbeigeträumt hatte; ich lege Wert auf die Worte manchmal und in den letzten Jahren. Als ich der hölzernen Realität dann gegenüberstand, war der Traum schnell verflogen. So war es wohl doch der alles entrückende Rausch, der mich hatte schlafen lassen wie lange nicht mehr.

Ungeniert, um die unsichtbaren, feindlichen Späher nicht übersehen zu lassen, woran ich selbst nicht glaubte, nämlich dass ich mich hier zu Hause fühle, reckte ich im Freien erst einmal die über Nacht starr gewordenen Glieder und überlegte demonstrativ unbefangen, wie es weitergehen solle. Immerhin befand ich mich auf dem herbeigesehnten Flecken Land! Wie lange würde ich es da aushalten? Hätte ich gar nicht zurückkommen, diesen letzten Schritt nicht tun sollen? Seltsame Frage für einen, der an diesem zweiten Tag noch nicht einmal sein Gepäck bei sich hatte. Doch eine unangekündigte Rückkehr, das ahnte ich bereits, ist schwerer zu bewältigen als ein entschlossener Abschied. Bei jener müssen die Fäden, die man einst kurzerhand durchtrennt und sich selbst überlassen hat, mühsam wieder aufgenommen werden. Was Glück, dass die da drinnen von meiner Zerrissenheit nichts wussten!

Noch wollte ich das Gefühl nicht wahrhaben, konnte es aber nicht ganz unterdrücken, dass sich in diesem Haus niemand dafür interessierte, wie lange und ob ich überhaupt bliebe. Und ich fragte mich lieber nicht, wer hier ein Wort verlöre, wenn ich auf der Stelle wieder verschwände. Deshalb machte ich mir selbst Mut: Diesen Gefallen würde ich ihnen nicht tun. Lauter redete ich mir ein, es werde sich bald herausstellen, dass nicht ich es war, der sich verlaufen hatte – jedenfalls, was die letzten Schritte betraf, die mich nach Ithaka zurückgeführt hatten.

Während der Verdacht, es handle sich um mehr als nur um Gleichgültigkeit, mich dann doch wieder empörte, kam drüben vom Wirtschaftsgebäude her Hippolyt, der schon für meinen Vater Ercole gearbeitet hatte, über den Hof geschlurft, blinzelte scheu herüber und krächzte ein halblautes Kalimera vor sich hin.

„Mach mir einen Wagen fertig, Alter, ich muss in die Stadt hinunter!“, befahl ich angesichts meines noch ungeklärten Status und angesichts Hippolyts auffälliger Zurückhaltung recht barsch.

Er hielt kurz inne, warf mir einen Blick wie „Verstand verloren?“ zu, murmelte etwas, was sich anhörte wie „Herrin fragen!“, und schleppte sich weiter.

Der Vorfall bestätigte erneut den Eindruck vom Vorabend: Ich war hier nicht der Patron, dessen Befehle auszuführen sich irgendwer beeilen würde.

Heute, mit einigem Abstand, sage ich mir: Es wäre geradezu ungewöhnlich gewesen, hätten sie sich anders verhalten. Doch damals war ich erbost über die Art, wie sie sich rarmachten. Außer einer alten Dienerin, die mir am späten Vormittag eine Schüssel Wasser zum Waschen hinstellte, hatte ich an diesem Tag noch keinen von ihnen zu Gesicht bekommen, weder meinen Sohn Andreas noch Penelope. Ich hatte die Alte, die sich ängstlich gleich wieder davonschleichen wollte, nach beiden gefragt. Hastig und mit dem Blick das Weite suchend erklärte sie, die Herrschaft sei beschäftigt. Der junge Herr sei in den Weinbergen bei der Ernte, die Herrin besorge außerhalb des Hauses dringende Geschäfte. Was für Geschäfte mussten das sein, die nach mehr als zwanzig Jahren derart unaufschiebbar waren? Es sollte noch schlimmer kommen!

War ich enttäuscht? Eingestanden hätte ich mir das nicht. Das hätte nach Kapitulation ausgesehen, bevor die Frage, wer den längeren Atem habe, auch nur ausgesprochen war. Lautloser Rückzug kam für mich nicht in Frage! Trotzig beschloss ich, mich ohne weitere Worte erst einmal um meine Angelegenheiten zu kümmern. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie das lange durchhielten, sich immer neue Umwege auszudenken. Und ich hatte es nicht eilig, schon gar nicht am zweiten Tag. Abwarten, Ulisse, flunkerte ich mir vor, sie werden es sein, die kleinlaut auf dich zukommen!

