Der menschliche Körper - Paolo Giordano - E-Book

Der menschliche Körper E-Book

Paolo Giordano

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Beschreibung

Nach seinem weltweiten Bestseller "Die Einsamkeit der Primzahlen" überrascht der Shooting Star der neuen italienischen Literaturszene mit der Wahl des Sujets für seinen zweiten Roman: Es geht ums Erwachsenwerden, um die Jugend und deren unwiderrufliches Ende vor einem ganz besonderen Hintergrund - dem Krieg. Paolo Giordano beschreibt, wie Gefühle entstehen. Es ist eine choral erzählte Geschichte: Eine Truppe junger Soldaten, und auch eine Soldatin, brechen nach Afghanistan auf. Sie chatten und telefonieren mit ihren Freundinnen und Freunden zu Hause, sehnen sich nach dem Vertrauten und sind doch auf der Suche nach neuen Thrills. Wie wird man Soldat? Warum bricht ein Krieg aus? Was ist eine Familie? Sie stellen viele Fragen und sie treffen Entscheidungen, die sie ihr Leben lang nicht mehr loslassen werden. Und dann kommt der Moment, in dem sie aus ihren Sicherheitszonen herausmüssen: Sie begleiten afghanische Lastwagenfahrer durch ein von den Taliban kontrolliertes Tal. Von da an verändert sich alles. Sie sind erwachsen geworden. Ein existenzielles Buch, voll emotionaler Kraft.

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Seitenzahl: 488

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Paolo Giordano

Der menschliche Körper

Roman

Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Über Paolo Giordano

Inhaltsübersicht

Den wilden Jahren ...Und selbst wenn ...In den Jahren …Erfahrungen in der WüsteDrei VersprechenDie SicherheitszoneStaubNahrungsmittelvorräteUn sospiroStarker Wind. VerdunkelungFrauenSchauen, schauen und noch mal schauenSymbole und ÜberraschungenLetzte Nachrichten von Salvatore CamporesiSchüsse in der NachtWeiße FlockenwirbelReigen des TodesDas Tal der RosenLangsam schlängelt sich ...Die Köpfe von ...Oberst Ballesio hat ...Ein Hubschrauber nimmt ...Als die Soldaten ...MännerDas Leben ohne Schuld der NutriaDas Gras wächst unermüdlichDie Entwicklung der SpeziesAndere Berge

Den wilden Jahren auf dem Bauernhof gewidmet

Und selbst wenn man sie uns wiedergäbe,

diese Landschaft unserer Jugend,

wir würden wenig damit anzufangen wissen.

 

ERICH MARIA REMARQUE

Im Westen nichts Neues

In den Jahren nach dem Einsatz bemühte sich jeder von den Jungs, das eigene Leben unkenntlich zu machen, bis die Erinnerungen an diese andere, frühere Existenz in ein trügerisches, künstliches Licht getaucht waren und sie sich selbst davon überzeugten, dass nichts von dem, was geschehen war, wirklich geschehen war, oder wenigstens nicht ihnen.

Auch Oberleutnant Egitto tat sein Bestes, um zu vergessen. Er wechselte den Wohnort, das Regiment, Bartlänge und Essgewohnheiten, er deutete gewisse private Konflikte um und lernte, andere, die ihn nichts angingen, beiseitezuschieben – eine Unterscheidung, die er früher nicht gemacht hatte. Ob die Veränderung einem Plan gehorchte oder vielmehr Ergebnis eines unkoordinierten Prozesses war, wusste er nicht genau, und es interessierte ihn auch nicht. Das Wesentliche war für ihn von Anfang an, einen Graben zwischen Vergangenheit und Gegenwart auszuheben: einen Schutzraum zu schaffen, in den nicht einmal die Erinnerung würde eindringen können.

Und doch, auf der Liste der Dinge, von denen er sich hat befreien können, fehlt ausgerechnet das Element, das ihn am deutlichsten in die Tage im Tal zurückversetzt: Dreizehn Monate nach Abschluss des Einsatzes trägt er noch immer die Offiziersuniform. Die beiden aufgenähten Sterne prangen mitten auf der Brust, genau über dem Herzen. Mehrmals hat der Oberleutnant mit der Idee geliebäugelt, sich unter die Zivilisten einzureihen, aber die Uniform klebte ihm am Körper, Zentimeter für Zentimeter, der Schweiß hat den Tarndruck ausgebleicht und die Haut darunter gefärbt. Wenn er sich jetzt auszöge, da ist er sicher, würde die Epidermis sich mit ablösen, und er, der sich schon bei einfachem Nacktsein unwohl fühlt, würde sich ohne Uniform exponierter fühlen als für ihn erträglich. Und wozu auch? Ein Soldat hört nie auf, Soldat zu sein. Mit einunddreißig Jahren hat der Oberleutnant sich damit abgefunden, die Uniform als unvermeidliches Übel zu betrachten, als chronische Krankheit des Schicksals, sichtbar, aber nicht schmerzhaft. So hat sich der bedeutsamste Widerspruch in seinem Leben zuletzt in das einzige Element von Kontinuität verwandelt.

 

Es ist ein heller Morgen Anfang April, die runden Kuppen an den Lederstiefeln der aufmarschierenden Soldaten leuchten bei jedem Schritt auf. Egitto hat sich noch nicht an die Klarheit voller Verheißungen gewöhnt, die der Himmel von Belluno an Tagen wie diesem zur Schau stellen kann. Der Wind, der von den Alpen herunterrollt, bringt die Kälte der Gletscher mit sich, aber wenn er sich legt und aufhört, an den Fahnen zu zerren, merkt man, dass es für die Jahreszeit ungewöhnlich warm ist. In der Kaserne hatte es Debatten gegeben, ob Schal getragen werden solle oder nicht, und am Ende wurde dagegen entschieden, und die Anordnung wurde durch die Flure gebrüllt. Die Zivilisten dagegen sind sich unschlüssig, wie sie ihre Sportjacken tragen sollen, um die Schultern gehängt oder über den Arm gelegt.

Egitto nimmt den Hut ab und fährt sich mit den Fingern durch die verschwitzten Haarsträhnen. Oberst Ballesio, der links neben ihm steht, dreht sich um und sagt: «Wie ekelhaft, Oberleutnant! Wischen Sie sich Ihre Jacke ab. Sie sind schon wieder voll von dem Zeug.» Dann, als könnte Egitto das nicht selbst, klopft er ihm mit der Hand auf den Rücken. «Hoffnungslos», murmelt er.

Es wird «Rührt euch» befohlen, und wer wie sie auf den Stufen einen Sitzplatz hat, setzt sich. Endlich kann Egitto die Socken bis zu den Knöcheln hinunterrollen. Der Juckreiz legt sich, aber nur ein paar Sekunden lang.

«Stellen Sie sich vor, was mir neulich passiert ist», beginnt Ballesio. «Meine kleine Tochter fing an, im Wohnzimmer auf und ab zu marschieren. Sie sagte, schau her, Papa, schau mich an, ich bin auch ein Oberst. Sie hatte sich mit der Schulschürze und einem Barett verkleidet. Nun, wissen Sie, was ich getan habe?»

«Nein, Herr Oberst.»

«Ich habe ihr gründlich den Hintern versohlt. Im Ernst. Dann habe ich sie angeschrien, dass ich sie nie mehr einen Soldaten nachäffen sehen will. Und überhaupt, dass niemand sie einziehen würde wegen ihrer Plattfüße. Sie hat zu weinen angefangen, das arme Ding. Ich konnte ihr gar nicht erklären, warum ich mich so aufgeregt habe. Aber ich war stinkwütend, glauben Sie mir, ich war außer mir. Sagen Sie ehrlich, Herr Doktor: Bin ich vielleicht etwas runter mit den Nerven, Ihrer Meinung nach?»

Egitto hat gelernt, den Aufforderungen des Obersten zur Aufrichtigkeit zu misstrauen. Er antwortet: «Vielleicht haben Sie nur versucht, sie zu beschützen.»

Ballesio zieht ein Gesicht, als hätte Egitto etwas Dummes gesagt. «Mag sein. Besser so. In letzter Zeit habe ich Angst, bei mir könnte ein Schräubchen locker sein, wenn Sie verstehen, was ich meine.» Er streckt die Beine aus und zieht sich ungeniert durch die Hose hindurch den Gummizug der Unterhose zurecht. «Ständig hört man von Leuten, bei denen von einem Tag auf den anderen die Sicherungen durchknallen. Meinen Sie, ich sollte eine neurologische Untersuchung machen lassen? Ein EEG oder so was in der Art?»

«Ich sehe keinen Grund dafür, Herr Oberst.»

«Könnten womöglich Sie mich untersuchen? Meine Pupillen anschauen und so weiter.»

«Ich bin Orthopäde, Herr Oberst.»

«Aber irgendwas wird man Ihnen doch beigebracht haben?»

«Ich kann Ihnen einen Kollegen empfehlen, wenn Sie möchten.»

Ballesio grunzt. Zwei tiefe Falten verlaufen auf beiden Seiten seiner Lippen nach unten wie bei einem Fischmaul. Als Egitto ihn kennenlernte, hatte er noch nicht so verbraucht ausgesehen.

