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Das Geschehen zweier ungewöhnlicher Pandemie-Jahre wird unter verschiedensten Gesichtspunkten thematisiert: Die Sorgen Erkrankter und ihrer Angehörigen sind andere als die Nöte der beruflich zum Nichtstun Verdammten. Der Leerlauf der Bildungseinrichtungen steht im Kontrast zum geschäftigen Treiben der Gesundheitsbranche. Angesichts der Überlastung mancher Krankenhäuser wirkt die Politik häufig ratlos und wie gelähmt. Vielen besorgten, oft auch ungeduldigen Menschen steht eine aggressive Minderheit derer gegenüber, die statt der Bedrohung durch das Virus eine gewaltige Verschwörung sehen. Und wie stets und überall gibt es Gewinner und Verlierer.
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Seitenzahl: 285
Veröffentlichungsjahr: 2022
Martin Mylonas
Wortflut & Wissensnot
Episoden aus Corona-Zeiten
© 2022 Martin Mylonas
Coverdesign von: Dorothea Steinle (www.weboptimisten.de)
ISBN Softcover: 978-3-347-52356-2
ISBN Hardcover: 978-3-347-52361-6
ISBN E-Book: 978-3-347-52363-0
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Erwachen
Bedrohliches rückt näher
Ein Land wechselt in den Leerlauf
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf
Rast und Unrast
… kämpfen selbst Götter vergeblich
Familienbande I
Europäische Misstöne
Verschwörung!
Ein tastender Neustart
Querelen um einen Schlachtbetrieb
Oben ohne
Bildung hat Ruh
Diktatur der Mediziner?
Rufe nach Freiheit
Tests auf unerwünschte Mitbringsel
Malle tut gut!
Welle oder Woge?
Familienbande II
Aushilfsjob statt weite Welt
Bio-Hightech für den kleinen Piks
Wie ein neuer Stern von Bethlehem
Absurdes jenseits und diesseits des Atlantiks
Familienbande III
Ein harter Lockdown
Fehlanzeige allerorten
Wer hat die besten Narrative auf Lager?
Gewinner und Verlierer
Wissen, Glauben, Leugnen
Wer wagt es, die Zügel zu lockern?
Corona und zwei Beben
Auswege, Ausbruchsversuche und Ausgaben
Die Notbremse ziehen?
Konfrontationen auf den verschiedensten Ebenen
Maske muss sein!
Die Bremse lösen?
Eine bunt gespaltene Gesellschaft
Der nahe Osten – sehr nah!
Alt gegen Jung, richtige und falsche Taschen
Corona und die Politik
Die Pandemie ist noch nicht vorbei
Wir sind ‚Regebogen‘
Corona lässt sich nicht abschütteln
Das Klima ist auch noch da!
Rückzugsgefechte in Afghanistan
Herbstliches
Erwachen
Wie aus dem Nichts tauchen zwei Gesichter auf und beugen sich über meinen Kopf. Deutlich sehe ich nur Haare, Stirn und Augen, darunter erscheint alles verschwommen. Träume ich das? Da reißen beide die Augen auf, nicht bedrohlich, eher überrascht, vielleicht sogar triumphierend. „Hören Sie mich, Herr Ferner?“, fragt eine Stimme. Aller Anstrengung zum Trotz gelingt mir kein Ja. Dann verschwindet die Erscheinung, als habe sie ein Windhauch verweht.
Ich war, wie ich später erfuhr, wieder eingeschlafen. Dieser erste Kontakt zur Außenwelt war ein kurzer und ermüdender.
Beim nächsten Mal schwebt aus dem Raum heraus eine Gestalt auf mich zu: „Alex!“ Sie klingt überrascht und glücklich. Es ist meine Frau Sophia. Sie erkenne ich sofort, vermutlich an ihrer Gestalt und Stimme, obwohl auch bei ihr alles unterhalb des Gesichts in gleichförmigem Blaugrün verschwimmt. „Alex, erkennst du mich? Wie geht es dir?“ Wieder nehme ich alle Kräfte zusammen, erneut ohne Erfolg. Ich bekomme keinen Laut heraus, kann mich auch nicht rühren. Was ist los mit mir? Mit den Blicken stürze ich ihr für einen Moment entgegen, bevor mir die Augen zufallen. „Mein Gott, er ist aufgewacht. Ich bin so glücklich!“, höre ich noch von weither, dann vermischen sich andere Stimmen mit der ihren. Vorbei.
Dies war mein zweiter Ausflug in die Außenwelt eines hell getünchten, irgendwie fremden, weil aufregenden und unruhigen Raumes. Er sollte mir in den nächsten Tagen ebenso vertraut werden wie die weiß oder grün gekleideten Personen, die neugierige Blicke auf piepsende Geräte und Bildschirme mit bunt zuckenden Kurven warfen und dabei manch Seitenblick auch zu mir hin.
Wer bin ich? Ich, Alexander Ferner, Mitte vierzig, bin gerade dabei, dieses Ich und alles, was dazugehört, zurückzuholen. Dabei bin ich auf das angewiesen, worauf ich über mehrere Wochen hin nicht reagiert habe: auf Ansprache und Anstöße meiner Mitmenschen. Nur dadurch vermag ich allmählich zu erfahren, was hinter mir liegt und weshalb ich mich in diesem weiß getünchten Raum befinde. Bei ‚hinter mir’ geht es um die tiefschlafähnliche Phase, die man als Koma bezeichnet, aber auch um mein Leben davor. Eine große Hilfe bei dieser Rückeroberung ist Sophia, meine Frau und in normalen Zeiten meine ‚Chefin‘. Sie betreibt ein vielbesuchtes Reisebüro, dessen Schwerpunkte Ostasien und der Mittelmeerraum sind. Für letzteren war bis vor kurzem ich zuständig. Als gelernter Historiker und Kunsthistoriker organisierte und begleitete ich die Studienreisen. Doch vorerst bedeutet Reisen für mich: von einem Krankenbett ins nächste.
