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Den Himmel stürmen E-Book

Paolo Giordano

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Beschreibung

Teresa lebt mit ihren Eltern in Turin, doch die Sommerferien verbringt sie jedes Jahr bei der Großmutter in Apulien, mit den Nachbarjungen Bern, Tommaso und Nicola. Die vier Freunde gehen zusammen schwimmen und wandern, erzählen sich alles. Sie sind unzertrennlich, bis zwischen Bern und Teresa etwas Neues entsteht: die erste große Liebe. Aber im Jahr darauf ist Bern nicht mehr da. Zutiefst enttäuscht verbannt Teresa Apulien aus ihrer Erinnerung. Erst zum Begräbnis der Großmutter fährt sie wieder hin. Am Rande des Friedhofs steht ein Mann in einem langen Mantel: Bern. Sie gehen aufeinander zu. Doch Bern verschwindet ein zweites Mal aus Teresas Leben. Über zwanzig Jahre - von den Neunzigern bis heute - erzählt Paolo Giordano die Geschichte einer Frau und eines Mannes, die sich immer wieder finden und verlieren. Mit einer emotionalen Präzision wie kein zweiter schreibt der promovierte Physiker Giordano über Liebe, Freundschaft und Verlust. Ein Meisterwerk über das Entstehen und Verschwinden von Gefühlen. Existentiell, eindringlich

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Paolo Giordano

Den Himmel stürmen

Roman

Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner

Über dieses Buch

Teresa lebt mit ihren Eltern in Turin, doch die Sommerferien verbringt sie jedes Jahr bei der Großmutter in Apulien, mit den Nachbarjungen Bern, Tommaso und Nicola. Die vier Freunde gehen zusammen schwimmen und wandern, erzählen sich alles. Sie sind unzertrennlich, bis zwischen Bern und Teresa etwas Neues entsteht: die erste große Liebe. Aber im Jahr darauf ist Bern nicht mehr da.

Zutiefst enttäuscht verbannt Teresa Apulien aus ihrer Erinnerung. Erst zum Begräbnis der Großmutter fährt sie wieder hin. Am Rande des Friedhofs steht ein Mann in einem langen Mantel: Bern. Sie gehen aufeinander zu. Doch Bern verschwindet ein zweites Mal aus Teresas Leben.

Über zwanzig Jahre – von den Neunzigern bis heute – erzählt Paolo Giordano die Geschichte einer Frau und eines Mannes, die sich immer wieder finden und verlieren.

Mit einer emotionalen Präzision wie kein Zweiter schreibt der promovierte Physiker Giordano über Liebe, Freundschaft und Verlust. Ein Meisterwerk über das Entstehen und Verschwinden von Gefühlen. Existenziell, eindringlich.

Vita

Paolo Giordano wurde 1982 in Turin geboren, wo er Physik studierte und mit einer Promotion in Theoretischer Physik abschloss. Sein erster Roman «Die Einsamkeit der Primzahlen» war ein internationaler Bestseller. Er wurde in über vierzig Sprachen übersetzt und verfilmt.

Giordano erhielt dafür mehrere Auszeichnungen, darunter den angesehensten italienischen Literaturpreis, den Premio Strega. Paolo Giordano lebt in Turin.

Für Rosaria und Mimino,

für Angelo und Margherita.

Für ihre Stare.

Erster TeilDie großen Egoisten

1.

Ich sah sie nachts im Pool baden. Sie waren zu dritt und sehr jung, wie ich damals auch, fast noch Kinder.

In Speziale wurde mein Schlaf andauernd von neuen Geräuschen unterbrochen: dem Rauschen des Rasensprengers, von wilden Katzen, die auf der Wiese miteinander rauften, einem Vogel, der endlos denselben Ton von sich gab. In den ersten Sommern bei der Großmutter kam es mir fast immer so vor, als würde ich gar nicht schlafen. Von dem Bett aus, in dem ich lag, betrachtete ich, wie die Dinge, die einst meinem Vater gehört hatten, zurückwichen und wieder näher kamen, als ob das ganze Haus atmen würde.

In dieser Nacht hatte ich Geräusche im Hof gehört, war aber nicht gleich aufgestanden. Manchmal kam der Mann vom Wachdienst bis zum Eingang und steckte einen Zettel in den Türspalt. Doch dann vernahm ich Flüstern und unterdrücktes Lachen. Da beschloss ich aufzustehen. Meine Füße wichen der Mückenfalle aus, die vom Boden ein blaues Licht aussandte. Ich gelangte ans Fenster und schaute nach unten, zu spät, um zu sehen, wie die Jungs sich auszogen, aber noch rechtzeitig, um mitzukriegen, wie sich der letzte von ihnen in das schwarze Wasser gleiten ließ.

Die Beleuchtung im Säulengang erlaubte mir, die sich bewegenden Köpfe zu unterscheiden, zwei dunklere und einen, der wie aus Silber schien. Abgesehen davon waren sie von hier aus gesehen fast gleich, sie bewegten die Arme im Kreis, um sich über Wasser zu halten.

Es herrschte eine Art Ruhe, nachdem die Tramontana sich gelegt hatte. Dann machte einer von ihnen in der Mitte des Schwimmbeckens den toten Mann. Ich spürte meine Kehle brennen, als ich ihn in seiner Nacktheit plötzlich auf dem Wasser liegen sah, auch wenn das nur ein weiterer Schatten war, mehr meine Vorstellung als sonst was. Er bog den Rücken durch und vollführte eine Rolle rückwärts. Beim Auftauchen stieß er einen Schrei aus, der Freund mit dem silbernen Kopf schlug ihm ins Gesicht, um ihn zum Schweigen zu bringen.

«Du hast mir weh getan, Idiot!», sagte der mit der Rolle rückwärts, immer noch mit lauter Stimme.

Der andere tauchte ihn unter, damit er endlich still war. Dann fiel auch der Dritte über ihn her. Ich hatte Angst, sie könnten sich schlagen, jemand könnte ertrinken, aber sie ließen schließlich lachend voneinander ab. Sie setzten sich auf den Rand an der weniger tiefen Seite des Beckens und kehrten mir ihre nassen Rücken zu. Der Junge in der Mitte, der größte von ihnen, breitete die Arme aus und legte sie um die Schultern der anderen beiden. Sie sprachen leise, aber nicht so leise, dass ich nicht ein paar Wortfetzen hätte aufschnappen können.

Einen Moment lang überlegte ich, hinunterzugehen und mit ihnen in die Feuchtigkeit der Nacht einzutauchen. Die Einsamkeit in Speziale machte mich gierig nach jeder Art von menschlichem Kontakt. Aber mit vierzehn Jahren hatte ich noch nicht den Mut für bestimmte Dinge.

Ich vermutete, dass sie die Jungs vom benachbarten Hof waren, auch wenn ich sie immer nur aus der Ferne gesehen hatte. Großmutter nannte sie «die vom Hof».

Dann das Quietschen von Bettfedern. Husten. Die Gummilatschen meines Vaters schlappten über den Boden. Bevor ich den Jungs zurufen konnte, sie sollten fliehen, sauste er die Treppe hinunter und rief den Hausmeister. In seiner Wohnung ging das Licht an und Cosimo trat im selben Moment heraus, in dem mein Vater im Hof erschien, beide bloß in Boxershorts.

Die Jungs waren aufgesprungen und rafften ihre verstreuten Klamotten zusammen. Das eine oder andere Stück fiel ihnen aus der Hand, während sie nackt in die Dunkelheit liefen. Cosimo machte sich an die Verfolgung, er schrie: «Ich bring euch um, ihr Hunde, ich schlag euch den Schädel ein!» Nach kurzem Zögern rannte mein Vater hinter ihm her. Ich sah, wie er einen Stein aufhob.

Aus dem Dunkel hörte ich einen Schrei, das Klatschen der Körper gegen die Einzäunung und eine Stimme, die sagte, nein, komm da herunter. Mein Herz raste, als ob ich auf der Flucht wäre, als ob ich verfolgt würde.

Es verging einige Zeit, bis mein Vater und Cosimo wieder zurückkamen. Papa hielt sich das linke Handgelenk, auf der Handfläche war ein dunkler Fleck. Cosimo besah sie sich von nahem, dann schob er meinen Vater in seine Wohnung. Bevor auch er im Haus verschwand, sah er einen Moment lang in die Dunkelheit, die die Eindringlinge verschluckt hatte.

 

Am nächsten Tag, beim Mittagessen, hatte mein Vater eine verbundene Hand. Er behauptete, bei dem Versuch, ein Elsternnest zu erreichen, hingefallen zu sein. In Speziale wurde mein Vater ein anderer. Binnen weniger Tage war seine Haut dunkelbraun, und mit dem Dialekt veränderte sich auch seine Stimme. Ich verstand nichts mehr, wenn er redete, mir schien, ich kenne ihn überhaupt nicht.

Manchmal fragte ich mich, wer von beiden mein Vater war: der Ingenieur, der sich in Turin jeden Morgen rasierte und Anzug und Krawatte trug, oder dieser Mann mit dem ungepflegten Bart, der halbnackt im Haus herumlief. Wie auch immer, es war klar, dass meine Mutter nur den einen geheiratet hatte und von dem anderen nichts wissen wollte. Seit Jahren schon setzte sie keinen Fuß nach Apulien. Anfang August, wenn Papa und ich aufbrachen, um die lange Autofahrt in Richtung Süden anzutreten, kam sie nicht einmal aus ihrem Zimmer, um sich von uns zu verabschieden.

