Der Mensch als Rohstoff - Christian Blasge - E-Book

Der Mensch als Rohstoff E-Book

Christian Blasge

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Beschreibung

Gentechnik, Nanotechnik, Robotik, Künstliche Intelligenz. Welche Revolutionen stehen uns bevor und wie denken die großen Konzerne darüber? Mit welchen Gefahren ist zu rechnen, wie hat sich unser Leben bereits verändert und wohin führt diese Reise? Zur Beantwortung dieser Fragen wagt Christian Blasge einen Ausflug in die menschliche Psyche und untersucht dabei, inwieweit sich unsere Gesellschaft mittlerweile in einem Modus der vollständigen Konkurrenz befindet. Getrieben ist die Entwicklung durch die Stigmatisierung des Menschen als "Mängelwesen", das überwunden werden soll. Dazu dienen die Digitalisierung und Automatisierung menschlicher Arbeitskraft, deren Auswirkung auf den Arbeitsmarkt und den Menschen selbst untersucht werden. Viele der technologischen Neuerungen des beginnenden 21. Jahrhunderts haben einerseits neue Freiheiten mit sich gebracht, die andererseits zu Überforderung, Entwurzelung und Entfremdung führen können. Verbunden ist das Zeitalter der Digitalisierung aber auch mit dem Mythos, Probleme ließen sich durch Konsum lösen, gekoppelt mit dem Trend, sich (freiwillig oder unfreiwillig) zu dem Vermarkter einer Ware und gleichzeitig selbst zu einer Ware zu machen. Im Kontext von Künstlicher Intelligenz und fortschreitenden persönlicher Optimierung drängt sich die Frage auf: "Was ist der Mensch und darf er so bleiben, wie er ist?" Technik-Utopisten (alb)träumen von Maschinen mit Bewusstsein und von Superintelligenzen, die unsere Lebenswelt neu gestalten. Sie schwärmen von der Überwindung der menschlichen Biologie, der Abschaffung aller Krankheiten bis hin zur Unsterblichkeit; und sie bestehen auf der bestmöglichen genetischen Ausstattung für unsere Nachkommen. Das Buch endet mit der brisanten Debatte über den Trans- bzw. Posthumanismus. Eine (schöne?) neue Gesellschaft mit optimierten Menschen, autonomen Robotern und virtuellen Entitäten wird unsere Lebenswelt von Grund auf verändern. Daher bedarf es, so der Autor, dringend eines neuen Gesellschaftsvertrags, wie mit den Früchten des Fortschritts umgegangen werden soll.

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Seitenzahl: 387

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Christian BlasgeDer Mensch als Rohstoff

© 2021 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

Coverfoto: Possessed Photography, unsplash.com

ISBN: 978-3-85371-887-2(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-485-0)

Der Promedia Verlag im Internet: www.mediashop.atwww.verlag-promedia.de

Inhaltsverzeichnis
Über den Autor
Einleitung
Was ist Philosophie und welche Aufgaben hat sie?
1. Die Antiquiertheit des Menschen
Günther Anders’ Ansichten über die Technik
Schwenk zur Gegenwart
Dave Eggers’ Roman »The Circle« – Eine Dystopie mit Realitätscharakter?
Der echte Circle: Alphabet Inc.
Die kalifornische Ideologie: Gegenkultur, Silicon Valley und Stanford
2. Auf dem Weg zum Übermenschen?
Friedrich Nietzsche und der Übermensch
Ray Kurzweil – Technik als Religion und Transhumanismus
Stand der Forschung: Gentechnik
Stand der Forschung: Nanotechnik
Stand der Forschung: Robotik
3. Treibende Kräfte des Optimierungswillens
Die Stilisierung des Menschen als Mängelwesen
Der allgegenwärtige Wettbewerb
Die Entwurzelung und Atomisierung des Menschen
Konsumismus und der Absolutheitsanspruch des Marktes
4. Die Selbstaufgabe des Menschen I: Künstliche Intelligenz
»Her« – ein zukunftsweisender Film?
Künstliche Intelligenz: Grundlagen, Anwendungsfelder und philosophische Probleme
5. Die Selbstaufgabe des Menschen II: Enhancement, Trans- und Posthumanismus
Jürgen Habermas’ Kritik an der liberalen Eugenik
Michael Sandels Plädoyer gegen die Perfektion
Bernward Gesangs Perfektionierung des Menschen und humaner Utilitarismus
Allen Buchanans Beyond Humanity
Savulescus und Perssons »Need for Moral Enhancement«
Gedanken über Enhancement, Trans- sowie Posthumanismus
Schlussbemerkungen
Literaturverzeichnis
Internetquellen (in chronologischer Reihenfolge)

Über den Autor

Christian Blasge, geboren 1988 in Klagenfurt, ist als Schullehrer sowie als Fachlehrer in den Bereichen Ethik, Bewegung und Sport an der Pädagogischen Hochschule Steiermark sowie an der Karl-Franzens-Universität Graz tätig.

Einleitung

»Es war die beste und die schlimmste Zeit, ein Jahrhundert der Weisheit und des Unsinns, eine Epoche des Glaubens und des Unglaubens, eine Periode des Lichts und der Finsternis: es war der Frühling der Hoffnung und der Winter der Verzweiflung; wir hatten alles, wir hatten nichts vor uns; wir steuerten alle unmittelbar dem Himmel zu und auch alle unmittelbar in die entgegengesetzte Richtung – mit einem Wort, diese Zeit war der unsrigen so ähnlich, daß ihre geräuschvollsten Vertreter im guten wie im bösen nur den Superlativ auf sie angewendet wissen wollten.«1

Charles Dickens (1812−1870)

Jedes Sehen ist ein perspektivisches Sehen und wir leben in einer Zeit voller Paradoxien. Während die Gegenwart dem einen als die beste aller Zeiten erscheint, kann sie für einen anderen die schlimmste bedeuten. Wer liegt näher an der Wahrheit? Es hängt von der Perspektive ab: Sinn und Unsinn, Besonnenheit oder Risikobereitschaft, Chancen und Gefahren – diese Begriffe lassen sich nicht voneinander trennen. Trotzdem neigen wir dazu, uns entweder für das eine oder das andere zu entscheiden. Unserem Verstand fällt es schwer, mehrere, einander womöglich widersprechende Realitäten auf ein und denselben Sachverhalt zu beziehen. Dabei hat kein Geringerer als Friedrich Nietzsche eindringlich darauf hingewiesen, dass sich im Guten stets etwas Böses, im Bösen stets etwas Gutes verberge.

Dieses Buch soll gleichwohl nicht als ein Aufruf zur »Umwertung aller Werte« verstanden werden – im Gegenteil: In einer postfaktischen Welt müssen wir uns vielmehr als Einzelne und in der Gesellschaft immer wieder neu fragen, wie wir eigentlich leben wollen, welche Werte für uns als zentral gelten und was wir für gut und erstrebenswert erachten. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die technischen Errungenschaften, die Achtsamkeit, analytischen Scharfsinn und interpretatorische Fähigkeiten verlangen. Technik schafft neue Welten, sie erzeugt neue und transzendiert alte Werte. Der nahezu alle Lebensbereiche beherrschende Umgang mit ihr einerseits und ihr rasantes Fortschreiten andererseits prägen unser alltägliches Verhalten wie unsere Sicht auf die Welt. Die Technik an sich stellt womöglich eines der ambivalentesten Phänomene überhaupt dar, lassen sich doch mit ihr Wunder und Zerstörung gleichermaßen vollbringen – Menschen können geheilt oder geknechtet, befreit oder kontrolliert, sozial eingebettet oder ausgeschlossen werden. Die Technik steht daher im Zentrum des vorliegenden Buches. An ihre Seite soll die Philosophie treten, die durch ihre große Geschichte eine Fülle an fundierten Perspektiven bereithält, die dem einen oder anderen Orientierung, Halt, hoffentlich Zweifel und bestenfalls Stärke vermitteln kann. Philosophie ohne Kontext und ohne Kritik am Status quo bleibt allerdings theoretisch, freischwebend und zahnlos. Es wird daher der Versuch unternommen, an aktuelle Entwicklungen im Bereich der Technik anzudocken und sie mit dem Instrumentarium der Philosophie zu einem besseren Verständnis des Hier und Jetzt aufzuschlüsseln.

