Der Mitternachtszirkel - Stephanie Tölle - E-Book

Der Mitternachtszirkel E-Book

Stephanie Tölle

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Beschreibung

Angst und Schrecken verbreiten sich wie ein Lauffeuer in der Stadt. Ein weiteres, verhängnisvolles Bild des unbekannten, aber überall gefürchteten Künstlers spaltet die Gesellschaft und bringt das politische Gefüge aus dem Gleichgewicht. Willkür und Anarchie beherrschen die Straßen, denn jeder könnte das nächste Opfer sein. Inmitten dieses Chaos lebt auch Siriel in steter Angst vor jedem, der ihren Weg kreuzt. Immer auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit und vor sich selbst, scheint ihr nur noch eins Zuflucht bieten zu können: der Mitternachtszirkel. Siriel ahnt nicht, dass sie für diesen Schutz einen hohen Preis bezahlen wird ...

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Für...

… meine Eltern, ohne deren Unterstützung ich es nicht geschafft hätte, meine erste Veröffentlichung zu verwirklichen.

… Wolle, weil er mehreren meiner Figuren Charakter und Stimme, sowie dem gesamten Buch eine außergewöhnliche Geschichte und stetigen Fortgang verlieh.

… meine Familie und Freunde, die immer zu mir stehen, egal was passiert.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Unnachgiebiger Begleiter

Zwei Wochen später: Im Kreis der Unberührten

Zweifel

Im Haus des Meisters

Gerüchte

Gerede

Das erfrorene Herz

Königliches Blut

Des Königs Krone

Ausgebrannt

Dunkle Bedrohung

Am Ende ihrer Kraft

Ohne Kurs

Die erste Wahrheit

Schwere Entscheidungen

Begegnung im Traum

Versteck im Traum

Mitternachtsversammlung

Die Fremde im Spiegel

Das Geheimnis des Meisters

Schlechte Voraussetzungen

Entscheidungen

Die zweite Wahrheit

Unerwartete Hilfe

Gils Rückkehr

Am Abgrund

Der Herr der Dämonen

Zeugin einer Lüge

Getrennte Wege

Jilsakis Geheimnis

Furchtlos

Gils Offenbarung

Der letzte Kampf

Wenige Tage später: Das letzte Geheimnis hinter den Spiegeln

Epilog

Prolog

Vorsichtig strich Siriel eine würzig riechende Salbe über die hässliche Wunde an ihrem Oberschenkel und biss die Zähne zusammen. Ein heftiges Brennen durchfuhr ihren Körper. Der Schmerz wurde erst erträglich, nachdem sie einige Bahnen Stoff darum gewickelt und diese mit einem Knoten zu einem zusammen geknüpft hatte.

Langsam nahm Siriel das Bein von dem Stuhl und setzte den Fuß vorsichtig auf dem Boden auf. Kälte kroch in ihre Zehen. Mühsam richtete sie sich auf, warf den Rock ihres Kleides über die Verletzung und humpelte zu dem großen Spiegel hinüber. Er war der einzige Schmuck in ihrer kargen Unterkunft. Dort nahm sie auf einem niedrigen Schemel Platz und richtete den Blick auf das Glas vor ihr.

Ein blasses Gesicht mit dunklen Schatten und ängstlich drein blickenden Augen sah ihr entgegen. Die Haut ihres Ebenbildes schimmerte erschreckend bläulich und ihre Wangenknochen traten ungesund hervor. Ihre Lippen waren dünn und blutig aufgesprungen. Insgesamt war ihr Körper so stark abgemagert, dass keines ihrer Kleidungsstücke mehr richtig sitzen wollte.

Siriel seufzte. Die letzten Tage und Wochen der Flucht hatten ihr beängstigend zugesetzt und ein Gespenst aus ihr gemacht.

Als sie ein Geräusch hinter sich vernahm, fuhr sie abrupt herum. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, ihr Atem beschleunigte sich sprunghaft und jede Faser ihres Körpers war bis zum Zerreißen angespannt. Suchend richtete sie den Blick in die Dunkelheit und wartete.

Eine Gestalt löste sich aus den Schatten ihres dunklen, kargen Zimmers.

Kampfbereit zuckte Siriels Hand an ihren Gürtel und ertastete das dort verborgene Messer. Das Licht der einzig brennenden Kerze huschte jedoch über ein vertrautes Gesicht.

»Du bist es.« Erleichtert atmete die müde Kriegerin auf und zog die Hand vom Gürtel zurück.

»Natürlich. Wen hast du erwartet? Jemanden, der sich stümperhaft an dich heranschleicht, um dich hinterrücks zu töten?« Der junge Mann grinste.

Sein Erscheinungsbild war merkwürdig, beinahe schon exzentrisch. Wie immer trug er Kleider, die einem Edelmann würdig gewesen wären, aber weder deren typischen Schnitt, noch ihre standesüblichen Farben vorwiesen. In komplizierten Mustern waren moosgrüne Stoffe mit Sonnengelb und dunklem, kräftigem Violett verarbeitet. Ihre außergewöhnliche Kombination schienen den Betrachter zu verwirren und in die Irre zu leiten. Auch darüber hinaus hob sich Ensis von seinen Zeitgenossen ab. Er hatte ungewöhnlich helle, strohblonde Haare, die von den dunklen Stoffen seiner Kleidung auffällig hervorgehoben wurden. Sie waren schulterlang und mit feuerroten Bändern zu einem wirren Zopf im Nacken zusammengebunden.