Nach einigen Tagen in wachem Zustand durfte ich solch eine Mini-Reise antreten. Aus dem saalähnlichen Überwachungsraum, in dem ich einige Wochen ohne Bewusstsein verbracht hatte, wurde ich samt Infusionsflaschen in einen kleineren, ebenfalls weiß getünchten Raum geschoben, der für einige Zeit mein neues Zuhause werden sollte. Kaum hatte mich eine freundlich besorgte Pflegeschwester neu verkabelt, da trat die erste von drei Therapeutinnen auf, die sich von da an täglich um mich kümmern sollten. Diese Grazien brachten vorsichtig, aber beharrlich, Bewegung in meine steif und kraftlos gewordenen Glieder, ließen mich schwer verständliche Laute allmählich zu einfachen Wörtern formen oder trainierten meine Wahrnehmung anhand von Farben und Formen. Hinzu kamen die regelmäßigen Visiten verschiedenster Doktoren. Sie stellten sich als Spezialisten für Lunge, Herz, Nerven und so weiter vor. Mitunter überlegte ich, wie viele solche Facharbeiter mein Organismus beschäftigen könne. Als ich allmählich ihre emsigen Bemühungen und Fortschritte einzuordnen verstand, verglich ich mich mit einem Boliden, den eine vielarmige Schar von Mechanikern für den bevorstehenden Start bereitmacht. Doch um kraftvolle Beschleunigung ging es bei mir noch lange nicht, eher versuchten wir gemeinsam, den kleinen Fortschritt vom Vortag zu sichern oder ein wenig auszubauen.
Da meine Frau mich nun regelmäßig besuchen durfte, erfuhr ich von ihr, was in meiner Wahrnehmung nicht existierte: Sechs Wochen hatte ich nach einem Sturz auf den Hinterkopf im Koma auf der Intensivstation gelegen und wurde künstlich ernährt. Schonend bereitete sie mich darauf vor, dass die Genesung einen langen Atem erfordere. Ein Gespräch darüber, welches Ziel schließlich erreichbar wäre, vermieden wir. Stattdessen sprachen wir über die Atemschutzmasken, über deren Rand hinweg mich die neugierigen Augen meiner Therapeutinnen oder Ärzte fixierten. Auch Sophia trug solch eine Maske. Ich hatte das als Vorsichtsmaßnahme zu meinem Schutz eingeordnet. Von meinen Reisen nach Fernost waren mir Masken als vorübergehender Infektionsschutz geläufig, also musste es sich auch im Krankenhaus um diese Vorsichtsmaßnahme handeln. Ja und Nein! Da ich in meiner Erinnerung soweit zurückgefunden hatte, dass ich mich nach unserem Reisebüro erkundigte, schluckte meine Frau kurz und trug dann vor, was sich wie eine Krankenakte anhörte: „Alex, auf Anraten der Ärzte habe ich das von dir ferngehalten. Es sollte deine Genesung nicht behindern. Aber jetzt, wo du danach fragst, will ich dir nichts vormachen. Unser Geschäft steht beinahe vor dem Aus. Du musst wissen, es grassiert im fernen Osten eine Seuche, weshalb das öffentliche Leben dort stark eingeschränkt wurde. An Reisen nach China und in andere asiatische Länder ist vorerst nicht mehr zu denken. Manche befürchten, dass sich die Seuche auch hierzulande ausbreitet. Deshalb müssen wir uns und andere schützen. Die Masken sind ein wichtiges Mittel. Allerdings fehlen sie wie auch andere Schutzausrüstung an allen Ecken und Enden. Ich habe einige durch die Beziehung zu Dr. Mohr, unserem Apotheker, ergattert. Sie sind so rar, dass die Preise für die wertlosen Vliestücher explodiert sind. Mohr hat sie mir aus alter Freundschaft noch zum vorigen Preis überlassen, lässt grüßen und wünscht dir baldige Genesung.“
Das war meine erste Begegnung mit dem, was ich später als Pandemie, genauer gesagt, als deren Auswirkungen kennenlernte. Vorerst beunruhigte mich mehr der Abbruch der Reisebuchungen nach Asien. Sie waren tragender Teil unseres Geschäfts. Weil nach Sophias Worten auch andere Einrichtungen vom Stillstand betroffen waren, tröstete ich mich mit der Erwartung, das alles werde sich längst normalisiert haben, wenn ich wieder ins Geschäft einstiege. Dabei rechnete ich leichtfertig mit wenigen Wochen, was meine Genesung wie auch das Abklingen der Seuche betraf. Die Zuversicht hatte mir ein Oberarzt verordnet, als er sich von mir verabschiedete. Sie galt für die Nachwehen des Sturzes ebenso wie für die neu heraufziehende Bedrohung, die sich vorerst noch undeutlich abzeichnete.
Als mir die Crew, die mich therapierte, pflegte und überwachte, ans Herz gewachsen war, als ich unterstützt von einer Therapeutin bereits unsicher zum Fenster humpeln und einen Blick auf die Welt draußen werfen durfte, war der nächste Ortswechsel fällig. Es stand ein größerer Umzug an, nicht von Raum zu Raum, sondern von einer Einrichtung zu einer ganz anderen. „Sie sind so weit, dass Sie eine Rehaklinik als neues Zuhause erobern werden!“, hatte einer der Ärzte gescherzt. Da würde ich länger bleiben und da werde es mit der Rehabilitation erst so richtig ernst werden. Alle drückten mir die Daumen, ich verabschiedete mich dankbar und ahnte, nach dem therapeutischen Vorspiel wartete dort ein kräftezehrendes Drama perpetuum auf mich.