Was erwartet Sie als neugieriger Leser, neugierige Leserin? Am Anfang steht ein Einblick in das philosophische Denken, in dem zugleich die Grundprinzipien vorgestellt werden, die diesem Buch zugrunde liegen: Offenheit, Mut und ein kultiviertes Staunen über die Welt. Begleitet und vertieft wird dieser Einblick durch biografisch-philosophische Exkurse zu Sokrates, Immanuel Kant und Karl Jaspers.

Im ersten Kapitel trete ich zunächst ins Gespräch mit Günther Anders, dessen Interpretation der Technik in Die Antiquiertheit des Menschen (Band 1 1956, Band 2 1980) nach über 60 Jahren immer noch für Nachdenklichkeit, Faszination und manches Kopfschütteln sorgt. Anschließend springe ich in die Gegenwart und schlage über den dystopischen Roman Der Circle (2013, deutsch 2014) eine Brücke zu einem der einflussreichsten Konzerne der Welt, beheimatet im Silicon Valley. Was passiert eigentlich in diesem »Silicium-Tal«? Und wie ist die sogenannte »kalifornische Ideologie« zu interpretieren, die sich aus dem abenteuerlichen Rebellentum junger Menschen und aus deren Glauben, durch Technik sei schlechthin alles machbar, zusammensetzt?

Im zweiten Kapitel vergegenwärtige ich einige Aspekte von Nietzsches Konzeption des »Übermenschen»sowie die Ideen Ray Kurzweils zum »Transhumanismus« und der »Singularität«. Schließlich bringe ich dieses Sammelsurium mit aktuellen Entwicklungen aus Gentechnik, Nanotechnik und Robotik zusammen.

Im dritten Kapitel möchte ich die subversiven Kräfte aufdecken, die uns dazu motivieren oder gar nötigen, uns selbst, unsere technischen Mittel und unsere Umwelt kontinuierlich zu optimieren. Wir begeben uns auf einen Ausflug tief in die menschliche Psyche, betreiben Gesellschaftskritik und klären die Frage, ob sich unsere Gesellschaft zunehmend in einem Modus der Konkurrenz und immer weniger in Kooperation befindet. Angestoßen werden diese Fragen durch folgende Problembereiche:

1. Die Stigmatisierung des Menschen als »Mängelwesen«, das überwunden werden soll.

2. Die Digitalisierung und Automatisierung menschlicher Arbeitskraft und deren Auswirkung auf den Arbeitsmarkt und den Menschen selbst.

3. Die Zunahme an Freiheiten, die einerseits begrüßt werden muss, andererseits zu Überforderung, Entwurzelung und Entfremdung führen kann.

4. Der Mythos, Probleme ließen sich durch Konsum lösen, gekoppelt mit dem Trend, sich (freiwillig oder unfreiwillig) zum Vermarkter einer Ware und gleichzeitig selbst zur Ware zu machen.

Sie haben Zweifel? Vielleicht kann die philosophische Auseinandersetzung mit Beispielen aus den Sozialen Medien, den Partnerbörsen und dem Arbeitsmarkt Sie umstimmen.

Das vierte Kapitel befasst sich vorwiegend mit dem technischen Fortschritt, der zu einer buchstäblichen »Selbstaufgabe des Menschen« führen kann. Wir werden uns mit der Wahrscheinlichkeit auseinandersetzen müssen, dass uns auf lange Sicht künstliche Intelligenzen ablösen werden. So manche Expertin ist der durchaus streitbaren Ansicht, dass sich Eigenschaften, die unsere Biologie auszeichnen, technisch generieren lassen. Ich stelle milliardenschwere Forschungsprojekte vor, spiele Zukunftsszenarien durch und frage, ob die Möglichkeit, Superintelligenzen zu entwickeln, unser Leben, so wie wir es kennen, für immer verändern wird. Achtung: Die Erschaffung einer Superintelligenz könnte die letzte Erfindung sein, die wir machen – ob dies positiv oder negativ zu bewerten ist, bleibt offen.

Im letzten Kapitel setze ich mich mit dem leiblichen Aspekt der menschlichen Selbstaufgabe auseinander. Sie betrifft unmittelbar unseren Körper. Konkret beschäftige ich mich mit den philosophischen Richtungen des Transhumanismus und mit dem darauf aufbauenden Posthumanismus, deren Ziel darin besteht, den Menschen per se zu etwas Höherem, Besserem zu transformieren. Nach dem Motto »Ist es nicht besser, besser zu sein?« werden neueste Fortschritte in Genetik, Medizin, Pharmakologie, Nanotechnik und Robotik es uns langfristig erlauben, länger zu leben, schneller zu denken und leistungsfähiger zu sein. Was mit einfachen Brillen, Herzschrittmachern, Prothesen und Cochlea-Implantaten begann, findet in Gentherapien, Nanorobotern im Körper, Gehirn-Computer-Schnittstellen usw. seine Fortsetzung. Die schleichende Verschmelzung von Mensch und Maschine hat unseren von Smartphones und anderen technischen Intelligenzen beherrschten Alltag bereits erfasst. Doch wie weit wollen wir in den westlichen, wohlhabenden Gesellschaften gehen? Soll alles technisch Machbare tatsächlich umgesetzt werden? Welche Rolle kann und soll in diesem Zusammenhang die Ethik spielen – sofern sie hier in ihrer klassischen Form überhaupt noch greifen kann? Die Debatte rund um den Trans- bzw. Posthumanismus wirft zahlreiche Fragen auf: Wie lässt sich eine Gesellschaft gestalten, in der »Cyborgs«, virtuelle Entitäten und Menschen neben- bzw. miteinander leben? Wie werden Trans- und Posthumanisten den Menschen betrachten? Als etwas Schützenswertes, als bloßen Rohstoff oder gar als obsolete Belastung? Oder provokant mit Nietzsche gesprochen: »Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham.«

1 Dickens, Charles: Eine Geschichte aus zwei Städten, Insel Verlag: Berlin 2011 [1859].

Was ist Philosophie und welche Aufgaben hat sie?

»Philosophie ist die Wissenschaft, über die man nicht reden kann, ohne sie selbst zu betreiben.«2

Carl Friedrich von Weizsäcker (1912−2007)

»Der Mut der Wahrheit, der Glaube an die Macht des Geistes ist die erste Bedingung der Philosophie.«3

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770−1831)

Der Ursprung des Begriffs Philosophie (φιλοσοφία) liegt im Griechenland des 6. Jahrhunderts v. Chr. Übersetzt bedeutet Philosophie »Liebe zur Weisheit«, womit zum Ausdruck gebracht wird, dass sich der Philosophierende intensiv mit Fragen des Denkens, Sprechens und Handelns beschäftigt, um so zu einem tieferen Verständnis der Zusammenhänge zwischen Mensch, Natur und Kosmos zu gelangen. Welche Merkmale »Weisheit« grundsätzlich definieren, kann nicht eindeutig bestimmt werden. Eines ist jedoch sicher: Sie bedarf einer bestimmten Form des Wissens. Ohne Wissen kann Weisheit nicht zur Erscheinung gelangen, während es umgekehrt durchaus Wissen ohne Weisheit geben kann. Der Philosoph ist folglich jemand, der sich stets auf der Suche nach Erkenntnis und nach Weisheit befindet. Er unterscheidet sich damit fundamental von jemandem, der behauptet, bereits im Besitz eines unveränderlichen Wissens zu sein. Tiefere Einsichten führen naturgemäß zu weiteren Fragen – dieser Kreislauf kommt, sofern man des Fragens nicht müde wird, zu keinem Ende. Weisheit kann somit als etwas dem Wissen Übergeordnetes verstanden werden, das uns dazu befähigt, Einsichten in unser Leben zu gewinnen und mit einem beweglichen Geist möglichst unabhängig von äußeren Einflüssen in der Welt zu wirken.