»Vielleicht«, antwortete Siriel und versank in dem Blick seiner stechend grünen Augen.

Mit einem leisen Lachen trat Ensis aus dem Schatten und stand nun direkt vor ihr.

Eine Weile lang sagte niemand ein Wort. Der stille Blickkontakt und die fast intime Nähe zwischen ihnen genügte Siriel, um zu wissen, dass es niemals einen Ort geben würde, an dem er sie nicht fand. Seit ihrer ersten Begegnung folgte Ensis ihr, wohin sie auch ging. Es war zwecklos, unerwartete Haken zu schlagen. Er kannte sie zu gut, um ihre Fährte verlieren zu können.

»Die ersten Republikaner werden getötet«, flüsterte Ensis leise, als hätte er Angst, belauscht zu werden. Sanft legte er ihr die Hände auf die Schultern und ließ seine Finger wohltuend auf ihrem verspannten Nacken kreisen. »Die Anhänger des toten Königs beschuldigen sie eines Komplotts. Es gehen Gerüchte um, Siriel. Die Republikaner verehren den geheimnisvollen Künstler, der seinen Tod vorausgesehen hat, als Befreier der Nation.«

Siriel genoss es, für einen Moment ihre Vorsicht fallen lassen zu können. Erschöpft schloss sie die Augen.

Ensis hatte sie nie verraten. Auch wenn er mehr als genug Indizien gesammelt haben musste, um ihr glaubwürdig einige der vielen politischen Umbrüche im Land anhängen zu können.

»Die Königstreuen sollten nicht zu vorschnell urteilen«, erwiderte Siriel unbeeindruckt. »Die Bilder tragen etwas abgrundtief Böses in sich und niemand scheint dies kontrollieren zu können.«

Der Griff um ihren Nacken wurde fester. Ensis beugte sich zu ihr hinunter und plötzlich spürte sie seinen warmen Atem auf ihrer Haut. Beunruhigt öffnete sie die Augen und bemerkte, wie Ensis sie aufmerksam von der Seite her musterte.

Sein Blick war unergründlich. Mit einem Mal stand ihm die Spur einer seltsamen Gier ins Gesicht geschrieben, die Siriel an ihm noch nie zuvor entdeckt hatte.

Angstvoll wich sie vor ihm zurück. Ensis versuchte, sie zurückzuhalten und ihre Haare glitten für einen kurzen Moment durch seine ausgestreckten Finger. Sie schauderte, als sie plötzlich Wut in seinem Blick entdeckte.

Ernst senkte er seine Stimme zu einem bedrohlichen Flüstern herab. »Ich habe dich gesehen, Siriel. Wenn du etwas über diese Bilder weißt, dann musst du es mir sagen. Die Drohungen gegen diesen unbekannten Maler nehmen zu. Die Tatsache, dass er seine bestialischen Taten in seinen Bildern ankündigt, lässt tief blicken. Es ist grausam, sein Opfer wissen zu lassen, was mit ihm geschehen wird. In jeder Stadt, in jedem Dorf, in dem eines dieser verfluchten Bilder aufgetaucht ist, wurden Unschuldige gehängt. Doch es hat nicht aufgehört. Das Morden geht weiter. Und jedes Mal, wenn ein weiteres Unglück geschieht und eins der Bilder auftaucht, wurdest du kurz zuvor dort gesehen. Das ist doch… merkwürdig!«

Siriel schluckte unwillkürlich und ihr Herzschlag setzte einen Moment lang aus. »Du hast einen scharfen Verstand, Ensis. Aber deine Worte sind unüberlegt. Ich hoffe, dir ist bewusst, welch eine Anschuldigung du gerade gegen mich vorgebracht hast.«

Ein fernes Heulen ließ sie beide aufhorchen. Stimmen drangen durch die Dunkelheit an ihre Ohren. Anscheinend hatte jemand den Flur des Gasthauses betreten, in dem sie sich befanden.

Siriels Herz begann zu rasen. Vollkommen reglos blieb sie sitzen.

Auch Ensis schien plötzlich beunruhigt. Hektisch sah er sich um. Schritte näherten sich dem Zimmer und entfernten sich dann wieder. Abrupt wandte Ensis sich wieder Siriel zu und packte sie schmerzhaft an der Schulter. »Du hast Recht. Ich kann deine Schuld am Tod des Königs und all der anderen Opfer nicht zweifelsfrei feststellen. Aber jemand anderes kann das ganz sicher.« Seine Stimme klang hart und ein wahnsinniges Leuchten trat in seine Augen.

Entsetzt sah Siriel ihn an.

Ensis war seit Wochen der Einzige, den sie in ihre Nähe gelassen hatte. Der Einzige, dem sie vertraute.

Mit weit aufgerissenen Augen versuchte sie, ruhig zu bleiben und über einen möglichen Fluchtweg nachzudenken. Es gab keinen. Ihr Bein schmerzte unerträglich und Ensis würde sie nicht gehen lassen. Er würde keinen Millimeter zurückweichen.

»Du begehst einen großen Fehler.« Siriels Stimme zitterte.