Der Umzug verdiente anders als beim vorigen Mal eher die Bezeichnung Reise. Ich wurde in ein Sanitätsfahrzeug geladen und Bewegung sowie regelmäßige Stop-and-gos ließen jeweils erkennen, ob wir uns noch in städtischem Umfeld oder auf einer Landstraße befanden. Nach langer Fahrt hatten wir endlich unser Ziel erreicht, die Rehaklinik in einem offensichtlich waldreichen Mittelgebirge. Meine Sophia war mit Gepäck vorausgereist und hatte sich in Reichweite zur Klinik einquartiert. Die Nähe und Mitwirkung von Angehörigen galten als förderlich für eine Rehabilitation.
Was mir in der Reha beim einführenden Arztgespräch augenzwinkernd als sportlicher Aufstieg vorgestellt wurde, entpuppte sich als steiler Anstieg unter harter Fron. Ein wöchentlich aktualisierter Stundenplan mit Arztgesprächen, Trainingsstunden zu Wasser und zu Lande, abwechselnd im Freien oder einer Gymnastikhalle, waren eine Art Korsett, das stetig enger geschnürt wurde. Es sollte mich zurückführen in den Kreis der Zweibeiner, die ohne Hilfen aufrecht gehen. Aufmunternd präsentierte der Oberarzt die jeweils nächste Stufe als Ergebnis meiner Fortschritte und der Unterstützung durch Sophia. Undenkbar blieben für mich die kleinen Verstöße gegen das Reglement des Hauses, welche sich manche Mit-Patienten ungeniert leisteten: das Bier und die Zigarette am nahen Kiosk nach den Trainingseinheiten oder das kleine Vesper zwischendurch. Ich glaube, sie schauten bisweilen mitleidig auf mich herab, was ich mit Fassung ertrug. Vielleicht hatte ich, so motivierte mich Sophia zum Durchhalten, krankheitsbedingt mehr auf- und nachzuholen als diese Fastenbrecher.
Sophia war es auch, die mich dazu brachte, meine Erlebnisse aufzuzeichnen: „Alex, wir sollten realistisch sein. Wie sich die Welt um uns herum entwickelt, wissen wir nicht. Momentan herrscht Stillstand, aber auch Konfusion. Davon bleibt unser Geschäft nicht verschont. Deine Arbeit als Reiseleiter wirst du so schnell nicht mehr aufnehmen können. Was willst du machen, wenn sie dich als geheilt entlassen? Abwarten und Trübsal blasen? Nicht dein Ding, wie ich dich kenne. Du bist Historiker, hast einen interessierten Blick auf das, was um dich herum geschieht. Vielleicht kannst du für spätere Zeiten so eine Art Tagebuch führen?“
Da hatte sie den Keim gelegt zu einem Vorhaben, das mich fortan nicht mehr losließ. Dass eine aufreibende Zeit für alle bevorstand, war selbst in der Reha nicht zu übersehen. Vorhersehbar war auch, dass die vor uns liegende Wegstrecke in allen Gesellschaften starke Fliehkräfte freisetzen würde: Wir müssten selbstverständliche Freiheiten und gewohnte Annehmlichkeiten binnen kurzem für längere Zeit aufgeben. Mein besonderes Interesse galt der Frage, ob und wie uns das gelänge. So begann ich bald darauf, die Ereignisse aufzuzeichnen. Dabei konnte ich auf Erlebtes wie auch auf allgemein zugängliche Quellen zurückgreifen. Nicht immer war es einfach zu erkunden, was tatsächlich geschah. Zu oft versuchen Akteure Unliebsames zu verschleiern, versuchen Berichterstatter, ihre Beobachtungen einer tatsächlichen oder vermuteten Tendenz folgend zu filtern. Doch für die vorliegende Auswahl und das Bemühen um ‚Wahrheit‘ des Geschriebenen und Gesagten bin ich alleine verantwortlich.
Bedrohliches rückt näher
Nach drei Wochen harten Trainings sollte ich auf Sophia als sanfte Antreiberin und nimmermüde Stütze verzichten. Die Lage in Oberitalien hatte sich dramatisch zugespitzt. Den Fernsehnachrichten war zu entnehmen, dass in der Lombardei und in Venetien ganze Städte abgeriegelt und die Zufahrtsstraßen von den Carabinieri streng kontrolliert wurden. Ebenso wie zuvor schon in Wuhan im fernen China durften Zehntausende ihre Wohngebiete nicht mehr verlassen. Wie nicht anders zu erwarten, gab es einen Ansturm auf Läden mit den unverzichtbaren Waren des Alltags. Besonders hat sich mir ein älterer Herr eingeprägt, der vor einer Kamera klagte, die Pasta sei ausverkauft! Hilflos hielt er seinen leeren Einkaufsbeutel hin. Da die Zahl der Infizierten sprunghaft anstieg, wurde gleich darauf der Karneval in Venedig abgesagt und die Scala in Mailand stellte ihren Betrieb ein. Auch von ersten Grenzschließungen in Europa war die Rede, der Bahnverkehr zwischen Österreich und Italien war vorübergehend blockiert.
Für mich, der ich im Minikosmos Rehaklinik gefangen war, waren dies zunächst befremdliche Vorgänge aus einer medial vermittelten Welt. Doch mit zunehmender Mobilität erschien deutlicher ein Warnsignal am heimischen Horizont: Sophia war Hals über Kopf nach Hause gefahren, weil die Entwicklung im gar nicht so fernen Italien nicht ohne Auswirkungen auf unsere Reiseagentur bleiben konnte. Deren wichtiges Standbein Asien war eingeknickt, die Ziele im Süden Europas lahmten ebenfalls. Was würde aus unseren Mitarbeiterinnen werden? Wie sollten besorgte Kunden beraten oder eher betreut werden? Wenn schon ich als Mitarbeiter ausfiel, war Sophia als Chefin unverzichtbar. Ganz abgesehen von unseren Kindern: Obwohl erwachsen, benötigten sie Gespräch und mahnenden Zuspruch ihrer Mutter. Marcus drohte sich wie eh und je in der Weltverbesserung zu verheddern, Cornelia verzweifelte wegen ausbleibender Kunden in ihrer Boutique für Reisebedarf. Auch um meine Eltern, die vor kurzem in ein Seniorenheim gezogen waren, mussten wir uns kümmern. Unsere Kinder konnten das nicht leisten, sie hatten eigene Sorgen. Und im Heim gab es Befürchtungen, sie könnten dort das unbekannte Virus einschleppen.
