Der Marodeur von Oxford - Gary Dexter - E-Book

Der Marodeur von Oxford E-Book

Gary Dexter

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Beschreibung

London, 1892. Dr. Henry St. Liver und Olive Salter haben mit jeder Menge mysteriöser Ereignisse und beunruhigender Vorfälle zu tun: Exhibitionistische Adlige, diebische Nonnen, verschwundene Ritualgegenstände, marodierende Wesen unklarer Spezies und seltsame Gourmets bevölkern die Fallgeschichten, gegen die sich die simplen Verbrecherjagden der Kollegen Sherlock Holmes und Dr. Watson durchsichtig und eindimensional ausnehmen.

Wider den viktorianischen Zeitgeist klären St. Liver und Salter Fälle aus dem Gebiet der »Psychopathia sexualis«. »Ein einziges Vergnügen« befand die britische Presse über dieses sprachlich brillante Stück Literatur, in dem die menschliche Sexualität die Welt abgründig, aber auch heiterer erscheinen lässt.

Ein viktorianischer Porno der anderen Art und ein Angriff auf den »guten Geschmack«. Mit einem Gastauftritt von Oscar Wilde.

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Seitenzahl: 338

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Über das Buch London, 1892. Dr. Henry St. Liver und Olive Salter haben mit jeder Menge mysteriöser Ereignisse und beunruhigender Vorfälle zu tun: Exhibitionistische Adlige, diebische Nonnen, verschwundene Ritualgegenstände, marodierende Wesen unklarer Spezies und seltsame Gourmets bevölkern die Fallgeschichten, gegen die sich die simplen Verbrecherjagden der Kollegen Sherlock Holmes und Dr. Watson durchsichtig und eindimensional ausnehmen. Wider den viktorianischen Zeitgeist klären St. Liver und Salter Fälle aus dem Gebiet der „Psychopathia sexualis“. „Ein einziges Vergnügen« befand die britische Presse über dieses sprachlich brillante Stück Literatur, in dem die menschliche Sexualität die Welt abgründig, aber auch heiterer erscheinen lässt.

Ein viktorianischer Porno der anderen Art und ein Angriff auf den „guten Geschmack“. Mit einem Gastauftritt von Oscar Wilde.

Über den Autor

Gary Dexter schreibt Bücher über Bücher und Kolumnen für The Guardian, The Times, The Spectator, The Sunday Telegraph und für die verblichene Financial Times Deutschland. Er lebt in Norwich.

Penser Pulp

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Gary Dexter

Der Marodeur von Oxford

und andere Geheimnisse

aus dem Fallbuch von Henry St Liver

Hinweis des Autors

Die Sexualwissenschaftler, die auf diesen Seiten genannt werden, gab es wirklich, auch wenn ihre Werke hier nicht immer akkurat wiedergegeben werden und einige chronologische Verschiebungen stattgefunden haben. Ich habe viele der hier beschriebenen Elemente Havelock Ellis’ Studies in the Psychology of Sex

Inhalt

Das verschwundene Flabellum
Der Marodeur von Oxford
Der hochwohlgeborene Klient
Der junge Entdecker
Der verpflichtete Gourmet
Die sieben Spulen
Smith Ely Jelliffe

Kapitel Eins

Das verschwundene Flabellum

Aber ich möchte nicht vorgreifen. Der Leser wird keinerlei Vorstellung von meiner persönlichen Verbindung mit Henry St Liver haben, noch wird er wissen, wie ich ihn zunächst kennenlernte.

Vielleicht sollte ich ganz kurz meine Kindheit und Jugend darstellen. Ich wurde 1870 in dem kleinen Ort Summerseat nordwestlich von Manchester geboren. Als ich drei Jahre alt war, zog meine Familie nach Sydney, Australien, wo mein Vater eine Anstellung bei einem Bergbaubetrieb angenommen hatte. Mit siebzehn wurde ich Lehrerin an einer Dorfschule in der Nähe von Goongerwarrie, Queensland, und in den Unterrichtspausen bildete ich mich selbst dank einiger ausrangierter Bände von Milton und Goethe und einer Lateingrammatik weiter. Ich kehrte im August 1892 im Alter von zweiundzwanzig Jahren nach England zurück, um mich zur Ärztin ausbilden zu lassen.

Natürlich hatte ich schon Fotografien und Stiche von London gesehen. Ich hatte Beschreibungen der Stadt gelesen und Karten studiert. Ich hatte sogar schon Londoner Gin probiert. Aber all das konnte nicht verhindern, dass ich nicht auf London vorbereitet war. Ich hatte beispielsweise nichts von den halsabschneiderischen Mieten geahnt, den irischen Bomben, den Morden auf den Straßen etc. etc. An meinem allerersten Tag, als ich in Tilbury an Land ging, geriet ich beinahe in einen Aufstand. Ich denke, Hafenarbeiter waren daran beteiligt. Es war jedenfalls sehr schwierig, von den Docks fortzukommen. Der Tumult hatte sich bis zur Regent Street ausgeweitet, wo ich später bemerkte, dass alle Fenster von Mr William Morris’ Laden eingeschlagen waren und sich Tapetenrollen sträflich vernachlässigt über den Gehsteig ausbreiteten.

Ich fand eine günstige Bleibe in Hoxton in der Nähe eines billigen Varietétheaters. Ich hatte nichts in meinem Koffer außer ein paar Kleidern und Büchern und meinem Manuskript, Die Geschichte einer australischen Scheune. Letzteres waren die Aufzeichnungen aus meiner Zeit in den unermesslichen Weiten des Outbacks. Ich schickte es an Verleger, und nach sieben oder acht Wochen zeigten sich Drebber and Drebber interessiert, so dass das Buch im Januar 1893 veröffentlicht wurde.

Nur kurze Zeit später leiteten mir die Herren Drebber folgenden Brief weiter:

16 Dover Mansions

Dover St

Shoreditch

12. Februar 1893

Sehr geehrter Mr Iron,Ich habe IhreGeschichte einer australischen Scheunegelesen, und sie bereitete mir solch große Freude, dass ich mir das zusätzliche Vergnügen nicht nehmen lassen konnte, dem Autor davon zu berichten. Auch ich kam zu der Erfahrung von KÖRPER, GEIST und SEELE in einer vergleichbaren Atmosphäre, wie sie von Ihnen beschrieben wird, z.B. einem sehr staubigen, schmutzigen, ärmlichen Ort, dem es an allen materiellen Vorzügen mangelte, der sich jedoch unter einem derart weiten und blauen Himmel fand, dass sich das Empfinden unerhörter Freiheit einstellte, wodurch man sich nahezu in ekstatischer Glückseligkeit befand, wann immer man sich allein auf den Weg machte – und des Nachts erleuchtet von Sternen, wie wir sie niemals in London erblicken. So uns die Erfahrungen im Leben zu Verwandten machen, sind Sie und ich – darf ich es sagen? – fast schon Brüder. Üblicherweise würde ich mich nicht zu diesen Äußerungen hinreißen lassen, jedoch Passagen wie die folgende:

Lustvoll werfe ich mich auf die rote Erde; der Samen des Pantheismus sprießt in mir … (SS 58, 345)

ließen mich den Mut aufbringen. Haben Sie Whitman gelesen?