Ihr Gast lachte nur. »Du weißt, ich habe dich nie verraten. Selbst wenn ich es gekonnt hätte. Aber nun werde ich es tun, wenn du dich nicht endlich dazu entschließen kannst, mit mir zu kommen. Mein Auftrag wird immer dringender und ich kann keinen Augenblick länger warten. Du zwingst mich dazu!«

Siriels Gesichtsausdruck wurde kühl. Sie wusste, dass sie alles verlieren würde, wenn sie nicht rasch handelte. »Lass es, Ensis. Es wäre das Letzte, was du tust.« Mit flinken Fingern hatte sie innerhalb von Sekunden ihr Messer gezückt und hielt es ihrem Gast an die blanke Kehle. Ein paar Blutstropfen perlten über die geschliffene Klinge und verliehen ihren Worten Nachdruck.

»Warum tust du das, Siriel? Warum willst du mich töten? Ich biete dir meine Hilfe an, ein neues Leben ohne Angst zu beginnen. Dafür musst du nichts tun, was du nicht willst.«

Verbittert lachte Siriel auf. »Wirklich? Du weißt, dass ich mehr als einmal nein gesagt habe, Ensis. Meine Meinung hat sich nicht geändert. Ich werde auf keinen Fall mitkommen und mich deinem Meister unterwerfen. Wer auch immer er ist. Er soll sich eine andere Marionette zum Spielen suchen.«

»Siriel.« Ein Lächeln umspielte Ensis' Lippen, als er die Hand nach ihr ausstreckte. Beinahe zärtlich strich er über ihr goldbraunes Haar. Der harte Ausdruck aus seinen stechend wirkenden, grünen Augen verschwand. »Du lässt du mir keine andere Wahl. Meine Zeit wird zunehmend knapp. Mein Meister könnte seine Geduld mit dir verlieren. Vielleicht könnte ich etwas finden, das dich umstimmen könnte. Wer weiß, was für Geheimnisse du in der Dunkelheit der Nacht vor mir verbirgst.«

Unwillkürlich zuckte Siriel zusammen.

Ensis nutzte den Überraschungsmoment aus, um sich aus ihrem Griff zu befreien. Mit einer fast beiläufigen Handbewegung richtete er seinen Kragen und strich sich das Haar aus dem Gesicht.

»Das wagst du nicht!« Siriels Worte glichen einem entsetzten Keuchen.

»Wir werden sehen, Siriel. Unterschätze meine Ausdauer nicht.« Er zwinkerte ihr zu, zog die Hand zurück und verschwand lautlos in die Dunkelheit.

Verunsichert blieb Siriel alleine zurück. Eine Weile lang blieb es vollkommen still im Zimmer. Dann vernahm Siriel irgendwo das leise Klicken des Türschlosses.

Ensis war gegangen.

Unnachgiebiger Begleiter

Genervt nippte Siriel an ihrem Bierhumpen. Sie wünschte sich, Ensis nie begegnet zu sein. Es war unerträglich, wie er dort drüben alles Mögliche unternahm, nur damit sie einmal zu ihm hinüber sah. Es widerte sie an.

»He, Kleine!« Ein Mann stieß sie grob in den Rücken. Der Geruch von Alkohol eilte seinen Worten voraus. Er schien betrunken zu sein. »Jetzt gib dem armen Kerl doch eine Chance!«

Ärgerlich drehte Siriel sich zu demjenigen um, der sie angesprochen hatte, und musterte ihn geringschätzig. Er war augenscheinlich einer von jenen Männern, die selbst nie eine Frau für sich gewinnen konnten und sich deshalb immer einmischen mussten, wenn es einem anderen genau so erging. Siriel verkniff sich die beißenden Bemerkungen, die ihr auf der Zunge lagen.

Der Betrunkene hingegen zerrte sie rüpelhaft von ihrem Stuhl und machte dem allgemein schlechten Ruf der Bürger dieser Stadt alle Ehre. »Sieh doch! Sie will dich, das sehe ich genau«, grölte er durch den Schankraum, worauf höhnisches Gelächter folgte.

Siriel überlegte nicht lange. Sie riss sich los und versetzte dem Grobian einen gezielten Schlag in seinen fetten Schmierbauch. Keuchend und spuckend ging dieser zu Boden. Demonstrativ leerte sie den Krug des Trunkenbolds über seinem Kopf, stellte ihn auf dem Tresen ab und wandte Ensis mit einem düsteren Blick den Rücken zu. Die Menge grölte und höhnte noch lauter, aber Siriel ignorierte sie. Stattdessen nahm sie ihrerseits einen kräftigen Schluck von ihrem Whiskey und hoffte, dass Ensis weitere Peinlichkeiten unterließ.

Wie erwartet hielt dies Ensis jedoch nicht davon ab, noch mehr Aufruhr um ihre Person zu stiften. Mittlerweile unterhielt er den ganzen Schankraum auf ihre Kosten. Viele der Männer lachten, andere hielten sich ganz zurück. Einige Frauen schauten argwöhnisch Ensis’ Werben zu.

»Seht!«, rief Ensis vergnügt. »Sie lässt sich natürlich nicht von mir beeindrucken! Sie bleibt stur. Dabei weiß ich schon lange, dass sie mich will!«

Höhnisches Gelächter und anzügliche Rufe dröhnten durch den Raum.