«Ihre Pedanterie macht mich krank, Oberleutnant, habe ich Ihnen das schon mal gesagt? Es muss daran liegen, dass Sie sich jetzt in diesem erbärmlichen Zustand befinden. Entspannen Sie sich, nehmen Sie die Dinge, wie sie kommen. Oder suchen Sie sich einen Zeitvertreib. Je an Kinder gedacht?»

«Wie bitte?»

«Kinder, Oberleutnant, Kinder.»

«Nein, Herr Oberst.»

«Nun, ich weiß nicht, worauf Sie warten. Ein Kind würde Sie auf andere Gedanken bringen. Ich könnte mir das bei Ihnen durchaus vorstellen, wissen Sie? Ich sehe doch, wie Sie ständig am Grübeln sind. Aber jetzt schauen Sie sich an, wie diese Kompanie dasteht, wie Ziegenböcke.»

Egitto folgt Ballesios Blick zu der Musikkapelle und darüber hinaus, bis dorthin, wo die Wiese anfängt. Ein Mann im Publikum zieht seine Aufmerksamkeit auf sich. Er trägt ein Kind auf den Schultern und steht steif da, in einer eigenartig kriegerischen Haltung erstarrt. Wenn ihm etwas bekannt vorkommt, macht sich das bei dem Oberleutnant immer in einem gewissen mulmigen Gefühl bemerkbar, und mit einem Mal fühlt Egitto sich unruhig. Als der Mann die geschlossene Faust vor den Mund hält, um zu husten, erkennt er Feldwebel René. «Aber der dahinten, ist das nicht …» Er unterbricht sich.

«Wer? Was?», fragt der Oberst.

«Nichts. Entschuldigen Sie.»

Antonio René. Am letzten Tag haben sie sich am Flughafen mit einem förmlichen Händedruck voneinander verabschiedet, und von dem Zeitpunkt an hat Egitto nicht mehr an ihn gedacht, wenigstens nicht explizit. Seine Erinnerungen an den Einsatz haben vorwiegend kollektiven Charakter.

Er verliert das Interesse an der Parade und beginnt, den Feldwebel aus der Ferne zu beobachten. Er hat sich in der Menge nicht weit genug nach vorn geschoben, um in die vorderen Reihen zu gelangen, und wahrscheinlich sieht er jetzt nicht sonderlich viel. Von der Höhe seiner Schultern aus zeigt das Kind auf Soldaten und Fahnen, die Männer mit den Musikinstrumenten und packt René an den Haaren, als ob es Zügel wären. Die Haare, genau. Im Tal hatte der Feldwebel sie komplett abrasiert, während sie ihm jetzt fast bis über die Ohren reichen, kastanienbraun und leicht gelockt. René ist noch so ein Flüchtling vor der eigenen Vergangenheit, auch er hat sein Gesicht verändert, um sich nicht wiederzuerkennen.

Ballesio sagt etwas von einer Tachykardie, die er mit Sicherheit nicht hat. Egitto antwortet ihm zerstreut: «Kommen Sie am Nachmittag zu mir. Ich verschreibe Ihnen ein Beruhigungsmittel.»

«Ein Beruhigungsmittel? Aber sind Sie denn völlig übergeschnappt? Von dem Zeug wird er schlapp!»

Drei Jagdbomber ohne Bewaffnung schießen im Tiefflug über das Gelände, dann ziehen sie plötzlich hoch, farbige Kondensstreifen an den Himmel malend. Sie drehen sich auf den Rücken und verflechten ihre Bahnen. Das Kind auf Renés Schultern macht große Augen vor Staunen. Wie das Kind drehen Hunderte den Kopf nach oben, alle, außer den angetretenen Soldaten, die nach wie vor streng auf etwas schauen, das sich nur vor ihnen abzeichnet.

 

Als die Zeremonie zu Ende ist, bahnt sich Egitto einen Weg durch die Menge. Die Familien bleiben auf dem Platz stehen, und er muss ihnen ausweichen. Wenn jemand ihn aufzuhalten sucht, gewährt er ihm einen flüchtigen Händedruck. Er lässt den Feldwebel nicht aus den Augen. Einen Moment lang kam es ihm vor, als wolle er sich zum Gehen wenden, aber er ist geblieben. Egitto erreicht ihn, und als er vor ihm steht, nimmt er den Hut ab. «René», sagt er.

«Hallo, Doc.»

Der Feldwebel setzt das Kind auf dem Boden ab. Eine Frau kommt näher und nimmt es bei der Hand. Egitto begrüßt sie mit einem Kopfnicken, sie erwidert den Gruß aber nicht, kneift die Lippen zusammen und weicht zurück. René kramt nervös in seiner Jackentasche, zieht ein Päckchen Zigaretten heraus und zündet sich eine an. Das ist etwas, was sich nicht geändert hat: Er raucht immer noch die gleichen schlanken weißen Zigaretten, Damenzigaretten.

«Wie geht es Ihnen, Herr Feldwebel?»

«Gut», antwortet René eilig. Dann wiederholt er es, aber mit weniger Schwung: «Gut. Ich versuche mich zu behelfen.»

«Recht so. Man muss sich behelfen.»

«Und wie geht es Ihnen, Doc?»

Egitto lächelt. «Auch ich schlage mich so durch.»

«Dann hat man Ihnen also nicht zu viel Ärger gemacht wegen dieser Geschichte.» Es ist, als würde der Satz ihn eine gewisse Überwindung kosten. Als ob ihm nach allem nicht viel daran läge.

«Ein Disziplinarverfahren. Vier Monate Suspendierung vom Dienst und ein paar sinnlose Vernehmungen. Die waren die eigentliche Strafe. Sie wissen ja, wie das ist.»

«Gut für Sie.»

«Gut für mich, ja. Sie dagegen haben beschlossen aufzugeben.»

Er hätte sich anders ausdrücken können, anstelle von aufgeben ein anderes Verb wählen können: sich verändern, den Dienst quittieren. Aufgeben heißt kapitulieren, René scheint es jedoch nicht zu bemerken.

«Ich arbeite in einem Restaurant, unten in Oderzo. Ich bin Saalchef.»

«Also immer noch in einer Position mit Befehlsgewalt.»

René seufzt. «Mit Befehlsgewalt, richtig.»

«Und die andern Jungs?»

René streift mit dem Fuß über ein Grasbüschel, das zwischen den Pflastersteinen herauswächst. «Ich sehe sie schon eine Weile nicht mehr.»

Die Frau hat sich jetzt bei ihm eingehängt, als wolle sie ihn wegziehen, in Sicherheit bringen vor Egittos Uniform und ihren gemeinsamen Erinnerungen. Sie wirft dem Oberleutnant rasche, böse Blicke zu. René hingegen vermeidet es, ihn anzusehen, aber einen Augenblick lang konzentriert er sich auf das Zittern der schwarzen Feder an Egittos Hut, und der meint, einen Anflug von Nostalgie bei ihm zu bemerken.

Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne, und sogleich wird das Licht schwächer. Der Oberleutnant und der Feldwebel schweigen. Sie haben den wichtigsten Augenblick ihres Lebens miteinander geteilt, sie beide haben genau so dagestanden wie jetzt, aber mitten in der Wüste und mitten in einem Kreis von Panzerfahrzeugen. Ist es möglich, dass sie sich nichts mehr zu sagen haben?

«Gehen wir nach Hause», flüstert die Frau René ins Ohr.

«Sicher. Ich will Sie nicht aufhalten. Viel Glück, Feldwebel.»

Das Kind streckt René die Arme entgegen, um wieder auf die Schultern gehoben zu werden, es quengelt, aber es ist, als sähe er es nicht. «Sie können mich im Restaurant besuchen kommen», sagt er. «Es ist ein gutes Lokal. Ziemlich gut.»

«Aber nur, wenn Sie mir eine bevorzugte Bedienung versprechen.»

«Es ist ein gutes Lokal», wiederholt René abwesend.

«Ich komme bestimmt», versichert Egitto. Aber beiden ist klar, dass das eines der zahllosen Versprechen ist, die nie eingelöst werden.

Erster Teil

Erfahrungen in der Wüste

Drei Versprechen

Zuerst kamen die Reden. Die Einsatzausbildung bei Hauptmann Masiero – sechsunddreißig Stunden Frontalunterricht, in denen den Soldaten Grundkenntnisse in Geschichte des Mittleren Ostens vermittelt wurden, Informationen über die strategischen Implikationen des Konflikts, und wo auch unter unvermeidlichem Gewitzel von den grenzenlosen Marihuanafeldern im Westen Afghanistans die Rede war –, vor allem aber zogen die Erzählungen von Kameraden die Aufmerksamkeit auf sich, die schon vor Ort im Einsatz gewesen waren und die jetzt denen, die aufbrechen sollten, mit einer gewissen Herablassung Ratschläge erteilten.

Mit dem Kopf nach unten auf der Schrägbank, wo er eben die vierte Serie von Sit-ups beendet hat, lauscht der Obergefreite Ietri mit wachsendem Interesse der Unterhaltung zwischen zwei Veteranen. Sie sprechen von einer gewissen Marica, die im Stützpunkt von Herat stationiert ist. Schließlich überwältigt ihn die Neugier, und er mischt sich ein: «Gibt es da wirklich diese ganzen Weiber?»

Die Kameraden tauschen vielsagende Blicke: Da wollten sie ihn haben. «Jede Menge, Alter», sagt einer der beiden. «Und die sind nicht so, wie wir es hier gewohnt sind.»