Dass eine Art Unwetter aufzog, blieb selbst im Schutzraum Reha-Einrichtung nicht länger verborgen. Wir Patienten wurden angehalten, vor und nach jeder therapeutischen Anwendung die Hände gründlich zu waschen, die Therapeuten selbst hielten nicht anders als die Ärzte deutlich größeren Abstand zu uns ein, meist auch untereinander. Schutzmaterial wurde mehrfach angekündigt, lieferbar, erfuhren wir, war so gut wie nichts.
Von Sophia, die nun telefonisch mit mir in Verbindung blieb, erfuhr ich, dass unsere Reiseberaterinnen eine Art Rückwärtsgang eingelegt hatten: Statt Reisen zu verkaufen, mussten sie verkaufte Reisen stornieren und Rückbuchungen vornehmen. Cornelia hatte ihren Laden im nahen Flughafen geschlossen. Denn ans Fliegen wagte kaum noch jemand zu denken, zumal auch in heimischen Regionen die Zahl der Infizierten anstieg.
In einem Telefongespräch mit unserem Freund und Apotheker Dr. Mohr wollte ich erfahren, wie er die Situation zuhause und darüber hinaus einschätze. Mohr war überrascht über meinen Anruf: „Alexander, ich habe schon ab und zu mit Sophia über deine Genesung gesprochen. Doch jetzt, nach so vielen Wochen deine Stimme am Telefon, das ist für mich, als seist du gerade ins Reich der Lebenden zurückgekehrt. Schlägt die Reha an, machst du ordentlich Fortschritte?“ Da die Apotheke bereits geschlossen war und er noch in seiner ‚Hexenküche‘ arbeitete, durfte ich ihn ausführlich informieren. Ich verspürte den Drang, über das zu sprechen, was ich erlebt hatte. Bei solchem Monolog, das ist klar, geht es nicht um Information im strengen Sinne. Wer so berichtet, verschafft sich neue Klarheit über Erlebtes, ordnet es anders ein, verändert es unwillentlich. Der Zuhörende auf der anderen Seite macht möglich, was einsames Blättern in der Erinnerung nicht bewirken könnte.
Nachdem ich im Gespräch vieles hatte Revue passieren lassen, fand ich zu meinem eigentlichen Anliegen zurück: Wie er die Bedrohung durch das neue Virus einschätze?
„Ich will ehrlich sein, Alexander. Ich bin kein Virologe und kann deshalb wenig Zuverlässiges sagen. Ich weiß nur, dass der Übeltäter inzwischen auf den Namen Covid-19 getauft wurde.“
„Und wie kann ich mir so ein Virus vorstellen, Alfons?“, unterbrach ich ihn.
„Wenn man den wechselnden Darstellungen in den Medien vertrauen darf, müssen wir uns das Ungeheuer wie einen Seeigel vorstellen, oder anders, wie die stachelige Fruchthülle von Kastanien. Das allerdings im Nanogrößenbereich!“
„Nano? Und warum ist ein so winziges Biest derart gefährlich?“
„Alexander, es ist nicht der einzelne Winzling, der uns bedroht. Das Biest, wie du richtig sagst, kann sich teuflisch schnell vermehren, wenn es auf die Schleimhaut in unserer Nase oder im Rachen trifft. Es überquert dann in Kompaniestärke mit seinen Trägern Kontinente, Ozeane und weite Landstriche als eine Art blinder Passagier. Mitfahrgelegenheiten findet die Virenschar, unruhig und rastlos wie wir Menschen heutzutage sind, mehr als genug. Nehmen wir Italien: Dort ist das Virus mit Sicherheit nicht aufgekommen, es wurde wohl von weither aus Asien eingeschleppt. Segnungen einer großen asiatischen Community! Erstaunlich für mich: Dort, wo es herkommt, scheint man die Sache leichter in den Griff zu bekommen, sofern man den Nachrichten vertrauen darf.“
„Was meinst du, Alfons,“ wollte ich wissen, „werden wir das auch bei uns in den Griff bekommen? Du kannst dir ja ausmalen, was das für unser Geschäft bedeutet.“
Alfons Mohr lachte unüberhörbar gezwungen: „Wenn du so fragst, Alex, dann wäre es an der Zeit, bereits jetzt einer großflächigen Infektion vorzubeugen. Es ist lange schon bekannt, was man zu tun hat. Wer es dennoch nicht weiß, kann es in einem alten Pandemieplan nachlesen oder von den Asiaten lernen. Aber unsere Politiker sind gerade mit Wichtigerem beschäftigt. Den einen steckt noch der Fasching in den Knochen, andere verhöhnen in Bierzelten den politischen Gegner, und einzelne reisen durch die Lande, um sich als Parteiführer zu empfehlen. Vielleicht glauben sie tatsächlich, dass es nichts Wichtigeres gibt als das, was sie gerade treiben. Wenn sie sich da mal nicht täuschen! Hoffen wir, dass ihnen die Einsicht noch rechtzeitig kommt. Sonst kommen uns die Folgen teuer zu stehen!“
Soweit Alfons Mohr, Freund und Gesprächspartner in ernsten und weniger ernsten Fragen des Lebens. Hoffnung auf eine schnelle Wende zum Besseren konnte er nicht vermitteln; er schien eher vom Gegenteil überzeugt. Das war nicht gerade Rückenwind für meinen Anstrengungen, in den Alltag zurückzufinden. Andererseits wusste ich, dass ich in unserem Reiseunternehmen jetzt mehr als je zuvor gebraucht würde. Dabei würde es weniger um neue Buchungen gehen als um den Versuch, eine drohende Pleite abzuwenden. Auch Cornelia baute auf meine Unterstützung.