Verbissen versuchte Siriel weiterhin die Menschen zu ignorieren, geriet dabei jedoch schnell an ihre eigenen Grenzen. Wütend griff sie schließlich nach ihrer Tasche und schlüpfte geschickt durch die Beine der Menschen hindurch. Sie hatte die Tür nach draußen fast erreicht, da versperrte ihr eine handvoll Betrunkener den Weg.

»Lasst sie gehen. Ich werde mich selbst um sie kümmern!« Ensis' Stimme hallte über die Menschenmenge hinweg und beschwichtigte die vielen lärmenden Leute. Er lachte noch immer, doch auf seinen Gesichtszügen spiegelte sich ein seltsamer Ausdruck, den er mit einem kräftigen Zug aus seinem Bierkrug zu verstecken versuchte.

Niemand wagte es, ihm zu widersprechen. Respektvoll wichen die Trunkenbolde vor Siriel zurück und ließen sie durch. Aller Augen sah ihr hinterher, aber niemand folgte ihr. Noch während die Tür zur Schenke hinter ihr zufiel, drang erneut wildes Gelächter an Siriels Ohren. Die Menschen schienen sich rasch anderen amüsanten Dingen zugewandt zu haben.

Erleichtert sog Siriel die kühle Nachtluft in ihre Lungen. Nach der Hitze, die sich im stickigen Schankraum angesammelt hatte, war es eine wahre Wonne. Still lehnte sie sich an die Außenwand der Schenke und genoss es, für sich zu sein.

Die Nacht war ruhig und trotz der fremden Umgebung vertraut. Der Himmel war klar und Sterne funkelten ihr entgegen. Das silbrige Licht des Mondes tauchte die Straßen der Stadt in ein kaltes Licht. Die Luft roch nach nassem Stein und Moder.

Ganz so, wie es früher einmal war.

Siriel seufzte. Sie war bereits hunderte von Meilen von ihrer Heimat entfernt. So weit fort, wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie vermisste ihr Zuhause, aber es war ein Ort, den sie wohl niemals wiedersehen würde. Traurig atmete die junge Frau tief ein und aus. Dann konnte sie die einsame Träne nicht mehr zurückhalten, die sich ihren Weg über ihre Wange suchte.

Sie hatte es vorausgesehen.

»Gibst du endlich auf?«

Siriel konnte den Mann in seiner extravaganten Kleidung zwar nicht sehen, aber sie wusste, dass es Ensis war. »Lass mich in Ruhe.« Sie wollte gehen, doch Ensis drängte sie zurück an die Hauswand und versperrte ihr den Weg.

»Sag mir, was ich tun muss, damit du das Angebot des Mitternachtszirkels annimmst. Du bist zu viel allein, Siriel.«

Ihr stockte der Atem. Sie konnte ihm nicht antworten. Etwas Fremdes ergriff von ihr Besitz und lähmte ihren Körper. Sie wusste, er würde nie aufgeben.

Ein fernes Heulen ließ sie aufhorchen. Der Zauber fiel von ihr ab. Überrascht sah Siriel sich um.

Ensis war nicht mehr da. Er war so abrupt und leise gegangen wie er gekommen war.

Erleichtert atmete Siriel auf und wandte sich wieder der Tür zur Schenke zu. Die meisten ihrer Sachen lagen noch oben in ihrem Zimmer. Sie konnte nicht einfach verschwinden. Schon gar nicht mitten in der Nacht. Es war zu gefährlich, vor allem für eine Frau.

Unbemerkt betrat Siriel den großen, weitläufigen Raum und behielt wachsam ihre Umgebung im Auge. Menschen verschiedenster Herkunft drängten sich am Tresen. Sie alle hatten sich wieder heiter und vergnügt ihrem Bier, Wein und Glücksspiel zugewandt. Niemand schien zu bemerken, dass Siriel in den Schankraum zurückgekehrt war. Das kam ihr sehr gelegen, da sie dann ungestört in einer der hinteren Ecken ihr Bier trinken konnte.

Still suchte sie sich ein ruhiges Plätzchen und bestellte bei dem verwundert dreinblickenden Wirt ein Honigbier. Während dieser mit ihrem Getränk auf sich warten ließ, sah sie interessiert ein paar zwergenhaft kleinen, alten Männern beim Schachspiel zu.

Einer von ihnen bemerkte ihren Blick und sah auf. »Wollt Ihr eine Partie spielen, junges Fräulein?« Seine weisen Augen musterten Siriel gutmütig. Ein warmherziges Lächeln umspielte seine Lippen.

»Nein danke, mein Herr. Aber ich sehe Euch gerne zu, wenn es Euch nichts ausmacht.« Höflich lehnte Siriel die Einladung des Alten ab.

»Aber natürlich nicht, meine Liebe! Leistet uns Gesellschaft. Und seht gut zu, da könnt Ihr noch etwas lernen!«

»Übertreib es nicht, Balduin«, schritt der andere Spieler lachend ein. »So gut bist du darin nun auch wieder nicht. Die junge Dame wird sicher bessere Lehrmeister finden, als uns beiden. Jeder hier kennt und schätzt das Spiel.«

Siriel lächelte verlegen. »Da muss ich Euch enttäuschen, mein Herr. Ich komme nicht von hier. Das Spiel ist mir fremd. Also seid Ihr momentan die besten Lehrmeister, die ich haben kann.« Ihr Geständnis sorgte für Staunen und Ungläubigkeit.