«Oh, da unten ist denen alles egal.»

«Sie sind weit weg von zu Hause und langweilen sich so sehr, dass sie zu allem bereit sind.»

«Zu allem, glaub mir.»

«In keinem gottverdammten Ferienclub wird so viel gevögelt wie im Einsatz.»

«Und dann sind da noch die Amerikanerinnen.»

«Wow, die Amerikanerinnen!»

Sie fangen an, von der Sekretärin eines Obersten zu erzählen, die drei Unteroffiziere in ihr Zelt mitgenommen und im Morgengrauen rausgeschmissen hat, fix und fertig, nein, nicht wir, schön wär’s, Leute von einer anderen Kompanie, aber im Lager wussten alle Bescheid. Ietris Blicke springen von einem zum anderen, während ihm das Blut von den Füßen in den Kopf strömt und ihn trunken macht. Als er den Fitnessraum verlässt und in die samtige Luft des Sommerabends hinaustritt, hat er den Kopf voll der ausschweifendsten Phantasien.

Aller Wahrscheinlichkeit nach ist er selbst es, der gewisse Gerüchte unter den Jungs vom dritten Zug in Umlauf bringt, Gerüchte, die nach langen Umwegen wieder an sein Ohr gelangen und an die er zum Schluss mit größerer Überzeugung glaubt als alle anderen. In die skeptische Furcht vor dem Tod mischt sich eine Abenteuerlust, die schließlich überwiegt. Ietri stellt sich die Frauen vor, die er in Afghanistan kennenlernen wird, das verschwörerische Lächeln beim Morgenappell, den fremdländischen Akzent, mit dem sie seinen Namen rufen.

Auch während des Unterrichts von Hauptmann Masiero tut er nichts anderes, als sie unentwegt aus- und wieder anzuziehen.

«Obergefreiter Ietri!»

In seinem Kopf nennt er sie alle Jennifer, und er hat keine Ahnung, woher er diesen Namen hat. Jennifer, ooooh Jennifer …

«Obergefreiter Ietri!»

«Zu Befehl!»

«Wären Sie so freundlich zu wiederholen, was ich eben gesagt habe?»

«Gewiss, Herr Hauptmann. Sie haben … von den Stämmen gesprochen … scheint mir.»

«Wollen Sie vielleicht sagen, Ethnien?»

«Jawohl, Herr Hauptmann.»

«Und von welcher Ethnie genau habe ich gesprochen?»

«Mir scheint, von den … ich weiß es nicht, Herr Hauptmann.»

«Obergefreiter, verlassen Sie sofort diesen Raum.»

Die peinliche Wahrheit ist, dass Ietri noch nie mit einer Frau zusammen war, jedenfalls nicht auf die Art und Weise, die er vollkommen nennt. Keiner in der Kompanie weiß das, und wenn sie es herausbekämen, wäre das eine Katastrophe. Nur Cederna weiß es, er selbst hat es ihm eines Abends in der Bar erzählt, als sie beide etwas angeheitert und zu vertraulichen Geständnissen aufgelegt waren.

«Vollkommen? Heißt das, dass du noch nie gevögelt hast?»

«Schrei nicht so!»

«Da steht’s aber schlecht um dich, Alter. Wirklich schlecht, verdammt.»

«Ich weiß.»

«Wie alt bist du?»

«Zwanzig.»

«Verflucht. Da hast du dich um die besten Jahre betrogen. Hör mir gut zu jetzt, das ist wichtig. Das Ding da unten ist wie ein Gewehr. Eine Fünf-Sechsundfünfziger mit Stahlschaft und Laserzieleinrichtung.» Cederna hat eine unsichtbare Waffe im Arm und legt sie auf den Freund an. «Wenn du nicht daran denkst, das Ding hin und wieder zu ölen, dann hat es irgendwann Ladehemmung.»

Ietri schaut in sein Bierglas. Er nimmt einen zu großen Schluck, fängt an zu husten. Gehemmt. Er ist ein gehemmter Typ.

«Sogar Mitrano hat hin und wieder einen Fick», sagte Cederna.

«Er zahlt dafür.»

«Das könntest du auch.»

Ietri schüttelt den Kopf. Es passt ihm nicht, für eine Frau zu zahlen.

«Also wiederholen wir», ahmt Cederna die Stimme von Hauptmann Masiero nach. «Das ist überhaupt nicht schwierig, Obergefreiter. Folgen Sie mir aufmerksam. Sie treffen eine Frau, die Ihnen gefällt, Sie schätzen die Größe ihrer Titten und ihres Arschs ab – ich für mein Teil mag beides am liebsten groß, aber es gibt da gewisse Perverslinge, die mögen Frauen, die mager sind wie ein Hering –, dann gehen Sie auf sie zu, erzählen irgendeinen Schwachsinn, und schließlich fragen Sie sie höflich, ob sie Lust hat, sich mit Ihnen zurückzuziehen.»

«Ob sie Lust hat, sich zurückzuziehen?»

«Na ja, vielleicht nicht genauso. Das hängt von der Situation ab.»

«Also, ich weiß schon, wie es geht. Aber ich hab die Richtige noch nicht getroffen.»

Cederna schlägt mit der Faust auf den Tisch. Das Besteck scheppert auf den leeren Tellern, von denen sie Pommes frites gegessen haben. An den anderen Tischen wird man auf sie aufmerksam. «Das ist genau der Punkt! Die Richtige gibt es nicht. Alle sind richtig. Denn alle haben …» Er bezeichnet das Organ, indem er mit den Fingern einen Rhombus formt. «Jedenfalls, wenn du erst mal anfängst, wirst du merken, wie einfach das ist.»

Cedernas Tonfall ärgert ihn ein bisschen. Er will kein Mitleid, aber die Worte des Freundes machen ihm auch Mut. Er schwankt zwischen Verärgerung und Dankbarkeit. Gern würde er ihn fragen, in welchem Alter er angefangen hat, aber er fürchtet die Antwort: Cederna ist zu aufgeweckt und auch zu gut aussehend, mit dieser breiten Stirn und diesem boshaften Lächeln über die ganze weiße Zahnreihe.

«Du bist so groß wie ein Dinosaurier und lässt dich von den Weibern einschüchtern, verrückt.»

«Schrei nicht so!»

«Meiner Meinung nach ist das wegen deiner Mutter.»

«Was hat denn meine Mutter damit zu tun?» Ietri knüllt das Tischtuch mit der Faust zusammen. Ein darin verborgener Mayonnaisebeutel platzt in seiner Hand.

Cederna piepst mit hoher Stimme: «Mami, Mamilein, was wollen alle diese Weiber von mir?»

«Hör auf, das hören doch alle.» Er wagt nicht, den Freund um eine Serviette zu bitten, und wischt die Hand an der Stuhlkante ab. Mit einem Finger berührt er etwas, das an der Unterseite klebt.

Zufrieden verschränkt Cederna die Arme, während Ietri immer finsterer wird. Mit der nassen Unterseite des Bierglases zeichnet er Kreise auf den Tisch.

«Mach jetzt nicht so ein Gesicht.»

«Was denn für ein Gesicht?»

«Du wirst sehen, du findest schon eine Dumme, die die Beine für dich breit macht. Früher oder später.»

«So viel liegt mir gar nicht dran.»

«Bald sind wir im Einsatz. Es heißt, einen besseren Ort gibt es nicht. Die Amerikanerinnen sind rattenscharf …»

 

Vor dem Abflug bekommen die Jungs ein Wochenende frei, und fast alle verbringen es mit ihren jeweiligen Freundinnen, die auf die verrücktesten Ideen kommen, wie ein Picknick am See oder eine Ladung Liebesfilme, wo doch die Soldaten im Hinblick auf die kommenden Monate der Abstinenz hauptsächlich daran interessiert sind, Sex aufzutanken.

Ietris Mutter kommt mit dem Nachtzug von Torremaggiore nach Belluno. Gemeinsam machen sie ein paar Besorgungen in der Stadt, dann gehen sie in die Kaserne, er schläft in einem Achtbettzimmer, wo es unaufgeräumt und sehr heiß ist. Das entgeht ihr nicht, und sie bemerkt: «An alldem ist nur die Arbeit schuld, die du dir ausgesucht hast. Bei den Möglichkeiten, die du hattest, intelligent, wie du bist.»

Der Obergefreite ist genervt und muss hinausgehen, er erfindet eine Ausrede und flüchtet sich in eine Ecke des Platzes zum Rauchen. Als er wieder hereinkommt, sieht er die Mutter, wie sie das Foto von seinem Gelöbnis ans Herz drückt. «Ich bin doch noch nicht tot», sagt er.

Die Frau reißt die Augen auf. Sie verpasst ihm eine schallende Ohrfeige. «Sag so etwas nie wieder. Unglücksmensch.»

Um jeden Preis will sie sich um sein Gepäck kümmern. («Mama weiß ja, dass du alles vergisst.») Ietri döst vor sich hin, während er ihr zuschaut, wie sie die Kleidungsstücke andächtig auf dem Bett ausbreitet. Ab und zu schweift er ab und kehrt in Gedanken zurück zu den Amerikanerinnen. Er überlässt sich einem erregenden Halbschlaf, der Speichel läuft aufs Kissen.