So wollte ich erst einmal in die Stadt hinunter zum Hafen. Da hatte ich am Vortag mein Gepäck untergestellt. Während ich ungeduldig auf den alten Hippolyt wartete, ließ sich in wieder anschwellendem Grimm die Einsicht nicht verdrängen, dass ich mir dieses Wiedersehen ganz anders vorgestellt hatte. Wohin auch immer ich in der Vergangenheit kam, hat man mich nach meinen Reisen und Erfahrungen gefragt, und ich habe bereitwillig und mit flinker Zunge erzählt, wobei alle, da war ich mir sicher, interessiert zuhörten.

Und hier? Das eheliche Schlafzimmer von einst hatten sie mir am Abend zuvor überlassen. Aber wie! Nachdem ich, der sonst überall mit offenen Armen empfangen wurde, mich mit einer Schramme aus der Jugendzeit ausgewiesen hatte! Es war selbstverständlich als Vorwurf gedacht: Das Hemd hatte ich aufgeknöpft, ihnen die vernarbte Brust gezeigt. Sie nahmen es betreten zur Kenntnis, schwiegen wie ein Ankläger zu einem Gegenbeweis, der nicht ins Konzept passt, sich aber auch nicht wegdiskutieren lässt. Wenigstens jagten sie mich nicht gleich wieder vom Hof. Selbst wenn ich die Sache heute nüchtern betrachte: es war kaum anders als bei einem Stück Vieh, über dessen Zugehörigkeit zum Pferch ein Brandzeichen entscheidet.

Viel später erst sagte Penelope einmal teilnahmslos „Du?“, doch in einem Ton, als habe sie alles, was mit mir zusammenhing, längst abgeheftet und weggelegt. Noch später, ich saß schon am Tisch, da hat sie mich, wann immer sie sich unbeobachtet fühlte, angeschaut wie einen, von dem nichts Gutes zu erwarten ist. Vielleicht wollte sie sich auch nur vergewissern, ob es sich bei dem Fremden wirklich um mich handle. Angestarrt hat abwechselnd mich, dann wieder ihre Tochter Penelope, auch die schwarze Krähe, die an ihrer Seite saß. Nun tu schon etwas, entnahm ich den Blitzen, die sie der Tochter aus schmalen Augenwinkeln unverhohlen zuschickte. Muss mächtige Angst haben, dachte ich mir, das Saatfeld, das sie sich ausgeguckt hatten, könne verlorengehen. Die, welche immerhin noch meine Frau war, hat sich anders entschieden. Durch die alte Dienerin hat sie mir ein Abendessen anbieten lassen. Ich ließ es missvergnügt, wie ich inzwischen war, stehen. Nur den Wein trank ich, rauchte erst still, dann mit kräftigen Zügen vor mich hin. Das veranlasste Penelope, die Empfindliche zu mimen und mit ihrem Stuhl ans andere Ende des Raumes zu fliehen. Die Alte folgte geräuschvoll, riss das Fenster auf und schimpfte halblaut.

Wenn das nötig ist, kann ich den Schweigsamen spielen. Ich tue das, wenn ich unüberhörbar meinen Unwillen zeigen will. So zwinge ich die anderen, auf mich zuzugehen. Wann je war solch spektakulärer Protest eher angebracht als hier auf Ithaka? Doch diesmal war ich es, der sich wortlose Ablehnung anhören musste. Das zwang mich, mir eine passende Antwort einfallen zu lassen. Also zog ich lange zugeknöpft an meiner Zigarre, dann jedoch – der Wein löste die Zunge und verhalf der Phantasie zu mächtigen Sprüngen – spürte ich, wie ich gesprächig wurde, ein Wort das andere nach sich zog. Der Umstände wegen mussten diesmal Fragen und Antworten von mir kommen. Wie ich hergekommen war, wollten sie – nicht – wissen. Also musste ich es ihnen sagen! Wie vor großem Publikum berichtete ich stolz, es sei an Bord der Jacht eines ganz großen Reeders gewesen, ich käme geradewegs aus dem fernen Italien! Ausführlich – ich ersparte ihnen kein Detail – erfand ich ein Schiff, auf das ein gekröntes Haupt stolz sein könne, vergaß auch nicht darauf hinzuweisen, dass es draußen in der Welt schon etwas Besonderes sei, zu den engsten Vertrauten dieses Großreeders zu gehören.