Ich verbleibe, Sir,

Mit den vorzüglichsten Wünschen,Ihr ergebenerHenry St Liver

Das Buch hatte sich in dem Monat, seit es erschienen war, nicht gut verkauft. Man hatte fünfhundert Stück gedruckt, und soweit ich wusste, waren vierzig Exemplare verkauft worden. Zehn davon hatte ich selbst zum vollen Preis erworben, um sie an die Zeitungen zu schicken. Eine Besprechung hatte ich bekommen (im Hoxton Inquirer: „kraftvoll … lebendig … Mr Iron besitzt verblüffende Einblicke in die Seelen seiner weiblichen Figuren“). Kurz gesagt: Es ging unter, ohne Spuren zu hinterlassen. Daher war dieser Brief die einzige unverlangte, unbefangene Rückmeldung, das einzige Zeichen, dass es ein menschliches Herz – Journalisten ausgenommen – berührt hatte. Wie man sich denken kann, studierte ich ihn sehr gründlich (hier war ein Objekt, das der Amateurdetektivin ein weites Feld eröffnete). Ich nahm die zittrige, gestochene Handschrift (ein alter Mann?) zur Kenntnis, die groß geschriebenen Abstrakta, die in die Korrespondenz von Pope oder Macaulay zu gehören schienen, den gleichwohl demütigen und bedächtigen Ton, den braunen Umschlag, der darauf schließen ließ, wiederverwendet worden zu sein (Armut? Oder Sparsamkeit?), und allem voran den faszinierenden Namen – St Liver – mit der Adresse in Shoreditch, die nicht mehr als einen viertelstündigen Fußweg entfernt war.

An diesem Abend antwortete ich:

22 Bank St

Hoxton

14. Februar 1893

Sehr geehrter Mr St Liver,

Sehr habe ich mich über Ihren Brief gefreut, wie auch darüber, dass Sie mein Buch nachempfunden und genossen haben. Es wurde nicht auf dem Land, sondern in der Stadt geschrieben, einem Vorort von Sydney: Zu dieser Zeit brodelte in mir die Sehnsucht nach der kleinen Farm im Busch, auf der ich fünf wundervolle Jahre verbracht hatte. Sie sagen, Sie kennen dieses Leben, das so anders ist als das in London, ein Leben, in dem Stille alles durchdringt und von Stunde zu Stunde tiefer wird, bis man in halbmystische Träumerei versinkt. Waren Sie in Australien?Jedoch muss ich Ihnen ein Geständnis machen: Ich bin nicht Roderick Iron. Ich bitte für diesen Schwindel um Verzeihung, aber die Schuld daran tragen meine Verleger. Sie fanden, ein männlichernom de plumeverkaufe mehr Bücher. Ein absurder Gedanke, aber ich war nicht in der Position, verhandeln zu können. Ich sollte Ihnen noch sagen, dass man mich auch bat, einige Stellen im Text zu verändern – insbesondere die Szene, in der Emmie im Glanze ihrer Eroberung durch Mr Stirrup und offensichtlich noch immer unverheiratet aus Brisbane zurückkehrt –, doch da blieb ich standhaft.Ich kam erst kürzlich nach London und sehne mich bereits danach, wieder nach Goongerwarrie zurückzukehren. Ich hatte die Hoffnung gehabt, hier Ärztin werden zu können, aber ich leide an schwerem Asthma, und ich fürchte, durch die Londoner Luft wird es nur schlimmer.Noch einmal meinen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.In großer Verbundenheit, IhreMiss Olive Salter

Und für eine Weile blieb es dabei. Ich fühlte mich krank (ich leide an Asthma, Bleichsucht, Juckflechte, Heufieber, Schlaflosigkeit, Migräne, Neurasthenie, Tachykardie und lokalen physischen Störungen), verliebte mich schrecklich und wurde bitter enttäuscht und dachte so gut wie gar nicht an Henry St Liver. Dann erhielt ich nach drei Wochen einen weiteren Brief:

16 Dover Mansions

Dover St

Shoreditch

8. März 1893

Verehrte Miss Salter,

Bitte entschuldigen Sie, dass ich nicht schon früher geantwortet habe, aber ich erlitt einen Rückfall des Typhus, den ich mir vor sechs Jahren in der ansonsten paradiesischen Umgebung einer landeinwärts gelegenen Ortschaft in der Karru zugezogen habe. Doch nun bin ich vollständig genesen und habe die Möglichkeit, mich meiner umfangreichen Korrespondenz zuzuwenden. Einige Briefe sind noch immer in der Diele unter dem unbedeutenden Deckeneinsturz begraben, der sich Ende Februar zutrug, ausgelöst durch unser kleines Londoner Erdbeben. Ich denke, es erreichte einen Wert von 5,2 auf der Mercalliskala.

Ich war nicht wirklich verwundert, Ihr Geschlecht zu erfahren, da Ihr Buch in der Hauptsache vom Leben einer jungen Frau in einer kleinen, ländlichen Schule handelt und sich, mehr auf thematischer Ebene gesprochen, mit den erotischen, romantischen, edukativen, intellektuellen und künstlerischen Rechten der FRAU auseinandersetzt.

Da Sie neu in London sind: Wäre es sehr unangebracht von mir, Sie zu einem Treffen der Gemeinschaft des Neuen Lebens in der Bishops Street, Shoreditch (Nummer 2), einzuladen? Die Gemeinschaft hat drei Grundsätze, die wie folgt festgelegt sind:

Ziel: Den Charakter aller zu veredeln.

Leitsatz: Das Materielle der Spiritualität unterzuordnen.Verfahren: Unermüdlich und unerschütterlich sowohl dem Ziel als auch dem Leitsatz zu folgen.

Ein Thema, das derzeit diskutiert wird und das ich erwähne, weil es Ihr Interesse als Kommentatorin ländlicher Belange wecken könnte, ist die Frage, ob man einen kleinen Bauernhof betreiben sollte, an dem sozialistische Ideen umgesetzt werden, vielleicht dem Grundriss eines mittelalterlichen Klosters folgend – etwa wie Rabelais’ Abtei Thelema –, wo die Mitglieder tagsüber körperlicher Arbeit nachgehen und sich morgens und abends der spirituellen Gemeinschaft und Kameradschaft zwischen Mann und Mann, Mann und Frau sowie Frau und Frau widmen. Selbstredend würde sich all dies an gänzlich modernen wissenschaftlichen Prinzipien von Ackerbau, Viehzucht und so weiter orientieren: Die Möglichkeit zum Halten von Schweinen, Kühen, Ziegen etc. wäre vorhanden; es würde auch eine große Bibliothek und einen Kunstverein geben; und Arbeiter von benachbarten Fabriken würden ermutigt, Vorträge zu besuchen.