«In der Seitentasche sind die Feuchtigkeitscreme und die Seifen, eine mit Lavendel, die andere parfümfrei. Fürs Gesicht verwendest du am besten die parfümfreie, du hast eine empfindliche Haut. Ich habe auch Kaugummi hineingetan, für den Fall, dass du dir die Zähne mal nicht putzen kannst.»

In der Nacht teilen sie ein Doppelbett in einer menschenleeren Pension, und Ietri wundert sich, dass es ihm nicht peinlich ist, neben seiner Mutter zu schlafen, auch wenn er jetzt ein Mann und schon lang von zu Hause fort ist. Er findet es nicht einmal komisch, als sie seinen Kopf zu sich herüberzieht, ihn an ihren weichen Busen unter dem Nachthemd drückt, und ihn so festhält, ihrem kräftigen Herzschlag zu lauschen, bis er einschläft.

Das Zimmer wird in Abständen erhellt von den Blitzen des Gewitters, das nach dem Abendessen ausgebrochen ist, und der Körper der Mutter zuckt bei den Donnerschlägen zusammen, als würden sie sie aus ihren Träumen aufschrecken. Es ist elf Uhr vorbei, als Ietri aus dem Bett schlüpft. Im Dunkeln leert er die Seitentasche des Rucksacks und wirft alles in den Abfalleimer, steckt es schön weit nach unten, damit man es nicht sieht. Dann stopft er sie voll mit Präservativen in allen Größen und Formen, die er in der Jacke und in den Goretex-Stiefeln versteckt hatte, so viele, dass sie seinem ganzen Zug für einen Monat ununterbrochener Bumserei reichen würden.

Zurück im Bett, überlegt er es sich anders. Er steht noch einmal auf, fasst mit den Händen in den Abfall und tastet nach den Kaugummis: Man weiß ja nie, sie konnten nützlich werden, falls er dem bereitwilligen Mund einer Amerikanerin nahe kam, ohne sich die Zähne geputzt zu haben.

Jennifer, ooooh Jennifer!

 

Zu diesem Zeitpunkt kehrten Cederna und seine Freundin in die Wohnung zurück, die sie seit fast einem Jahr gemeinsam bewohnten. Das Gewitter hatte sie auf der Straße überrascht, aber sie waren so ausgelassen, dass sie nicht nach einem Unterstand suchten. Sie torkelten weiter im Regen herum, blieben ab und zu stehen, um lange, tiefe Zungenküsse zu tauschen.

Der Abend nahm eine sehr gute Wendung, angefangen hatte er allerdings nicht so gut. Seit einiger Zeit hatte Agnese ein völlig neues Faible für Ethno-Restaurants, und ausgerechnet an diesem Abend, da Cederna Lust hatte, es sich gutgehen zu lassen und basta, seine Abreise einfach mit einem anständigen Abendessen zu feiern, hatte sie sich ein japanisches Restaurant in den Kopf gesetzt, wo ihre Kommilitoninnen gewesen waren. «Das ist was ganz Besonderes», sagte sie.

Cederna hatte aber keine Lust auf was Besonderes. «Ich mag dieses asiatische Zeug nicht.»

«Wenn du es doch nie probiert hast.»

«Ich hab’s wohl probiert. Ein Mal.»

«Das stimmt nicht. Du führst dich auf wie ein Kind.»

«He, pass auf, was du sagst.»

Als er merkte, dass es ernsthaft Streit geben könnte, lenkte er ein und sagte, ist gut, gehen wir in diese verdammte Sushi-Bar, der Abend war jetzt ohnehin schon halb verpatzt.

Bloß dass er im Restaurant dann nichts aß und sich die Zeit damit vertrieb, die Kellnerin aufzuziehen, die sich unentwegt verbeugte und zu offenen Sandalen Frottésocken trug. Agnese versuchte, ihm zu erklären, wie man die Stäbchen halten musste, und es war klar, dass ihr diese Rolle der Schulmeisterin sehr behagte. Er machte einen einzigen Versuch, dann steckte er sich die Stäbchen in die Nasenlöcher und begann zu reden wie ein Schwachsinniger.

«Kannst du es nicht wenigstens versuchen?», platzte sie heraus.

«Was versuchen?»

«Ein vernünftiger Mensch zu sein.»

Cederna beugte sich zu ihr vor: «Ich bin vollkommen vernünftig. Die hier sind am falschen Ort. Schau doch mal raus. Kommt dir das vor wie Japan?»

Den Rest des Abendessens über wechselten sie kein Wort mehr – ein Abendessen, während dessen er sich darauf versteifte, nichts anzurühren, nicht einmal das in Teig gebackene Gemüse, das gar nicht so schlecht aussah, während Agnese sich Mühe gab, alles aufzuessen, um ihm zu beweisen, wie viel mutiger und emanzipierter sie war. Aber der schlimmste Augenblick kam später mit der gesalzenen Rechnung. «Jetzt mach ich hier Rabatz», sagte Cederna und rollte mit den Augen.

«Ich bezahle. Wenn du nur aufhörst, solche Szenen zu machen.»

Cederna deckelte sie: «Ich lass mir von meiner Frau kein Abendessen bezahlen.» Er drückte der Kellnerin die Kreditkarte vor die Brust, die sich zum x-ten Mal verbeugte, um sie entgegenzunehmen.

«Was für ein Scheißladen!», sagte er, als die draußen waren. «Du hast mir den letzten Abend in Freiheit versaut, ich danke dir vielmals.»

Da fing Agnese, die Hand gegen die Augen gedrückt, leise an zu weinen. Sie so zu sehen beschämte Cederna. Er versuchte, sie zu umarmen, sie stieß ihn zurück.

«Du bist ein Vieh, lass dir das gesagt sein.»

«Ach komm, Süße. Sei nicht so.»

«Fass mich nicht an!», schrie sie hysterisch.

Sie hielt aber nicht lang durch. Schließlich knabberte er an ihrem Ohr und flüsterte: «Wie zum Teufel hieß dieses Zeug noch, Yadori? Yudori?», und zuletzt lachte sie ein wenig und gestand: «Es war wirklich scheußlich. Entschuldige, Schatz. Entschuldige tausend Mal.»

«Yuuudori! Yuuuuuuudori!»

Sie fingen an zu lachen und hörten auch im strömenden Regen nicht damit auf.

Jetzt sitzen sie beide in dem kleinen Flur am Boden, klitschnass, und können immer noch nicht aufhören zu kichern, wenn auch schon kraftloser. In Cederna macht sich das befremdliche Gefühl von Leere und Traurigkeit breit, das einen nach langem Gelächter überkommt. Und der Kummer, sie lange Zeit nicht zu sehen.

Agnese lässt sich gegen ihn fallen und lehnt ihren Kopf an seine Knie. «Nicht sterben dort unten, okay?»

«Ich werde mein Bestes tun.»

«Dich auch nicht verletzen lassen. Wenigstens nicht schwer. Keine Amputationen oder allzu sichtbaren Narben.»

«Nur oberflächliche Verletzungen, versprochen.»

«Und mich nicht betrügen.»

«Nein.»

«Wenn du mich betrügst, bringe ich dir ein paar Verletzungen bei.»

«Huuu!»

«Nix da huuu. Ich meine es ernst.»

«Hu-huuuu!»

«Dann kommst du also zu meinem Examen?»

«Ich komme, das habe ich versprochen. René hat mir den Urlaub zugesichert. Das bedeutet, dass wir uns danach lang nicht sehen.»

«Dann spiele ich die junge arbeitslose Universitätsabsolventin, die auf die Rückkehr ihres Mannes von der Front wartet.»

«Ich bin nicht dein Mann.»

«Das habe ich nur so gesagt.»

«Was war das, eine Art Antrag?»

«Wer weiß.»

«Wichtig ist nur, dass die junge Arbeitslose sich nicht in der Zwischenzeit mit jemand anderem tröstet.»

«Ich werde untröstlich sein.»

«Das ist gut.»

«Untröstlich. Ich schwöre.»

 

In einer größeren Wohnung mit Schiebetür, die auf einen Balkon über einem Parkplatz geht, liegt Feldwebel René wach und schaut in die Nacht hinaus. Durch das Gewitter steigt die Hitze vom Asphalt auf, und die Stadt stinkt nach faulen Eiern.

Der Feldwebel könnte es sich aussuchen, mit welcher Frau er die letzte Nacht in der Heimat verbringen will, aber die Wahrheit ist, dass er auf keine Lust hat. Schließlich sind es Kundinnen. Er ist sicher, dass sie nicht bereit wären, sich die Sorgen anzuhören, die er zwölf Stunden vor dem Abflug so hat. Wenn er zu viel redet, haben die Frauen es eilig, ihm den Rücken zuzukehren und etwas zu tun, sich eine Zigarette anzuzünden oder sich wieder anzuziehen oder unter die Dusche zu gehen. Er kann ihnen keinen Vorwurf machen. Keine von ihnen weiß, was es heißt, Befehlsgewalt zu haben, keine weiß, was es bedeutet, das Schicksal von siebenundzwanzig Männern in Händen zu haben. Keine ist in ihn verliebt.