Unversehens hatten mich der Wein und ein Hang zum Erzählen zum engen Mitarbeiter eines Herrschers befördert, dessen Namen ich nur vom Gehaltszettel kannte und in dessen inzwischen untergegangenem Reich, genauer einer Ecke davon, ich einige Jahre lang an einem von vielen Bildschirmen für die günstige Auslastung der Frachtflotte gesorgt hatte.

„Ich ging“, sagte ich mit der Geste dessen, der nichts anderes kennt, „in seiner Residenz ein und aus. Es war für ihn ganz selbstverständlich, mir, seinem alten Freund, die Jacht für den Besuch in der einstigen Heimat zur Verfügung zu stellen. Er bot sie mir auch gleich für die Rückreise an!“

Nach solchen Sätzen schwoll mir die Brust, weil ich dachte, das sitzt! Dabei war ich sicher, mein in vielem gewandter, ferner Namenspatron könne stolz auf solch einen Nachfahren sein. Den Wahrheitsgehalt meiner Erzählungen zu überprüfen traute ich ihnen nicht zu. Das mit der Rückreise hatte ich hinzugefügt, weil das, was ich berichtete, Penelope nicht zu beeindrucken schien und ich hoffte, aus ihrer Reaktion auf die wahre – oder sollte ich sagen: erwünschte? – Einstellung mir gegenüber schließen zu können. Meine Erwartungen hatte ich inzwischen deutlich gedämpft, mit so etwas wie Bestürzung rechnete ich nicht mehr. Doch ich hätte es für natürlich gehalten, dass sie sich bei dem Stichwort Rückreise zumindest erstaunt zeigte. Nichts davon! Sie saß nach wie vor beinahe regungslos da und beobachtete mich aus den Augenwinkeln, um kein Wort gesprächiger als zuvor. Fragen hatte sie keine, fand nach all den Jahren nicht ein vertrauliches Wort, von Berührung ganz zu schweigen.

Als dann die Dienerin nach dem zweiten Krug Wein mit dem Blick zu erkunden suchte, ob sie mir einen weiteren vorsetzen dürfe, da ergriff Penelope die Gelegenheit, sagte endlich etwas, aber sagte nur und nicht einmal zu mir hin, es sei nun genug. Ich stutzte und war doch erleichtert, dass sie den Wein meinte. „Er ist“, fuhr sie fast schon gesprächig fort, „gewiss müde“, und fügte hinzu, „Morgen ist auch noch ein Tag.“ Der Tag meiner Ankunft war jedenfalls nicht mein Tag.

Vielleicht dachte sie, nach den unzähligen Tagen in der Fremde komme es auf einen mehr nicht an. Mag sein auch, dass sie sich davon Aufschub versprach. Sie mussten sich wohl darüber klarwerden, wie sie mit der nicht zu leugnenden Tatsache meiner Anwesenheit umgehen wollten. Mich stürzte dies Vertagen in die Ungewissheit des Angeklagten vor der Urteilsverkündung. Nur der Wein dämpfte den Sturz.