Unser nächstes Treffen ist am 13. um halb acht Uhr am Abend, und ich wäre sehr erfreut, Sie zu treffen und in aller Ausführlichkeit über Ihr Buch zu diskutieren.Mit den ergebensten Wünschen,Henry St Liver

Seit ich in London war, hatte ich zahlreiche Vorträge besucht und war nicht wenigen Gesellschaften beigetreten: der Demokratischen Liga in der Donkin Street; dem Club für Automatisches Schreiben und Forschen in der Geddes Row; dem Gesprächskreis für Frauen und Männer in der Chertwell Street; und dem Verein für Angewandte Mathematik in Brixton, in den ich einer Laune folgend eingetreten war, um ihn nach einem Treffen zu verlassen, da ausschließlich über Mathematik geredet wurde. (Eine große Enttäuschung: Die jungen Herren hatten durch das Fenster so vergnügt ausgesehen.) Die Gemeinschaft des Neuen Lebens klang interessant. Ich schrieb zurück, dass ich teilnehmen würde.

Am folgenden Donnerstag war meine Bleichsucht so schwerwiegend, dass ich mich fast nicht aufraffen konnte, aber ich hatte kürzlich erst Valentines Eiweißelixir entdeckt. Ich ließ das Fläschchen für Notfälle in meiner Tasche verschwinden und machte mich auf den Weg nach Shoreditch.

Als ich etwas nach der verabredeten Zeit eintraf, sah ich, dass es sich bei Nummer 2 Bishops Street um eine katholische Kapelle handelte und die Türen verschlossen waren. Nachdem ich mich ein wenig umgesehen hatte, fand ich einen engen seitlichen Durchgang, der zu einer Tür, die etwas unter der Erde lag, hinabführte. Ich stieß sie auf und ging den Korridor entlang zu dem einzigen erleuchteten Raum. Nach leisem Klopfen trat ich ein.

Ungefähr zwanzig Menschen, sowohl Frauen wie auch Männer, befanden sich in dem Raum. Es herrschte Aufruhr.

„Nein! Nein!“, rief eine hochgewachsene junge Frau, die wegen eines Kopfschmucks aus Pfauenfedern noch einen Fuß größer wirkte. Sie hielt eine Zigarette in der Hand. „Russland muss sich selbst retten! Es liegt nicht in Ihrem Geschick!“

Ein junger Mann in einem hellbraunen Anzug erhob sich. „Dann ist Russland für immer verloren!“, donnerte er.

Alle Blicke richteten sich mit einem Mal auf mich. Einen Moment lang sah ich mich durch ihre Augen: eine junge Frau mit kurzem, braunem Haar unter einem gewöhnlichen schwarzen Hut, verwunderten braunen Augen und einem breiten Mund. Ich fühlte mich unschön.

Dann stand ein Mann direkt neben mir von seinem Stuhl auf wie eine sich aufbäumende Pythonschlange. Er war über sechs Fuß groß und trug einen ungestutzten, kastanienbraunen Schnurrbart, der in alle Richtungen wucherte und die gesamte untere Hälfte seines Gesichts verdeckte.

„Guten Abend“, sagte er mit hoher, weibischer Stimme. „Ich bin Henry St Liver.“

Ich bot ihm meine Hand an, obwohl ich vor Enttäuschung hätte weinen mögen. „Olive Salter“, sagte ich.

„Ich freue mich sehr, dass Sie gekommen sind“, flötete der Mann. Er blickte mich aus feuchten Augen an. „Darf ich Ihnen unsere Mitglieder vorstellen?“ Und damit präsentierte er der Reihe nach jeden Bewohner dieses unterirdischen Zimmers: Edith Nasmith (diejenige mit den Pfauenfedern), Eleanor Marx (die Tochter, wie ich mit Erstaunen erfuhr, des berühmten Karl), Edward Woodman (ein Schriftsteller von behäbigem Naturell) und einige andere.

„Miss Salter ist natürlich die Verfasserin der Geschichte einer australischen Scheune “, fügte Mr St Liver etwas verspätet hinzu.

Es folgte interessiertes Gemurmel.

„Haben Sie auch welche von den Negern getroffen?“, fragte eine junge Frau mit strähnigem Haar.

„Ja, ich habe einige Ureinwohner gekannt“, antwortete ich. „Ich habe auf dem Land gelebt.“

„Miss Salters Buch“, warf Mr St Liver ein, „ist, wie ich denke, einer der herausragenden Romane des Jahres, und ich möchte jeden von Ihnen drängen, ihn zu lesen. Sie werden ihn nicht an einem der Bahnhofskioske finden. Er birgt ein brennendes, ursprüngliches Lebensgefühl, das in der heutigen Schriftstellerei nahezu beispiellos ist. Er behandelt die Erhabenheit der Hügellandschaft, die Beziehungen zwischen Mann und Frau, weibliche Emanzipation, und – wobei mich vielleicht die Autorin selbst hier berichtigen mag – er hat Anklänge von Gynemimetophilie … Ich zweifle nicht daran, dass er einer der großen Erfolge des Jahres wird.“

„Fast schon zum Reinbeißen“, sagte die pfauenbefederte Miss Nasmith. Und brach in dröhnendes Gelächter aus.

Die Wochen vergingen, und ich traf den Kreis immer öfter, sowohl in der Bishops Street wie auch bei verschiedenen Versammlungen, die bei jemandem zu Hause oder andernorts stattfanden. Ich hatte mehrfach die Gelegenheit, mich mit Dr St Liver (wie ich ihn nun nannte) allein zu unterhalten – und unter all den Persönlichkeiten dieser ernsten Gruppe war es Dr St Liver, der mich mehr und mehr interessierte.

Ich fand ihn keineswegs attraktiv. Er war, wie ich vermute, ungefähr zweiunddreißig Jahre alt, schrecklich dünn und groß, und sein Schnurrbart war unmäßig: Dahinter wirkte er beinahe wie eine treue Kuh, die über eine Hecke späht. Sein Kopfhaar war lang, fließend, unordentlich und kastanienbraun, und die Nase groß und fleischig, beinahe tetraedrisch. Wenn er in Gedanken versunken war, weiteten sich seine Nasenlöcher wie die einer Ibsen-Heldin. Er kleidete sich schlecht, und oft sah man ihn wochenlang dieselben Sachen tragen, vorzugsweise Anzüge älteren Jahrgangs. Essensflecken an ihm waren nichts Ungewöhnliches.