Um zu verstehen, worum es in der Philosophie geht, muss man sich mit ihren Fragestellungen und Herangehensweisen auseinandersetzen. Grundsätzlich betreibt jeder Mensch Philosophie. Sobald man über seine eigene Lebensweise nachzudenken beginnt, über das Wesen von Politik und Gerechtigkeit, über Gott oder die Existenz der Seele, philosophiert man. Diese Art des konzentrierten Nachdenkens könnte man als Alltagsphilosophie bezeichnen. Sie nimmt zweifellos eine wichtige Funktion in unserem Leben ein, unterscheidet sich jedoch von der akademischenPhilosophie. Die akademische Philosophie verfügt über ein systematisches Wissen über die verschiedenen Bereiche dieser Disziplin und verständigt sich darüber mit einer eigenen, für Außenstehende oft schwer verständlichen Terminologie. Sie arbeitet vorwiegend mit Begründungen sowie Argumenten und ist bemüht, persönliche Befindlichkeiten und Emotionen nicht zu berücksichtigen. Zu fruchtbaren Debatten kommt es, wenn sich innerhalb eines Bereiches oder einer Fragestellung der Philosophie unterschiedliche und womöglich divergierende Ansätze gegenübertreten. Plötzlich werden Inhalte infrage gestellt, die möglicherweise seit Jahrzehnten als aktueller Kenntnisstand oder commonsense behandelt wurden. Die philosophische Methode dieser Art der Auseinandersetzung wurde in der Geschichte als Dialektik bezeichnet, bei welcher Argumente (Thesen) auf Gegenargumente (Antithesen) treffen, woraus gewandelte Einsichten (Synthesen) für beide Seiten entwickelt werden. Dabei ist nicht auszuschließen, dass diese Synthesen nach einer Weile erneut einer kritischen Prüfung unterzogen werden, womit der Prozess von vorne beginnt. Das zentrale Element dieser Methode ist die beiderseitige Ergebnisoffenheit: Man vertritt zwar den eigenen Standpunkt, muss diesen aber revidieren, wenn er von einer plausibleren Erklärung abgelöst werden kann. Manchmal beschleicht einen Außenstehenden das Gefühl, dass Philosophen ihre Thesen in einer bewusst abstrakt gehaltenen Sprache gegen Kritik immunisieren möchten. Im optimalen Fall sollen Alltagsphilosophie und akademische Philosophie einander nicht ausschließen, sondern ergänzen. Philosophische Fragen betreffen jeden von uns und gehören zum Leben dazu.

Darauf verweist auch der Urvater des abendländischen Philosophierens: Sokrates. Sokrates hat nie ein Buch geschrieben (verschriftlicht hat ihn erst Platon), sondern zum Gespräch gezielt den Marktplatz – die agora – gewählt. Er lehrt uns, grundsätzliche Fragen nie als endgültig beantwortet zu betrachten. Das menschliche Denken, aber auch politische oder moralische Überzeugungen oder das Verständnis von Begriffen wie Gerechtigkeit oder Tapferkeit sind bei näherer Betrachtung widersprüchlich und schwer zu definieren. Wir täten daher gut daran, mit unseren Wissensansprüchen etwas bescheidener aufzutreten. Wahrhaft weise sei jemand, der sich stets darüber im Klaren sei, dass er nicht die endgültige Wahrheit, sondern nur Ausschnitte oder Abbilder von dieser erkennen könne – der »weiß«, wie Sokrates sagt, »dass er nichts weiß«. Im Dialog – so hat Platon ihn uns überliefert – zeigt Sokrates seinen Gesprächspartnern häufig auf bissige, provokante, aber tief reflektierende Weise (und gelegentlich mit einer gesunden Portion Humor) die Grenzen ihrer Ansichten auf. Die sogenannte Sokratische Methode, also das gezielte Hinterfragen einer Sache oder das Formulieren von detaillierten Fragen, auf die man nicht ad hoc eine Antwort erhalten kann, stellt einen ersten Schwerpunkt des Buches dar. Das »Modell Sokrates« und sein bewusst provokatives und herausforderndes Auftreten haben in der heutigen Zeit eher wenig Einfluss. Die meisten Philosophen haben sich auf ihre Fachgebiete zurückgezogen und pflegen möglichst harmonische Beziehungen zu ihren Kollegen an den Universitäten, zur Gesellschaft, zu Kreisen der Wirtschaft und Politik. Man hat den Eindruck, dass keiner dem anderen allzu sehr auf die Füße treten möchte.

Unter vielen anderen wähle ich nach Sokrates einen zweiten großen Denker, der grundsätzlich anders an die Philosophie heranzugehen scheint: Immanuel Kant. Der deutsche Philosoph aus dem 18. Jahrhundert vertritt im Gegensatz zu Sokrates durchaus Wissensansprüche, jedoch mit einer wichtigen Einschränkung: Unsere Perspektive ist eine dezidiert menschliche – und sie kann auch keine andere sein, da wir nur über unsere Sinnesorgane Zugang zur Welt haben. Mithilfe der Vernunft, die unser Denken auf eine neue, abstrakte Ebene hebt, ist es uns dennoch möglich, allgemeine Aussagen zu formulieren. So hat Kant exemplarisch einen Versuch unternommen, eine moralische Regel, den sogenannten Kategorischen Imperativ, zu formulieren, die allgemeine Gültigkeit beanspruchen sollte. Kant formulierte zudem vier grundsätzliche Fragen der Philosophie – Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? –, die er in seinen Werken ausführlich und einflussreich für die Nachwelt diskutiert. Für meine Überlegungen besonders relevant ist seine leidenschaftliche Ermutigung des Menschen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und nicht fremdbestimmt und unmündig durch das Leben zu gehen.

Der dritte und letzte Philosoph, der im einleitenden Teil zur Philosophie besondere Beachtung erhält, wirkte im 20. Jahrhundert: Karl Jaspers. Jaspers beschäftigte sich mit dem Ursprung der Philosophie, mit ihrem eigentlichen Nutzen und mit ihren besonderen Merkmalen. Die Philosophie ist nach Jaspers ein ambivalentes Phänomen. Nicht wenige halten sie für ein überflüssiges Grübeln von Träumern, während sie für andere keine eigenständige Disziplin ist. Da sie keine eindeutigen Ergebnisse liefern kann, sei es sinnlos, sich mit ihr zu beschäftigen. Warum ist sie heute trotzdem von Belang? Jaspers Antwort lautet: Philosophie verkörpert eine Art des Denkens, die tiefer ergreift als jede wissenschaftliche Erkenntnis. Vor aller Wissenschaft tritt sie dort auf, wo Menschen hellhörig werden, aufwachen und Fragen stellen. Sie lehre, sich nicht täuschen zu lassen und keine Möglichkeit einfach beiseitezuschieben. Sie stört die Ruhe der Welt, denn sie will die ganze Wahrheit. Die meisten Menschen verlieren im Laufe ihres Erwachsenwerdens ihre kindliche Naivität und Unbefangenheit. Sie verstricken sich in einem Netz von Konventionen und Meinungen, die sie daran hindern, grundsätzliche Fragen zu stellen. Dabei ist Philosophie in »abgesunkener« Form überall gegenwärtig: in Redewendungen, politischen Ideologien, moralischen Überzeugungen oder den »Mythen des Alltags«. Gewissen Fragen kann man nicht entrinnen.