Er zieht das T-Shirt aus und lässt gedankenverloren die Finger über den Brustkorb gleiten: die Linie zwischen den Brustmuskeln, die Erkennungsmarke mit Geburtsdatum und Blutgruppe (A+), die guttrainierte Bauchmuskulatur. Nach seiner Rückkehr aus Afghanistan wird er vielleicht aufhören mit den Dates. Nicht dass ihm die Sache missfallen würde, und das zusätzliche Geld kann er gut gebrauchen (so konnte er sich im vergangenen Monat die Packkoffer für die Honda kaufen, auf die er jetzt vom Fenster aus voller Stolz hinunterschaut, sie ist von einer Regenplane bedeckt), es ist eher eine moralische Frage. War in der ersten Zeit, als er nach Belluno kam, die Rumvögelei eine Notwendigkeit, könnte er jetzt, da er Berufssoldat ist, ohne weiteres darauf verzichten, sich einer reiferen Aufgabe widmen. Er weiß allerdings noch nicht, welcher. Es ist schwer, sich selbst neu zu erfinden.

Um Mitternacht ist durch die Unentschiedenheit auch die Chance auf ein gepflegtes Abendessen verstrichen: Er hat zwei Päckchen Cracker geknabbert, und jetzt hat er keinen Appetit mehr. Etwas dürftig als feierlicher Abschied. Er hätte besser daran getan, seine Eltern aus Senigallia kommen zu lassen. Auf einmal fühlt er sich traurig. Der Stecker am Fernseher ist gezogen, der Apparat gegen den Staub mit einem weißen Tuch bedeckt. Er hat den Haupthahn fürs Gas abgedreht und den Müll in einem Sack gesammelt. Die Wohnung ist aufs Unbewohntsein vorbereitet.

Er streckt sich auf dem Sofa aus und ist schon eingenickt, als er eine Nachricht von Rosanna Vitale bekommt: «Wolltest du abhauen, ohne auf Wiedersehen zu sagen? Komm her, ich muss mir dir reden.» Wenige Sekunden später kommt eine zweite SMS: «Bring was zu trinken mit.»

René lässt sich Zeit. Er rasiert sich unter der Dusche und masturbiert langsam, um gegen die Lust gefeit zu sein. An einer Tankstelle kauft er Sekt. Als er aus dem Laden draußen ist, macht er kehrt und nimmt noch eine Flasche Wodka und zwei Tafeln Milchschokolade dazu. Er empfindet eine gewisse Dankbarkeit Rosanna gegenüber, sie hat ihn vor einer letzten Nacht ohne Überraschungen gerettet, und er hat die Absicht, es ihr zu danken, wie sie es verdient. Gewöhnlich geht er mit jüngeren Frauen ins Bett, meist Mädchen, die ein paar heroische Erinnerungen sammeln wollen, bevor sie den Lebensweg der braven Ehefrau einschlagen. Rosanna dagegen ist über vierzig, aber etwas an ihr gefällt ihm. Beim Sex ist sie erfahren und außerordentlich freizügig. Manchmal bleibt René, wenn sie fertig sind, zum Abendessen, oder sie schauen sich einen Film an – er auf dem Sofa, sie im Sessel nebendran –, und womöglich lieben sie sich dann noch einmal, in solchen Fällen geht das zweite Mal aufs Haus. Wenn er aber Lust hat zu gehen, hält sie ihn nicht zurück.

«Hast du dich verlaufen?» Rosanna erwartet ihn an der Tür.

René schiebt sich an ihr vorbei, küsst sie auf die Wange. Er erkennt ein anderes Parfüm als sonst, oder es ist ein anderer Geruch unter dem üblichen Parfüm, er sagt aber nichts.

Die Frau besieht sich die Flaschen. Sie stellt die Sektflasche in den Kühlschrank und öffnet die andere. Die Gläser stehen schon auf dem Tisch bereit. «Hast du etwas gegen ein bisschen Musik? Heute Abend macht mich die Stille nervös.»

René hat nichts dagegen. Musik ist ihm gleichgültig, wie andere Zerstreuungen, die die Leute so haben. Er setzt sich an den Küchentisch. Er ist schon einige Male aufgebrochen – zweimal in den Libanon, einmal in den Kosovo –, er kennt die Schwierigkeiten, die Zivilisten haben, damit umzugehen.

«Dann fährst du also morgen.»

«Ja.»

«Und wie lang dauert der Einsatz?»

«Sechs Monate. Paar Tage mehr oder weniger.»

Rosanna nickt. Sie hat das erste Glas schon ausgetrunken. Sie schenkt sich noch eins ein. René dagegen nippt nur, er hält sich unter Kontrolle.

«Und freust du dich?»

«Das ist keine Vergnügungsreise.»

«Sicher. Aber freust du dich?»

René trommelt mit den Fingern auf den Tisch. «Ja, ich glaube schon.»

«Gut. Das ist das Wichtigste.»

Die Musik zwingt sie, lauter zu sprechen als nötig, das stört René. Es wäre besser, wenn Rosanna sie etwas leiser drehen würde. Die Leute bemerken viele Dinge nicht, die er bemerkt, das hat ihn immer enttäuscht, in gewisser Weise. An diesem Abend scheint Rosanna die Absicht zu haben, sich so stark wie möglich zu betäuben, bevor sie ins Bett gehen. Bei betrunkenen Frauen ist der Körper schlaff, die Bewegungen sind monoton, und er hat Mühe, ihnen ihre Lust zu verschaffen. Er verkneift sich nicht, es zu sagen; er deutet auf das Glas und sagt: «Mach langsam damit.»

Sie wirft ihm einen wütenden Blick zu. René hat es hier nicht mit einem seiner Soldaten zu tun. Bis zum Beweis des Gegenteils ist sie es, die bezahlt, also hat sie das Sagen. Dann aber senkt sie den Kopf, als wolle sie ihn um Verzeihung bitten. René deutet ihre Reizbarkeit als Angst um ihn, und das stimmt ihn zärtlich. «Es besteht keine Gefahr für mich.»

«Da bin ich mir sicher.»

«Es handelt sich in erster Linie um einen humanitären Einsatz.»

«Ja.»

«Wenn du die Statistiken anschaust, die Zahl der Toten bei diesem Einsatz ist lächerlich. Es ist gefährlicher, die Straße hier vorm Haus zu überqueren. Ich meine es ernst. Wenigstens für uns ist das so. Aber da sind andere, die ernsthaft kämpfen müssen, und für die ist das eine ganz andere Geschichte. Die Amerikaner zum Beispiel haben …»

«Ich bin schwanger.»

Das Zimmer kippt unmerklich zur Seite, und die Wodkaflasche wechselt die Farbe. «Was hast du gesagt?»

«Du hast es gehört.»

René fährt sich mit der Hand übers Gesicht. Es ist nicht von Schweiß bedeckt. «Nein. Ich glaube nicht, dass ich richtig gehört habe.»

«Ich bin schwanger.»

«Kannst du die Musik ausmachen bitte? Ich kann mich nicht konzentrieren.»

Mit raschen Schritten geht Rosanna zur Anlage und schaltet sie aus. Sie setzt sich wieder. Jetzt sind da andere Geräusche: das Summen des Boilers im Bad, jemand in der Wohnung darüber, der schlecht Gitarre spielt, der Wodka, der entgegen Renés Mahnung noch einmal nachgeschenkt wird.

«Du hattest mir doch ganz klar gesagt …», sagt René und versucht mit aller Macht, sich zu beherrschen.

«Ich weiß. Es war unmöglich, dass es passieren konnte, eine Wahrscheinlichkeit von eins zu wer weiß wie viel, zu einer Million vielleicht.»

«Du bist in der Menopause, hattest du mir gesagt.» Sein Tonfall ist nicht aggressiv, und er wirkt ruhig, vielleicht etwas blass.

«Ich bin in der Menopause, verstanden? Aber ich bin schwanger geworden. Das ist nun mal passiert.»

«Du hast gesagt, es wäre unmöglich.»

«Das war es auch. Es ist eine Art Wunder, okay?»

René fragt sich, ob es sinnvoll wäre, einen Vaterschaftstest machen zu lassen, aber natürlich ist das überflüssig. Er denkt über das Wort Wunder nach, kann aber keine Beziehung dazu herstellen.

«Es ist meine Verantwortung, damit das von vornherein klar ist», fährt sie fort, «zu hundert Prozent meine Verantwortung. Also meine ich, dass die Entscheidung bei dir liegen soll. Du bist derjenige, der betrogen wurde. Ich werde deine Entscheidung respektieren. Es ist noch Zeit, anderthalb Monate, etwas weniger. Du fährst jetzt weg, denkst in aller Ruhe darüber nach, und dann lässt du mich wissen, wie du dich entschieden hast. Um alles Übrige kümmere ich mich.»

Sie sagt das alles in einem Atemzug, dann führt sie das Glas zum Mund. Statt zu trinken, hält sie es dort am Mund fest. Versunken fährt sie mit den Lippen über den Rand. Um die Augen hat sie unauslöschliche Falten, aber sie stehen ihr nicht schlecht. Im Lauf seiner heimlichen zweiten Karriere hat René gelernt, dass reifere Frauen ein letztes Mal aufblühen, bevor sie gänzlich verwelken, und in dieser Phase sind sie schöner denn je. Er fühlt sich jetzt haltlos, was ihn wütend macht: «Wenn du schwanger bist, solltest du nicht trinken.»