»Herrje! Dann wird es höchste Zeit! Gerade ein junges Ding wie Ihr, an dem die Unberührten so sehr interessiert sind, sollte dieses Spiel bis zur Perfektion beherrschen!«

»Die Unberührten?“ Siriel stutze. Erschrocken sah Siriel sich um. Sie hoffte, dass niemand außer ihr den Alten gehört hatte. »Wer sind die Unberührten und woher wisst Ihr, dass sie ausgerechnet hinter mir her sind?«

»Um zu wissen, dass die Unberührten großes Interesse an einer unscheinbaren Frau haben, muss man niemanden fragen. Es hat sich bereits herumgesprochen. Sie werden so genannt, weil sie als unberührt von jedweder Sünde gelten, die ihren Ursprung in der menschlichen Boshaftigkeit hat. In erster Linie sind die Unberührten allerdings für ihre außergewöhnlichen Talente bekannt. Kein Mitglied gleicht dem anderen. Jeder von ihnen besitzt eigene Fähigkeit, die ihn von allen gewöhnlichen Menschen trennt. Um diese zu schützen, haben sich die Unberührten vor langer Zeit in dem sogenannten Mitternachtszirkel vereint. Der Mitternachtszirkel ist eine Art Orden und wird überall gleichermaßen geachtet und gefürchtet. Euer Freund Ensis gehört auch zu den Unberührten. Beinahe jeder hier in der Stadt kennt und schätzt ihn. Ihr dürft ihm seine Leidenschaft für Euch nicht allzu übel nehmen. Wer mit den Unberührten verkehrt, fällt schnell auf.«

»Er ist nicht mein Freund!«, berichtigte Siriel den Alten unbeabsichtigt scharf.

Mit einem Schmunzeln mischte sich der Spielpartner des Alten in ihr Gespräch ein. »Als wenn das nicht genug wäre, Balduin! Der Zirkel lässt in letzter Zeit ungewöhnlich viele neue Lehrlinge einberufen! Ensis hat mir erzählt, dass er dieses junge Fräulein bis zum nächsten Vollmond ebenfalls zu seinem Meister bringen soll. Ich bin mal gespannt, wie er das anstellen will.«

Ensis’ Stimme erhob sich über dem allgemeinen Gemurmel. Er schien angetrunken zu sein und er hatte sie entdeckt. »Siriel, meine Schöne!« Schwankend kam Ensis mit hochrotem Gesicht auf sie zu getorkelt. An jedem Arm hatte er eine der jungen Bardamen, deren Schminke bereits verschmiert war und unschicklich an Ensis’ entblößtem Hals klebte.

Angewidert wandte Siriel sich ab und rutschte von ihrem Stuhl. »Vielen Dank für das Gespräch. Es hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Höflich verabschiedete sie sich und tauchte in der Menge unter. Sie hatte die Tür zum Treppenhaus fast erreicht, als ein lauter Knall die Luft zerriss.

Schlagartig wurde es still. Niemand wagte es, auch nur einen Muskel zu rühren. Alle Blicke waren auf die Tür gerichtet, die auf den Marktplatz hinausführte.

Ein alter, schmierig aussehender Mann stand auf der Schwelle zur Schenke. In der linken Hand hielt er eine Pechfackel, in der Rechten eine lange Peitsche. Bedrohlich flackerte Licht über das feucht glänzende Leder und die Widerhaken an seinem Ende. Fettige Haare hingen in dünnen, grauen Strähnen von seinem Kopf und verliehen ihm neben seiner abgewetzten Kleidung ein ungepflegtes Aussehen. Mit hoch konzentrierter Miene ließ er seinen Blick durch den Schankraum schweifen.

Siriel schauderte. Als sein Blick auf sie fiel, hatte sie das Gefühl förmlich durchbohrt zu werden. Hinter ihm konnte sie weitere finstere Gestalten ausmachen. Insgesamt zählte sie zehn Männer, deren Äußeres allgemein heruntergekommen und schäbig war.

»Wir haben Grund zur Annahme, dass sich unter Euch der geheimnisvolle Künstler befindet, der für den Tod des Königs verantwortlich ist.« Die schnarrende Stimme des alten Mannes passte zu seinem, von Falten und Narben zerfurchten, Gesicht und den verfaulten Zahnstumpfen in seinem Mund. Wahnsinn entsprang seinen kalten, stahlgrauen Augen, die blutunterlaufen nach dem Gesuchten Ausschau hielten.

Siriel saß da wie erstarrt. Die heitere Laune des Schankraumes war einer kalten, angstvollen Atmosphäre gewichen. Durchsuchungen dieser Art hatte es in den letzten Monaten wegen des politischen Chaos' öfter gegeben. Und obgleich sie ungerechtfertigt waren und vom Thronfolger geächtet wurden, wagte es niemand, sich den meist fanatischen Nationalisten in den Weg zu stellen.