Jaspers schreibt der Praxis des Philosophierens drei wesentliche Merkmale zu: das Staunen, das Zweifeln und die Befriedigung im Vollzug der Erkenntnis. Diese Motive sollen uns durch das vorliegende Buch leiten. Die Leserin und der Leser werden durch aktuelle Entwicklungen in Wissenschaft und Technik in Staunen versetzt, aber nicht nur das. So spannend manche Erkenntnisse sein mögen – eine gesunde Skepsis sollte uns nie verlassen. Die meisten von uns bevorzugen schnelle, pragmatische Lösungen, übersehen jedoch, dass viele Dinge darüber ihren Reiz, ihre Besonderheit und ihren Wert einbüßen, wodurch etwaige Probleme, ja sogar Gefahren nicht erkannt werden. Der Zweifel gibt einer neuen Erkenntnis eine Chance – und nach Jaspers ist genau diese Art zu denken geprägt von tief greifender Befriedigung. Ich möchte Sie also zu folgenden drei Haltungen ermuntern:

Zu der Offenheit, tief greifende Fragen zu stellen

Zu dem Mut, sich Ihres eigenen Verstandes zu bedienen

Zu einer Kultivierung Ihres Staunens über die Welt

2 Weizsäcker, Carl Friedrich: Die Einheit der Natur, Hanser: München 1971.

3 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie: Erster Teil, Hofenberg: Berlin 2013 [1837]

1. Die Antiquiertheit des Menschen

Günther Anders’ Ansichten über die Technik

»Wenn es im Bewußtsein des heutigen Menschen etwas gibt, was als absolut oder als unendlich gilt, so nicht mehr Gottes Macht, auch nicht die Macht der Natur, von den angeblichen Mächten der Moral oder der Kultur ganz zu schweigen. Sondern unsere Macht. […] Die prometheisch seit langem ersehnte Omnipotenz ist, wenn auch anders als erhofft, wirklich unsere geworden. Da wir die Macht besitzen, einander das Ende zu bereiten, sind wir die Herren der Apokalypse. Das Unendliche sind wir.«4

»Unter den Mächten, die uns heute formen und entformen, gibt es keine mehr, deren Prägekraft mit der der Unterhaltung in Wettbewerb treten könnte. Wie wir heute lachen, gehen, lieben, sprechen, denken oder nichtdenken, selbst wie wir heute zu Opfern bereit sind, das haben wir nur zum allunbeträchtlichsten Teil im Elternhaus, in den Schulen oder in den Kirchen gelernt, vielmehr fast ausschließlich durch Rundfunk, Illustrierte, Filme oder durch das Fernsehen – kurz: durch ›Unterhaltung‹.«5

In den 1950er-Jahren warf Günther Anders die provokante Frage auf, ob der Mensch nicht mittlerweile hoffnungslos antiquiert, also überholt sei, da ihm die Technik den Rang abgelaufen habe. Diese Frage wird eingebettet in eine fundamentale Skepsis gegenüber dem »Gerät an sich«, womit Radio und Fernsehen, die sogenannte Maschinenmusik sowie Abbilder aller Art gemeint sind. Ich nehme Anders’ Diagnose zur kritischen Ausgangsbasis für die Betrachtung der Technik im 21. Jahrhundert.

Günther Anders wurde 1902 in Breslau geboren und wuchs in einer jüdischen Familie auf. Sein Vater war der bekannte Psychologe William Stern. Anders wurde 1923 bei Edmund Husserl promoviert und lernte 1925 in einem Seminar seine erste Ehefrau, die Philosophin Hannah Arendt, kennen. In den Jahren 1930−1932 arbeitete Anders an dem antifaschistischen Roman DiemolussischeKatakombe, der aufgrund der nationalsozialistischen Machtergreifung nicht erscheinen konnte und erst 60 Jahre nach seinem Entstehen, im Jahr 1992, publiziert wurde. 1933 emigrierten er und Arendt nach Paris. 1937 ließ sich das Paar scheiden, worauf Anders weiter in die USA floh. Im Exil blieb Anders ein Außenseiter und fand nie Anschluss an die dortige »scientific community«. Infolge finanzieller Engpässe musste er seinen Lebensunterhalt durch unterschiedliche Tätigkeiten – beispielsweise als Putzmann in den Requisitenkammern von Hollywood – bestreiten. Diese Erfahrungen schärften allerdings seinen Blick für die Charakteristika der modernen Zivilisation. Die erst langsam durchsickernde Wahrheit über die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten sowie der Abwurf der Atombombe über Hiroshima gaben dem Leben und Denken von Günther Anders eine entscheidende Wende. 1950 kehrte er nach Europa zurück und ließ sich in Wien, der Heimatstadt seiner zweiten Frau (der Schriftstellerin Elisabeth Freundlich) nieder. Der Bau weiterer Atombomben und die Möglichkeit der Auslöschung der Menschheit durch einen globalen Krieg wurden für Anders zum bestimmenden Thema der nächsten Jahrzehnte. Anders starb in hohem Alter und bis zuletzt arbeitend 1992 in Wien.6 In einem seiner Werke bezeichnete er seine Tätigkeit als »Gelegenheitsphilosophie« – eine Philosophie, die die charakteristischen Aspekte ihrer Zeit zum Ausgang des Denkens nimmt.

Der Medien- und Technikphilosoph hat sich in den beiden Bänden seines Hauptwerkes Die Antiquiertheit des Menschen (Band 1 1956, Band 2 1980) intensiv mit der Seele des Menschen im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution (Band 1) sowie mit der Zerstörung des Lebens in der dritten industriellen Revolution (Band 2) beschäftigt. Seine Ansichten über die Technisierung der Welt und deren Bedeutung für den Menschen sind bis heute einflussreich. Die Methode der Vermittlung seiner Gedanken beschreibt er selbst als »Übertreibung«. Es gebe Erscheinungen in unserer Welt, bei denen sich die Überpointierung und die Vergrößerung nicht vermeiden lassen, da sie ohne diese Entstellung kaum identifizierbar wären oder gar unsichtbar bleiben würden, so Anders. »Übertreibung oder Erkenntnisverzicht« – vor diese Alternative stellt er seine Leserinnen.

In seinem Werk verfolgt Günther Anders drei zentrale Thesen: (1) Wir sind der Perfektion unserer Produkte nicht gewachsen; (2) wir stellen mehr her, als wir vorstellen und verantworten können; und (3) wir glauben, alles, was wir können, auch zu dürfen, zu sollen, ja sogar zu müssen. Diese Thesen sollen Gegenstand der nächsten Seiten sein und als philosophisches Grundgerüst für weitere Überlegungen dienen.

Einer der bekanntesten Begriffe, mit denen man Anders in Verbindung bringt, ist die »prometheische Scham« des Menschen gegenüber den Dingen, die er selbst hergestellt hat. In der griechischen Mythologie galt Prometheus als ein Freund und Lehrmeister der Menschen. Einer Variante des Mythos zufolge fertigte er die Menschen aus Ton an und verlieh ihnen von verschiedenen Tieren je eine Eigenschaft – z. B. die Klugheit des Hundes. Überdies gab er den Menschen das Feuer zurück, das ihnen wegen Betrugs während einer Opfergabe für die Götter von Zeus genommen worden war. Während Prometheus stolz auf seine Kreationen sein konnte, da er ihnen stets überlegen blieb, drückt die prometheische Scham das Gefühl der menschlichen Unterlegenheit gegenüber seinen perfekt gestalteten Produkten aus, denen der Mensch als mängelbehaftetes Wesen nicht mehr beikommen kann. Anders bezeichnet diesen Zustand auch als das »prometheische Gefälle«. Im Angesicht seiner durchkalkulierten Produkte schämt sich der Mensch, geworden, statt gemacht worden zu sein. Er zieht in seiner Scham das Gemachte dem Macher vor – der verspürte Stolz wechselt vom creator zum creatum. In einer komplexer werdenden Welt von Maschinen wird der Mensch darüber hinaus zunehmend von seinen Schöpfungen assimiliert. Er fungiert nicht nur als Gerät neben Geräten, sondern als Gerät für Geräte. Die Folge ist für Anders das Vertauschen der Subjekte von Freiheit und Unfreiheit: Frei sind die Dinge, unfrei ist nun der Mensch.