Nach einigen Wochen wurde mir bewusst, dass ich ihm bereits vieles über mich erzählt, aber noch fast nichts über ihn erfahren hatte. In gewisser Weise schien es, als versuchte er, direkte Fragen zu verhindern. Ich wusste weder etwas über seinen Hintergrund noch über seine Familie oder seinen Beruf oder wie er zu den anderen Mitgliedern der Gesellschaft stand. Und bald musste ich einsehen, dass sein warmes, schriftliches Auftreten – sein Eindruck, ich könnte ihm ein „Bruder“ sein – nicht den Weg in sein alltägliches Verhalten fand. Möglicherweise wollte er einen Bruder und keine Schwester?

Ich hatte schon aufgegeben, noch irgendetwas über den wahren Dr Henry St Liver in Erfahrung zu bringen, als etwas Erstaunliches geschah.

Da sein Haus auf meinem Weg zur Kapelle lag, hatte ich Dr St Liver vorgeschlagen, ihn am Donnerstag aufzusuchen und mit ihm zusammen dorthin zu gehen. Er willigte ein, und so fand ich mich an diesem Abend im April, als die letzten Strahlen der untergehenden Sonne hinter den Dächern verschwanden, in der Dover Street in Shoreditch ein.

Nummer 16 Dover Mansions war ein kleines Reihenhaus. Im Vorgarten stand ein Klapptisch, dem eine der ausziehbaren Tischplatten fehlte. Darauf lag ein Stapel durchweichter Zeitungen. Ein riesiger, wilder Fenchel, der einen starken Anisgeruch verströmte, verdeckte fast die Eingangstür, die nur angelehnt war. Dies nahm ich als Einladung und steckte meinen Kopf hinein. Der Anblick, der sich mir bot, war in der Tat überraschend.

In dem schmalen Flur fand sich ein Abfallberg, der nichts vermissen ließ: ein verschrammtes Klavier, ein zerbrochener, sechs Fuß hoher Spiegel, ein Bügelbrett, eine Eastman Boxkamera („Sie drücken den Knopf, wir machen den Rest!“), Stapel verschimmelnder Zeitschriften, hölzerne Latten und Pflöcke, zwei Schreibmaschinen, mehrere verrottete Teppichrollen, eine Vielzahl an Kübeln, Werkzeug, Eierkartons, Farbdosen und noch vieles mehr. Und allenthalben obendrauf Gipsstaub und Schutt. Ich hob den Blick und sah, dass ein vier Fuß breiter Teil der Decke heruntergekommen war und die Latten offengelegt hatte.

Im Wohnzimmer, das durch eine Tür gleich auf der linken Seite zu sehen war, bot sich derselbe Eindruck, wobei es sich hier zumeist um Bücher handelte: Bücher, die die gesamten Wände füllten, zu schwankenden Gipfeln auf den Boden getürmt waren, Bücher auf Tischen, Sesseln und Fensterbänken, auf dem Kaminsims, und wie Holzscheite gefährlich nah am Feuer aufgeschichtet. Zwei Wasserbecken mit dunkelgrünem Wasser – vermutlich Aquarien – standen an der gegenüberliegenden Wand.

Dann bewegte sich etwas. Es war Dr St Liver. Er löste sich aus der ihn umgebenden Masse, trat aus dem Wohnzimmer heraus und begrüßte mich mit etwas, das ein Lächeln sein konnte. Dann stand er für eine Weile nachdenklich im Flur, während sein Schnurrbart leise auf seine Atmung reagierte.

„Ich muss mich entschuldigen“, sagte ich. „Die Tür war offen.“

„Ja, sie lässt sich nicht richtig schließen. Wollen wir gehen?“

Er leitete mich höflich nach draußen, und wir machten uns auf den Weg. Die Tür blieb angelehnt. Ich war verblüfft: Ich fühlte mich wie ein ägyptischer Grabräuber, und Dr St Liver war die höfliche Mumie.

Während wir die Old Street unter dem aufragenden Massiv der Shoreditch Town Hall entlanggingen und ich Dr St Liver zuhörte, überlegte ich, was ich von ihm wusste.

Ich stellte folgende Punkte auf:

1. Das extreme Chaos seiner Lebensweise steht jeder üblichen Anstellung entgegen und lässt vermuten, dass er entweder keinem Beruf nachgeht oder von privatem Vermögen lebt. Der Doktortitel kann nicht bedeuten, dass er praktizierender Mediziner ist.

2. Die extreme Präzision seiner Sprechweise und Gedankengänge deutet auf einen gewissenhaft methodischen Charakter und steht damit im größtmöglichen Gegensatz zu seinem gewählten Umfeld und seinen Gewohnheiten.3. Er hat die Angewohnheit, Zigarettenasche überall auf dem Boden zu hinterlassen (sogar in privaten Wohnungen anderer), was gelegentlich überrascht.4. Der Gebrauch seltsamer Wörter (die ich in keinem Wörterbuch finden kann) in gewöhnlichen Unterhaltungen ist zweideutig. Manche davon scheinen sich auf mich zu beziehen. Darunter fallen Iatronudie, Ecdyosis und undinitisch. Die Frage nach einer medizinischen Ausbildung bleibt weiterhin offen.5. Seine Kenntnisse in Literatur und Kunst sind offenkundig weitreichend.6. Seine Kenntnisse in Psychologie, Spiritualität und Mentalismus sowie Phrenologie sind ebenfalls offenkundig weitreichend.7. Manchmal scheint er über etwas unendlich weit Entferntes nachzudenken.8. Er ist ungefähr dreißig Jahre alt und war in Südafrika, wo er an Typhus erkrankte.

Aber ich schob diese mentale Analyse verärgert beiseite. Sie hatte mir Dr St Liver nicht nähergebracht. Ich dachte mir: Ich würde warten müssen, bis weitere Offenbarungen ganz von selbst in ihrem eigenen Tempo den Weg zu mir fanden.

Sie fanden ihn noch zur selben Stunde.

Als wir etwas zu früh an der Kapelle in der Bishops Street ankamen, sahen wir, zu unserem Erstaunen, einen stämmigen Polizisten den seitlichen Durchgang bewachen.

„Darf ich erfahren, ob Sie Mitglieder dieser Gemeinschaft sind?“, fragte er, als wir uns näherten.

„Ja“, antwortete ich.