Siriel wagte es kaum, zu atmen. Lautlos setzte sie ihrem Weg fort und durch die vor Angst zitternde Menge hindurch zum Tresen. Von dort aus gelangte sie in einen schmalen Korridor, an dessen Ende eine Treppe hinauf zu den Schlafräumen führte.

Sie hatte den Flur gerade betreten, als sie jemand am Handgelenk festhielt und sie zu sich in den Schatten zog. Ehe sie sich versah, stieß sie mit dem Rücken an die Wand und sie spürte den Atem eines Fremden auf ihrer Haut. Der Körperschweiß des Angreifers roch vertraut.

»Ensis?« Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

»Sei still, wenn du nicht sterben willst.« Seine Hand berührte vorsichtig ihren Oberschenkel.

Siriel unterdrückte einen Schmerzensschrei, doch das Zucken durch ihren Körper verriet ihr Geheimnis.

Vorsichtig zog Ensis ihr Bein in die Höhe und legte es um seine Hüfte. Dann stützte er sich mit der anderen Hand neben ihrem erschrockenen Gesicht ab und beugte sich zu ihrem entblößten Hals hinab.

Siriels Angst verstärkte sich, als seine Lippen ihre Haut berührten. Im letzten Moment verstand sie, dass es nur zur Tarnung diente und verharrte angespannt.

Ensis’ Lippen bedeckten ihren Hals unterdessen mit zärtlichen Küssen. Er hatte bereits ihr Schlüsselbein erreicht, da unterbrach ihn die harsche und schnarrende Stimme des Durchsuchenden in seinem Liebesspiel.

»Entschuldigt, mein Herr. Eine Untersuchung ist auch bei Euch und der jungen Dame nötig.«

Erbost fuhr Ensis auf. »Da gibt es gar nichts zu entschuldigen! Merkt Ihr nicht, dass Ihr stört? Verschwindet!« Ohne den alten Mann auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte er sich wieder Siriel zu. Sein Blick war ausdruckslos.

Siriel spürte, dass sie sein Spiel mitspielen sollte. Zärtlich schlang sie den Arm um seine Schulter und drückte mit der anderen Hand seinen Kopf an ihren Hals, während sie ihr Gesicht im Schatten verbarg.

Die Stimme des schmierigen, alten Mannes wurde nun schneidend vor Kälte. »Ich dulde keinen Widerspruch! Anscheinend wisst Ihr nicht, wen Ihr vor Euch habt, junger Mann!«

Wütend ließ Ensis von Siriels Hals ab und sah den Ruhestörer mit einem gefährlichen Glitzern in den Augen an. »Anscheinend wisst Ihr nicht, wen Ihr vor Euch habt! Ihr beleidigt einen Unberührten! Ich hoffe, das ist Euch klar! Legt Euch nicht mit meiner Sippe an! Und nun geht, bevor ich mich vergesse! Sofort!«

Siriel konnte heraus dem Schatten nicht genau erkennen, weswegen der sich alte Mann mit einem Mal respektvoll verbeugte. Ohne ein weiteres Wort wandte sich der schmierige Zeitgenosse kurz darauf auf dem Absatz um und ging rasch davon.

Siriel sah ihm erleichtert nach, während sich Ensis' Kopf wieder zu ihrem Hals hinab senkte. Der Ruhestörer hatte den Schankraum kaum verlassen, da wurde Ensis’ Griff um ihren verletzten Oberschenkel fester. Siriel holte tief Luft und unterdrückte einen Aufschrei. Dann spürte sie, wie Ensis’ Lippen von ihrem Hals abließen und seine Wange die ihre berührte.

»Wieso hast du mir das nur verschwiegen? Du weißt etwas über den Tod des Königs, habe ich Recht? Hätte ich es zu spät herausgefunden, wärst du nun tot!«

Siriel schauderte. »Du weißt es, seitdem wir uns das erste Mal begegnet sind!« Panisch versuchte sie sich loszureißen, aber Ensis’ Griff um ihr verwundetes Bein wurde nur noch stärker. Die Schmerzen waren unerträglich. Mit Tränen in den Augen, gab sie es schließlich auf.

»Du hast letztendlich meine Hilfe gebraucht. So wie ich es dir damals vorausgesagt habe.« Er küsste sie sanft auf die Wange. »Ich habe keine Zeit mehr, Siriel! Es geht um mehr als dich und mich. Ich muss dich zu meinem Meister bringen! Die Informationen, die du in dir trägst, sind zu brisant, als dass ich dich jetzt noch allein lassen könnte!«

»Was für ein Recht hast du, Ensis, über mein Leben zu bestimmen? Du magst ein Unberührter sein, aber was heißt das schon?« Siriels Fragen waren nur ein Flüstern. Sie war nicht dazu bereit, kampflos aufzugeben.

»Was das heißt? Es bedeutet einem engen Kreis einzigartiger Menschen anzugehören. Mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, die sonst niemand anderes auf der Welt besitzt. Ist das nichts wert?«

»Und warum wählt dein Meister dann gerade mich? Was habe ich für schon Fähigkeiten? «

»Du hast eine ganz besondere Gabe. Mehr kann ich dir momentan auch noch nicht sagen«, antwortete Ensis nur. Grob packte er Siriel an der Schulter. »Da draußen sterben Menschen, Siriel. Tag für Tag! Wir könnten das ändern. Wir könnten die Welt vielleicht zum Besseren verändern, wenn du mit mir kommst. Mein Meister bietet dir die Chance, ein neues Leben zu beginnen. Weise seine helfende Hand nicht unbedacht ab. Ohne mich, bist du verloren. Viele halten dich mittlerweile für diese gefährliche Künstlerin, denn du fällst auf. Wohin ich dir auch gefolgt bin, jeder konnte sich an dich erinnern. Sie suchen förmlich nach einem Sündenbock, unterschätze ihren Hass nicht!« Flehend sah er sie an.