Wir aßen schweigend, bis wir Cosimos Stimme hörten, der aus dem Hof nach meinem Vater rief.

Auf der Schwelle, vor dem Hausmeister, der sie wie ein Wachposten überragte, standen die drei Jungs der letzten Nacht. Zuerst erkannte ich nur den größten wegen seines ausgesprochen schlanken Halses und seiner etwas länglichen Kopfform. Doch meine Aufmerksamkeit zogen die anderen beiden auf sich, die sich hinter ihm hielten. Der eine hatte eine sehr helle Haut, Haare und Augenbrauen weiß wie Baumwolle. Der andere war dunkelhaarig, gebräunte Haut, die Arme voller Kratzer.

«Aha», sagte mein Vater. «Seid ihr gekommen, um eure Kleider abzuholen?»

Der Größte antwortete mit ausdrucksloser Stimme: «Wir sind gekommen, um Sie um Entschuldigung zu bitten, dass wir gestern Abend bei Ihnen eingedrungen sind und Ihr Schwimmbecken benutzt haben. Unsere Eltern schicken Ihnen das hier.»

Mechanisch reichte er meinem Vater ein Säckchen. Er nahm es mit der unverbundenen Hand.

«Wie heißt du?», fragte er. Er war unwillentlich etwas versöhnlicher geworden.

«Nicola.»

«Und die beiden?»

«Das ist Tommaso», er deutete auf den hellen Typen. «Und er ist Bern.»

Ich hatte den Eindruck, dass die Jungs sich unwohl fühlten in ihren T-Shirts, als ob man sie ihnen mit Gewalt übergezogen hätte. Ich wechselte einen langen Blick mit Bern. Er hatte sehr dunkle Augen, etwas zu eng stehend.

Mein Vater bewegte leicht das Säckchen, und die Gläser darin klapperten. Ich glaube, dass es ihn einige Mühe kostete, am helllichten Tag so dazustehen und diese Entschuldigung entgegenzunehmen.

«Ihr hättet nicht heimlich eindringen müssen», sagte mein Vater. «Wenn ihr den Pool benutzen wollt, braucht ihr nur zu fragen.»

Nicola und Tommaso schlugen die Augen nieder, während Bern mich unverwandt ansah. Das Weiß des Hofes hinter ihnen blendete.

«Wenn einem von euch was passiert wäre …», mein Vater zögerte, er wirkte immer unbeholfener.

«Cosimo, haben wir den Jungs etwas Limonade angeboten?»

Der Hausmeister zog ein Gesicht, als wollte er ihn fragen, ob er verrückt geworden sei.

 

«Ist schon gut, danke schön», sagte Nicola wohlerzogen.

«Wenn eure Eltern es erlauben, könnt ihr heute Nachmittag kommen und baden.»

Mein Vater sah mich an, vielleicht, um meine Zustimmung zu erlangen. Da ergriff Bern das Wort: «Heute Nacht haben Sie Tommaso mit einem Stein an der Schulter getroffen. Wir haben eine Regelwidrigkeit begangen, indem wir auf Ihren Grund eingedrungen sind, aber Sie haben eine viel schlimmere begangen, indem Sie einen Minderjährigen verletzten. Wenn wir wollten, könnten wir Sie anzeigen.»

Nicola stieß ihm den Ellbogen in die Brust, aber es war klar, dass er keine Autorität hatte, er war einfach nur der Größte.

«Ich habe nichts Dergleichen getan», sagte mein Vater. «Ich weiß nicht, wovon du redest.»

Ich sah wieder die Geste vor mir, wie er sich bückte und den Stein aufhob, und hörte die Geräusche, die aus dem Dunkel herüberdrangen, diesen Schrei, den ich nicht hatte deuten können.

«Tommi, zeig bitte Herrn Gasparro den blauen Fleck.»

Der Junge wich zurück, aber als Bern mit den Fingern den Saum seines T-Shirts fasste, wehrte er sich nicht. Vorsichtig krempelte er den Stoff hoch und entblößte Tommasos Rücken bis zu den Schulterblättern. Dort war er noch heller als an den Armen, die Blässe hob den blauen Fleck hervor, der so groß war wie der Boden eines Glases.

«Sehen Sie?»

Bern drückte mit dem Zeigefinger auf den Fleck, Tommaso machte sich los. Mein Vater schien wie hypnotisiert. An seiner Stelle griff Cosimo ein. Barsch befahl er den Jungen etwas im Dialekt, und sie zogen sich höflich mit einer Verbeugung zurück.

Als er schon in der prallen Sonne war, drehte Bern sich um und musterte mit strengem Blick unser Haus.

«Ich hoffe, dass Ihre Hand bald verheilt», sagte er.

 

An jenem Nachmittag brach ein Unwetter los. In wenigen Minuten verfärbte sich der Himmel violett und schwarz, so heftig, wie ich es noch nie gesehen hatte. Die Gewitter hielten fast eine Woche lang an, die Wolken kamen urplötzlich vom Meer her. Ein Blitz riss einen Ast des Eukalyptusbaums ab, und ein anderer traf die Pumpe, die das Wasser aus dem Brunnen förderte. Mein Vater war wütend und ließ seine Wut an Cosimo aus.

Großmutter saß auf dem Sofa und las ihre Krimis in Taschenbuchformat. Damit die Zeit schneller verginge, bat ich sie, mir einen zu empfehlen. Sie jedoch antwortete, ich solle einfach irgendeinen aus dem Regal ziehen. Alle seien gut. Ich wählte Tödliche Safari, doch die Geschichte war langweilig.

Nachdem ich eine Zeitlang ins Leere gestarrt hatte, fragte ich sie nach den Jungs vom Hof.

«Sie kommen und gehen», sagte sie. «Es sind nie für lange Zeit dieselben.»

«Und was machen sie?»

«Sie hoffen, dass ihre Eltern sie wieder zu sich nehmen, denke ich. Oder dass sie jemand anderer nimmt.»

Als hätte ich ihr die Freude am Lesen verdorben, legte sie das Buch beiseite.

«In der Zwischenzeit beten sie. Sie gehören einer Art … Sekte an.»

Als der Regen endlich aufhörte, gab es eine Invasion von Fröschen. Nachts stürzten sie sich dutzendweise in den Pool, so viel Chlor wir auch zusetzten, sie waren nicht abzuhalten. Von meinem Zimmer aus hörte ich sie laut quaken, dann ins Wasser plumpsen. Morgens fanden wir sie gefangen im Skimmer oder von den Rädern des Reinigungsroboters zerquetscht. Die Überlebenden schwammen seelenruhig umher, einige paarweise, einer auf dem Rücken des anderen.

Eines Morgens ging ich zum Frühstück in den Hof hinunter, noch in Schlafanzughose und Unterhemd. Da sah ich Bern. Vom Beckenrand aus verfolgte er mit einem Netz die Frösche. Wenn er einen gefangen hatte, zog er ihn an die Wasseroberfläche und kippte ihn in einen Plastikeimer.

Für eine Weile war ich unentschlossen, ob ich mich bemerkbar machen oder hinaufgehen und mich anziehen sollte. Doch schließlich näherte ich mich Bern und fragte ihn, ob mein Vater ihn für diese Arbeit bezahlte.

«Cesare mag es nicht, wenn wir mit Geld umgehen», sagte Bern und wandte mir nur flüchtig das Gesicht zu. Nach einer Pause setzte er hinzu: «Darauf ging einer der Zwölf namens Judas Iskariot zu den Hohepriestern und sagte: Was wollt ihr mir geben, wenn ich euch Jesus ausliefere? Und sie zahlten dreißig Silberstücke.»

Mir kam das wie eine Antwort ohne Sinn vor, aber mir war nicht nach Erklärungen.

Ich schaute in den Eimer. Die zusammengepferchten Frösche sprangen nach oben, aber die Wände waren zu steil.

«Was willst du mit ihnen machen?»

«Ich befreie sie.»

«Wenn du sie befreist, kommen sie heute Abend wieder. Cosimo tötet sie mit Ätznatron.»

Blitzschnell hob Bern den Blick. «Du wirst sehen, ich bringe sie weit genug weg, damit sie nicht zurückkommen.»

Ich zuckte mit den Schultern.

«Ich verstehe jedenfalls nicht, warum du diese eklige Arbeit machst und dich nicht einmal bezahlen lässt.»

«Das ist meine Strafe dafür, dass ich ohne Erlaubnis euer Schwimmbecken benutzt habe.»

«Ihr habt euch doch schon entschuldigt, scheint mir.»

«Cesare meint, wir sollten eine Entschädigung finden. Nur dass wegen des Regens bis heute keine Gelegenheit dazu war.»

Im Wasser flitzten die Frösche mit größter Geschwindigkeit in alle Richtungen. Er verfolgte sie geduldig mit seinem Netz.

«Wer ist Cesare?»

«Nicolas Vater.»

«Ist er auch dein Vater?»

Bern schüttelte den Kopf.

«Er ist mein Onkel.»

«Und Tommaso, ist er wenigstens dein Bruder?»