„Ich fürchte, es gab einen Einbruch. Eine Person wurde verletzt.“ Der Polizist konsultierte sein Notizbuch. „Ein Mr Burlingame.“

„Mr Burlingame!“, rief ich. „Verletzt?“

„Tut mir leid, Miss.“

„Ist es ernst?“

„Ich kann im Moment nichts weiter sagen.“

„Dürfen wir hineingehen?“

„Ich fürchte nicht. Mein Kollege teilt uns mit, wenn er fertig ist.“

„Ich bin sicher, dass er das tun wird“, antwortete ich. „Aber mein Bekannter ist ein Doktor. Wenn Mr Burlingame sich Verletzungen zugezogen hat, dürfen Sie sicher sein, dass er ihn sehen wollen wird.“

Der Polizist betrachtete Dr St Livers Ulster, der irgendwann in seiner jüngeren Vergangenheit mit Eigelb in Berührung gekommen war. „Ich bitte um Verzeihung, Sir, Miss“, sagte er. „Bitte gehen Sie hinein.“

Wir traten ein und eilten durch den düsteren Korridor bis zu dem Versammlungsraum, in dem sich ein paar Leute zusammendrängten: Mr Reginald Burlingame, unser Schatzmeister, eine tragende Säule unserer kleinen Gruppe und von allen geschätzt, lag in einem Sessel und stöhnte leise. Außerdem waren dort Miss Effie Dax, eine junge Frau mit außergewöhnlich langem, honigfarbenem Haar; Mr Manley, ein Jüngling; Miss Genevieve Pfister, ursprünglich eine Deutsche, glaube ich, eine ältere Frau von vielleicht siebzig Jahren, aber bemerkenswert rege und geistreich; und der Kirchenvorsteher, der neben der Kapelle wohnte und, wie es schien, gerade erst über den Vorfall informiert worden war. Er stand dort und hörte Mr Manley zu. Miss Pfister tröstete Miss Dax am Feuer unter einer kleinen Reproduktion von Holman Hunts Der Sündenbock. Mitten im Raum stand mit geöffnetem Notizbuch der zweite uniformierte Polizist und hob den Blick, als wir eintraten. Er sah aus wie ein Mann, der sich stur wie ein Ochse an seine Pflichten hielt, was in einem Raum, der schon von so vielen Utopien gehört hatte, unangemessen schien.

„Dr St Liver“, sagte ich schnell, „ist hier, um Mr Burlingame zu helfen.“

Der Polizist deutete auf die liegende Gestalt des Schatzmeisters, und Dr St Liver trottete hinüber. Er kniete sich auf einem Bein hin und befragte seinen Patienten mit leiser Stimme. Mr Burlingame deutete sogleich auf seine Verletzungen am Unterleib, und Dr St Liver betastete vorsichtig die betroffenen Stellen.

Miss Pfister schlängelte sich zu mir durch. „Wir haben die Polizei gerufen“, flüsterte sie, „sobald wir gesehen hatten, was geschehen war, und wir haben nach einem Arzt geschickt, der aber noch nicht erschienen ist. Was für ein Glück, dass Dr St Liver hier ist.“

Der Polizist, der offensichtlich damit fertig war, die Aussagen von Miss Dax und den anderen aufzunehmen, ging nun langsam zu Dr St Liver und Mr Burlingame.

„Handelt es sich um ernste Verletzungen, Doctor?“, erkundigte sich der Polizist.

Dr St Liver stand auf. „Er hat Prellungen im Bereich des Unterbauchs, aber nichts Ernstes. Auch scheint er unter Schock zu stehen. Etwas Brandy würde helfen.“

„Ich kümmere mich darum“, sagte Mr Manley und verschwand.

Der Polizist heftete seinen Blick auf Mr Burlingame. „Könnten Sie mir sagen, was geschehen ist, Sir?“, sagte er. „Ich habe bereits von Miss Dax gehört, dass Sie von Raufbolden angegriffen wurden.“

„Ja“, sagte Mr Burlingame mit keuchender Stimme. „Zwei. Sie haben mich überwältigt.“ Er schloss die Augen und machte eine schmerzvolle Geste. „Es war so, wie Miss Dax gesagt hat.“

„Könnten Sie es mit Ihren eigenen Worten berichten, Sir?“

Der Schatzmeister rappelte sich auf und war eine Weile damit beschäftigt, sein Hemd in die Hosen zu stecken. „Nun gut“, sagte er schließlich. „Lassen Sie mich nachdenken … Wir kamen früh. Wir haben ein Duett geübt – da liegt meine Flöte auf dem Klavier. Ich finde, Flötespielen ist gut für meine Lungen. Wir geben Barockkonzerte in der Guildhall. Gegen halb sieben, glaube ich, hörten wir Geräusche im Korridor.“

„Im Korridor. War die Tür zur Straße verschlossen?“

„Das ist genau der Punkt. Wir lassen die Tür zur Straße bis gegen Viertel nach sieben verriegelt. Dann schließen wir auf, um unsere Freunde für das Treffen um halb acht einzulassen. Es war unmöglich, dass jemand ohne einen Schlüssel um diese Zeit hereinkommen konnte. Das ist mir sofort aufgefallen, weshalb ich glaube, dass wir die Tür aus Versehen offen gelassen haben. Ich spähte in den Korridor, aber alles war dunkel. Dann hörte ich ein… ein Klirren, das aus der Kapelle kam. Ich ging den Korridor nach rechts zur Kapelle hinunter, und dann sah ich zwei Männer auf mich zukommen.“

„Könnten Sie sie beschreiben, Sir?“

„Einer war klein, der andere von mittlerer Größe und trug einen Bart.“

„Und die Kleidung?“

„Ich fürchte, darauf habe ich nicht geachtet. Ich glaube aber – ja – der Größere trug einen dicken Mantel.“

„Ist Ihnen die Farbe aufgefallen?“

„Dunkelblau.“

„Hatten sie etwas dabei?“

„Der Kleinere der beiden trug etwas Vergoldetes oder aus Messing bei sich.“

Der Polizist schrieb in sein Notizbuch.