Dies trieb mich dazu, meine Trainingseinheiten zu forcieren. Zusätzlich zur Betreuung durch meine Therapeuten machte ich Übungen auf eigene Faust. So ging ich, wenn auch noch unsicher, mit Krücken vor meinem Zimmer auf und ab oder las die Tageszeitung laut, um meine sprachliche Artikulation zu normalisieren. Die betreuenden Ärzte wunderten sich über die Fortschritte und stimmten nach mehr als sechswöchigem Aufenthalt in der Reha einer Entlassung und weiteren Betreuung zuhause zu: „Machen Sie einen fliegenden Wechsel, aber nehmen Sie das mit dem Fliegen nicht wörtlich! Und nehmen Sie sich in Acht, damit Sie nicht nach überstandenem Knockout in die nächste Katastrophe stolpern.“
Ein Land wechselt in den Leerlauf
Sophia holte mich dann zu einem Zeitpunkt ab, an dem Deutschland die Grenzen zu Nachbarländern schloss. Für die Heimreise war dies nicht von Belang, dennoch war allein das Wissen bedrückend. Als ich meiner Chauffeurin vorschlug, unterwegs eine Rast einzulegen, war sie skeptisch, ob das möglich sei. Sie sollte recht behalten. In den Ortschaften, durch die wir fuhren, herrschte schon weitgehend Stillstand. Gaststätten hatten sich auf Weisung von oben in Unrast-stätten verwandelt: schwach beleuchtete oder dunkle Fenster überall, kaum eine Menschenseele auf der Straße. Lock-down, erklärte mir Sophia, nenne sich das. Und schon behaupteten einige Politiker lautstark, dass man die Zügel, wie sie es nannten, gar nicht genug anziehen könne. Einer von denen, verriet sie mir, erinnere sie an eine Figur aus Rotkäppchen. „Rotkäppchen?“, wollte ich wissen. „Wie kommst du da drauf?“ Sie lachte: „Großmutter, was hast du eine so ungewohnt fürsorglich bedrohliche Stimme? Damit ich dir leichter Angst einflößen kann, mein Kind.“ Vielen, selbst den Erwachsenen, schien er geradezu ein Heilsbringer.
Was ein Lock-down bedeutet, wurde mir richtig erst bei unserer Heimkehr klar. Von der Kinderkrippe bis zur Hochschule stand der Nachwuchs vor verschlossenen Türen. Oft auch hinter verschlossenen Türen zuhause, denn Spiel- und Sportplätze blieben geschlossen, weil man dort ein erhöhtes Infektionsrisiko vermutete. Ordnungshüter hatten eifrig rot-weiße Absperrbänder angebracht und kontrollierten deren abschreckende Wirkung mangels anderer Aufgaben unnachsichtig. Viel war von Online-Lehre die Rede, in der Regel gab es mangels Ausrüstung und Infrastruktur nur Online-Leere. Letzteres betraf den Unterricht, online waren die meisten Jugendlichen anderswo unterwegs. Nicht anders als Spiel- und Sportplätze blieben am anderen Ende der Alters-Scala die Alten- und Pflegeeinrichtungen zugesperrt. Das galt selbst für besuchende Angehörige. Anders als diese konnte man das Personal nicht ausschließen. Da das erforderliche Schutzmaterial bestenfalls knapp, meist nicht vorhanden war, war die Gefährdung für beide Seiten hoch. Händewaschen und Desinfizierung war möglich, der vielgepriesene Abstand aus naheliegenden Gründen nicht umsetzbar. Der Tod machte in den Heimen so manche Beute.
Schreibtischarbeiter wurden, wo immer das möglich war, ins Home-Office geschickt. Das setzte die erforderliche technische Ausrüstung voraus. Anbieter von PCs, Laptops, Webcams und dergleichen Gerät kamen mit der Lieferung nicht nach, die Preise stiegen mit der Nachfrage um die Wette. Die heimischen Büros fielen dann sehr unterschiedlich aus: Seltener deutlich komfortabler als der angestammte Arbeitsplatz, öfter improvisiert und störungsanfällig. Genießen ließ sich der Rückzug ins Private ohnehin nur anfänglich. Bei manchen stellte sich Gereiztheit ein, vielen fehlten die gewohnten sozialen Kontakte und die immer wieder zurückgelegten Wege. All das konnte zu Missmut und häuslicher Verstimmung führen, schlimmer, auch zu Gewalt.
Geschäfte blieben geöffnet, sofern ihr Angebot dem diente, was unter häuslichen Bedarf fiel. „Klar“, meinte Alfons Mohr, „Gesundheits- und Hygieneartikel brauchen die Leute, etwas zu essen natürlich auch. Aber das Sortiment aus dem Baumarkt?“ Das sah seine Apothekenhelferin ganz anders: „Na, hören Sie mal, Dr. Mohr, wie stellen Sie sich das eigentlich vor? Meinen Mann haben sie nach Hause geschickt. Sein Kaufhaus ist dichtgemacht. Was soll er den ganzen Tag machen? Er tapeziert und malert, außerdem bepflanzt er die Blumenkübel auf dem Balkon neu. Wenn er nicht auf unseren Jüngsten aufpassen muss, kann ich mir sicher sein, er treibt sich in einem Baumarkt herum.“ Mohr blinzelte mir zu.