Wieder verneinte er. Als sie an der Tür erschienen waren, hatte Nicola von «unseren Eltern» gesprochen. Aber ich ahnte, dass Bern es mir nicht leicht machen würde, zu verstehen, und die Genugtuung, nachzufragen, wollte ich ihm nicht geben.

«Wie geht es seinem blauen Fleck?», fragte ich.

«Er tut ihm weh, wenn er den Arm hebt. Aber Floriana macht ihm abends Umschläge mit Honigessig.»

«Meiner Meinung nach täuschst du dich», sagte ich. «Mein Vater hat den Stein nicht geworfen. Das wird Cosimo gewesen sein.»

Bern schien mich nicht zu hören, er wirkte ganz vom Fröschefangen in Anspruch genommen. Er trug kurze Hosen, die einmal blau gewesen sein mussten, und er war barfuß. Unvermittelt sagte er: «Du bist wirklich dreist.»

«Was bin ich?»

«Signor Cosimo zu beschuldigen, um deinen Vater zu entlasten. Ich glaube nicht, dass ihr ihn dafür gut genug bezahlt.»

Ein weiterer Frosch landete im Eimer. Insgesamt mussten es schon mindestens zwanzig sein. Ihre Bäuche blähten sich auf und zogen sich zusammen.

Ich wollte einen Weg finden, meine Lüge zu übergehen, also fragte ich ihn: «Warum sind deine Freunde nicht mitgekommen?»

«Die Idee mit dem Schwimmbecken war von mir.»

Ich berührte meine Haare, sie waren heiß. Ich hätte mich hinunterbeugen, die Hand eintauchen und die Haare nass machen können, aber im Becken waren noch immer Frösche.

Bern fing einen und hielt das Netz vor mich hin. «Willst du ihn anfassen?»

«Ich denke nicht daran!»

«Darauf hätte ich gewettet», sagte er mit einem unsympathischen Lächeln. Dann, als sei nichts: «Heute besucht Tommaso seinen Vater im Gefängnis.»

Er wartete, ob diese Nachricht Wirkung zeigte, ich blieb stumm.

«Er hat seine Frau mit einem Holzschuh totgeschlagen. Danach hat er versucht, sich an einem Baum aufzuhängen, aber die Polizei hat ihn vorher geschnappt.»

Die Frösche schlugen unruhig gegen den Eimer. All das angehäufte schlüpfrige Zeug. Ich hatte Lust zu kotzen.

«Das erfindest du, stimmt’s?»

Bern hielt inne, das Netz auf halber Höhe.

«Bestimmt nicht.»

Endlich fing er den letzten Frosch, denjenigen, der ihm am meisten zu schaffen gemacht hatte. Er ging in die Knie, um das Netz nicht zu hoch zu heben.

«Und deine Eltern?», fragte ich.

Mit einem Sprung machte sich der Frosch davon und stürzte zur tiefsten Stelle des Beckens. Uneinholbar.

«Verdammt!», fluchte Bern. «Hast du gesehen, was du angerichtet hast? Du bist eine Unruhestifterin!»

Ich verlor die Geduld.

«Und was soll das sein, eine Unruhestifterin, hä? Du erfindest die Wörter! Ich war es nicht, die deinem Bruder weh getan hat oder deinem Freund oder was immer er ist!»

Ich war entschlossen, sofort zu gehen, aber zum ersten Mal sah Bern mich richtig an. Sein Gesicht drückte aufrichtiges Bedauern aus und gleichzeitig eine Art Unschuld. Immer noch sein irritierendes leichtes Schielen.

«Ich bitte dich, meine Entschuldigung anzunehmen», sagte er.

«Du bittest mich was …?»

Ich war etwas aufgeregt, wie eine Woche zuvor, als Bern mich hinter der Schulter meines Vaters angestarrt hatte.

«Was sind diese schwarzen Fäden?»

«Das sind die Eier. Die Frösche kommen hierher, um sie abzulegen.»

«Das ist ja grässlich.»

Bern verstand mich falsch.

«Ja, es ist grässlich. Nicht nur tötet ihr die Frösche, sondern auch all diese Eier. In jedem davon steckt ein Lebewesen.»

 

Später legte ich mich am Rand des Pools in die Sonne, doch es war zwei, die schlimmste Tageszeit, und ich hielt es nicht lang aus. Ich überquerte den Hof und lief über die Steine, die ihn vom offenen Gelände trennten. Ich fand den Punkt, an dem die Jungs über den Zaun geklettert waren: Der Maschendraht war oben eingedellt und in der Mitte verbogen. Dahinter waren ebenfalls Bäume, kaum höher als unsere, die Wipfel weniger gepflegt. Ich bückte mich in dem Versuch, den Hof zu sehen, aber er war zu weit weg.

Bevor er weggegangen war, hatte Bern mich eingeladen, an der Beerdigung der Frösche teilzunehmen, die er tot aus dem Wasser gefischt hatte. Nach all den Stunden in der Sonne war er kein bisschen verschwitzt.

Ich bat Cosimo, mir die Reifen des alten Fahrrads der Großmutter aufzupumpen. Er stellte es geölt und blank geputzt im Hof für mich bereit.

«Wohin fährst du?», fragte er.

«Ein bisschen in der Gegend herum, auf der Allee.»

Ich wartete ab, bis mein Vater wegging, um seine Freunde zu treffen, dann machte ich mich auf den Weg.

Der Zugang zum Hof lag auf der anderen Seite, um hinzugelangen, musste man einen weiten Bogen machen, es sei denn, man beschloss, über die Einzäunung hinwegzusetzen und übers Gelände zu laufen, wie die Jungs es gemacht hatten.

Auf dem Stück Asphaltstraße schossen die Lastwagen an mir vorbei. Ich hatte den Walkman in den Fahrradkorb gelegt und musste mich über das Vorderrad beugen, weil das Kabel für die Kopfhörer zu kurz war.

Der Hof hatte kein wirkliches Eingangstor, nur eine Schranke aus Stahl, die ich offen vorfand. Auf dem Zufahrtsweg wuchs in der Mitte Unkraut. An den Rändern war er nicht klar begrenzt, als ob das wiederholte Durchfahren von Autos seinen Verlauf festgelegt hätte. Ich stieg vom Rad und ging zu Fuß weiter. Bis zum Haus brauchte ich noch weitere fünf Minuten.

Ich hatte schon einige Gehöfte besucht, aber dieses war anders. Nur der mittlere Teil war aus Stein, der Rest des Gebäudes hing wie eine Verkrustung an den Mauern. Der Innenhofbelag – bei uns ein glatter Steinboden – war hier eine Betonfläche voller Risse.

Ich legte das Fahrrad auf eine Seite und räusperte mich, um mich bemerkbar zu machen. Niemand ließ sich blicken. Also ging ich ein paar Schritte, bis in den Schatten der Pergola. Die Haustür hinter dem Mückennetz stand offen, aber ich wollte nicht eintreten. Stattdessen lehnte ich mich an den Tisch, dessen Plastiktischdecke mich neugierig machte. Sie zeigte die Weltkarte. Ich suchte Turin, aber es war nicht drauf. Ich setzte meine Kopfhörer auf, ging um das Haus herum und lugte durch die Fenster hinein, aber der Kontrast zwischen der Dunkelheit innen und dem Licht draußen war zu stark. Hinter dem Haus stieß ich dann auf Bern.

Er saß auf einem Schemel in einer schattigen Ecke, den Kopf zum Boden gebeugt. In dieser Haltung bildeten die Wirbel in der Mitte des Rückens eine Reihe von Höckern. Er war umgeben von haufenweise Mandeln, unendlich vielen Mandeln, so viele, dass ich mich mit ausgebreiteten Armen darauf hätte ausstrecken, darin hätte versinken können.

Er bemerkte mich nicht, bis ich vor ihm stand, und auch dann ließ er kein Erstaunen erkennen.

«Aha, die Tochter des Steinwerfers», murmelte er.

Eine Welle der Verlegenheit stieg mir vom Magen hoch.

«Eigentlich heiße ich Teresa.»

Die ganze Zeit über, die wir am Morgen zusammen gewesen waren, hatte er nicht nach meinem Namen gefragt. Er nickte, als ob ihn diese Klarstellung überhaupt nicht interessierte.

«Was machst du?», fragte ich.

«Sieht man das nicht?»

Er nahm jeweils vier oder fünf Mandeln in die Hand, befreite sie von der Außenschale und ließ sie so geschält auf einen gesonderten Haufen fallen.

«Hast du die Absicht, alle zu schälen?»

«Sicher.»

«Das ist verrückt. Das sind ja Tausende.»

«Du könntest mir helfen, statt untätig herumzustehen.»

«Und wohin setze ich mich?»

Bern zuckte mit den Schultern. Ich setzte mich mit gekreuzten Beinen auf den Boden.

Eine Weile schälten wir Mandeln. Ich bemerkte, wie viele Bern schon aus der Schale gelöst hatte, er musste seit Stunden da sitzen.

«Du bist sehr langsam», sagte er irgendwann.

«Ich mache das zum ersten Mal!»

«Egal. Du bist langsam und basta.»

«Du hast gesagt, wir würden die Frösche begraben.»

«Ich habe gesagt, um sechs.»

«Ich habe gedacht, es ist schon sechs», log ich.

Bern schaute auf die Sonne. Er reckte den Hals.