«Ein bisschen Wodka scheint mir das geringste Problem in diesem Augenblick.»

«Du solltest es jedenfalls nicht.»

Sie verstummen. Im Geist geht René die ganze Unterhaltung noch einmal durch, Schritt für Schritt. Um alles Übrige kümmere ich mich. Er hat Mühe, über diese Worte hinaus klarzusehen.

«Hast du trotzdem Lust?»

Rosanna fragt ihn das, als ob das eine zulässige Frage wäre. Sie ist schwanger, trotzdem trinkt sie und hat Lust, mit ihm ins Bett zu gehen. René ist verwirrt. Er ist drauf und dran, ihr ins Gesicht zu schreien, dass sie verrückt ist, doch dann wird ihm klar, dass das ein Weg wäre, den Abend sinnvoll abzurunden: Mit ihr schlafen und durch diese Tür hinausgehen mit dem Gefühl, ausgeführt zu haben, was sie von ihm erwartete, und nicht mehr. «Warum nicht?», sagt er also.

Sie gehen ins Schlafzimmer und ziehen sich mit dem Rücken zueinander aus. Sie fangen langsam an, zärtlich, und René erlaubt sich, sie auf den Bauch zu drehen. Für sein Gefühl kommt das einer kleinen Bestrafung gleich. Rosanna kommt großzügig, er diskreter. Er zieht sich im letzten Augenblick zurück, als ob das etwas ändern würde, sie macht ihm keinen Vorwurf.

«Du kannst über Nacht hierbleiben», sagt sie stattdessen. «Morgen früh muss ich nicht arbeiten. Wir fahren zu dir, deine Sachen holen, und dann zum Flughafen.»

«Das ist nicht nötig.»

«So könnten wir noch ein paar Stunden zusammen sein.»

«Ich muss gehen.»

Rosanna steht auf und wirft eilig einen Morgenrock über. Sie sucht in der Handtasche nach ihrer Geldbörse und hält René das Geld hin.

Er schaut auf die Hand, die die Geldscheine hält. Er kann von einer Frau, die sein Kind in sich trägt, kein Geld annehmen, aber Rosanna zieht den Arm nicht zurück und sagt nichts. Vielleicht ein Rabatt? Nein, das wäre verlogen. Sie ist nur eine Kundin, eine Kundin wie alle anderen. Wenn etwas Unvorhergesehenes geschehen ist, ist das nicht seine Schuld.

Er nimmt das Geld, und in weniger als zehn Minuten ist er fertig zum Gehen.

«Also, du gibst mir dann Bescheid», sagt Rosanna in der Tür.

«Ja, ich geb dir Bescheid.»

 

Am Morgen herrscht unerträgliche Hitze, der Himmel ist von einem hellgrauen Firnis überzogen, der Kopfweh begünstigt. Die Zivilisten in der Halle des Flughafens nehmen neugierig die ungewöhnlich starke Präsenz von Militärs wahr. Die Aschenbecher draußen vor dem Gebäude quellen über von Kippen. Ietri und seine Mutter sind mit dem Autobus gekommen. Mit den Augen sucht er nach seinen Kameraden, einige grüßen ihn von ferne. Mitrano hat die größte Familie, und die Großmutter im Rollstuhl ist als Einzige in dem Grüppchen nicht laut, sie kehrt dem Enkel den Rücken zu und starrt vor sich hin, als sähe sie etwas Grauenhaftes, aber wahrscheinlich – denkt Ietri – ist sie bloß dement. Die Eltern von Anfossi schauen häufig auf die Uhr. Cederna knutscht mit seiner Freundin, die Hände frech auf ihrem Hintern. Zampieri hält ein Kind auf dem Arm, das sich damit vergnügt, das mit Klettband befestigte Namensschild abzureißen und wieder dranzudrücken – sie lässt es eine Weile gewähren, dann setzt sie es abrupt auf dem Boden ab, das Kind fängt an zu weinen. René sitzt mit gesenktem Kopf da und telefoniert.

Ietri spürt, wie seine rechte Hand ergriffen wird. Bevor er einen Einwand erheben kann, hat seine Mutter ihm schon ein Tübchen Creme auf den Handrücken geschmiert.

«Was machst du denn da?»

«Sei still. Schau doch nur, wie rissig sie sind. Und die hier?» Sie hält ihm seine Finger vor die Augen.

«Was ist damit?»

«Komm mit auf die Toilette, ich schneide sie dir. Zum Glück habe ich die Nagelschere dabei.»

«Mama!»

«Wenn wir sie jetzt nicht schneiden, sind sie vor dem Abend noch ganz schwarz.»

Nach langen Verhandlungen gibt Ietri schließlich nach, kann aber wenigstens durchsetzen, dass er es allein macht. Niedergeschlagen trabt er in Richtung Toilette.

Er ist gerade mit der ersten Hand fertig, als in einer der Kabinen ein lauter Furz ertönt.

«Gesundheit!», wünscht der Obergefreite. Ein Grunzen antwortet ihm.

Wenig später kommt Oberst Ballesio aus der Kabine. Sich die Hose zuknöpfend, geht er zum Spiegel, eine Gestankswolke hinter sich.

Ietri nimmt Haltung an, der Oberst lächelt ihm amüsiert zu. Er sieht die Nagelstücke im Waschbecken, und sein Gesichtsausdruck ändert sich. «Gewisse Dinge sollten zu Hause erledigt werden, Soldat.»

«Sie haben recht, Herr Oberst. Entschuldigen Sie, Herr Oberst.»

Ietri dreht den Wasserhahn auf. Die Nagelstücke sammeln sich rings um den Abfluss und bleiben dort liegen. Er hebt den Verschluss hoch und schiebt sie mit dem Finger hinunter. Ballesio beobachtet ihn kalt. «Ihr erster Einsatz, Junge?»

«Jawohl, Herr Oberst.»

«Wenn Sie wieder nach Hause kommen, werden Sie diese Toiletten mit anderen Augen sehen. Hygienisch wie im Krankenhaus. Und erst die Wasserhähne. Wenn Sie dann einen Wasserhahn wie diesen hier sehen, werden Sie Lust bekommen, ihn abzulecken.»

Ietri nickt. Sein Herz schlägt wie wild.

«Das wird aber bald vergehen. Am Anfang kommt einem alles wie magisch vor, wenn man nach Hause kommt, dann wird es wieder, wie es ist. Ein Haufen Kacke.»

Ballesio zieht an der Handtuchrolle, aber der Mechanismus klemmt. Fluchend wischt er sich die nassen Hände an der Hose ab. Mit dem Kopf deutet er auf den Obergefreiten. «Ich kann das nicht mit der Schere», sagt er, «meine Frau hat mir einen Nagelschneider gekauft. Aber der macht spitze Ecken.»

Wütend ist Ietri in die Halle zurücgekehrt. Wie ein Idiot hat er vor dem Obersten dagestanden, und das ist alles die Schuld seiner Mutter.

Sie macht einen langen Hals, um seine Finger zu kontrollieren. «Warum hast du sie nur an einer Hand geschnitten? Ich hab dir doch gesagt, dass ich das machen muss, du Dickkopf. Mit links kannst du es nicht. Komm, gehen wir.»

Ietri stößt sie zurück. «Lass mich in Ruhe.»

Sie mustert ihn streng, schüttelt den Kopf, dann fängt sie an, in ihrer Handtasche zu kramen. «Hier. Iss das, du hast einen schlechten Mundgeruch.»

«Willst du das seinlassen, verdammt!», brüllt der Obergefreite. Er schlägt ihr auf die Hand. Das Bonbon fällt auf den Boden, und er tritt mit dem Stiefel darauf. Das grüne Zuckerklümpchen zerbricht in Stücke. «Bist du jetzt zufrieden?»

Di Salvo mit seiner ganzen Familie schaut sich um, und Ietri bemerkt, wenn auch nur aus dem Augenwinkel, dass auch Cederna zu ihm hinsieht.

Er weiß nicht, was ihn gepackt hat.

Zwei dicke Tränen treten der Mutter in die Augen. Ihr Mund steht leicht offen, und die Unterlippe bebt ein bisschen, ein zäher Speichelfaden hängt zwischen den Lippen. «Entschuldige», flüstert sie.

Das war noch nie da, dass sie ihn um Entschuldigung bittet. Ietri ist hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihr ins Gesicht zu brüllen, dass sie eine Idiotin sei, und dem gegenteiligen Verlangen, sich auf den Boden zu knien, die Stücke des Bonbons einzeln aufzulesen und es wieder zusammenzusetzen. Er fühlt die Blicke seiner Kameraden auf sich gerichtet, die über ihn urteilen.

Ich bin jetzt ein Mann und ziehe in den Krieg.

Später wird er sich nicht erinnern, ob er das wirklich gesagt oder nur gedacht hat. Er packt den Rucksack und wirft ihn sich über die Schulter. Er küsst die Mutter auf die Wange, nur einmal und kurz. «Ich komme bald wieder», sagt er.