Die erste Inferiorität des Menschen gegenüber den Maschinen ist das Scheitern im Vergleich zu ihnen, das sich in Minderwertigkeitsgefühlen äußert. Die zweite Inferiorität folgt aus der Tatsache, dass der Mensch sterblich und von der »industriellen Reinkarnation« ausgeschlossen sei. Anders bezeichnet dieses Phänomen als die »Malaise der Einzigartigkeit« des Menschen. Im strikten Sinn sind unsere Produkte nicht unsterblich. Die Haltbarkeit von Lebensmitteln ist begrenzt, auch Glühbirnen und Autos haben eine überschaubare Lebensdauer. Nicht selten sind es jedoch wir selbst, die unseren Produkten ein Verfallsdatum zuweisen, um die Absatzmärkte lebendig zu halten. Unsere eigene Sterblichkeit dagegen ist nicht unser Werk – sie kann nicht kalkuliert werden. In einem weiteren Sinn sind unsere Produkte dagegen tatsächlich »unsterblich« bzw. »industriell inkarnierbar« – nämlich dort, wo sie in die Serienproduktion gehen:

Als einzelnes hat zwar jedes Stück (diese Schraube, diese Waschmaschine, diese Langspielplatte, diese Glühbirne) seine Leistungs-, Verwendungs- und Lebensfrist. Aber als Serienware? Führt nicht die neue Glühbirne, die die alte ausgebrannte ersetzt, deren Leben fort? Wird sie nicht die alte Birne?7

Ein weiteres Beispiel stellt Hitlers Bücherverbrennung 1933 dar, als tausende Seiten von derjenigen Literatur, die dem Regime nicht genehm war, auf dem modernen Scheiterhaufen einer neuen Inquisition vernichtet wurden. Anders als im verheerenden Bibliotheksbrand im antiken Alexandria, durch den große Teile des damaligen Wissens verloren gingen, wurde bei der Bücherverbrennung des 20. Jahrhunderts keine einzige Seite endgültig verbrannt. Denn von jeder Seite gab es hunderte oder sogar tausend »Geschwister« in versteckten Sammlungen oder im Ausland, die ein, zwei Jahrzehnte später wieder reproduziert wurden.

Wie konnte man damals und wie kann man heute gegen die »Malaise der Einzigartigkeit« aufbegehren? Anders erkennt die Revolte gegen das Gefühl der Benachteiligung in einer Sucht, die in ihrem Ausmaß und in ihrer Intensität eine erstmalige Erscheinung darstellt und im frühen 21. Jahrhundert ihren Höhepunkt feiern wird. Diese Sucht ist ein Schlüsselphänomen, das in vielen Theorien unseres Zeitalters vorkommt. Die Rede ist von der Bildersucht oder, mit einem Terminus von Anders, der »Ikonomanie«. Die Rolle des Bildes war bereits im 20. Jahrhundert groß – heute ist sie so ungeheuerlich, dass wir in dem Versuch, uns die Welt ohne die unzähligen Bilder, Handyschnappschüsse, Kopien, Plakate, Filme (ganz abgesehen von den sozialen Netzwerken und dem Internet) usw. vorzustellen, mit leeren Händen dastehen. Als einen Grund für die Genese der Ikonomanie nennt Anders die Möglichkeit, durch Bilder die Chance zu erhalten, »Ersatzteile« von sich selbst zu schaffen und somit seine unerträgliche Einmaligkeit Lügen zu strafen.

Sie [diese Chance] ist eine im größten Stile von ihm [dem Menschen] durchgeführte Gegenmaßnahme gegen sein »mich gibt’s nur einmal«. Während er sonst von der Serienproduktion ausgeschlossen bleibt, verwandelt er sich eben, wenn photographiert, doch in ein »reproduziertes Produkt«. Mindestens in effigie gewinnt auch er dadurch multiples, zuweilen sogar tausendfaches, Dasein.8

Diejenigen unter uns, denen das multiple Dasein am eindrucksvollsten gelingt, sind nach Anders die von vielen beneideten Filmstars. Da sie unseren Traum, zu sein wie die Dinge und als Emporkömmlinge der Produktwelt zu gelten, am triumphalsten verwirklicht haben, werden sie sprichwörtlich vergöttert. Der Filmstar geht mit der Massenware eine unheilvolle Allianz ein.9 Wer Gelegenheit hat, Touristen aus den Industrieländern in Urlaubsorten zu beobachten, wird bemerken, in welchem Grad Einmaligkeit sie irritiert. Der Eiffelturm, die Chinesische Mauer oder die Pyramiden von Gizeh sind allesamt Unikate in einer Welt voller Serienprodukte. Seit der Entwicklung des Fotoapparats verfügen wir über ein probates Mittel, um eine sofortige Wiederherstellung unserer Seelenruhe zu ermöglichen: Mit seiner Hilfe können wir das Einmalige, sollte es uns durch seine Schönheit oder Unklassifizierbarkeit allzu stark verwirren, mit einem Klick zu einem weiteren Objekt transformieren. In diesem Vorgang wird der bestimmte Artikel (der Turm von Pisa) in einen unbestimmten verwandelt (eines von unzähligen Bildern des Turms von Pisa) – in die Artikelform, die im Universum der Reproduktion ihren rechtmäßigen Platz einnehmen kann. Das Fotografieren kann nach Anders als Akt des »Aufnehmens« gedeutet werden – mit dem Bild hat man es nun geschafft, dieses oder jenes Objekt zu »haben«.

Haben, so scheint es uns, ist etwas ganz Normales im Leben; um leben zu können, müssen wir Dinge haben, ja, wir müssen Dinge haben, um uns an ihnen zu erfreuen. In einer Gesellschaft, in der das oberste Ziel ist, zu haben und immer mehr zu haben, in der man davon spricht, ein Mann sei »eine Million wert«: wie kann es da eine Alternative zwischen Haben und Sein geben? Es scheint im Gegenteil so, als bestehe das eigentliche Wesen des Seins im Haben, so daß nichts ist, wer nichts hat.10

Menschen, die sich vorwiegend in der seriellen Welt aufhalten, umgeben sich mit Reproduktionen bzw. Kopien von ursprünglichen Modellen. Nachbilder sind für sie eben das Wirkliche geworden.

So wenig sie dasjenige photographieren, was sie sehen – denn was sie sehen, das sehen sie nur, um es zu photographieren; und was sie photographieren, das photographieren sie nur, um es zu haben – so wenig ist ihnen das, was sie photographieren, das »Wirkliche«. »Wirklich« ist für sie vielmehr die Aufnahme, das heißt: die in das Serien-Universum aufgenommenen und zu ihrem Eigentum gewordenen Exemplare der Reproduktions-Serie.11

Wirklich scheint für sie nicht, tatsächlich dort zu sein, den Moment zu genießen, ein Verständnis für die Kultur zu entwickeln, die andersartige Architektur zu bestaunen oder die fremde Sprache zu hören, sondern allein, dort gewesen zu sein. Nicht nur, weil der Besuch des Fremden das heimische Prestige hebt, sondern weil nur Gewesenes, und nicht das flüchtige Gegenwärtige, einen sicheren Besitz darstellt. Während Erich Fromm konstatiert, dass nach dieser Auffassung offenbar »nichts ist, wer nichts hat«,macht nach Anders’ Diagnose »nur Gewesen-sein das Sein« aus. Sein bedeute demnach »Gewesensein und Reproduziertsein und Bildsein und Eigentum sein«12.