Lustlos streckte ich meine Hand aus, um noch ein paar Mandeln zu nehmen. Der Trick, die Außenschale so schnell wie möglich zu entfernen, bestand darin, dass man sich nicht darum scheren durfte, wenn einem das Fruchtfleisch unter die Nägel geriet.

«Hast die alle du gesammelt?»

«Alle, ja.»

«Und was willst du damit machen?»

Bern seufzte.

«Am Sonntag kommt meine Mutter. Sie mag Mandeln sehr. Ich brauche mindestens zwei Tage, denn sie müssen in der Sonne trocknen. Und dann muss man die Schale knacken, was am längsten dauert. Ich bin also im Rückstand. Morgen soll alles fertig sein.»

Ich hielt inne. Ich war müde und der Haufen war überhaupt nicht kleiner geworden. Ich bewegte mich ein wenig, um Berns Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, doch er hob den Blick nicht vom Boden.

«Magst du das neue Lied von Roxette?», fragte ich ihn.

«Ja, es gefällt mir.»

Ich hatte den Eindruck, dass das nicht stimmte. Dass er weder das Lied noch Roxette kannte.

Nach einer Weile fragte er: «Hast du das vorhin gehört?»

«Willst du es auch hören?»

Bern zögerte, dann ließ er die Mandeln fallen. Ich reichte ihm den Walkman. Er setzte sich die Kopfhörer auf und drehte das Gerät in den Händen hin und her.

«Du musst auf Play drücken.»

Er untersuchte den Walkman weiterhin von allen Seiten, dann gab er ihn mir mit einer nervösen Geste zurück.

«Ist nicht wichtig.»

«Warum? Ich zeige dir, wie …»

«Ist nicht wichtig.»

Wir arbeiteten weiter, ohne uns anzusehen und ohne zu sprechen – nur das klackernde Geräusch der geschälten Mandeln war zu vernehmen, klock, klock, klock –, bis die anderen Jungs kamen.

«Was macht sie hier?», fragte Tommaso und sah von oben auf mich herab.

Bern stand auf, um ihm entgegenzutreten. «Ich habe ihr gesagt, sie soll kommen.»

Nicola war freundlicher, er streckte mir die Hand hin und stellte sich vor, wobei er selbstverständlich annahm, dass ich seinen Namen nicht behalten hatte. Ich fragte mich, wer von den dreien im Schwimmbecken den toten Mann gemacht hatte. Es war, als ob mir dieser nächtliche Anblick einen unfairen Vorteil über sie alle einräumte.

Tommaso sagte: «Drüben ist alles fertig, kommt», dann ging er ohne uns los.

Auf einem offenen Platz zwischen den Olivenbäumen wartete ein Mann auf uns.

«Komm, meine Liebe», sagte er und öffnete die Arme.

Von seinen Schultern fiel eine Stola mit zwei aufgestickten goldenen Kreuzen. Er hielt ein in Leder gebundenes Büchlein in der Hand. Er hatte einen schwarzen Bart, aber seine Augen waren von einem sehr hellen Blau, fast durchscheinend.

«Ich bin Cesare.»

Zu seinen Füßen waren fünf kleine Löcher ausgehoben worden. Die Frösche lagen schon darin.

Geduldig begann Cesare, mir zu erklären, was geschah:

«Der Mensch begräbt seine Toten, liebe Teresa. Das hat er immer so gemacht. So hat unsere Kultur ihren Anfang genommen, und so wird den Seelen der Übergang zu einem neuen Ort garantiert. Oder zu Jesus, wenn sie ihren Zyklus schon vollendet haben.»

Als er «Jesus» sagte, machten alle zweimal hintereinander das Kreuzzeichen und küssten danach den Daumennagel. Unterdessen war eine Frau hinzugekommen, sie hielt eine Gitarre am Griff fest und strich mir über die Wange, als ob sie mich seit jeher kennte.

«Weißt du, was die Seele ist, Teresa?», fragte Cesare.

«Ich bin mir nicht sicher.»

«Hast du je eine Pflanze sterben sehen? Vielleicht verdursten?»

Ich nickte. Die Kentia-Palme unserer Nachbarn in Turin war auf dem Balkon vertrocknet, die Besitzer waren in Urlaub gefahren, ohne sich darum zu kümmern.

«Zu einem gewissen Zeitpunkt verschrumpeln die Blätter», fuhr Cesare fort, «die Zweige hängen herab, und die Pflanze wird zu einer erbärmlichen Gestalt. Das Leben ist aus ihr gewichen. Dasselbe geschieht mit unseren Körpern, wenn die Seele sie verlässt.» Er kam mit seinem Kopf näher zu mir. «Aber da ist etwas, was man dir im Katechismusunterricht nicht beigebracht hat. Wir sterben nicht, Teresa. Weil die Seelen wandern. Jeder hat viele Leben hinter sich und viele vor sich, als Mann, Frau oder Tier. Auch diese armen Frösche. Deshalb wollen wir sie begraben. Das kostet uns ja nicht viel, nicht wahr?»

Er sah mir mit einem zufriedenen Ausdruck tief in die Augen und sagte dann, ohne den Blick von mir zu lassen:

«Floriana, wenn du willst.»

Die Frau nahm die Gitarre hoch. Da sie keinen Schultergurt hatte, musste sie ein Knie anwinkeln, um sie zu stützen. In diesem unsicheren Gleichgewicht schlug sie ein paar Akkorde. Sie stimmte ein sanftes Lied an, das von den Blättern und der Gnade handelte, von der Sonne und der Gnade, und dann auch noch vom Tod und der Gnade.

Nach ein paar Augenblicken fielen die Männer perfekt synchron in ihren Gesang ein. Cesares tiefe und raue Stimme schien die anderen zu tragen. Bern war der Einzige, der die Augen geschlossen hielt, das Kinn leicht zum Himmel gereckt. Er sang aus voller Brust, ohne Scham. Ich hätte seine Stimme allein hören wollen, wenigstens einen Moment lang.

An einem gewissen Punkt fassten sie sich an den Händen. Cesare, der links von mir stand, streckte mir seine Hand hin. Ich wusste nicht, wie ich es mit Floriana machen sollte, die Gitarre spielte. Ich sah, dass Tommaso ihr die Finger auf die Schulter legte, und um diesen Kreis nicht zu unterbrechen, machte ich es ebenso. Sie lächelte mich an.

Beim dritten Refrain war ich imstande, ein paar Worte mitzusingen. Vielleicht wiederholten sie den Refrain nur deshalb mehrfach, damit ich mitsingen konnte. Weinte Bern? Oder täuschte mich der Schatten seines Haars im Gesicht?

Die Frösche waren steif, verdorrt, ich glaubte nicht, dass da wirklich eine Seele in diesen glibberigen Bäuchen sein könnte. Und ich fragte mich, ob sie nach Cesares Meinung noch dort war oder ob sie schon anderswohin geflogen war. Jedenfalls wurden die Frösche gesegnet, dann knieten die Jungs nieder und schaufelten mit den Händen Erde in die Löcher.

Sie gehören einer Art Sekte an, hatte Großmutter gesagt.

Bevor er wegging, lud mich Cesare ein, wiederzukommen.

«Wir haben viele Dinge zu bereden, Teresa.»

 

Wir gingen auf dem Weg, Bern schob an meiner Stelle das Rad. «Hat es dir also gefallen?», fragte er.

Ich sagte, ja, vor allem aus Höflichkeit. Erst später merkte ich, dass es wirklich so war.

«Nicht wegen deiner Opfer rüge ich dich», sagte Bern, «deine Brandopfer sind mir immer vor Augen.»

«Was?»

«‹Doch nehme ich von dir Stiere nicht an / noch Böcke aus deinen Hürden.›» Er wiederholte eines der Gebete, die Cesare gesprochen hatte. «‹Ich kenne alle Vögel des Himmels, / was sich regt auf dem Feld ist mein eigen.› Das ist mein Lieblingsvers, wenn es heißt: ‹Was sich regt auf dem Feld ist mein eigen.›»

«Kannst du das auswendig?»

«Einige Psalmen habe ich auswendig gelernt, aber noch nicht alle», erklärte er, wie um sich zu entschuldigen.

«Und warum?»

«Weil mir die Zeit dazu gefehlt hat!»

«Nein, ich meinte, warum du all die Gebete auswendig lernst. Wozu ist das gut?»

«Die Psalmen sind die einzige Art zu beten, die einzige, die Gott gefällig ist.»

«Bringt Cesare dir diese Sachen bei?»

«Er bringt uns alles bei.»

«Ihr drei geht nicht in die normale Schule, oder?»

Bern schob das Rad über einen Stein, die Kette klapperte.

«Pass auf!», sagte ich zu ihm. «Cosimo hat es gerade repariert.»

«Cesare weiß viel mehr Dinge, als man in der normalen Schule lernt, wie du sie nennst. Als junger Mann war er Entdecker. Er hat drei Monate in Tibet gelebt, allein in einer Höhle in fünftausend Metern Höhe.»

«Warum in einer Höhle?»

«Stell dir vor, irgendwann spürte er die Kälte nicht mehr, er hielt es ohne weiteres nackt bei zwanzig Grad minus aus. Und er aß fast nichts.»

«Das ist seltsam», sagte ich skeptisch.

Bern dagegen zuckte mit den Schultern. «Dort hat er die Metempsychose entdeckt.»

«Die was?»

«Die Seelenwanderung. An einigen Stellen der Evangelien ist die Rede davon, bei Matthäus zum Beispiel. Aber vor allem bei Johannes.»