Siriel schluckte. Sie konnte diese Tatsache leider nicht leugnen. Und wenn sie sich weigern würde, mit ihm zu kommen? Hatte er endlich einen guten Grund gefunden, sie unter Druck zu setzen? Woher wusste Ensis, dass sie mehr über den Tod des Königs wusste, als alle anderen?

Tränen der Verzweiflung stiegen in ihr auf. Sie schnaubte verächtlich. »Was kann mir dein Meister schon bieten?«

Ein Lächeln huschte über Ensis’ Gesicht. »Eine Zukunft.«

Zwei Wochen später:

Im Kreis der Unberührten

Nach tagelanger Reise erreichte sie endlich ihr Ziel. Es war kurz vor Mitternacht. Dunkle Wolkenfetzen eilten über den Nachthimmel und verdeckten immer wieder den Vollmond, der mit seiner ganzen Kraft leuchtete. Ein böiger Wind peitschte ihnen mit unerbittlicher Kälte aus den engen Gassen entgegen. Siriel fror und kämpfte verzweifelt gegen die Müdigkeit an, während Ensis sie immer weiter in die Stadt hineinführte.

Die Häuser waren geduckt und eng aneinander gedrängt. Hier und da fiel ein schwaches Licht durch eines der Fenster, doch die meisten Stuben waren mit Vorhängen vor den Blicken Fremder geschützt. Es wäre nicht nötig gewesen, denn außer Siriel und Ensis war niemand draußen unterwegs. Die Straßen lagen still und seltsam verlassen zu ihren Füßen. Ihre Schatten begleiteten sie in dem hellen Mondlicht, bis sie vor einer dunklen Häuserfassade stehen blieben.

Ensis tastete im Dunkeln nach etwas und Siriel staunte, als scheinbar aus dem Nichts eine Tür aufschwang. Dahinter tat sich ein schmaler, schwach beleuchteter Flur auf.

»Hier ist es«, flüsterte Ensis und sein Tonfall war seltsam verändert. Zum ersten Mal klang seine Stimme dunkel und ernst. Mit einer ungeduldigen Handbewegung forderte er sie auf, einzutreten.

Siriel zögerte. Zum gefühlt hundertsten Mal zweifelte sie daran, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. War es wirklich klug gewesen, Ensis’ Beharrlichkeit nachzugeben? Unruhe und eine unbekannte Angst begannen von ihr Besitz zu ergreifen.

Ungeduldig sah Ensis sie an und deutete mit einem Kopfnicken zur Tür.

Siriel holte tief Luft, dann trat sie angespannt über die Schwelle. Der Geruch von Staub und Weihrauch stieg ihr in die Nase. Der Flur, in dem sie stand, hatte keine Türen, die von ihm abzweigend in andere Räume führten. Die Wände waren hell verputzt und kahl. Hier und dort waren sie vom Ruß der wenigen Fackeln geschwärzt, die den schmalen Gang schwach erleuchteten. An seinem Ende konnte Siriel im Dämmerlicht eine schwarze Tür erkennen. Sie schluckte. Alles an dem, was vor ihr lag, wirkte einengend auf sie und raubte ihr die Luft zum Atmen. Wie betäubt nahm sie wahr, dass Ensis an ihre Seite trat.

Mit einem unheilvollen Klicken fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss. Danach lastete eine unerträgliche Stille auf ihren Ohren. Nicht der kleinste Laut war zu hören. Unsicher sah Siriel Ensis von der Seite her an. Seine hübschen, makellosen Gesichtszüge waren zu einer ausdruckslosen wächsernen Maske erstarrt.

»Hier entlang.« Ensis deutete auf die Tür am anderen Ende des Flurs. »Egal wer uns empfängt, er wird dich zuerst ansprechen. Wage es nicht, ihm dabei zuvor zu kommen. Und sieh ihn nicht direkt an, wenn du vor ihm stehst. Das ist sehr wichtig, also merke es dir gut. Verbeuge dich tief, nachdem ich dich vorgestellt habe. Am besten du hältst dich dicht an mich und verhältst dich weitgehend unauffällig.« Mahnend sah Ensis sie an und ging voran, bevor Siriel etwas erwidern konnte.

Wie verlangt hielt sie sich dicht an ihn und schwieg nervös. Ensis’ Instruktionen bestärkten sie nur noch in dem Gefühl zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Sie hatten die Tür fast erreicht, als diese sich unerwartet und ohne ihr Zutun vor ihnen öffnete. Siriel blieb vor Schreck beinahe der Mund offen stehen.

Jäh schlugen ihnen Musik und Gelächter entgegen, aber auch der verführerische Duft von leckerem Essen und Pfeifenrauch. Vor ihnen tat sich ein großer, von hellem Licht erfüllter Raum auf, in dem gegessen, getrunken und getanzt wurde.