„Ich versperrte ihnen den Korridor“, fuhr Mr Burlingame fort. „Es kam zum Kampf. Die beiden Übeltäter zwangen mich in diesen Raum, und als wir alle darin waren, schlossen sie hinter uns die Tür ab. Ich sagte ihnen in aller Deutlichkeit, dass sie die Gegenstände zurückzugeben hatten und gehen sollten. Der Größere der beiden packte Miss Dax. Er sagte mir, dass keinem von uns etwas geschehen würde, wenn wir täten, was er sagte. Um Miss Dax’ willen nahm ich von weiteren Taten Abstand und …“ Er schluckte. „Die beiden Schurken banden Miss Dax an diesen Stuhl hier.“ Mr Burlingame deutete auf einen schlichten Holzstuhl mit Querleisten am Rücken. „Mit diesen beiden Schals.“

„Sind das Ihre Schals, Sir?“

„Ja, der Seidenkrepp gehört Miss Dax, und der Wollschal mir.“

„Reden Sie weiter.“

„Sie wollten mich gerade festbinden, als wir Schritte und Stimmen in dem Durchgang hörten. Ich erkannte, dass Hilfe auf dem Weg war, und rief laut. Die Männer wussten nun, dass sie in der Falle saßen, und flohen durch das Fenster.“ Er zeigte auf ein großes Fenster am anderen Ende des Raums, das noch immer ein Stück weit offen stand. Es maß etwa vier Fuß in der Höhe und zwei in der Breite und ging auf den Kirchengrund. Es war recht hoch, aber über eine Tischreihe erreichbar. „Sie verschwanden durch das Fenster, und ich ging zur Tür, um Mr Manley und Miss Pfister hereinzulassen. Und alles andere kennen Sie.“

„Gut, Sir, vielen Dank“, sagte der Polizist. „Also – die beiden Männer zwangen Sie in diesen Raum und hielten Sie hier gefangen.“

„Ja.“

„Statt einfach den Weg zu nehmen, den sie gekommen waren?“

„Ja. Ich vermute, sie wollten unseren Freunden nicht begegnen.“

Der Polizist nahm sich wieder die Zeit, etwas aufzuschreiben.

„Sie sagen, dass die beiden Männer von dem Seitengang durch die Tür, die Sie offen gelassen haben, gekommen sind?“

„Ja.“

„Aber diese Lady“ – der Polizist zeigte auf Miss Pfister – „sagte mir, dass die Tür verschlossen war, als sie ankam, und dass sie und der Gentleman den Ersatzschlüssel benutzt haben, der unter einem Stein versteckt ist.“

„Dann müssen die Diebe sie aufgebrochen haben. Es ist eine schwache Tür. Das Zapfenloch ist lose, glaube ich. Sie müssen sie mit einem Tritt oder Schlag geöffnet haben.“

„In dem Fall hätten die Dame und der Herr die Tür offen vorgefunden.“

„Nun, vielleicht haben sie sie hinter sich geschlossen, um nicht entdeckt zu werden. Wenn das Zapfenloch schwach war, wäre es Miss Pfister nicht notwendigerweise aufgefallen. Oder vielleicht sind sie überhaupt nicht über den Seitengang gekommen. Ich habe sie nicht kommen sehen, wenn Sie sich erinnern. Ich hatte sie kaum im Korridor gehört. Sie müssen die Tür untersuchen.“

Er hielt inne und keuchte ein wenig.

„Sie sagten, dass die Männer einen einzigen Gegenstand als Beute aus der Kapelle bei sich getragen haben. Was für ein Gegenstand war das?“

„Ich glaube, ein Kerzenleuchter.“

„Mr Haire“ – der Polizist deutete auf den Kirchenvorsteher – „sagt mir, dass er nichts finden kann, was verschwunden ist, worauf diese Beschreibung passt.“

„Ich sage Ihnen, sie haben etwas bei sich getragen!“, sagte Mr Burlingame und wurde rot.

Der Kirchenvorsteher sagte: „Ähm … Es mag von einiger Wichtigkeit sein, dass ein Flabellum fehlt.“

„Ein Flabellum“, wiederholte der Polizist.

Der Kirchenvorsteher spähte mit freundlicher Miene zu Mr Burlingame herüber. „Wenn ich das erklären darf“, sagte er, „ein Flabellum ist eine Art Fächer … oder Wedel … um Insekten oder andere unerwünschte … ähm … Dinge von den Gaben des Abendmahls fernzuhalten. Er wird selten im Winter benutzt. Ich bin sicher, er war im Tabernakel. Der Tabernakel ist …“

„Ich denke, wir wissen alle, was ein Tabernakel ist“, sagte Mr Burlingame unwirsch. „Eine Art Schränkchen, nicht wahr?“ Ich war überrascht, den Ärger in seinem Gesicht zu sehen. Der Kirchenvorsteher murmelte etwas, und der Polizist musterte den Schatzmeister genau.

„Also, Mr Burlingame“, fuhr der Polizist fort. „Sie haben die Männer aufgehalten, und sie brachten Sie hier herein und verschlossen die Tür.“

„Ja! Das habe ich schon gesagt.“

„Und sie hatten immer noch dieses Flabellum?“

„Ja.“

„Und sie banden Miss Dax an diesen Stuhl.“

„Ja.“

„Mit den Schals.“

„Ja.“

„Und sie waren gerade dabei, auch Sie anzubinden – als sie gestört wurden.“

„Ja.“

„Sie haben beide Schals für Miss Dax benutzt?“

„Ja!“

„Und womit wollten sie Sie dann festbinden?“

Mr Burlingame biss in einem offenkundigen Versuch, die Fassung zu wahren, die Kiefer zusammen. Er brauchte einen Moment, um zu antworten. „Mit ihrem Haar“, sagte er dann.

Die Anwesenden schnappten nach Luft. Der Stift des Polizisten erstarrte in der Luft. „Mit ihrem Haar?“, fragte er schließlich.

„Ja. Sie zwangen mich auf den Stuhl – den Sie dort drüben sehen“, sagte Mr Burlingame grimmig, „– und setzten Miss Dax mit dem Stuhl, an den sie gefesselt war, in dieselbe Richtung gewandt hinter mich.“ Er hielt kurz inne. „Wie … Zugwaggons. Sie sehen, wie lang ihr Haar ist. Dann beugten sie sie vor, damit ihr Kopf … in die gewünschte Position kam. Sie hatten vor, ihr Haar zu nehmen – es ist, wie Sie sehen, von außergewöhnlicher Länge –, um meine Handgelenke an die Seiten der Stuhllehne zu fesseln. Die Schurken schienen das ausgesprochen amüsant zu finden. Sie lachten. Aber ich konnte nichts tun. Einer von ihnen bedrohte mich mit dem Flabellum.“

„Dieses Flabellum ist, wie ich es verstehe, ein Wedel“, sagte der Polizist.