«Und du glaubst wirklich daran?»

Er musterte mich ernst. «Ich wette, du hast nicht eine einzige Seite der Bibel gelesen.»

Plötzlich hielt er an, wir waren bei der Schranke angelangt. Er übergab mir das Fahrrad und sagte: «Du kannst wiederkommen, wenn du willst. Nach dem Mittagessen schlafen die anderen, da bin nur ich da.»

 

Manchmal frage ich mich, warum ich damals zum Hof zurückgekehrt bin. Ob es die Lust war, Bern wiederzusehen, diese Neugierde, die noch keinen Namen hatte, oder ob ich es nur wegen der Langeweile in Speziale tat. Auf jeden Fall fuhr ich am nächsten Nachmittag wieder zum Hof, ich half ihm mit den Mandeln und gemeinsam schafften wir es, alle zu schälen.

Am letzten Tag in Apulien reichte mir der Vormittag, um meine Sachen zusammenzusuchen und im Koffer unterzubringen. Normalerweise war ich immer ganz aufgeregt, wenn es darum ging, abzureisen, doch nicht in jenem Jahr. Nach dem Mittagessen nahm ich das Fahrrad und radelte zum Hof.

Aber Bern war nicht da. Ich fuhr zwei Mal um das Haus herum und flüsterte seinen Namen. Die Mandeln lagen noch alle da, ohne Schalen waren sie auf ein unbedeutendes Häuflein zusammengeschrumpft.

Ich kehrte unter die Pergola zurück, setzte mich auf die Schaukel und stieß mich leicht ab. Im Hof schliefen zwei Katzen, betäubt von der Hitze lagen sie auf der Seite. Dann hörte ich meinen Namen rufen.

«Wo bist du?», fragte ich.

Bern lenkte meinen Blick auf eins der Fenster im ersten Stock. Er flüsterte: «Komm näher.»

«Warum kommst du nicht herunter?»

«Ich kann nicht vom Bett aufstehen. Mein Rücken ist steif.»

Ich dachte an all die Stunden, die er über die Mandeln gebeugt zugebracht hatte. «Kann ich hinaufkommen?»

«Besser nicht. Du würdest Cesare wecken.»

Ich kam mir blöd vor, zu einem Fenster zu sprechen.

«Ich wollte dir etwas dalassen. Heute Abend fahre ich.»

«Und wohin fährst du?»

«Ich fahre nach Hause. Nach Turin.»

Bern schwieg einen Augenblick. Schließlich sagte er: «Dann gute Reise.»

Womöglich würde im Lauf des Winters jemand Bern abholen kommen, vielleicht seine Mutter, und ich würde ihn nicht wiedersehen. Sie kommen und gehen, hatte Großmutter gesagt. Ein Käfer kroch auf meinen Fuß zu, ich zertrat ihn mit der Sandale. Würden sie den auch beerdigen?

Dann hob ich das Rad vom Boden auf. Ich war schon aufgestiegen, als Bern mich noch einmal rief.

«Was ist denn jetzt noch?»

«Du kannst dir von den Mandeln nehmen. Nimm sie mit nach Turin.»

«Deine Mutter hat sie nicht gewollt?»

Ich wollte unhöflich sein, und wahrscheinlich gelang es mir. Er schien einen Moment nachzudenken.

«Nimm davon», sagte er schließlich. «So viel du willst. Tu sie in den Fahrradkorb.»

Unschlüssig zog ich ein paar Mal die Bremse an und ließ sie wieder los. Schließlich stieg ich vom Rad und ging zu dem Häufchen Mandeln. Ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte. Sicher hatte ich nicht die Absicht, sie zu essen. Aber ich nahm sie, füllte Handvoll für Handvoll den Fahrradkorb bis zum Rand. Bevor ich wegfuhr, versteckte ich den Walkman zwischen den Schalen, auf der Play-Taste hatte ich ein Stück farbiges Klebeband befestigt.

 

Es war bereits Februar, vielleicht März, als meine Mutter die Mandeln fand. Sie hatte meine Schulstunden genutzt, um das Zimmer in Ordnung zu bringen. Sie wollte ständig umräumen, wegwerfen, Platz schaffen. Sie ließ die Dose auf dem Bett, und als ich heimkam, war es ein komisches Gefühl, sie dort zu sehen, das Gefühl von etwas Wichtigem, das ich vernachlässigt hatte. Ich öffnete sie, sie war leer. Mit dem Zeigefinger fuhr ich auf dem Boden der Dose entlang, wo sich ein feiner Staub abgesetzt hatte, den ich mit Spucke schluckte. Er war nicht süß, hatte keinen Geschmack, aber einen Moment lang ließ er mich Bern wieder sehen, wie er mit den Schalen zugange war. Den Rest des Tages konnte ich mich auf nichts anderes konzentrieren.

Dieser Nachmittag war eine Ausnahme. In jenen ersten Jahren kam es vor, dass Speziale und der Hof gegen Frühjahr unwirklich wurden. Ich vergaß sie, bis wir im August wieder hinfuhren. Ich wusste nicht, ob es für Bern und die anderen auch so war. Doch wenn ich ihnen fehlte, würden sie es sich bestimmt nicht anmerken lassen. Wenn wir uns nach einem Jahr wiedersahen, küssten wir uns weder auf die Wangen, noch gaben wir uns die Hand, wir fragten nicht nach den vergangenen Monaten. Für sie war ich nichts als ein weiteres Element der Natur, ein Phänomen, das je nach Jahreszeit erschien und verschwand, und über das sich viele Fragen zu stellen überflüssig war.

Als ich sie besser kannte, begriff ich, dass die Zeit für sie anders verging als für mich, oder besser gesagt, dass sie gar nicht verging. Jeder Tag war eingeteilt in drei Stunden theoretischen Unterricht am Morgen und ebenso viele Stunden körperliche Arbeit am Nachmittag, einzige Ausnahme der Sonntag. Dieser Rhythmus wurde auch im August nicht geändert. Deshalb mied ich den Hof vor dem Mittagessen, ich wollte lieber nicht in eine von Cesares Unterrichtsstunden hineingezogen werden, die nur bewirkten, dass ich mich dumm fühlte. Er sprach von den Schöpfungsmythen, von Spalt- und Rindenpfropfung der Obstbäume, vom Mahabharata. Lauter Dinge, von denen ich nichts wusste.

Manchmal entfernte sich einer der Jungs mit ihm, immer nur einer. Sie setzten sich in den Schatten einer großen Steineiche und sprachen miteinander. Um ehrlich zu sein, es war meist Cesare, der sprach, während Bern oder Tommaso oder Nicola nickten. Eines Tages sagte er zu mir, ich sei willkommen, wenn ich Lust hätte, mich mit ihm zu unterhalten. Ich dankte ihm, hatte aber nie den Mut, ihm unter den Baum zu folgen.

Trotzdem wurde auch ich von ihm angenommen. Jahr für Jahr, im Sommer der ersten Klasse Oberstufe, in dem der zweiten. Mein Vater war davon nicht begeistert, aber er sagte nichts, denn es war allemal besser, mich bei den Nachbarn zu wissen, als mich den ganzen Tag unzufrieden zu Hause zu sehen. Und das Gleiche galt wahrscheinlich für meine Großmutter.

Im Tausch für die Gastfreundschaft auf dem Hof leistete ich meinen Beitrag zu den Arbeiten, so gut ich konnte. Ich erntete Bohnen und Tomaten, rupfte das Unkraut auf dem Zufahrtsweg und lernte, Zweige zu Girlanden zu flechten. Ich war ungeschickt, aber niemand machte mir einen Vorwurf. Wenn meine Girlande so verdreht war, dass ich nicht mehr weiterkonnte, kamen mir Bern oder Nicola zu Hilfe. Sie lösten das Geflecht bis zu dem Punkt mit dem Fehler auf und erklärten mir die Abfolge zum x-ten Mal. Nimm dieses Ende, führ es unten durch, dann hier in der Mitte, und jetzt zieh an, so kannst du weitermachen. Sie hätten diese Zweige mit geschlossenen Augen verknüpfen und Girlanden daraus flechten können, kilometerlang, auch wenn es keinen Zweck erfüllte: Sobald sie fertig waren, wurden die Girlanden verbrannt. Als ich Bern fragte, warum sie so viel Zeit damit vertaten, sie zu flechten, antwortete er mir: «Das ist eine Übung in Demut.»

Eines Abends waren wir unter der Pergola versammelt, die blauen Trauben hingen über unseren Köpfen. Nicola machte Feuer im Kohlebecken, während die anderen Jungs die schmutzigen Teller in die Küche trugen. Ich hatte das Essen kaum angerührt. Auf dem Hof waren alle Vegetarier, und ich aß damals fast kein Gemüse. Aber ich ertrug den Hunger, um dort zu sein, in diesem Frieden fern von allem, bei Bern und dem Feuer.

Als wir alle wieder saßen, erzählte uns Cesare, wie er mit zwanzig Jahren erstmals eine Vision seines früheren Lebens gehabt hatte.

«Ich war eine Möwe», sagte er, «oder ein Albatros, auf jeden Fall ein Tier der Lüfte.»