Tatsächlich fiel der Beifall für das, was anfangs als Entschleunigung des öffentlichen Lebens gepriesen wurde, sehr unterschiedlich aus. Oft hatte sich die tägliche Routine so verfestigt, dass sich die langsamere Gangart nur unter Stolpern einstellte. Wo die Fahrten von und zur Arbeit wegfielen, das beliebte Shoppen in der City unmöglich wurde, vom Sport und Fan-Treiben oder dem abendlichen Ausgehen ganz zu schweigen, da entstanden hässliche Löcher im Tagesablauf, die irgendwie gestopft werden mussten. Misslich war, dass fast alles heruntergefahren war, was als Flicken hätte dienen können. Das TV-Programm mit seinen nicht enden wollenden Rateshows, immer absurderen Fragen samt Rate-Clowns, ferner mit aufgewärmten Fußballspielen und Spielfilm-Oldies half nur kurz. Streamingdienste sprangen mit größerem Angebot in die Lücke. Doch sie wurden angehalten, ihre Übertragungsqualität zu reduzieren. Zusammen mit dem Verbrauch für das Home-Office und vereinzeltem Fernunterricht war das Netz überfordert. Es rächte sich, dass die digitale Infrastruktur, seit vielen Jahren groß angekündigt und grob vernachlässigt, den Anforderungen hilflos hinterherhinkte.
Andere, darunter mein Öko-Sohn, atmeten auf, weil heraufzuziehen schien, wovon sie lange schon schwärmten: „Unser Lebensstil, der alles kaputt macht, kann so nicht weitergehen. Jetzt sind wir gezwungen, alles auf den Prüfstand zu stellen. Fauna und Flora atmen erleichtert auf, Luft und Wasser erhalten gerade ihre ursprünglichen Farben zurück. Wenn der Ausnahmezustand erst vorüber ist, werden wir ein ganz anderes Leben führen. Zum Raubbau an der Natur dürfen wir auf keinen Fall zurückkehren!“
Wer weniger leicht zu beglücken war, tröstete sich mit dem Ausblick: „Wenn der Spuk erst vorbei ist, müssen wir schleunigst aufholen, was wir inzwischen versäumt haben. Da werden wir den einen oder anderen Gang zulegen.“
Realistischer blieb die gelassene Sicht einer Minderheit: „Dass nichts mehr so sein wird, wie es einmal war, ergibt sich schon aus der Tatsache, dass alles im Fluss ist. Keiner steigt, wie einmal ein kluger Mann gesagt hat, zweimal in denselben Fluss!“ Doch es gilt auch: Wer aus dem Fluss steigt, ist in der Regel ein ganz anderer nicht.
In der Tat ließ sich die Vermutung, es gebe in der Zeit nach der Pandemie einiges nachzuholen, nicht von der Hand weisen. Der Schongang, in dem Industrie und Handel verharrten, machte die Tücken einer ‚ganz und gar anderen Lebensweise‘ sogar für diejenigen spürbar, die von solchem Paradies schon immer träumten. Für alle, die eher nüchtern unterwegs waren, galt das erst recht. Der Ersatz für Verdienstausfälle und die großzügige Verhinderung von Firmenpleiten erforderten jede Menge Geld, was vorerst nur auf Pump zu haben war. Zwar sprach der Finanzminister von „Wumms“, von seiner Bazooka und „Wir haben’s ja“, vergaß auch nicht, sich ob vergangener Sparsamkeit auf die Schulter zu klopfen, doch es gab leise Zweifel an seiner Kompetenz in Sachen Geld. Bei anderer Gelegenheit hatte er davon gesprochen, er lasse den nicht benötigten Teil seines Gehalts einfach auf dem Girokonto liegen. Hatte er nicht mitbekommen, wie leicht es dort dahinschmilzt? Vermutlich hatte er an Jesus‘ Worte ‚Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden‘ gedacht? Ein kluger Beobachter hatte einst das ‚wird‘ durch ein ‚will‘ ersetzt.
Was ist ein Hotspot und was sind Superspreader? Beide Begriffe gelangten in der Pandemie nicht gerade zu Ruhm und Ehre, jedoch in aller Munde. Rechtsanwalt Bissing konnte ein Lied davon singen. Als ich wegen unserer Reiseagentur und Cornelias Boutique seinen Rat suchte, musste ich mich gedulden, bis er aus der Quarantäne kam. „Du glaubst nicht“, meldete er sich schließlich, „was für einen Ärger so ein bisschen Winterurlaub mit sich bringt. Ich hatte ja bei euch die Bustour gebucht. Sollte mir bei Winterwetter die stressige Anfahrt ersparen. Hätte ich das mal gelassen, ich wäre noch ungeschoren aus Tirol herausgekommen. Stattdessen haben sie bei der Rückfahrt den Bus sofort in ein Testzentrum geleitet. Da waren dann einige positiv. Mitgefangen, mit weggesperrt. Vierzehn Tage in einer unbenutzten Kaserne, untergebracht in kahlen Räumen mit fein dosiertem Hofgang im Schneeregen. Ein Fest für die ganze Familie! Weshalb die Schikane? Man kommt sich halt beim Après-Ski etwas näher. In jeder Hinsicht, das gilt auch für dies kontakthungrige Virus. Gut, manche lassen in Tirol die Sau raus. Da wundert einem gar nichts. Aber deshalb gleich Gruppenhaft? Bös hat es die Freunde aus Island und den skandinavischen Ländern erwischt. Schlagen auch gern mal