Ein Bett, durfte ich ihren Worten entnehmen, sei für mich hergerichtet. Sie gab der Dienerin einen Wink; die bat mich zu folgen und ging mit dem Schlüssel voran. Gleich darauf fand ich mich allein in besagter Schlafkammer, die nicht wiederzuerkennen unmöglich war. Eine Birne, die unbeschirmt an einer Strippe hing, behielt ihr schwaches, kalkiges Licht ichsüchtig vor allem für sich. In den spärlichen Schein, der sich weiter verlor, fügten sich bedrohlicher als in schon angeblasster Erinnerung das aus schweren, dunklen Balken gezimmerte Bett, ein ebenso düsterer und massiger Schrank, eine Waschkommode, deren Spiegel in langen Jahren erblindet war, ein Stuhl: erdrückend alles auf Grund der Enge, der Schwere, der Düsternis, eben so, wie man auf Ithaka schon immer solche Räume eingerichtet hat. Dieser hatte meinen Eltern als Schlafzimmer gedient. Bei meiner Eheschließung mit Penelope war Ercole schon lange verwitwet. Deshalb waren das Bett und alles, was dazugehörte, als eine Art Prokrustesbett mir zugedacht. Der Ausbruch aus Ithaka, als den ich meine beruflich motivierte Flucht zum Festland empfand, und bei der Penelope damals nicht folgen wollte, hatte mir dies Schicksal erspart. Oft genug hatte ich zu Anfang meiner Zeit in der Fremde, wenn ich an zu Hause dachte, dies Verlies vor Augen. Erst mit wachsender, vor allem zeitlicher Entfernung verflüchtigte sich die Vorstellung, beinahe darin eingesperrt worden zu sein. Das Schreckgespenst hat sich nur wenige Male, als ich einen vergeblichen, weil unwirsch zurückgewiesenen Anlauf zu einem Besuch machte, wieder gemeldet.

Auch an diesem Abend machte sich Beklemmung, gedämpft freilich durch den Wein, in der Brust breit. Verändert hatten sie offensichtlich nichts, dem herben Holzgeruch nach zu schließen, der an Museumsräume erinnerte, hatten sie das Zimmer auch nicht benutzt. Dennoch – oder deshalb? – war mir dieser Ort und dieses Bett auf einmal so fremd wie anderer Leute Kleider. Unter anderen Umständen hätte ich mich gefragt, was ich hier zu suchen habe. Stattdessen schritt ich entschlossen, wenn auch schwankend, drauflos. Ich wusch mich und schlief vor Müdigkeit und Wein beinahe noch während des Waschens ein.

Am Morgen, genauer, an dem bereits erwähnten Vormittag danach, zog ich Hemd, Hose, und Jacke, so wie ich sie am Abend zuvor abgestreift hatte, wieder an. Anderes hatte ich nicht bei mir. Keiner von denen im Haus hatte es für nötig befunden, mir etwas herzurichten, geschweige denn, sich zu erkundigen, ob mir etwas fehle. Das Wasser, das die alte Dienerin – erstaunlich genug – zeitgleich mit meinem späten Aufstehen in einem großen Krug brachte und auf die Kommode stellte, war die einzige Aufmerksamkeit.

Du bist hier im heimischen Ithaka, mein Lieber, nicht in einer Nobelherberge und schon gar nicht Vorzugsgast, mahnte ich mich einstweilen zu Bescheidenheit, stand ratlos auf dem Hof und wartete auf den Alten, der noch immer um die Erlaubnis für den Wagen zu feilschen schien. Warten, genauer gesagt, warten zu müssen, ist trotz gelegentlicher Unentschlossenheit nicht meine Sache. Gelassenheit bei den Dingen des Alltags, deren reibungslosen Ablauf man voraussetzen darf und dann doch nicht kann, hat lange nicht zu meinen Stärken gehört. Wäre es anders, ich wäre zeitlebens auf Ithaka geblieben. Das Leben da, so schien es mir damals, bestand aus nichts anderem als geduldigem Sich-Einreihen in die Schar derer, die für den immer gleichen Ablauf vorhersehbarer Ereignisse wie Statisten herumsitzen. Mit einem brummigen „Wenn die Zeit dafür reif ist!“ hatte auch mein Vater, was mir zu drängen schien, auf irgendwann verschoben. Später machte ich die Beobachtung, dass diese Art von Trägheit, betrachtete man sie unvoreingenommen, nicht nur auf Ithaka den Alltag bestimmte. Da war diese Erfahrung leichter zu ertragen, weil ich in der Position des Fremden war. Man sah es mir nach, wenn ich ungeduldig wurde, und ich meinerseits musste mich nolens volens fügen. Nochmals später habe ich die Gelassenheit, die anmutigere Schwester der Trägheit, als eine Haltung schätzen- und lieben gelernt, die im Vergleich zur Stiefschwester, der ziellos hektischen Umtriebigkeit, so unsympathisch gar nicht ist. Das war etliche Jahre vor meiner Rückkehr. Doch in meiner Jugend auf Ithaka, als mein Vater mich immer nur hinhielt, auch alle anderen auf der Stelle zu treten schienen, da rieb ich mich, längst flügge, wund an dem, was ich als Gängelband empfand.