Ich hatte den Eindruck, dass alle diese Anekdote schon mehrmals gehört hatten, und doch lauschten sie gespannt. Cesare berichtete, dass er in einem dieser hellsichtigen Träume im Flug bis an den Baikalsee gelangt sei. Er ermunterte uns, den See auf der Landkarte auf dem Tischtuch zu finden. Wie Furien fegten die Jungs alles beiseite, was auf dem Tisch stand, und suchten die Kontinente ab.

Als Erster schrie Nicola: «Da ist er! Hier!»

Cesare belohnte ihn mit ein wenig Likör. Triumphierend trank Nicola in kleinen Schlucken, während Berns und Tommasos Mienen sich verfinsterten. Vor allem Bern starrte auf die Landkarte, auf den Baikalsee, als ob er jeden einzelnen Namen ein für allemal auswendig lernen wollte.

Dann servierte Floriana Eis, und es kehrte wieder Ruhe ein. Cesare sprach weiter über die früheren Leben, diesmal von denen der Jungs. Ich habe vergessen, was er über Nicola sagte. Über Tommaso, dass er eine Raubkatze gewesen sei, über Bern, dass er etwas Unterirdisches im Blut habe. Dann war ich dran.

«Und du, liebe Teresa?»

«Ich?»

«Was fühlst du, welches Tier bist du gewesen?»

«Ich weiß es nicht.»

«Versuch, es dir vorzustellen. Nur Mut.»

Alle sahen mich an.

«Mir fällt nichts ein.»

«Dann schließ die Augen, Und sag mir, was du als Erstes siehst.»

«Aber ich sehe nichts.»

Sie waren enttäuscht.

«Tut mir leid», murmelte ich.

Cesare betrachtete mich von der anderen Seite des Tisches aus. «Ich glaube, ich weiß es», sagte er. «Teresa war lang unter Wasser. Sie hat gelernt, ohne Sauerstoff zu atmen. Ist es nicht so?»

«Ein Fisch!», rief Nicola.

Cesare sah mich an, als ob er über meinen Körper und über meine Lebenszeit hinausschauen könnte.

«Nein, kein Fisch. Weil Teresa aus dem Wasser herausgekommen ist und den Mut gefunden hat, auf der Erde zu wohnen. Wenn, dann ein Lurch. Lasst uns sehen, ob ich recht habe.»

Die Jungs waren sofort dabei.

«Ich zähle bis drei, dann müsst ihr den Atem anhalten. Mal schauen, wer am längsten durchhält.»

Er zählte langsam und sah uns der Reihe nach an. Bei zwei blies ich die Backen auf und blieb reglos sitzen. Wir blickten uns an, die Jungs und ich und die Jungs untereinander, ohne dass jemand losprustete, während Cesare hinter unseren Stühlen entlangging und uns den Zeigefinger unter die Nase hielt, um zu prüfen, ob wir auch ja nicht schummelten.

Als Erster gab Nicola auf, wütend sprang er auf und verschwand im Haus. Cesare würdigte ihn keines Blickes. Dann Bern. Da stellte Cesare sich zwischen mich und Tommaso und kontrollierte uns abwechselnd. Mein Kehlkopf begann auf und ab zu hüpfen, aber Tommaso, den blassen Hals beängstigend violett angelaufen, öffnete den Mund einen Augenblick früher.

Cesare bot mir das Gläschen Likör an, das ich durch meinen Sieg gewonnen hatte. Ich trank es langsam, die Wärme des Alkohols breitete sich in meinem Magen aus. Es war alles so ernst, so feierlich, während die anderen mir beim Trinken zusahen. Als ob ich mit dieser Geste endlich zum ordentlichen Mitglied der Familie gekürt würde: die erste Schwester am Hof. Ich gab nicht zu, dass ich tagelang im Schwimmbecken geübt hatte, die Luft anzuhalten, eines der Spiele, die ich alleine spielte. Es war viel faszinierender, an mein früheres Leben zu glauben, als ich den Fröschen ähnlich war, die vor zwei Jahren in der Feuchtigkeit gediehen waren. Ich konnte wählen, was ich glauben wollte, das war es. Das hatte ich nicht gewusst, bevor ich dorthin kam.

Und doch hätte ich schon damals die leise Unzufriedenheit bemerken müssen, die alle befiel, vor allem Bern. Ich hätte ahnen müssen, wie sehr er litt an all dem, was er nie getan, gesehen und empfunden hatte, außerhalb von dort; den Neid, den er vielleicht auf mein Leben empfand, das sich in der Ferne abspielte, und für das Speziale nur ein Zwischenspiel war.

In jenem Jahr wollte er mir ein Buch leihen. Er sagte, es habe ihn sehr gefesselt, es war ihm, als handle es von ihm. Während ich das Buch in meinen Händen drehte, spürte ich, dass er mich anders ansah, als ob er einen unbehandelten Stein vor sich hätte und sich fragte, ob es der Mühe wert wäre, ihn zu bearbeiten, ob er die Verwandlung aushalten oder sich als zu spröde erweisen würde.

Bei mir im Zimmer legte ich Der Baron auf den Bäumen auf die Kommode. Großmutter hatte es bemerkt.

«Hat man euch Calvino als Ferienlektüre aufgegeben?»

«Nein.»

«Also hast du es ausgesucht?»

«So gut wie.»

«Du wirst es schwierig finden.»

In den folgenden Tagen nahm ich das Buch überallhin mit, in den Hof, an den Pool, aber aus irgendeinem Grund schlug ich es nie auf. Abends im Bett versuchte ich es erneut, aber die Konzentration ließ sofort nach.

Eine Woche nach dem Tag, an dem er es mir geliehen hatte, fragte mich Bern, ob es mir gefallen habe.

«Ich habe es noch nicht ausgelesen», sagte ich.

«Bist du schon bei Gian Dei Brughi? Das ist meine Lieblingsstelle.»

«Ich glaube nicht. Vielleicht bin ich bald so weit.»

Wir gingen den Zufahrtsweg entlang. Die Nacht war feucht und ruhig. Von fern kam Musik aus einer Diskothek.

«Und bei der Schaukel? Bis dahin bist du bestimmt schon gekommen.»

«Ich glaube nicht.»

«Dann hast du ja gar nichts gelesen!», brüllte er. «Gib es mir sofort zurück!»

Er zitterte. Ich bat ihn inständig, mir das Buch noch ein paar Tage zu lassen, aber er verlangte, dass ich es sofort holen ging. Danach entfernte er sich, ohne sich von mir zu verabschieden, das Buch fest an sich gedrückt. Als ich ihn so im Dunkeln verschwinden sah, verspürte ich einen Stich von Traurigkeit. Das passierte mir öfters gegen Ende des Sommers. Immer kehrten die gleichen Gedanken wieder: Das ist das letzte Mal, dass du den Badeanzug anziehst, das letzte Mal, dass du die Katze sich dem Schwimmbecken nähern siehst, das letzte Mal, dass du vom Hof wegfährst, das letzte Mal, dass du ihn ansiehst.

Das letzte Mal, dass du ihn ansiehst.

Es kann sein, dass sich bereits damals ein anderes Gefühl unter meine Traurigkeit mischte, eine Art intensive Zuneigung. Und genau das war das Unheil, wenn ich es recht bedenke: Was Bern anging, sollte ich nie lernen, das eine von dem anderen zu trennen.

 

Und dann der folgende Sommer. Ich war siebzehn. Bern war im März achtzehn geworden. Es gab da ein Schilfwäldchen an einer Stelle im Gelände, wo eine unterirdische Quelle zutage trat und ein Stück als Bach dahinfloss, bis das Wasser dann wieder von der Erde verschluckt wurde. Vom Hof aus brauchte man unter den Olivenbäumen gehend etwa zehn Minuten. Bern nahm mich in den heißesten Stunden des Tages dorthin mit, wenn alle schliefen. Unsere heimlichen Stunden, von Anfang an.

Wir streckten uns am Boden aus, und ich schloss die Augen, weil mich die Sonne blendete. Mit einem Mal änderte sich die grelle Farbe vor meinen Lidern, ich dachte, es sei wegen einer Wolke, aber als ich die Augen öffnete, sah ich Bern, sein Gesicht ganz dicht an meinem. Er keuchte leicht und beobachtete mich ernst. Ich machte ein kaum merkliches Zeichen der Einwilligung, und er senkte den Kopf und küsste mich.

An dem Tag ließ ich zu, dass er mir mit den Fingern das Gesicht und die Hüfte streichelte, während wir uns küssten, sonst nichts. Aber wir waren in Speziale immer so leicht bekleidet, und das Schilfwäldchen war so weit weg von der Welt. Wir gingen jeden Nachmittag dorthin, und jedes Mal wagten wir mehr.

Neben dem Bach war die Erde feucht und nachgiebig, ich fühlte, wie sie am Rücken festklebte, an den Haaren, an den Fußsohlen, mir schien, dass auch Berns Körper über mir aus Lehm war. Mit einer Hand hielt ich mich an seinem Rücken fest, die andere grub ich zwischen Steinen und Würmern ins Erdreich. Ab und zu schaute ich nach oben: Die Schilfstängel schienen Hunderte Meter hoch.

In jenem August erkundete Bern jeden Muskel und jede Falte meines Körpers, erst mit den Fingern, dann mit der Zunge. Ich hielt sein warmes erigiertes Glied in der Hand, beim ersten Mal musste ich ihm helfen, es zwischen meine Beine zu schieben, denn er schien paralysiert vor Angst. Ich war noch nie zuvor mit einem Jungen zusammen gewesen, und er nahm sich in einem einzigen Sommer alles, was da war.