über die Strenge, weil der Alkohol in Tirol so viel günstiger die Kehle herabrinnt als zuhause. Ja, und die schlauen Tiroler? Die haben, was sie über die Infektion wussten, geschäftstüchtig wie sie sind, erst einmal unter der Decke gehalten. Hotspot? Sowas kennen wir nicht. Gut, hätten wir vielleicht nicht anders gemacht. Doch dadurch wurde in den Kneipen Personal zu Superspreadern, in schlichtem Deutsch: zu Virenschleudern. Gottlob haben wir die Quarantäne hinter uns. Jetzt müssen wir sehen, wie wir hier auf leisen Sohlen in den ungewohnten Alltag finden. Aber zu deinen Fragen, Corona-Hilfen und Forderungen an Reiseveranstalter: Gib mir ein zwei Tage. Ist für mich Neuland, da muss ich mich erst einmal schlau machen.“
Neuland betrat auch ich. Mein Alltag hielt manch ungewohnte Herausforderung bereit. Medizinisch überwachen und steuern sollte die Schritte zur endgültigen Genesung unser Hausarzt, Dr. Stürmer. Der wies zugleich Thea Giesler an, die als Trainerin an die Stelle der Reha-Therapeutinnen getreten war. Stürmer legte mir ans Herz, ein besonderes Auge auf unsere jungen Leute zu haben: „Verstehen Sie mich nicht falsch, Sie sollten das im eigenen Interesse wie auch dem Ihrer Eltern tun. Soweit ich das beurteilen kann, verhalten sich Marcus und Cornelia vernünftig. Aber glauben Sie mir, es ist in diesen Zeiten nicht einfach für die jungen Leute. Hier findet eine Party in der Nachbarschaft statt, dort trifft sich einer im Stadtpark mit seinen Kameraden. Schulen und Clubs sind geschlossen, alle Plätze, wo man sich treffen könnte, werden mehr und mehr abgeriegelt. Wo sollen die Jugendlichen hin? Stattdessen mit den Älteren zusammenhocken? Tut beiden nicht gut. Zuhause fällt der Jugend die Decke auf den Kopf. Der Schulbetrieb soll durch sogenanntes Homeschooling, die Arbeit durch Homeoffice ersetzt werden, sofern das überhaupt möglich ist. Da ist die Versuchung groß, bei Gelegenheit doch mal über die Strenge zu schlagen. Das wäre kein Problem, lauerte nicht überall das Virus und damit die Infizierung der Älteren. Es braucht schon einen einfühlsamen Umgang mit den Jüngeren, um ihnen Vorsicht und Verzicht auf so vieles nahezulegen. Sie sind doch, wie wir fast alle, keine Einsiedlerkrebse! Und dann sollten auch Sie sich vor einer Infektion in Acht nehmen, Herr Ferner. Erneut auf die Intensivstation? Seien Sie froh, dass Sie den Unfall einigermaßen überstanden haben!“
Ein führender Virologe verteidigte den inzwischen strengen Lockdown, der die Schließung von Schulen, Kneipen, Friseurbetrieben und Geschäften des nicht alltäglichen Bedarfs ebenso vorsah wie den Stopp von Veranstaltungen mit Zuschauerbeteiligung. Im Süden der Republik kam sogar eine landesweite Ausgangssperre hinzu. Die verängstigte Herde nahm das hin. Der Virologe hatte behauptet: „Die Maßnahmen sind evidenzbasiert und politisch festgelegt!“
„Was meint der mit evidenzbasiert?“, fragte ich Dr. Stürmer.
„Sie ahnen sicher, es geht letztlich darum, das exponentielle Wachstum zu stoppen. Sie kennen den Unterschied zwischen linearem und exponentiellem Wachstum?“
Mein „Hm“ überzeugte ihn offenbar wenig, er sah sich veranlasst, weiter auszuholen,
„Wenn Sie auf ein Sparkonto regelmäßig die gleiche Summe einzahlen, führt das zu einem gleichmäßigen oder linearen Anwachsen Ihres Guthabens. Anders das exponentielle Wachstum: Nun vermehrt sich ein ursprünglich vorhandener Betrag, indem er regelmäßig mit einer bestimmten Größe vervielfältigt wird. Bei der Vermehrung eines Guthabens durch Zins und Zinseszins passiert genau das. Aus der gleichmäßig ansteigenden Geraden wird jetzt eine bauchige, flacher oder auch steiler ansteigende Kurve.“
Da er das auf einem Zettel aufzeichnete, konnte ich leicht nachvollziehen, was er meinte.
„Auf das Sparen übertragen“, fuhr er lachend fort, „führte das vor langer Zeit einmal bei entsprechend hohem Wachstumsfaktor, sprich Verzinsung, irgendwann zum Vermögen eines Dagobert Duck oder eines Königs Midas. Der letztere wurde seines Reichtums nicht froh und wollte ihn nur noch loswerden. Exponentielles Wachstum kann zu viel des Guten, aber auch des Gegenteils bescheren. Im Falle des Virus würde uns das zu einer nicht mehr beherrschbaren Zahl von Infektionen führen. Ob die Entwicklung tatsächlich in diese Richtung geht, hängt wie bei allen Modellen von den Größen ab, die in die Rechnung eingehen. Ist der errechnete Wachstumsfaktor oder – wie man hier sagt – Reproduktionsfaktor kleiner als eins, kommt es zur Abnahme der Infektionen. Darauf arbeiten alle hin!“
„Und was hat es jetzt mit der Evidenz von Maßnahmen in der Pandemie auf sich?“, hakte ich nach.