Es dauerte an diesem ersten Vormittag auf Ithaka noch einige Zeit, bis der Alte, als sei nichts geschehen, mit dem von der Landarbeit arg mitgenommenen Pick-up vorfuhr, mir die Türe aufhielt, auf die Ladefläche deutete und fragte, ob sie ausreiche oder ob er „für den Herrn“ noch etwas tun könne. Für einen Moment stutzte ich angesichts solcher Beförderung, ahnend, nein, insgeheim hoffend, dass solcher Wechsel des Klimas nicht von dem Alten allein ausgehe. Dann aber machte sich wieder der Missmut breit, der vom langen Umherstehen herrührte, ich schwang mich auf den Fahrersitz, legte den Gang ein, beantwortete die höfliche Frage mit einem groben Zuschlagen der Wagentür und gab erst einmal Gas, so dass die durchdrehenden Räder kleine Steine aufspritzen ließen. Gleich darauf steuerte ich in gemäßigtem Tempo die Straße an. Und doch, die wiedergewonnene Beweglichkeit konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich mit meiner Rückkehr auf der Stelle trat.

Wie, fragte ich mich, hatten das öde Ithaka und seine Bewohner mich in der Ferne derart zum Narren halten können? Lag es daran, dass die Nabelschnur, die mich mit der Vergangenheit verband, nie ganz durchtrennt wurde, weil das nicht möglich ist? Ob wir es wollen oder nicht, zu den entscheidenden, ersten Begegnungen haben wir eine Beziehung, die einer Fessel gleicht. Erste Begegnungen in der Kindheit: Wir haben fühlen, riechen, wahrnehmen, buchstabieren gelernt, was ein Löffel, ein Blatt, was ein Stück Brot ist. Die erste richtige Liebe: Wir haben Hügel, Ebenen, Abgründe ertasten, erriechen, erschmecken gelernt; auch da die Sinne beteiligt! Bei späteren Begegnungen, eher solchen über den Kopf, will sich vergleichbare Aufmerksamkeit weniger leicht einstellen. Denn nun treten die Erscheinungen als bekannte auf oder sind Legion, so dass man ihrer nur mit Routine Herr werden kann. Allenfalls für jene frühen, prägenden Begegnungen und deren späten Nachhall stellt sich erinnerndes Verweilen oder auch schauderndes Erinnern ein. Und bei Ithaka erschien die Vergangenheit in einem versöhnlichen und einzigartigen Licht, sobald sich in der Fremde auf Grund des zeitlichen, räumlichen, und persönlichen Abstandes vergangenes Glück abrufen oder einbilden, vergangene Misserfolge verdrängen ließen.

Andererseits war die gewandelte Beziehung zu diesem Stück Heimat nicht der entscheidende Grund für meine Rückkehr. Immerhin wartete hier auf Ithaka ein mir zustehendes, nicht zu vernachlässigendes Eigentum. Nicht zu vergessen mein Vater Ercole, wozu nicht wenige unbeantwortete Fragen gehörten, schließlich diese Frau, ein Sohn ... Es ging auch um Pflichten, nicht nur Gefühle. Das Erbe … buchen wir unter der Rubrik „von der Vernunft gebotene Entscheidung“ ab! Was Frau und Sohn betraf, konnte ich mich der Skepsis jedoch nicht erwehren. Warteten die wirklich? Wie lange schon hatten sie das Warten aufgegeben? Wenn sie auf etwas warten, dann auf meine erneute Abreise … Wann immer ich in der Vergangenheit eine überraschende Rückkehr erwogen hatte, eine Atmosphäre, in der ich wie vor einem stumm anklagenden Tribunal stand, hätte ich nicht für möglich gehalten. Frau und Sohn hatten sich nach meiner Ankunft, als ginge es um einen Unbekannten, nicht um einen lange Vermissten, abseits gehalten. Vorsichtig, als wollten sie es mit mir nicht verderben, abwartend, was der ungebetene Eindringling vorhabe. Der Argwohn entstellte ihre Gesichter! Er war schnell an die Stelle anfänglicher Bestürzung getreten. Ich war mir sicher, Vorwurf, wenn nicht Ablehnung aus ihren Mienen zu lesen. Doch vielleicht hatte ich nach so vielen Jahren der Abwesenheit die Rückkehr mit zu großen Erwartungen belastet. Deshalb ermahnte ich mich zu Geduld: Wann sonst lief alles gleich so, wie ich mir das vorgestellt hatte!