Den damals in den USA populären Jazz bezeichnet Anders als industriellen Dionysos-Kult. Der griechische Gott Dionysos galt in der Antike als Gott der Freude, des Wahnsinns und der Ekstase. Friedrich Nietzsche hat aus diesen Charakteristika ein eigenes Prinzip entwickelt: das »Dionysische«. Während das »Apollinische« (im Rekurs auf den Gott Apoll) sich in beherrschten, klaren und bildhaften Formen darstelle, gleiche das Dionysische einer Welt des Rausches. Es verweise auf einen orgiastischen, ekstatischen Zustand der Selbstvergessenheit, der sich für Nietzsche vor allem in der Musik ausdrückte.13 Übertragen auf den Jazz, stellt dieser Zustand für Anders ein Symptom des damaligen Zeitgeistes dar. Der Jazz trage die Kennzeichen einer dinglichen und automatisierten Gangart in sich – er sei ein alles zerstampfender Wiederholungsfuror, der Furor einer immer gleich laufenden Maschine. Kurz: »Maschinenmusik«. Die Maschinen geben den Bewegungsrhythmus vor, während sich der menschliche Leib ihm bei jedem Takt aufs Neue unterwerfen muss. Es komme zu einer Widerlegung des Leibes und seines Anspruches, über eigene Rhythmen zu verfügen:

Da nun aber der Leib, um seinen Konformismus mit der Maschine zu beweisen, diese Widerlegung mitvollzieht, ist, was der Tänzer tanzt, nicht nur die Apotheose [Vergottung, Verherrlichung] der Maschine, sondern zugleich eine Abdankungs- und Gleichschaltungsfeier, eine enthusiastische Pantomime der eigenen totalen Niederlage.14

Die Ekstase der Tänzer ist echt. Statt sie selbst sind sie »außer sich«, um mit dem Gott der Maschine eins zu werden: »Industrieller Dionysos-Kult«. Was würde der Gelegenheitsphilosoph wohl über die heutige Popindustrie sagen oder über den Disc-Jockey, der die Maschinenmusik so deutlich verkörpert wie kein anderer vor ihm?

Anders’ Analysen und Deutungen sind zeitgebunden und streitbar, aber doch in der Sache aufschlussreich, wie beispielsweise seine Überlegungen zum Arbeitsprozess am Fließband. An maschinisierten Tätigkeitsformen erkennt man, dass sich der Mensch in eine kraftraubende Gleichschaltung mit der Maschine begeben muss. Er wird sich an ihrem Tempo und Rhythmus orientieren – und ist ständig von der Angst beherrscht, nicht Schritt halten zu können. Die Arbeiterin soll in seiner wachsamen Selbstkontrolle einen Automatismus in Gang bringen. Sie muss sich zusammennehmen, umnichtalssieselbstzufunktionieren. Gerade diese Aufgabe scheint für Anders das entscheidende Paradox an einer solchen Arbeit zu sein. Denn in diesem Prozess erwächst die Zumutung, sich als Akteurin auszulöschen und die eigene Tätigkeit in einen automatischen Vorgang zu verwandeln sowie unter Kontrolle zu halten. Der Arbeiter mache sich auf diese Weise selbst zum Organ des Gerätes. Er lasse sich vom Gang der Maschine einverleiben, nehme seine eigene Passivmachung aktiv in die Hand und führe diesen Kreislauf selbstständig fort.

Da er unter Aufbietung aller Konzentrationskräfte zu versuchen hat, statt selbst Zentrum zu sein, sein Zentrum ins Gerät zu verlegen, muß er zugleich »er selbst« und »nicht er selbst« sein.15

Der an die Maschine angepasste Mensch bleibt sich selbst aber nicht vollständig fremd. Es kommt auch hier zu einer »Selbstbegegnung«. Die Begegnung mit sich selbst – seinem Körper und seinem Geist – findet jedoch nur durch ein negatives Ereignis statt: durch einen Moment, in dem der Konformismus misslingt und der Mensch sich als etwas Anstößiges, als Versager erfährt. Erst durch ein Versagen wird sich der Mensch somit seiner eigenen Identität wieder bewusst:

Nicht deshalb, weil es Selbstbegegnung gibt, wird »Identitätsstörung« erfahren; umgekehrt tritt Selbstbegegnung nur deshalb ein, weil es Störung gibt.16

Im Kapitel »Die ins Haus gelieferte Welt« untersucht Günther Anders Rundfunk und Fernsehen in ihrer Bedeutung für die Gesellschaft. Er diskutiert seine These am Beispiel eines Gottesdienstes, der im Fernsehen ausgestrahlt wird, sodass eine Vielzahl an Menschen daran teilnehmen kann. Während des Betrachtens scheint es dem naiven Menschen, als ob er die Wirklichkeit und nicht bloß ein Abbild wahrnimmt. Die Inhalte des Gottesdienstes, die Musik und die Atmosphäre haben einen Einfluss auf den Beobachter – offenbaren aber eben auch eine andere, verborgene Tatsache: dass der Mensch an diesem geradenichtteilnimmt, sondern alleindessenBild konsumiert.

Dieser Bilderbuch-Effekt ist aber offensichtlich von dem »bezweckten« nicht nur verschieden, sondern dessen Gegenteil. Was uns prägt und entprägt, was uns formt und entformt, sind eben nicht nur die durch die »Mittel« vermittelten Gegenstände, sondern die Mittel selbst, die Geräte selbst: die nicht nur Objekte möglicher Verwendung sind, sondern durch ihre festliegende Struktur und Funktion ihre Verwendung bereits festlegen und damit auch den Stil unserer Beschäftigung und unseres Lebens, kurz: uns.17

Die Kritik, dass eine solche kritische Verallgemeinerung nicht akzeptiert werden könne, da es ausschließlich darauf ankomme, wie wir uns dieser Geräte bedienen, wird somit als Illusion entlarvt. Aufmerksamkeitsräuber, wie heutzutage das Smartphone, werden so konstruiert, dass sie nach ihrer ständigen Benutzung gieren bzw. diese anregen und Menschen bewusst in Abhängigkeit halten. Sie sind nicht wertneutral, sondern bringen den Menschen mit neuen Sachzwängen in Verbindung, sodass die Geräte vom Objekt zum Subjekt der Geschichte aufsteigen.

Gleichzeitig interessiert sich Anders für den eigentlichen Akt des Konsumierens von Bildern im Fernsehen. Was tut der Mensch eigentlich, wenn er da im Wohnzimmer allein oder mit der Familie oder Freunden vor dem Fernsehgerät sitzt und sich unterhalten lässt? Er gleicht, so Anders, einem unbezahlten Heimarbeiter für die Herstellung des Massenmenschen. Millionen von Menschen wird eine stereotyp hergestellte Ware präsentiert. Jeder Fernsehkonsument wird (ganz wie das Präsentierte) als ein »unbestimmter Artikel« behandelt, als jemand ohne individuelle Eigenschaften. Massenmenschen produziert man dadurch, dass man sie Massenware konsumieren lässt. Je einsamer sie sind, umso ausgiebiger findet der Konsum statt. Durch den Konsum von Massenware wird der Mensch zum Mitarbeiter bei der Produktion bzw. durch Umformung seiner selbst zum Massenmenschen. Konsum und Produktion gehen in diesem Verfahren eine trickreiche Symbiose ein. Jedermann ist gewissermaßen als »Heimarbeiter« angestellt und beschäftigt. Vollends paradox wird dieser Vorgang dadurch, dass die Heimarbeiter, statt für ihre Tätigkeit entlohnt zu werden, zudem für das Gerät und dessen Sendungen bezahlen müssen, durch deren Konsum sie sich in den Massenmenschen verwandeln.

Er zahlt also dafür, daß er sich selbst verkauft; selbst seine Unfreiheit, sogar die, die er mitherstellt, muß er, da auch diese zur Ware geworden ist, käuflich erwerben.18

Gustave Le Bon, dessen Psychologie der Massen (1895) bis heute zitiert wird, analysiert unter anderem, wie Menschen von Persönlichkeiten wie Napoleon, denen die Masse Charisma zuschreibt, bestimmte Meinungen eingeflößt werden konnten. Hierzu bedarf es großer Versammlungen und einer geschickt inszenierten Vorstellung, die nicht mit Inhalten operiert, sondern mit Emotionalisierung und die Menschen in eine Art Rauschzustand versetzt. Je größer die Masse, desto geringer ist der (kritische) Verstand.19 Bei Anders wird diese Methode der Einebnung von Individualität und Rationalität in den 1950er-Jahren von zu Hause aus vor den Geräten erledigt.