Danach trocknete er mir mit den Händen den Schweiß. Er blies auf meine Stirn, um mich zu erfrischen, und in seinem Atem roch ich die Gerüche von uns beiden. Er befeuchtete die Fingerknöchel mit Speichel und rieb die Erdflecken von der Haut ab, nahm die Blätter einzeln aus meinem Haar. Wir mussten dringend pinkeln, und wir machten es nebeneinander, ich in der Hocke und Bern kniend. Ich betrachtete die Urinrinnsale, wie sie über den Boden liefen, und wünschte mir, dass sie sich vereinen möchten, und manchmal geschah das. Dann kehrten wir zum Hof zurück, ohne uns an der Hand zu halten und ohne zu sprechen.

Anfangs fürchtete ich, dass Bern bei ihren Unterhaltungen im Schatten der Steineiche alles Cesare erzählen würde. Doch im Lauf des Jahres schien etwas zwischen ihnen einen Riss bekommen zu haben. Den ganzen Sommer über erlebte ich nicht ein Gebet, außer ein kurzes vor den Mahlzeiten. Es gab weder Gesang noch Unterricht. Ab September würden Bern und Tommaso in Brindisi eine Schule besuchen, um sich auf die Abiturprüfung vorzubereiten, wie Nicola das im vergangenen Jahr schon gemacht hatte.

Mittlerweile verbrachten wir viel Zeit außerhalb des Hofes. Wir warteten die kühleren Stunden ab, wegen Tommasos heller Haut, dann nahmen wir Florianas Ford und fuhren los.

An der Costa Merlata gab es eine schmale Bucht, eine Betonrampe, die ins Wasser führte. Dort legten wir uns hin, auch ohne Handtuch. Je nach Windstärke war das Meer sauber oder aufgewühlt, aber meistens war es glatt, von intensivem Blau an den tieferen Stellen und grün in Ufernähe. Nicola und Bern sprangen vom höchsten Punkt des Felsens aus. Von unten vergaben Tommaso und ich Noten. Wir wussten nichts miteinander zu reden. Winzige Fische vom Meeresgrund bissen mir in die Fersen und Knöchel. Ich verjagte sie, indem ich die Füße bewegte, aber einen Augenblick später waren sie wieder da.

Dann kamen Bern und Nicola zu uns her geschwommen. Bern hielt mich heimlich mit einer Hand, mit den Fingern schob er meinen Badeanzug zwischen den Beinen zur Seite, während er weiter mit den anderen redete.

Abends gingen wir zum Scalo. Junge Leute hatten eine Felsplatte zwischen Macchia und Meer besetzt, in der Nähe eines verlassenen Leuchtturms. Da standen ein paar Bänke und Tische rings um einen rosa gestrichenen Wohnwagen. Die Musik kam krächzend aus den Lautsprechern, leise, und zum Tanzen war es besser, man behielt die Sandalen an, wegen der scharfen Fossilien in den Felsen. Bern und die anderen kannten in dieser Art Kooperative alle, sie begrüßten ständig Leute. Ich fand mich fast immer abseits ein Bier trinkend wieder, allein oder in Gesellschaft eines verstört dreinblickenden Fremden.

Eines Abends sah ich zu meiner großen Überraschung Bern und Tommaso ein Panino mit geschabtem Pferdefleisch essen. Ich war mir sicher, dass Cesare den Verzehr von Pferdefleisch für ein schweres Vergehen hielt. Nicola knabberte gleichgültig seine Pommes frites, als wäre er inzwischen an ihr Verhalten gewöhnt. Doch als Bern, nachdem er sich mit dem Handrücken das Ketchup vom Mund gewischt hatte, zu ihm sagte, eines Tages werde er auch die hübschen Hühner seines Vaters verschlingen, sprang Nicola auf und stellte sich drohend vor ihn. Bern und Tommaso nahmen ihn auf den Arm, indem sie mit den Ellbogen flatterten wie Hühner mit den Flügeln.

Gegen Mitternacht kehrten wir auf dem Pfad durch die Myrtenbüsche zum Auto zurück, jeder hielt sich an den Schultern des Vordermanns fest. Bei Großmutters Villa angelangt, stiegen die Jungs aus und begleiteten mich bis zum Eingang. Das Schwimmbecken war einladend um diese Zeit, wir machten Witze über die Möglichkeit, in Kleidern hineinzuspringen, und über die Tatsache, dass mein Vater uns mit Steinen bewerfen würde, dann taten wir es aber nie. Von meinem Zimmerfenster aus hörte ich, wie der Motor des Fords angelassen wurde. Meine Haare waren strohig vom Salz, die Finger rochen nach Zigaretten, mein Schädel brummte vom Bier, und ich war nie glücklicher gewesen.

 

Bald genügte uns das Schilfwäldchen nicht mehr. Das Bett wurde zu Berns fixer Idee.

Wenn ich ihn fragte, was da so viel anders wäre, antwortete er mir vage: In einem Bett könne man viel mehr Dinge ausprobieren.

Aber wir hatten keine Ahnung, wie wir es anstellen sollten. Cesare war stets auf dem Hof, und in der Villa waren Cosimo und seine Frau Rosa ständig auf Wachposten. Bern und ich gingen immer wieder alle Möglichkeiten durch.

Unterdessen vergingen die Tage, Sankt Lorenz war schon vorbei, und die Hitze war anders, der Sommer ließ nach. Alles ringsum signalisierte Dringlichkeit.

«Ich komme in der Nacht», sagte Bern schließlich, während er mit den Fingerspitzen Kreise um meinen Bauchnabel zeichnete.

«Wohin?»

«Zu dir.»

«Sie werden dich entdecken. Nicola sagt immer, er hat den leichtesten Schlaf von allen.»

«Das stimmt nicht. Ich habe den leichtesten Schlaf. Jedenfalls ist Nicola nicht das Problem.»

«Und wenn mein Vater uns hört?»

Bern drehte mir den Kopf zu. Seine Augen waren fast unerträglich nah an meinen.

«Ich mache keinen Lärm», sagte er. «Du bist es, die sich zusammennehmen muss.»

Es verstrichen noch mehrere Tage, bevor wir den Plan umsetzten, Tage, an denen wir nicht ins Schilfwäldchen gingen, weil Bern zu sehr auf die logistischen Details konzentriert war. Ich bedauerte das, sagte es ihm aber nicht. Das war nur eins von vielen Dingen, die ich ihm in diesem Sommer nicht gestehen konnte, wie zum Beispiel die Tatsache, dass ich mich in ihn verliebt hatte. Mit aller Macht versuchte ich, den Verdacht loszuwerden, dass die Eroberung des Bettes für Bern wichtiger geworden war, als darin mit mir zusammen zu sein, auch wenn dieser Verdacht jeden Nachmittag beharrlich wiederkehrte, wenn Bern mich an der Hand nahm und mich, statt an den Oleanderbüschen vorbei, auf den Zufahrtsweg zur Asphaltstraße führte.

Von einer versteckten Stelle aus studierten wir das Haus der Großmutter.

«Ich kann mit dem Fuß auf diesen Vorsprung steigen und mich dann an der Dachrinne hochziehen», sagte Bern. «Hast du überprüft, ob sie das aushält? Von dort müsste ich auf die Fensterbank gelangen, aber du musst mir helfen. Komm ans Fenster, wenn du diesen Laut hörst.»

Er sog die Unterlippe ein und gab einen Pfeifton von sich, der einem Vogelruf glich.

An dem vereinbarten Abend gingen wir nicht zum Scalo. Bern sagte zu den anderen, er hätte keine Lust, schließlich hatten wir jede Nacht dort verbracht. Konnten wir uns nicht etwas anderes einfallen lassen?

«Zum Beispiel?», fragte Nicola leicht gereizt.

«Zum Beispiel auf die Piazza gehen und etwas trinken.»

Bern setzte sich immer durch, was er auch vorschlug. So fuhren wir nach Ostuni. Die Piazza Sant’Oronzo war voll mit Familien, überall liefen Kinder herum, wir setzten uns in die Mitte unter die Statue des Heiligen. Es waren noch zehn Tage bis zum Fest des Stadtpatrons, aber die Festbeleuchtung war schon angebracht, und Bern meinte, wir sollten uns vorstellen, wie schön es wäre, ein paar solcher Lampions am Hof zu haben.

Wir hatten eine große Flasche Bier gekauft, weil es billiger war, aber vor allem, weil wir es mochten, sie von Hand zu Hand gehen zu lassen und zu sehen, wie sich beim Trinken aus derselben Flasche unser Speichel vermischte.

«Mein Vater hat mich gefragt, ob an diesen Abenden auch andere Mädchen dabei sind», sagte ich.

«Und was hast du geantwortet?», fragte Tommaso.

«‹Klar›, habe ich zu ihm gesagt.»

Ich stützte mich mit dem Rücken auf die Knie von Nicola, die Beine lagen ausgestreckt auf denen von Tommaso. Bern hatte seinen Kopf auf meine Schulter gelehnt. Ich fühlte die Jungs dichter an mir denn je, es gefiel mir. Und dann war da das Geheimnis zwischen Bern und mir, das, was wir in dieser Nacht tun würden.