„Ja … Sie müssen verstehen, Constable, dass ich an Miss Dax zu denken hatte. Ich hatte Angst, sie würden ihr etwas antun. Ich dachte, es sei das Beste, zu tun, was sie verlangten, und sie mit der Beute entkommen zu lassen.“

„Dem Wedel.“

„Ja! Natürlich mit dem Wedel.“

„Gut. Und haben sie es geschafft, Sie mit den Handgelenken auf diese Art zu fesseln, mit Miss Dax’ Haar?“

„Nein, wie ich schon sagte. Durch einen Akt der Vorsehung erschienen Miss Pfister und Mr Manley.“

„Und als Sie sie hörten, riefen Sie laut?“

„Ja.“

Der Polizist wandte sich Miss Pfister zu. Mr Manley war noch immer auf der Suche nach Brandy. „Und Sie hörten diesen Schrei?“

„Oh ja“, sagte Miss Pfister bestimmt. „Einen lauten Schrei.“ Sie dachte kurz nach. „Fast schon ein Heulen. Ich drückte die Türklinke, aber sie war verschlossen. Ich klopfte und verlangte, eingelassen zu werden.“

„Wie lange dauerte es, bis Sie hereingelassen wurden?“

„Nicht mehr als eine Minute.“

Der Polizist wandte sich wieder zu Mr Burlingame. „Was geschah in der Zeit zwischen Miss Pfisters Versuch, hereinzukommen, und Ihrem Öffnen der Tür?“

„Das sagte ich schon. Die Diebe entkamen. Ich versuchte, sie aufzuhalten, und erhielt für meine Bemühungen einige Schläge.“

„Das war alles?“

„Ich versuchte, Miss Dax zu helfen, konnte allerdings die Knoten nicht sofort lösen“, sagte Mr Burlingame. „Es gab nur eine kurze Verzögerung – von Sekunden.“ Er warf Miss Pfister einen raschen Blick zu.

„Sie schafften es also nicht, Miss Dax loszubinden, bevor Sie die Tür öffneten?“

„Nein.“

„Ich verstehe. Also, es scheint alles klar zu sein, Sir. Danke.“

„Ich danke Ihnen, Officer. Und ich hoffe, Sie fangen diese Männer. Sie sind gefährlich.“

In diesem Moment erschien der Arzt. Wieder wurde Mr Burlingames Hemd geöffnet, wieder sein Unterleib untersucht. Nach einer Minute versicherte der Arzt Mr Burlingame, dass keine Knochen gebrochen oder inneren Organe verletzt waren, und ließ sich, wie Dr St Liver zuvor, von dem Polizisten vernehmen. Ich stand daneben und folgte der Unterhaltung: Der Arzt berichtete, wie schon Dr St Liver, dass es in der Tat einige Prellungen gab, und er fügte hinzu, dass sie möglicherweise von einer Waffe stammten, weniger von Schlägen oder Tritten. Er fragte den Polizisten, ob irgendeine Waffe in dem Fall eine Rolle spielte, und ihm wurde mitgeteilt, dass ein Instrument, das sich Flabellum nannte, Gegenstand des Streits gewesen war. Der Arzt ließ ihn sich beschreiben und erfuhr, dass es ein wedel- oder fächerartiges Objekt mit einem Griff war. Einem massiven Griff? Ja, sagte der Polizist (nachdem er sich bei dem Kirchenvorsteher erkundigt hatte), einem massiven Griff, mit Edelsteinen besetzt, wenn auch von geringem Wert. Dann, sagte der Arzt, könnte dies, wenn es wie ein Knüppel benutzt worden war, für die Verletzungen verantwortlich sein.

Endlich verabschiedeten sich die Polizisten und versicherten, dass sie sich der Sache annehmen würden. Auch der Arzt ging und hinterließ die Rechnung in Miss Pfisters Hand. Sofort füllte sich der Raum mit den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft, die draußen hatten warten müssen. Sie alle wollten über das, was geschehen war, in Kenntnis gesetzt werden, und wenige Minuten später beherrschte Stimmengewirr den Raum. Mr Burlingame und Miss Dax schienen sich erholt zu haben und plauderten mit den anderen. Mr Manley war noch immer nicht mit dem Brandy zurückgekehrt.

Etwas später – es war ungefähr acht Uhr – sah ich, wie Dr St Liver Miss Dax und Mr Burlingame beiseite nahm und sie in den Korridor führte, in dem der Kampf stattgefunden hatte. Miss Dax’ langes Haar war (wie ich natürlich schon mehrfach zuvor bemerkt hatte) sehr schön: Es floss in einer wundervoll geschwungenen Kaskade herab, weich und dick und honiggolden.

Teils von dem Haar angezogen und teils aus Neugier, verließ auch ich den Raum und kam gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Dr St Liver das Paar den Korridor entlang zur Kapelle leitete. Fasziniert folgte ich ihnen. Das Trio trat durch einen schweren, roten Samtvorhang, der den Korridor von der Kapelle trennte. Kurz darauf huschte ich verstohlen hinterher und drückte mich in eine Ecke, die auf der einen Seite durch den Vorhang, auf der anderen durch eine dicke Steinmauer geschützt war. Durch einen schmalen Schlitz im Vorhang konnte ich unbemerkt die Kapelle beobachten. Die drei standen vor dem Hauptaltar mit seinem Reliquienschrein: der dünn aufragende Dr St Liver, eine sehr stille Miss Dax und der beleibte, rotgesichtige Mr Burlingame. Ich hatte den Anfang der Unterhaltung verpasst, aber die ersten beiden Sätze, die ich mit anhörte – von Dr St Liver –, waren in der Tat beeindruckend.

„Ich habe eine Frage an Sie, Miss Dax. Wo ist das verschwundene Flabellum?“

Miss Dax warf Mr Burlingame einen kurzen, verängstigten Blick zu. „Das Flabellum?“, fragte sie mit bebender Stimme.

„Ich sagte es Ihnen doch bereits“, wandte sich Mr Burlingame eilig an Dr St Liver. „Sie haben es mitgenommen. Jedenfalls nehme ich an, dass dies das … Instrument war, das sie genommen haben. Ich habe nämlich nie zuvor von so einem Ding … einem Wedel … gehört.“ Er schluckte.

„Ich hoffe sehr, Sie halten mich nicht für über die Maßen aufdringlich“, sagte Dr St Liver, „aber ich darf Sie bitten, sich an das Ziel unserer Gemeinschaft zu erinnern – den Charakter aller zu veredeln –, wie auch an unser Verfahren – unermüdlich und unerschütterlich dem Ziel zu folgen. Ich sehe mich gezwungen – wobei ich mir stets demütigst meiner eigenen Fehler und Schwächen bewusst bin –, Sie darauf hinzuweisen, dass die Aneignung, selbst temporär, des Besitzes eines anderen nicht diesen hohen Grundsätzen entspricht. Ich möchte Sie bitten, alles noch einmal zu überdenken und mir – oder einer anderen Amtsperson, die befugt ist, dieser Angelegenheit nachzugehen – den Ort mitzuteilen, an dem dieses Flabellum zu finden ist, damit wir es an seinen angestammten und geweihten Platz zurückbringen können.“

„Ich weiß nicht, wovon Sie reden“, sagte Mr Burlingame zornig.

„Um Himmels willen, Reginald, sag es ihm!“, rief Miss Dax. „Es ist offensichtlich, dass er alles weiß. Ich kann nicht länger alle auf diese Weise hintergehen.“

Mr Burlingame starrte sie wütend an.