Massenregie im Stile Hitlers erübrigt sich: Will man den Menschen zu einem Niemand machen (sogar stolz darauf, ein Niemand zu sein), dann braucht man ihn nicht mehr in Massenfluten zu ertränken; nicht mehr in einen, aus Masse massiv hergestellten Bau einzubetonieren. Keine Entprägung, keine Entmachtung des Menschen als Menschen ist erfolgreicher als diejenige, die die Freiheit der Persönlichkeit und das Recht der Individualität scheinbar wahrt.20

Mit anderen Worten: Die Konditionierung des Menschen findet nun bei jedermann gesondert – gewissermaßen in Millionen Einsamkeiten – statt. Sie funktioniert deshalb so effizient, weil die Suggestion durch das Fernsehen »fun« macht: Dem Opfer bleibt auf diese Weise verborgen, was ihm eigentlich abverlangt wird. Und weil sie im privaten Wohnzimmer stattfindet, bleibt sie auch diskret. Welche Auswirkungen Radio und Bildschirm auf die Familie haben, subsumiert Anders unter dem Begriff des »negativen Familientisches«. Entgegen der damaligen öffentlichen Begeisterung für das Fernsehen21, erkennt er in solcher Art von Konsum das Potenzial, die Familie aufzulösen. Aufgelöst wird nicht die Familie als solche, aber was durch das Fernsehen von jetzt an dominiert, ist die wirkliche oder fiktive Außenwelt. Diese herrscht so unumschränkt, dass sie damit die Realität des Nahen und das gemeinsame Leben ungültig und phantomhaft werden lässt:

Wenn das Ferne zu nahe tritt, entfernt oder verwischt sich das Nahe. Wenn das Phantom wirklich wird, wird das Wirkliche phantomhaft.22

Der Fernseher sei ein »Erfahrungsverhinderungsgerät«. De facto sitzen die Familienmitglieder nun zum Fernseher ausgerichtet und die ganze Einrichtung des Wohnzimmers wird an das Gerät angepasst. Man sieht sich nicht mehr, man sieht sich nicht mehr an (höchstens versehentlich) und auch das Miteinandersprechen geschieht eher zufällig oder lediglich im Sinne eines Kommentars zur Phantomwelt des Fernsehens. Die Familienmitglieder sind nicht länger zusammen, sondern nur noch beieinander (oder nebeneinander) – »bloße Zuschauer«.

Die Metamorphose des zwischenmenschlichen Umgangs am »negativen Familientisch« hin zu einem zufälligen, versehentlichen Ereignis ist das eine Problem – ein anderes ist der Verlust des Sprechens. Zur einleitenden Verdeutlichung wird eine Kindergeschichte zitiert, die als Metapher für das dienen soll, was vor dem technischen Gerät passiert:

Da es dem König aber wenig gefiel, daß sein Sohn, die kontrollierten Straßen verlassend, sich querfeldein herumtrieb, um sich selbst ein Urteil über die Welt zu bilden, schenkte er ihm Wagen und Pferd. »Nun brauchst du nicht mehr zu Fuß zu gehen«, waren seine Worte. »Nun darfst du es nicht mehr«, war deren Sinn. »Nun kannst du es nicht mehr«, deren Wirkung.23

Überträgt man diese Pointe auf den Konsum von Rundfunk und Fernsehen, wird aus dem »Nun braucht ihr nicht mehr selbst sprechen« ein »Nun könnt ihr es nicht mehr.« Die Geräte nehmen uns das Sprechen ab und uns damit unsere Sprache weg. Sie berauben uns unserer Ausdruckfähigkeit, unserer Mitteilungsfähigkeit und unserer Sprachlust. Worte sind für die Fernsehgesellschaft

nicht mehr etwas, was man spricht, sondern etwas, was man nur hört; sprechen ist für sie nicht mehr etwas, was man tut, sondern etwas, was man erhält.24

Durch diese Sprachvergröberung, -verarmung und -unlust werden Menschen letztlich zu infantilen, unmündigen und nicht sprechenden Wesen. Die Sprache ist nicht nur der Ausdruck des Menschen, der Mensch ist auch das Produkt seines Sprechens. Oder mit Ludwig Wittgenstein (1889−1951) gesagt: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.«25

Schwenk zur Gegenwart

Wenn wir die Überlegungen von Günther Anders unserer heutigen Zeit gegenüberstellen, können wir durchaus Parallelen und eine sich zuspitzende Entwicklung erkennen. Führen wir uns nur den Begriff des »negativen Familientischs« vor Augen: In wie vielen Familien haben (neben dem Fernseher) Smartphone, Tablet, Spielkonsole & Co. Erziehung, Gespräch und wechselseitigen Austausch übernommen? Diese technischen Geräte fungieren nicht nur als »Erfahrungsverhinderungsgeräte« dahingehend, dass sie uns vom echten Leben abhalten – sie bringen es auch mit sich, dass wir immer weniger persönlichen Umgang pflegen. Auch die »Ikonomanie« hat ein drastisches Ausmaß angenommen: Auf digitalen sozialen Plattformen jeglicher Art tummeln sich mittlerweile Milliarden Abbilder von Menschen. Die Vervielfältigung des Selbst ist zum Habitus eines modernen Lebensstils geworden. Und das, was Anders als »Maschinenmusik«bezeichnet, hat ebenfalls eine Steigerung erfahren: Heute existieren ganze Musikgenres, die vollständig ohne Menschen und Instrumente auskommen. Künstliche Intelligenzen wie Jukedeck komponieren in Sekundenschnelle neue Lieder, die von den von Menschen gemachten Produkten nicht mehr zu unterscheiden sind.

Manche seiner im Gewand der damaligen technischen Möglichkeiten formulierten Gedanken wirken für die heutige Leserin ohne Zweifel leicht antiquiert – und doch ist die Kernaussage essenziell. Es ist eine Tatsache, dass unsere moderne Gesellschaft über die erste und zweite industrielle bis zur dritten digitalen Revolution (Computerwesen, Internet, Smartphones usw.) kontinuierlich eine einseitige Symbiose mit der Maschinenwelt eingegangen ist. Solange Maschinen kein ausgeprägtes Bewusstsein besitzen, was sich in den kommenden Jahrzehnten eventuell ändern wird, fällt dieses Zusammenspiel unilateral aus. Die Maschinen brauchen uns nicht, wir in der westlichen, wohlhabenden Gesellschaft dagegen können uns ein Leben ohne diese technischen Hilfsmittel kaum mehr vorstellen. Neben den positiven Seiten des technologischen Wandels – rasche Informationsbeschaffung, ständige Erreichbarkeit und die blitzschnellen, weltweiten Kommunikationsmöglichkeiten – sind ebenso viele neue Herausforderungen und Belastungen entstanden. Die Reizüberflutung und das Überangebot an Möglichkeiten überfordern uns Menschen, die wir in diesen technologischen Transformationsprozess eingestiegen sind. Wenn von Transformation gesprochen wird, wird zugleich angenommen, dass der Prozess noch nicht abgeschlossen ist. Das Gleiche betrifft die technologische Entwicklung. Wir befinden uns möglicherweise nach wie vor in einem Anfangsstadium, aber wohin soll die Reise überhaupt gehen? Diese Frage möchte ich zum Ausgangspunkt der nächsten Kapitel nehmen.

Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, benennt in einer seiner Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (aus dem Jahr 1917) drei Kränkungen der Menschheit. In diesen (aufeinander aufbauenden) Kränkungen wurde das Selbstverständnis des Menschen durch wissenschaftliche Erkenntnisse fundamental vor den Kopf gestoßen:

Die kosmologische Kränkung: Nach der Kopernikanischen Wende musste der Mensch akzeptieren, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist.Die biologische Kränkung: Nach Charles Darwins Evolutionstheorie ist die wissenschaftliche Gemeinschaft zu dem Konsens gelangt, dass sich der Mensch aus dem Tierreich entwickelt hat.Die psychologische Kränkung: Freud fügte diesen Kränkungen eine dritte hinzu. Danach entzieht sich ein beträchtlicher Teil des Seelenlebens unserer bewussten Kenntnis: »Das Ich ist nicht Herr in seinem eigenen Haus.«26

Es wäre angebracht, der Menschheit aus heutiger Sicht eine weitere Kränkung hinzuzufügen: die Kränkung ihrer Intelligenz. Günther Anders spricht von »prometheischer Scham« und meint damit die aus seiner Unvollkommenheit herrührende Scham des Menschen gegenüber den von ihm geschaffenen Produkten. Diese Scham dürfte mittlerweile das Potenzial einer Kränkung erreicht haben.