Siriel blinzelte erschrocken in die unverhoffte Helligkeit, während Ensis sie drängte weiterzugehen. Als sie sich an das grelle Licht gewöhnt hatte, bemerkte sie verunsichert, dass sie von allen Seiten angestarrt wurde. Viele der Unberührten, die bei Köstlichkeiten wie Wein und Gebäck beisammen saßen, musterten sie mit unverhohlenem Interesse. Siriel fand an ihnen dieselbe Eigenart wie an Ensis: Sie alle trugen Kleidung aus den feinsten Stoffen der Adeligen, kombiniert in den seltsamsten und außergewöhnlichsten Farb- und Schnittvariationen, die Siriel je gesehen hatte.

Pflichtbewusst schloss Ensis die Tür hinter ihnen.

Siriel hörte wie das Schloss einrastete, dann verstummten Gelächter und Musik abrupt. Schweigen breitete sich aus wie eine Krankheit. Alle Blicke richteten sich allein auf Ensis und seinen Schützling.

»Ah, endlich ist sie da!« Eine kräftige, euphorische Stimme erhob sich aus der Menge. Respektvoll stoben die Umherstehenden auseinander und wichen vor den energischen Schritten eines hoch gewachsenen Mannes zurück. Seine prachtvollen Gewänder raschelten bei jedem Schritt.

Gehorsam senkte Siriel den Blick. Doch sie konnte nicht widerstehen, ihr Gegenüber kurzzeitig anzusehen.

Trotz seiner makellos jungen, bläulich- blassen Haut war sein hüftlanges, glattes Haar schneeweiß. Ein silbernes Leuchten tanzte um jede Strähne und verlieh ihm eine eigenartige Ausstrahlung. Zwei kluge, kalt und stechend wirkende Augen von eisgrauer Farbe funkelten Siriel neugierig und erwartungsvoll entgegen. Seine schmalen, bläulichen Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln, als er Siriels Unsicherheit bemerkte.

»Ist er der Meister?«, flüsterte sie Ensis zu.

»Nein, den Meister bekommen wir nur selten zu Gesicht. Gil spricht lediglich für ihn.« Ihr Begleiter war bemüht, so leise zu sprechen, dass nur Siriel ihn hören konnte. Aber Gils Lächeln wurde immer breiter.

»Ich spreche für den Meister, ganz Recht. Du hast viel Zeit für deinen Auftrag benötigt, Ensis. Ich hoffe, du zweifelst nicht an meiner Entscheidung?«

»Keineswegs«, entgegnete dieser ihm hastig und machte eine kurze Verbeugung.

»Dann lass sie aus dem Schatten zu mir vortreten.« Gil machte eine auffordernde Handbewegung und Ensis trat zur Seite.

Demütig senkte er den Kopf, ohne Siriel auch nur ein einziges Mal anzusehen.

»Sei nicht schüchtern, Siriel. Zeig dich mir. Ich möchte dich ansehen.« In Gils Augen standen freudvolle Erwartung und Neugier.

In dem Saal herrschte mit einem Mal eine seltsame Atmosphäre. Männer und Frauen verrenkten sich die Hälse. Jeder wartete darauf, einen Blick auf jene Person werfen zu können, die Ensis in ihre Mitte gebracht hatte.

»Nun geh’ schon!« Ensis’ Worte waren nur ein wütendes Fauchen.

Siriel schlug das Herz bis zum Hals. Mit weichen Knien machte sie einen Schritt auf Gil zu. Als ihr Fuß den glatt gefliesten Boden berührte, ging ein Beben durch den Raum. Irgendwo in unbekannten Tiefen und Fernen war ein dumpfer Donner zu hören. Wie angewurzelt blieb Siriel stehen.

Ein Raunen ging durch die Reihen der Anwesenden. Sie tuschelten aufgeregt hinter vorgehaltener Hand und deuteten auf Siriel, die sich mit jeder Sekunde unwohler fühlte.

Für einen kurzen Moment dachte sie daran, sich umzudrehen und davon zu laufen. Doch Gil forderte sie vollkommen unbeeindruckt mit einer ungeduldigen Handbewegung auf, weiter zu gehen. In seinen Augen spiegelten sich Selbstgefälligkeit und Faszination. Gierig belauerte er jede ihrer Bewegungen.

Mit trockenem Mund machte Siriel vorsichtig einen weiteren Schritt, dem erneut ein Beben und Donner folgten.

Gil winkte sie noch näher an sich heran. Zwischen ihnen lag nur noch ein kreisrundes Emblem aus schwarzem Stein, das in einem Kreis in den Boden eingelassen war. Es erinnerte Siriel stark an die Windrosen auf den bekannten Landkarten.

Die Unberührten im Raum schienen die Luft anzuhalten.

Dann trat Siriel in den Kreis hinein. Das Beben, das ihrem Schritt folgte, erschütterte den Raum nun so stark, dass manche der Umherstehenden ins Schwanken gerieten. Das Donnern zerriss die angespannte Stille und schmerzte in den Ohren.

Siriels Blick raste ruhelos hin und her. Sie verstand nicht, was mit ihr geschah. Sie ahnte nur, dass sie sich auf sehr dünnem Eis bewegen musste.