Die Sicherheitszone

Im Arzneischränkchen von Oberleutnant Egitto, unter Verschluss – der Schlüssel steckt aber im Schloss –, befindet sich seine persönliche Reserve an Medikamenten, die in der Medikamentenbestandsliste der Krankenstation nicht aufgeführt sind. Neben ein paar nicht verschreibungspflichtigen Arzneien für kleinere Unpässlichkeiten und ein paar vollkommen wirkungslosen Salben gegen schuppige Haut stechen drei Fläschchen mit gelben und blauen magensaftresistenten Kapseln hervor. Die Fläschchen tragen kein Etikett, und eins davon ist fast leer. Egitto schluckt die sechzig Milligramm Duloxetin am Abend, bevor er in die Kantine geht, das hat er sich vor einigen Monaten in den ersten Wochen seiner Dienstzeit so angewöhnt, weil ihm schien, dass auf diese Weise der Großteil der unerwünschten Nebenwirkungen im Schlaf vergehen würde, angefangen vom Schlaf selbst, der wie eine Ladung Steine über ihn hereinbrach und ihm selten gestattete, länger als bis zehn Uhr aufzubleiben. In den ersten Tagen hatte er so gut wie alle im Beipackzettel des Antidepressivums angeführten Nebenwirkungen verspürt, von heftigen Kopfschmerzen bis zur Appetitlosigkeit, von Blähungen bis zu Anfällen von Übelkeit. Die merkwürdigste war eine Taubheit im Unterkiefer, ein Gefühl wie nach allzu ausgiebigem Gähnen. Das alles ist aber jetzt vorbei. Auch keine Spur mehr von der Peinlichkeit, die er anfangs beim Schlucken dieser Pillen verspürte, als er sich gescheitert fühlte, drogenabhängig, dasselbe Gefühl der Peinlichkeit, das ihn dazu brachte, die Kapseln aus den Blistern zu drücken und in die Fläschchen ohne Etikett zu füllen. Seit langem hat Egitto nun schon sein Scheitern akzeptiert. Und er hat entdeckt, dass es ein großes, butterweiches Wohlgefühl in sich birgt.

Der Serotoninwiederaufnahmehemmer erfüllt perfekt die Aufgabe, für die er geschaffen wurde, nämlich jede Art von Kümmernis und emotionaler Anteilnahme fernzuhalten. Die chaotischen Angstzustände in der Zeit nach dem Tod seines Vaters – mit allen psychosomatischen Reaktionen samt den düsteren und verführerischen Gedanken, die der Beipackzettel allgemein als suizidale Tendenzen bezeichnete –, all das befindet sich jetzt irgendwo oben, wie ein durch einen Damm gestauter See. Der Oberleutnant ist zufrieden mit dem erreichten Niveau an Ruhe. Gegen nichts auf der Welt würde er diesen Frieden eintauschen. Manchmal hat er noch einen trockenen Mund, und gelegentlich hört er ein plötzliches hohes Pfeifen im Ohr, gefolgt von einem langsam verebbenden Donner. Und diese andere Unannehmlichkeit, na klar: Seit Monaten schon hat er keine anständige Erektion mehr, und die wenigen Male, die es ihm passierte, konnte er nicht einmal für sich selbst etwas daraus machen. Aber was schert ihn schon Sex auf einer Militärbasis mitten in der Wüste, bevölkert von fast ausschließlich männlichen Wesen?

Er ist seit hunderteinundneunzig Tagen in Afghanistan und seit fast vier Monaten in der vorgeschobenen Operationsbasis FOB Ice, am nördlichen Zugang zum Gulistan-Tal, unweit der Provinz Helmand, wo die amerikanischen Truppen täglich Kämpfe ausfechten, um die Dörfer von den Aufständischen zu säubern. Die Marines betrachten ihre Arbeit in Gulistan als abgeschlossen, seitdem sie in strategischer Position einen Vorposten von knapp vier Hektar errichtet und ein paar umliegende Dörfer gesäubert haben, darunter Qal’a-i-Kuhna, wo der Basar ist. In Wahrheit aber ist die Säuberung dieses Gebiets nur teilweise erfolgreich gewesen, wie alle Operationen seit Beginn des Einsatzes: Die Sicherheitszone erstreckt sich über einen Radius von knapp zwei Kilometern rings um die Basis, im Inneren gibt es noch gefährliche Guerillaherde, und drum herum ist die Hölle.

Nach einer Interimszeit, in der die FOB von Georgiern besetzt war, war das Gebiet unter italienisches Kommando gekommen. Mitte Mai war ein Konvoi mit neunzig Fahrzeugen von Herat aufgebrochen, über die Ring Road Richtung Süden bis auf die Höhe von Farah gefahren, um von dort nach Osten abzubiegen, vergeblich verfolgt von den Taliban, die überrumpelt worden waren. Oberleutnant Egitto hatte als Verantwortlicher für die Sanitätseinheit und als deren einziger Angehöriger an der Aktion teilgenommen.

Sie fanden das Lager in verheerendem Zustand vor: wenige Baracken voller Ritzen und Spalten, ein paar tiefe Löcher im Boden mit zweifelhafter Bestimmung, Unrat, Rollen Stacheldraht und überall herumliegende Fahrzeugteile, die Duschen zusammengeschustert aus durchlöcherten Plastiksäcken, die im Freien an einer Reihe von Haken aufgehängt waren, ohne Trennwände. Von Toiletten keine Spur. Der einzige Raum in einigermaßen manierlichem Zustand war die Waffenkammer, was viel aussagte über die Prioritäten ihrer Vorgänger. Egittos Regiment hatte den Raum ausgewählt, um die Kommandozentrale darin unterzubringen. In den ersten Wochen war die ganze Arbeit darauf konzentriert gewesen, das Lager mit den elementarsten hygienischen Vorrichtungen auszustatten und den Schutz des Haupteingangs durch den Bau einer langen, gewundenen Befestigungsanlage zu verstärken.

Egitto kümmerte sich um die Einrichtung der Krankenstation in einem Zelt unweit der Kommandozentrale. In die eine Hälfte stellte er eine Liege und einen Tisch samt zwei mit Medikamenten vollgestopften Regalen und einem kleinen Kühlschrank dahinter, wo er die verderblichen Arzneimittel aufbewahrte. Seinen persönlichen Bereich trennte er durch eine Plane in Tarnfleck ab. Das Wartezimmer ist ein zu einer Bank zurechtgebogenes Metallgitter im Freien.

Seitdem das Zelt ein in seinen Augen halbwegs würdiges Aussehen angenommen hatte, verlangsamte er die Arbeit beträchtlich. Jetzt, da er verschiedene Verbesserungen vornehmen könnte – ein paar anatomische Tafeln an die Wand hängen, dafür sorgen, dass die wartenden Patienten etwas Schatten genießen, die letzten Kisten auspacken und das chirurgische Besteck irgendwie passender unterbringen –, hat er keine Lust dazu und vertut viel Zeit damit, sich das zum Vorwurf zu machen. Nicht so wichtig, er kehrt ja bald nach Hause zurück. Die sechs Monate seiner Dienstzeit sind um, und der Rest seiner Brigade hat den Vorposten verlassen. Einige Kameraden sind bereits in Italien, genießen in vollen Zügen die fünfundzwanzig Tage Urlaub und knüpfen an intime Beziehungen wieder an, die in der Entfernung zu reinen Phantasiegebilden geworden waren. Als Letzter ist Oberst Caracciolo abgeflogen, der beim Einsteigen in den Hubschrauber einen Blick auf die öde Landschaft warf und den vielsagenden Satz von sich gab: «Noch so ein Scheißort, der mir nicht fehlen wird.» Die muntere und ausgeruhte Division von Oberst Ballesio hat die Räume in Besitz genommen, und es werden etliche Tage vergehen, bevor der Stützpunkt wieder in einen geordneten Zustand versetzt sein wird. Das wird genau dann eintreten, wenn die neue Ablöse eintrifft.

Egitto sitzt am Schreibtisch und döst – fraglos das, was er seit einiger Zeit am besten kann –, als ein Soldat in die Krankenstation hereinschaut.

«Herr Oberleutnant?»

Egitto schreckt hoch. «Was ist?»

«Der Oberst lässt Ihnen sagen, dass der Arzthelfer übermorgen kommt. Ein Hubschrauber wird Sie nach Herat bringen.»

Der Junge ist noch immer halb drinnen, halb draußen, das Gesicht im Halbschatten nicht zu erkennen.

«Ist Sergeant Anselmo wieder gesund?»

«Wer?»

«Sergeant Anselmo. Er hat den Auftrag, mich abzulösen.»

Nach allem, was man ihm gesagt hat, hat der Sergeant sich eine Grippe mit bronchialen Komplikationen geholt und lag bis vor wenigen Tagen mit einer weichen Sauerstoffmaske über Nase und Mund im Feldlazarett von Herat.

Verschüchtert hebt der Soldat die Hände. «Ich weiß es nicht, Herr Oberleutnant. Man hat mir nur aufgetragen, Ihnen mitzuteilen, dass der Arzthelfer kommt und der Hubschrauber Sie …»

«Mich nach Herat bringt, ja, ich habe verstanden.»

«Genau, Herr Oberleutnant. Übermorgen.»

«Ich danke Ihnen.»

Der Soldat bleibt auf der Schwelle stehen.

«Was gibt es noch?»

«Glückwunsch, Herr Oberleutnant.»

«Wozu?»

«Sie können nach Hause.»