„Ich verstehe“, sagte Dr St Liver zu den beiden, „dass Sie zu dieser … kleinen Betrügerei gezwungen waren aufgrund der früheren Ereignisse am Abend. Selbstredend werde ich niemandem mitteilen, was ich weiß. Aber ich muss darauf bestehen, dass Sie das Flabellum zurückbringen.“

Mr Burlingame zog es vor, weiterhin ein düsteres Gesicht zu machen. Miss Dax jedoch schien durchaus bereit, die Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen. „Ich bin einverstanden“, sagte sie. „Wenn Sie sich nun beide bitte umdrehen wollen.“

„Natürlich“, antwortete Dr St Liver und tat es.

Mr Burlingame drehte sich ebenfalls widerwillig um. Ich sah mit Erstaunen durch meinen Schlitz im Vorhang, wie Miss Dax unter ihre Röcke fasste und mit etwas Anstrengung ein Objekt zu Tage förderte, das ich nur als einen mit Edelsteinen besetzten Fächer beschreiben kann.

„Hier ist es“, sagte die hübsche junge Frau. Die Herren wandten sich wieder um. „Ich werde es zurückbringen.“

„Darf ich vorschlagen, es woanders zu hinterlassen als an seinem üblichen Platz im Tabernakel?“, fragte Dr St Liver. „Das würde sein offenkundiges Verschwinden überzeugender erklären, als wenn es wieder an einem Ort auftaucht, der bereits durchsucht worden ist.“

„Nun gut“, sagte Miss Dax und kaute leicht auf ihrer Unterlippe. „Ich lege es unter den Altar, hier auf diesen Kasten – und ganz nach hinten.“

„Wunderbar“, sagte Dr St Liver. „Und jetzt, denke ich, sollten wir zu unseren Freunden zurückkehren.“

Mr Burlingame jedoch bebte sichtlich. Er hatte seit Miss Dax’ Enthüllung nichts gesagt, und es war eindeutig, dass er noch lange nicht bereit war, zurück in den Versammlungsraum zu gehen. Etwas in ihm war dabei nachzugeben.

„Einen Moment!“, rief er. Seine Worte hallten in den geheiligten Steinmauern. „Einen Moment, bitte, Dr St Liver! Ich möchte reden! Sie … glauben uns offensichtlich nicht. Sie denken, wie ich es sehe, dass dieses Flabellum“ (ich habe dieses Wort selten giffiger ausgesprochen gehört) „nicht von den Schurken gestohlen wurde, sondern von uns.“

Dr St Livers Augen weiteten sich.

„Vielleicht“, fuhr Mr Burlingame fort, „glauben Sie sogar, dass es diese Schurken gar nicht gab.“

„Das scheint sich daraus zu ergeben“, sagte Dr St Liver langsam.

„Und, ergo, dass es zu keinem Handgemenge kam.“

„Natürlich läge auch diese Schlussfolgerung nahe.“

„Ebenso wenig wurde versucht, Miss Dax an den Stuhl zu fesseln.“

„Nein …“

„Und keine Flucht durch das Fenster fand statt.“

„Dieses Fazit muss ich wohl ziehen.“

Mr Burlingame blies Luft aus. „Darf ich Sie dann fragen, was Ihrer Meinung nach geschehen ist?“

„Ich denke nicht, dass wir darauf näher eingehen müssen“, sagte Dr St Liver. „Ich betrachte die Angelegenheit als abgeschlossen.“

„Warten Sie“, sagte Mr Burlingame schnell. „Sie haben die Eingangstür untersucht. Das muss es gewesen sein. Sie haben gesehen, dass man sie nicht hätte eintreten können – oder dass sie nicht eingetreten wurde. Sind Sie so darauf gekommen?“

„Nein, ich habe die Tür nicht untersucht.“

„Dann war es das Flabellum“, warf Miss Dax ein. „Es muss an Reginalds Unsicherheit gelegen haben, was die … Art des Objekts betrifft, die uns verraten hat.“

„Nein“, sagte Dr St Liver nach einer Pause. „Das war mir nicht aufgefallen.“

Sowohl Miss Dax als auch Mr Burlingame schienen nun darauf bedacht, die Rolle des Detektivs bei ihrem eigenen Verbrechen zu spielen.

„Dann war es“, bot Miss Dax nachdenklich an, „Reginalds unverhältnismäßig langes Zögern, bevor er die Tür öffnete, um Miss Pfister hereinzulassen? Ein Zögern, das sich besser dadurch erklären ließe, dass er mich an den Stuhl fesselte, statt zu versuchen, mich loszubinden?“

Dr St Liver überlegte.

„Oder die Sache mit meinem Haar?“, fuhr Miss Dax fort und spielte ernst mit einer ihrer Locken. „Es ist unmöglich, jemanden mit Haaren festzubinden. Ich habe oft versucht, meine Schwester damit anzubinden, aber die Knoten gehen immer wieder auf. Woher wussten Sie das?“ Sie lächelte gewinnend.

„Nein“, sagte Dr St Liver, „auch wenn ich für diese Information sehr dankbar bin. Nein, ich fürchte, dass es sich dabei lediglich um erhärtende Umstände handelt.“

„Was war es dann?“, fragte Mr Burlingame.

„Ich erkannte die Wahrheit, während ich Ihre Verletzungen untersuchte.“

„Wie meinen Sie das, Sir?“

„Die Wahrheit bezüglich Ihrer tatsächlichen Beschäftigung im Versammlungsraum, als Miss Pfister anklopfte.“

„Ich streite jegliche derartige Beschäftigung ab“, erklärte Mr Burlingame.

„Das ist Ihr Recht und Privileg“, antwortete Dr St Liver gelassen. „Und ich habe, wie gesagt, keinen Grund mehr, Ihnen weitere Aussagen in dieser Angelegenheit zu entlocken, da der verschwundene Gegenstand zurückgegeben wurde.“

„Aber das ist alles nicht gerecht“, rief Miss Dax mit glühenden Wangen. „Was wissen Sie? Ich muss Sie fragen, wie Sie es gemacht haben. Sind Sie wie Maskelyne und Cooke, die Ihre Geheimnisse nicht verraten? Ich will wissen, was Sie über die Ereignisse zu wissen glauben.“ Sie senkte ihre langen Wimpern. „Ich möchte, dass Sie verstehen“, fuhr sie fort, „dass nichts … Unschickliches in dem Raum geschehen ist. Nichts. Reginald und ich …“

„Effie!“, rief der Schatzmeister.

Miss Dax hob einen schlanken Arm. „Ist es nicht das Beste, Reginald, wenn wir Dr St Liver alles erzählen? Sonst … denkt er noch etwas vollkommen anderes.“