Dr. Stürmer: „Genau, die Evidenz! Wichtig für die tatsächliche Entwicklung der Pandemie sind verschiedene Größen. So die Zahl derer, die infiziert sind, ferner die Zahl der Gesunden, die ein Infizierter in einem bestimmten Zeitraum ansteckt. Kontaktbeschränkungen und geeignete Hygienemaßnahmen sind deshalb der Versuch, ein übermäßiges Anwachsen der Infektionszahlen und der Einweisungen ins Krankenhaus zu verhindern. Wie groß die Zu- oder Abnahme der Infektionen innerhalb einer Zeitspanne sein wird, kann man mit den vorhandenen Daten abschätzen. Das meint er wohl mit Evidenz, auf der die jetzigen Maßnahmen basieren. Doch angesichts unsicherer Annahmen, die in solche Rechnungen einfließen, kann evidenzbasiert allenfalls bedeuten: nach dem besten, momentan zur Verfügung stehenden Wissen errechnet, besser noch, geschätzt! Auch in anderer Hinsicht ist eine sichere Orientierung an der Evidenz eher Wunsch als fester Maßstab: Das Wissen um diesen Kobold Covid-19 vermehrt sich beinahe täglich und jede Entdeckung führt zu neuen Überraschungen. Unter solchen Umständen muss die Behandlung Infizierter auf unterschiedlichste Krankheitsverläufe und Patienten abgestimmt werden. Man sammelt Erfahrungen, greift auf Bekanntes zurück und erprobt zugleich Neues: Die Dinge sind im Fluss!“
Ich ergänzte: „Selbst unter den Wissenschaftlern derselben Fachrichtung herrscht wohl nicht immer Übereinstimmung.“ Er bestätigte lachend: „Mal ist der fließende Stand des Wissens die Ursache, ein andermal der Wettbewerb um das wissenschaftliche oder öffentliche Renommee. Dass solcher Wettstreit ganz natürlich ist, zugleich auch Positives bewirkt, wusste schon vor zweieinhalb Jahrtausenden ein Dichter mit Namen Hesiod: ‚Der Töpfer ist nicht gut auf den Töpfer zu sprechen, der Zimmermann nicht auf den Zimmermann…‘ Anders gesagt: Konkurrenz belebt das Geschäft und treibt die Menschen hoffentlich an, die Dinge voranzubringen.“
Das galt auch für die Politiker, die in der Pandemie in vermintem Gelände unterwegs waren und es noch sind. Sie müssen wechselnden Empfehlungen der Wissenschaft folgen und dann entschlossen die Verantwortung für zögerliche und unbequeme Schritte ins Ungewisse übernehmen. Das Ergebnis nennt sich dann ‚politisch festgelegt‘. Die Schelte der besserwissenden Opposition folgt wie ein schlechtes Echo. Würden die Regierenden den jeweils lautest vorgetragenen Meinungen und Interessen folgen, führten sie die Quadratur des Kreises vor.
Bei Fehlern sprang den Politikern mitunter die Wissenschaft auch wider besseres Wissen bei. So, wenn sie erklärte, Mund-Nasen-Masken, wie sie in Asien zum Schutz vor Infektionen seit langem gebräuchlich sind, hätten auf die Entwicklung der Infektionszahlen keinen positiven Effekt. Ein neunmalkluger Ober-Medicus warnte gar, medizinische Masken in der Hand von Laien seien gefährlich. Eine etwas klügere Journalistin half mit der Erfahrung, man benötige für das Anlegen einer Schutzmaske kein Medizinstudium. Vielleicht hätte es das Vertrauen in die Fachleute weniger beschädigt, hätten sie zugegeben, was nicht zu übersehen war: Es gab vor allem in der Alten- und Krankenpflege viel zu wenig Schutzmaterial, rechtzeitige Warnungen im Frühstadium der Pandemie waren sträflich vernachlässigt worden. Eine mögliche Ehrenrettung der Wissenschaftler und ihrer Ausreden: Sie mussten oder wollten das Wenige für die besonders Gefährdeten reservieren.
Inzwischen wuchsen die Beobachtungen zum neuen Virus täglich, die Zunahme gesicherten Wissens konnte damit kaum Schritt halten. Es war schon der dritte Typ eines gefährlichen Coronavirus, bei denen es sich um besonders infektiöse Vertreter dieser Viren handelte. Alle schädigten sie die Funktion der Lunge, aber nicht nur diese. Die Infektionen breiteten sich umso heftiger aus, je mehr Vorerkrankungen der Infizierte mitbrachte und je älter er war. Doch es gab auch rätselhafte Fälle, in denen die Krankheit ohne solche Vorbelastung tödlich verlief. Mancher Infizierte wies leichte oder keine Symptome auf, doch in schlimmeren Fällen führte die Krankheit zu einem Versagen verschiedenster Organe gleichzeitig, was in der Regel das Todesurteil bedeutete. Schwere Fälle mussten künstlich beatmet werden, was weltweit zu einer sprunghaften Nachfrage nach geeigneten Geräten führte. Verschiedene Medikamente wurden ausprobiert, einen durchschlagenden Erfolg hatten die Ärzte mit keinem. Offen blieb auch, ob ein einmal Infizierter nach seiner Genesung längere Zeit immun bliebe, oder immun, aber vielleicht nach wie vor ansteckend. So konzentrierte sich die Vorsorge von Wissenschaft und Politik vorerst ganz auf die Vermeidung menschlicher Kontakte, wobei es selbstverständlich darum ging, Kontakte mit dem Virus zu vermeiden. Denn angesichts steigender Fallzahlen mussten die Mediziner und die verantwortlichen Politiker fürchten, irgendwann würden ausreichend Behandlungsmöglichkeiten für schwere Fälle fehlen. Ernsthaft an Covid-19 Erkrankte benötigten eine intensive, hochtechnisierte und spezialisierte Betreuung rund um die Uhr. Das betraf nicht nur die Geräte, sondern auch das behandelnde und betreuende Personal. Letzteres arbeitete bis zur Erschöpfung und unter erhöhter Ansteckungsgefahr. Als Schreckgespenst drohte sogar die Triage. Bei Schwersterkrankten müsste dann unterschieden werden zwischen denen, deren Behandlung noch Erfolg versprach, sowie denen, auf deren Behandlung die Ärzte notgedrungen verzichten müssten. Beklagt wurde, dass für solche Entscheidungen ethisch befriedigende Regeln fehlten. Offen blieb, wie solche aussehen könnten. Doch sie würden, falls sie möglich wären, eine schwere Last von den Schultern der Ärzte nehmen. Zu dieser Zeit mehrten sich die Gerüchte, in einigen besonders heimgesuchten Ländern Amerikas und Südeuropas seien Ärzte bereits zu solcher Selektion gezwungen.
Unterdessen musste sich die Regierung um die Rückführung in aller Welt gestrandeter Touristen,