Er verschwindet, die Zeltklappe schwingt einen Augenblick hin und her, gibt den Blick frei auf das gleißende Licht draußen. Egitto legt die Stirn auf die Unterarme und versucht wieder einzuschlafen. In nicht einmal einer Woche wird er in Turin sein, wenn alles wie geplant läuft. Bei diesem Gedanken verspürt er völlig unerwartet ein Würgegefühl.

Sein Nickerchen ist vorüber, er beschließt, aufzustehen und hinauszugehen. Er geht an der östlichen Begrenzung entlang und durchquert den Bereich des Pionierkorps, wo die Zelte so dicht nebeneinander aufgestellt sind, dass man sich in den Schultern schmal machen muss, um hindurchzukommen. Er klettert eine Leiter hinauf, die an der Befestigung lehnt. Der wachhabende Soldat grüßt ihn, dann tritt er beiseite, um ihm Platz zu machen.

«Sind Sie der Doc?»

«Ja, der bin ich.»

Egitto beschirmt sich mit der Hand die Augen, um sie vor dem Licht zu schützen.

«Wollen Sie mein Fernglas?»

«Lassen Sie es gut sein, es geht auch so.»

«Aber nein, nehmen Sie mein Fernglas, man sieht besser damit.» Der Junge nimmt das Gerät vom Hals. Er ist sehr jung und erpicht darauf, sich nützlich zu machen. «Die Schärfeneinstellung ist manuell. Sie müssen an diesem Rädchen drehen. Warten Sie, ich stelle es Ihnen ein.»

Egitto lässt ihn machen, dann sucht er langsam die Ebene ab, die in der ersten Nachmittagssonne vor ihm liegt. In der Ferne erzeugt das Licht die Illusion von kleinen Pfützen in changierenden Farben. Das Gebirge ist glühend heiß und scheint alles daranzusetzen, die eigene Unschuld zu demonstrieren: Schwer zu glauben, dass es Myriaden von Höhlen und Spalten in sich birgt, von denen aus der Feind unablässig die FOB ausspioniert, jede Person und jede Bewegung, auch in diesem Augenblick. Aber Egitto weiß das zu gut, um sich täuschen zu lassen oder es zu vergessen.

Er richtet das Fernglas auf die Gruppe der afghanischen LKW-Fahrer. Er entdeckt sie im Schatten der Zeltplanen, die sie recht und schlecht zwischen den Fahrzeugen gespannt haben, am Boden kauernd, den Rücken gegen die Reifen gelehnt, die Knie vor der Brust. Sie sind imstande, stundenlang in dieser Position zu verharren und siedend heißen Tee schlürfend. Sie haben mit ihnen zusammen das Material von Herat zur Forward Operating Base geschafft, und jetzt wagen sie nicht, den Rückweg anzutreten, aus Angst vor Repressalien. Sie sind auf diesem engen Raum eingesperrt, dem einzigen, den sie für sicher halten, sie können nicht weg, aber auch nicht für immer bleiben. Soweit der Oberleutnant weiß, haben sie sich nie gewaschen. Sie kommen mit wenigen Kanistern Wasser am Tag aus, gerade genug, um ihren Durst zu stillen. Sie nehmen das Essen, das ihnen von der Kantine ausgegeben wird, ohne zu danken, an, aber auch ohne selbstverständliche Erwartungshaltung.

«Kein besonderes Panorama, was, Doc?»

«Etwas eintönig», sagt Egitto, denkt es aber nicht. Das Gebirge wechselt jede Sekunde seine Form, es gibt unendlich viele Nuancen ein und desselben Gelbs, aber man muss sie zu erkennen wissen. Eine feindliche Landschaft, die lieb zu gewinnen ihm leichtgefallen ist.

«Ich habe mir das nicht so vorgestellt», sagt der Junge. Er wirkt bedrückt.

Egitto steigt von der Befestigung herunter und schlägt den Weg zu den Telefonen ein, auch wenn es nicht viele Menschen gibt, die er anrufen kann, niemanden, dem er die Nachricht von seiner Heimkehr mitteilen kann oder will. Er ruft Marianna an. Er gibt den Code der Prepaid-Card ein, eine automatische Stimme nennt ihm das vorhandene Guthaben und bittet ihn zu warten.

«Hallo?»

Marianna ist immer barsch, wenn sie ans Telefon geht, als würde sie bei einer Tätigkeit unterbrochen, die ihr ein Höchstmaß an Konzentration abverlangt. Doch sobald sie seine Stimme erkennt, wird sie sanfter, als ob die Gereiztheit vom Anfang auf die Entfernung zwischen ihnen zurückzuführen wäre.

«Ich bin’s, Alessandro.»

«Endlich.»

«Wie geht’s dir?»

«Kopfweh, das nicht lockerlässt. Und dir? Hat man dich endgültig allein gelassen?»

«Das neue Regiment ist eingetroffen. Es ist seltsam, sie behandeln mich ein wenig wie einen weisen Alten.»

«Sie wissen ja gar nicht, wie sehr sie sich täuschen.»

«Ja. Sie werden es bald merken.»

Eine Pause entsteht. Egitto lauscht auf den leicht keuchenden Atem der Schwester.

«Gestern bin ich noch einmal in der Wohnung gewesen.»

Das letzte Mal waren sie gemeinsam dort gewesen. Ernesto war erst seit wenigen Tagen tot, und sie waren durch die Zimmer gegangen mit dem Blick dessen, der die Möbel aussucht, die er behalten will. Vor dem Wandspiegel im Flur hatte die Schwester gesagt, den könnte ich nehmen. Nimm alles, was du willst, hatte er geantwortet, ich habe kein Interesse daran. Doch da war Marianna fuchsteufelswild geworden: Warum tust du das? Weil du versuchst, mir Schuldgefühle zu machen, indem du sagst, nimm alles, was du willst, als ob du kein Interesse daran hättest und ich die Situation ganz gemein ausnützen wollte.

«Und wie war’s?», fragt er sie.

«Wie soll’s schon gewesen sein? Leer, verstaubt. Traurig. Ich kann nicht glauben, dass ich an einem solchen Ort groß geworden bin. Stell dir vor, in der Waschmaschine war noch Wäsche. Sie hatten nicht einmal nachgeschaut. Die Kleider waren zusammengeklebt. Ich habe einen Müllsack genommen und alles reingesteckt. Dann habe ich den Schrank aufgemacht und alles Übrige auch weggeworfen. Alles, was mir in die Hände fiel.»

«Das hättest du nicht tun sollen.»

«Und warum nicht?»

Egitto weiß nicht, warum. Er weiß, dass man das nicht hätte tun dürfen, noch nicht. «Man hätte die Sachen noch brauchen können.»

«Wer hätte sie brauchen können? Du? Das Zeug ist grauenhaft. Und dann ist es zufällig so, dass ich allein hier bin. Du könntest wenigstens so viel Takt haben, mir nicht befehlen zu wollen, was ich tun und lassen soll.»

«Du hast recht. Entschuldige.»

«Ich habe mit zwei Maklern gesprochen. Sie sagen, die Wohnung muss renoviert werden, da ist nicht viel zu holen. Das Wichtigste ist, dass wir sie so bald wie möglich loswerden.»

Egitto möchte Marianna sagen, dass es mit dem Verkauf Zeit hat, aber er bleibt stumm.

Sie drängt ihn: «Also, wann kommst du nach Hause?»

«Bald. Glaube ich.»

«Und hat man dir ein Datum genannt?»

«Nein. Noch nicht.»

«Vielleicht wäre es wirklich angezeigt, dass ich da mal anrufe. Ich bin sicher, irgendjemand würde sich des Problems schon annehmen.»

Marianna hat eine gewisse vorlaute Art, sich in die Fragen seines Lebens einzumischen, als hätte sie ein Vorrecht auf seine Entscheidungen. In letzter Zeit hat sie mehrmals mit nichts Geringerem als einer Beschwerde beim Generalstab gedroht. Es ist Egitto gelungen, sie davon abzuhalten, bis jetzt. «Davon hätte ich nur Nachteile. Ich habe es dir schon erklärt», sagt er.

«Ich frage mich, wie du unter solchen Bedingungen leben kannst, ohne zu wissen, was in einer Woche oder einem Monat aus dir wird. Immer den Launen von anderen ausgeliefert.»

«Das gehört zu meiner Arbeit.»

«Eine dumme Arbeit, und du weißt das.»

«Kann sein.»

«An einen Ort zu gehen, mit dem du nichts zu tun hast, rein gar nichts. Dich in einem Rudel von Fanatikern zu verstecken. Und versuch bloß nicht, mir einzureden, das sei nicht so, denn ich weiß ganz genau, wie sie sind.»

«Marianna …»

«Da ist alles so dumm.»

«Marianna, ich muss jetzt Schluss machen.»

«Ja sicher. Hör mal, Alessandro, es ist wirklich eilig mit dem Wohnungsverkauf. Die Entwicklung der Immobilienpreise in der Gegend ist erschreckend. Nur die beiden konnten diesen Ort verklären. Ernesto war überzeugt, ein Investmentexperte zu sein, erinnerst du dich? Er war überzeugt, Experte für alles zu sein. Und schau, die Wohnung ist nichts mehr wert. Ich mach mir wirklich Sorgen.»

«Ich werde mich darum kümmern, habe ich dir gesagt.»

«Alessandro, du musst es bald tun.»

«Ist gut. Ciao, Marianna.»