3

Mit meinen Problemen beschäftigt erreichte ich die ersten Häuser von Ithaka-Stadt. Bei der Bar des alten Nikolaos – genauer seines Nachfolgers, denn Nikolaos trug schon damals, als ich aufbrach, unübersehbar an der Last des Alters – hielt ich an, um mir an einem Kiosk etwas zum Rauchen zu besorgen. Eine Handvoll Männer, die jenseits der Straße, wo diese sich zu einem kleinen Platz öffnete, im Schatten einer mächtigen Platane saßen, beobachtete mich ungeniert neugierig, nein, eher schon einladend. Mir schien, sie hatten meinetwegen Spiel und Gespräch unterbrochen. Ich grüßte nicht unempfänglich für solche Zuwendung, als handle es sich um alte Bekannte. Die zurückhaltende Weise, in der sie den Gruß erwiderten, verriet dann aber doch, es handelte sich um jene Art von Aufmerksamkeit, die um diese Tageszeit und in dieser Gasse am Rande von Ithaka-Stadt jeder Fremde erhalten hätte, sofern er nur ein wenig Abwechslung versprach.

Ernüchtert bestieg ich den Pick-up und fuhr in Richtung Hafen weiter. Dort hatte ich am Tag zuvor, bevor ich mit dem Bus in die Berge hinaufgefahren war, bei Oinopoulos mein Gepäck untergestellt. Der war ein alter Bekannter unserer Familie. Schon mein Vater Ercole war in der Bar von Oinopoulos’ Vater eingekehrt, wenn er drunten in der Stadt zu tun hatte.

Der Mittag war bereits dabei, dem Nachmittag das Feld zu überlassen. Noch hatten der Wirt und der Bursche, der ihm zur Hand ging, alle Hände voll zu tun. Matrosen, deren Frachter zum Entladen im Hafen lag, waren auf einen Imbiss herübergekommen. Fischer, die ihre Boote nach der nächtlichen Ausfahrt gesäubert und für den nächsten Abend hergerichtet, zugleich ihren Fang am Kai verkauft hatten, nahmen an den Tischen vor der Bar einen Anisschnaps und einige Happen. Sie hatten ihr Tages-Soll erfüllt und zögerten die Begegnung mit der häuslichen Tristesse hinaus. Der Wirt, ein Bekannter aus Schultagen, bot mir einen Platz unter seinen Gästen an. Ich bestand auf einem Tisch abseits, von wo aus ich das kleine Welttheater ungestört verfolgen konnte. Wegen meines ungeklärten Status auf Ithaka wäre es mir lästig gewesen, hätte mich einer in Fragen nach meiner Person und dem Grund meines Aufenthalts verwickelt. Die vereinzelt hingeworfenen Sätze der Männer, die ich auch so mitbekam, drehten sich um Frauen, ums Wetter der nächsten Nacht, die Nachfrage nach Fisch und die Preise für Diesel. Wie überall in dieser Art von Kneipe. Da sie von der Arbeit müde und miteinander beschäftigt sich um mich nicht kümmerten, durfte ich meinen Imbiss unbehelligt einnehmen. Ich vertrieb mir die Zeit, indem ich den Möwen zuschaute, diese ab und zu nach Brotresten fliegen ließ und zusah, wie ein Fischer von seinem keifenden Weib nach Hause gezerrt wurde, ein anderer, vom Anisschnaps schwer, Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten. Mit hinreichendem Abstand zu denen, um derentwillen ich mir einredete, zurückgekommen zu sein, war Ithaka sogar ein wenig unterhaltsam, jedenfalls nicht mehr bedrückend.

Es war dann schon Nachmittag. Die Matrosen hatten sich auf ihr Schiff, die Fischer der Gewohnheit folgend zu Frau und Kindern zurückgezogen, Ithaka Stadt verschnaufte nach der kleinen Betriebsamkeit des Vormittags und verkroch sich einer inneren Uhr folgend vor der mäßigen Wärme eines Herbstnachmittags.