Die intellektuelle Kränkung: Der Mensch gilt nicht mehr als die einzige intelligente Lebensform auf der Erde. Seine Schöpfungskraft hat dazu geführt, dass nicht nur seine Fähigkeiten, sondern auch seine kognitiven Kapazitäten von Maschinen abgelöst worden sind. Er ist sozusagen »nicht mehr allein«.

Sobald künstliche Intelligenzen in überwiegende Bereiche unseres Lebens eingedrungen sein werden, wird es zu einer Zäsur in unserer Selbstwahrnehmung kommen. Wir werden uns nicht länger als »Krone der Schöpfung« betrachten können. Vielmehr haben wir uns durch unsere Schöpfungskraft selbst abgelöst, indem wir in den biologischen Evolutionsprozess eingegriffen und diesen beschleunigt haben. Unsere individuelle Urteilskraft wird zu einem nicht unerheblichen Teil durch personalisierte Datensammlungen über unsere Vorlieben, Probleme und Fähigkeiten abgelöst werden, in denen bereits ein technischer Algorithmus berechnet hat, was wir als Nächstes tun sollen. Aus Effizienzgründen und Bequemlichkeit wird man diese »Erleichterung« mit offenen Armen in das eigene Leben integrieren. Menschen, die auf diese Hilfsmittel verzichten, dürften bald von ihren Konkurrenten abgehängt werden. Diese Grundeinstellung mag dazu führen, dass man sich den Verzicht beruflich, aber auch sozial nicht mehr leisten können wird. Man fällt zurück, man gehört nicht mehr dazu – man ist antiquiert. Dass künstliche Intelligenzen bestimmte Analyse- bzw. Beraterfunktionen übernehmen oder uns bestimmte Aufgaben abnehmen werden, ist nur ein Aspekt der Vielzahl an technologischen Neuerungen. In der philosophischen Denkrichtung des sogenannten Transhumanismus strebt man sogar eine körperliche Symbiose zwischen Mensch und Maschine an. Mit dieser Verschmelzung sollen die Grenzen, die uns einst die Natur gesetzt hat, überwunden werden. Gegenwärtig spricht man noch von konservativ-traditionellen Erweiterungen des menschlichen Körpers, die unser Leben erleichtern: Herzschrittmacher, künstliche Gelenke oder Dialysegeräte. Realistische Prognosen stellen jedoch bereits Implantate in Aussicht, die unsere Gedächtnisleistung steigern und unsere Vitalwerte aufzeichnen. Winzige Roboter sollen beschädigte Zellen und Gewebe im Körper reparieren oder Tumore vernichten. Transhumanisten beschwören sogar euphorisch die Wahrscheinlichkeit, in einigen Jahrzehnten technologisch so weit fortgeschritten zu sein, dass die menschliche Unsterblichkeit in greifbare Nähe rückt. Ob man dabei durch regenerative Maßnahmen im selben Körper verbleiben kann oder sein Bewusstsein komplett in einen neuen Körper transferiert – prinzipiell scheint nichts mehr unerreichbar zu sein.

Es zeichnet sich somit der Trend ab, dass der zukünftige Mensch nicht nur immer umfangreichere Symbiosen mit Maschinen bzw. künstlichen Intelligenzen eingehen (müssen) wird, sondern dass auch futuristische Modifikationen des eigenen Körpers keine Seltenheit mehr darstellen. In der Hoffnung, die vierte Kränkung der Menschheit überwinden zu können, wird der Mensch eine Allianz mit der überragenden Konkurrenz der Maschinen und den dahinterstehenden Konzernen eingehen müssen. Philosophisch gesehen bietet dieses Zukunftsszenario reichlich Stoff für Interpretation, Diskussion und Kritik. Schritt für Schritt muss das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine aufgearbeitet werden.

Dave Eggers’ Roman »The Circle« – Eine Dystopie mit Realitätscharakter?

»Was ist die größte Gefahr für unsere Freiheit in der heutigen Zeit? Es ist unsere Ansicht, dass wir das Recht hätten, alles, was wir über jemanden wissen wollen, auch wissen zu dürfen.«27

Dave Eggers (*1970)

2013 erschien der zukunftsweisende Roman DerCircleund wurde sogleich millionenfach verkauft. Gibt man diesen Titel in eine Suchmaschine ein, erhält man eine nahezu unüberschaubare Liste an Rezensionen, Kommentaren und Kritiken in Form von geschriebenen Texten oder aufgezeichneten Videos. 2017 kam sogar eine Literaturverfilmung mit einer Starbesetzung – Tom Hanks und Emma Watson – in die Kinos. Der Autor Dave Eggers hat mit seinem Roman offenbar einen Nerv getroffen. Er bringt eine Fülle an ernst zu nehmenden Gedanken, Einsichten und Sorgen bezüglich des ambivalenten Potenzials moderner Technologien auf den Punkt. Eine Besonderheit seines Buches liegt darin, dass die Geschichte derart authentisch erzählt wird, dass die Leserinnen immer stärker das Gefühl beschleicht, dieses dystopische Szenario könne in der Zukunft tatsächlich eintreten. Es handelt von perfektionierter Überwachung und lückenloser Technikabhängigkeit, die den Menschen rundum als Fortschritt präsentiert werden. Gleichzeitig zeichnet Eggers ein Psychogramm der zumeist jungen und intelligenten Menschen, die sich mit euphorischem Engagement der Entwicklung der revolutionären Technologien verschreiben. Die meisten Protagonisten sind naiv, denn sie realisieren nicht, was sie durch die vermeintlichen Verbesserungen, die meist irreversibel sind, eigentlich verlieren. Die junge Generation, die sich enttäuscht von der Politik abgewendet hat und ihr Rebellentum wie ihren Beitrag zur Verbesserung der Welt auf das Entwickeln futuristischer Technologien beschränkt, stellt somit die treibende Kraft in diesem Szenario dar.

Auf die Frage, was denn die größte Gefahr für unsere Freiheit heute darstelle, antwortete Eggers in einem Interview, es sei die Auffassung, »alles, was wir über jemanden wissen wollen, auch wissen zu dürfen«. Dieser Anspruch beziehe sich nicht nur auf uns als Individuen, sondern auch auf profitorientierte Unternehmen, die mit dem Sammeln und Verkauf von Daten bewusst einen Eingriff in unsere Privatsphäre vornehmen. Ist Eggers’ fiktionale Dystopie bloß eine spannende Geschichte oder enthält sie einen wahren Kern?

Der Circleist ein Weltkonzern, der sich durch den Zusammenschluss von Google, YouTube, Facebook, Apple und Twitter als digitales Monopol etabliert hat. Mit seinem Hauptsitz im einflussreichsten High-Tech-Zentrum der Welt, dem Silicon Valley, ist der Circle zum weltweit mächtigsten Konzern aufgestiegen. Ohne Zweifel: Wenn ein Unternehmen die bekannteste Suchmaschine (Google) inklusive der beliebtesten Videoplattform der Welt (YouTube), das mit Abstand am meisten genutzte soziale Netzwerk (Facebook), den größten Hersteller von Computern und Smartphones (Apple) und einen sogenannten Mikrobloggingdienst (Twitter) unter einem Dach fusioniert, ist die Monopolstellung in vielen digitalen Zukunftsbereichen auf lange Sicht geklärt. Gleichzeitig hat ein solches Unternehmen Zugang zu den meisten Daten der digitalen Kommunikation.