Als wir gegen eins zum Parkplatz gingen, war die Altstadt von Autos umzingelt. Sie bildeten eine ununterbrochene Reihe von Lichtern, die sich wie eine Kette um die weiße Stadt wand. Eine Gruppe von Jungs stand neben dem Ford. Sie hatten ihre Bierflaschen auf seinem Dach abgestellt. Nicola sagte, sie sollten sie wegnehmen, vielleicht etwas grob, aber nicht so sehr, dass es den Ton gerechtfertigt hätte, in dem einer der Jungs meinte, er solle das wiederholen, und hinzufügen, bitte schön.

Bern vertrat mir den Weg. Ich sah, wie Nicola die Bierflaschen nahm und sie eine nach der anderen auf das Dach ihres Wagens stellte. Die anderen Jungs gaben im Chor einen Ton von sich, um seine Kühnheit zu verspotten. Bern blieb still stehen, den rechten Arm schützend ausgestreckt, damit ich nicht vorwärts gehen konnte.

Da bot einer der Jungs, der einen roten Surfanzug und supersaubere Nikes trug, Nicola ein Bier an.

«Entspann dich, Chef», sagte er zu ihm. «Trink was.»

Nicola schüttelte den Kopf, aber der andere beharrte darauf. «Um Frieden zu schließen.»

Nicola trank einen Schluck und gab ihm die Flasche zurück. Dann öffnete er die Tür des Fords. Dabei hätte alles sein Bewenden haben können, er hätte zurückgesetzt, wir wären eingestiegen und hätten uns in die Autoschlange nach Speziale eingereiht, wenn nicht einer der Typen hinter dem im roten Anzug auf Tommaso gedeutet und gesagt hätte: «Hat man den mit Bleichmittel gewaschen?»

Blitzartig versetzte Nicola ihm mit der flachen Hand einen Schlag ins Gesicht. Es war das erste Mal, dass ich sah, wie jemand einen anderen in dieser Weise angriff. Ich packte Bern am Arm, er hatte sich nicht vom Fleck gerührt, als ob er seit dem Augenblick, als wir dort angekommen waren, alles vorhergesehen hätte.

Die Jungs waren einen Moment lang sprachlos. Ich zählte sie, sie waren zu fünft, aber wahrscheinlich jünger als wir. Sie mussten selbst ihre Unterlegenheit bemerken, denn der Stoß, den Nicola abbekam, war schwach, fast ein Akt der Höflichkeit. Er geriet nicht einmal ins Wanken. Mit derselben Geschwindigkeit wie zuvor packte er den Jungen bei den Schultern und drückte ihn mit dem Brustkorb gegen ihren Wagen. Er beugte sich über ihn und flüsterte ihm etwas zu, was keiner von uns hörte.

Autos fuhren im Schritttempo über den Parkplatz und beleuchteten uns nacheinander mit ihren Scheinwerfern, aber keines blieb stehen. Wir stiegen in den Wagen, Tommaso und ich hinten, Bern und Nicola vorn.

Als wir auf der Straße waren und im Stau standen, grölten alle erregt los. Bern wiederholte Nicolas Schlag, dann betastete er wohlgefällig seine Muskeln am Hals und an den Schultern, wie bei einem Boxer.

Zu Hause traf ich Großmutter im Wohnzimmer an. Sie war bei laufendem Fernseher eingeschlafen. Ich strich ihr über den Arm, und sie zuckte zusammen.

«Wo warst du?», fragte sie und rieb sich die Wangen.

«In Ostuni. Auf der Piazza.»

«Es ist ein schrecklicher Auflauf in Ostuni. All diese pöbelhaften Touristen. Willst du einen Kräutertee?»

«Nein danke.»

«Dann mach mir einen, sei so gut.»

Als ich ihr die Tasse brachte, verharrte sie noch immer reglos, so, wie ich sie verlassen hatte, die weit aufgerissenen Augen dem Bildschirm zugewandt.

«Es ist der Dunkle, nicht wahr?», sagte sie, ohne das Gesicht zu mir zu drehen.

Die Tasse klapperte auf dem Unterteller. Beim Gehen hatte ich etwas Kräutertee verschüttet. Sie würde es bemerken.

«Was?»

«Ja, es ist der Dunkle. Auch der andere, der wirkliche Sohn, ist hübsch. Aber der Dunkle ist faszinierender. Wie heißt er noch?»

«Bern.»

«Nur Bern? Oder Bern wie Bernardo?»

«Das weiß ich nicht.»

Sie schwieg einen Moment. Dann sagte sie: «Ich habe versucht, mich zu erinnern, was wir in deinem Alter abends gemacht haben. Und weißt du, was wir gemacht haben? Wir gingen auf die Piazza in Ostuni. Ist er nett zu dir?»

«Ja.»

«Das ist die Hauptsache.»

«Ich bringe dir den Tee ins Zimmer», schlug ich vor. «Dann kannst du dich hinlegen.»

Sie folgte mir die Treppe hinauf bis zu ihrem Zimmer. Bevor ich sie allein ließ, fügte ich noch hinzu: «Bitte, sag es ihm nicht.»

Großmutter lächelte, was ich für ein Ja nahm. Auf dem Flur machte ich vor der Zimmertür meines Vaters halt, ich hörte seine regelmäßigen Atemzüge.

Ich duschte, dann verging Zeit, Zeit, in der ich Schlafanzughosen an- und wieder auszog, ich probierte mindestens vier T-Shirts, ich legte mich unter das Betttuch, dann setzte ich mich auf den Stuhl, weil Bern es wahrscheinlich nicht mögen würde, in ein warmes Bett zu kommen. Alles, was im Schilfwäldchen ganz natürlich war, versetzte mich jetzt in Aufregung.

Um drei dachte ich, er würde nicht mehr kommen. Vielleicht hatte er nicht rauskönnen, oder er hatte es vergessen. Ich tendierte zur zweiten Annahme. Ja, die gerade noch abgewendete Schlägerei hatte ihn so sehr erregt, dass er unsere Verabredung vergessen hatte.

Aber wenig später hörte ich ein Geräusch. Ich stellte mir seinen Fuß auf dem Mauervorsprung vor. Ich zwang mich, still sitzen zu bleiben, wo ich war, bis zum Pfiff. Dann öffnete ich die Fensterläden und half Bern herein. Er küsste mich gleich voller Ungestüm. Sein Atem roch nach Bier, er hatte sich nicht die Zähne geputzt oder noch mehr getrunken. Mit den Händen griff er nach meinen Brüsten, erst durch das T-Shirt hindurch, dann zog er es mir aus.

«Du bist so starr», sagte er, wobei er mich weiter berührte und entkleidete.

«Ich habe Angst, man hört uns.»

«Es hört uns keiner.»

Er löste sich und sah auf das Bett an der Wand. «Willst du unter oder auf dem Laken sein?»

«Ich weiß nicht.»

«Ich bin lieber darauf. Und die Lampe? Wir lassen sie an, oder?»

Wir knieten uns einander gegenüber auf das Bett. Er hatte sich auch ausgezogen. Es war atemberaubend für mich, ihn so zu sehen, nackt im Herzen der Nacht, mit der Erektion zwischen den Beinen, den dunklen Fleck der Haare darum herum.

Er drängte sich an mich mit derselben Heftigkeit wie zuvor, doch ich hielt ihn zurück. Ich sagte ihm, dass wir es anders machen würden, langsam. Wir waren auf dem Bett und hatten alle Zeit der Welt. Er ließ sich zurückfallen, schien verwirrt. Da bewegte ich mich auf ihn zu, hieß ihn sich ausstrecken und legte ihm die Knie um die Taille. Ich begann mich zu reiben, vor und zurück, erst langsam, dann schneller werdend, bis sich an dem Punkt, an dem wir uns berührten, etwas bildete, eine Art Wärme, die ganz schnell bis zur Kehle hochstieg. Das war mir nie zuvor passiert.

Bern betrachtete mich voller Staunen, die Hände reglos auf dem Laken, als fürchtete er, mich in meinem Tun zu unterbrechen. Ihn so zu sehen, versetzte mir einen weiteren Schlag.

Mein erster Gedanke danach war, dass wir zu laut gewesen waren, vielleicht hatte ich geschrien, vielleicht hatte er geschrien. Ich hatte nichts mehr wahrgenommen.

«Es war anders, als ich dachte», sagte Bern. «Du hast gar nicht zugelassen, dass ich mich bewege.»

«Entschuldige.»

«Nein», beeilte er sich zu sagen. «Es war gut.»

Meine Stirn ruhte auf seinem Schlüsselbein, ich wollte einschlafen, aber ich fühlte, dass seine Muskeln unter mir noch angespannt waren.

«Ich muss jetzt gehen», sagte er.

Vom Bett aus sah ich ihm dabei zu, wie er sich anzog. Es machte mir nichts aus, dass ich nackt blieb, was mich jedoch verlegen machte, war, dass ich noch immer Lust auf ihn hatte, während er sich darauf vorbereitete, zum Hof zurückzukehren.

«Du kannst durch die Tür hinausgehen», sagte ich.

Aber er kletterte schon aus dem Fenster. Ich näherte mich ihm. Er war schon einen halben Meter weit unten, als er sich zu mir nach oben wandte.

«Hast du gesehen, wie großartig Nicola heute Abend war! Er hat uns alle verteidigt.»