DER MOLOCH - Michael K. Iwoleit - E-Book

DER MOLOCH E-Book

Michael K. Iwoleit

0,0

Beschreibung

Mitte des 21. Jahrhunderts: Die Region Rhein-Ruhr ist zu einer riesigen Megapolis verschmolzen. Aus den USA wurde ein neues Prinzip gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Organisation importiert. Die Stadt ist in unzählige Franchise-Viertel unterteilt, wo mächtige Konzerne und Betreiber-Konsortien die Lebensbedingungen bestimmen. Aus aller Welt strömen Klimaflüchtlinge in die Stadt, die sich auf den wenigen Flecken unbeanspruchten Landes zusammendrängen. Sina Anders, Veteranin einer Ärzteorganisation, steht mit dem Rücken zur Wand. Bei einem Krisenreferendum in Köln zerschlägt sich ihre Hoffnung, Sanierungsmaßnahmen für die Rheinuferslums durchzusetzen. Aus Verzweiflung läßt sich auf einen Deal mit ihrem zwielichtigen Ex-Mann ein, um wenigstens ihr sekundäres Ziel zu erreichen: die Finanzierung einer Expedition in eine Subville in Bochum, einer früheren Kohlezeche, wo die Ärmsten der Armen unter menschenunwürdigen Bedingungen ausgebeutet werden. Nachdem sie wochenlang verschwunden ist, macht sich ihr Lebensgefährte auf die Suche und kommt auf die Spur einer Verschwörung von ungeheurem Ausmaß. Titelbild von Mario Franke

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 580

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Michael K. Iwoleit

Der Moloch

AndroSF 217

Michael K. Iwoleit

DER MOLOCH

Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe

AndroSF 217

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: August 2025

p.machinery Michael Haitel

Die Urheberrechtsinhaber behalten sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist ausgeschlossen.

Titelbild: Mario Franke

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 442 7

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 703 9

Für Tina

Verloren, aber nicht vergessen

Man sah in den Göttern grausame Herren, die man durch Gebete besänftigen und durch Weihgeschenke gewinnen konnte. Alle aber waren ohnmächtig vor Moloch, dem Verschlinger.

Gustave Flaubert Salammbô

_____

Heute habe ich erkannt, dass es kein Zurück für mich gibt. Ich möchte mich an die Erinnerung klammern, an die letzten Tage, die wir gemeinsam verbrachten, die letzten Stunden, als unsere Liebe noch stärker war als dieses Ding, aber das Gefühl wird mit jedem Tag schwächer. Bald werde ich kein Mensch mehr sein. Die Veränderungen haben mich körperlich mitgenommen. Mir fällt büschelweise das Haar aus, meine Haut ist trocken und ledern geworden, ich bin abgemagert, meine Brüste hängen schlaff herunter. Du würdest dich erschrecken. Aber all das ist nebensächlich. Ich kann nicht mehr davonlaufen. Ab und zu setze ich mich in eine S-Bahn, fahre ein paar Kilometer, aber dann wird der Drang so stark, dass ich am liebsten aus dem fahrenden Zug springen würde. Meist übernachte ich auf dem Unterdeck der Kniebrücke, eingezwängt zwischen Müllcontainern, und starre stundenlang auf den Rhein hinunter, auf das Gewirr von Zelten, Hütten, Tümpeln und Feuern an beiden Ufern. Es ist noch etwas Ekel im Spiel, wenn ich hinuntergehe und wahllos mit einem der Kerle dort kopuliere. Bei klarem Wetter kann ich von der Brücke deutlich die Gliederung der Stadt erkennen. Auf Oberkasseler Seite fliegen Schwärme von Überwachungsdrohnen die hermetischen Absperrungen der reichen Bezirke ab. Zur Innenstadt hin markieren Schneisen aus Schutt und wild wucherndem Grün die Grenzen der billigen Franchise-Viertel. All das hat keine Bedeutung mehr für mich. Ich spüre etwas Mächtiges, Lebendiges, das unter den Lichtern und Farben der Stadt empordrängt, und so sehr sich die kümmerlichen Reste meines Verstandes dagegen sträuben, spüre ich doch deutlich, dass ich eins mit ihm werde. Der Fluss ist wie ein Rückgrat, eine Aorta, die eine Ahnung verborgenen, pulsierenden Lebens nährt, das mich lockt und in sich einverleiben wird. Es ist ein letztes Aufflackern von Angst, dass ich mich noch wehre. Begreife bitte, dass du mich nicht retten kannst. Vielleicht kann niemand gerettet werden. Mir bleibt nichts anderes zu tun, als dieses Online-Tagebuch fortzusetzen, solang es geht. Vielleicht kann ich dir begreiflich machen, was mit mir geschieht – was mit uns allen geschehen wird, früher oder später. Es ist schleichend, gewaltig, unaufhaltsam. Ich glaube, es wird die ganze Welt verschlingen.

Prolog

Der Treffpunkt war ein illegales Lokal in Herne, im Niemandsland zwischen dem Franchise-Viertel Röhlinghausen und der Deponie Königsgrube. Hier arbeiteten sich seit Jahren automatische Baukolonnen durch die leer stehenden, verwahrlosten Gebäude, rissen ab, schlachteten aus, bauten neu. An der Hauptstraße standen nur noch ein Supermarkt, zwei Behördenbauten und einige Wohn- und Geschäftshäuser. Dahinter ragte ein Gewimmel von Kränen, Rampen, Förderbändern und Baugerüsten wie die Vorhut einer metallischen Armada in den Himmel. Tag und Nacht war im ganzen Bezirk das Pochen von Presslufthämmern zu hören, das Quietschen, Knirschen und Fräsen von Baurobotern, die in und an den Gebäuden herumkletterten, das Brummen von Straßendrohnen, die Schutt weg- und neues Baumaterial heranschafften.

Das Lokal befand sich derzeit im Erdgeschoss des alten Finanzamts. Das gesamte Inventar, Tische und Sitzgruppen, Webterminals und Spielautomaten, Toilettenkabinen und zwei Lautsprechertürme, war auf Transportcaddys mit autonomer Steuerung montiert. Immer wenn die Baukolonnen zu nahe rückten, wurde die Theke in den nächsten Raum gefahren, und der ganze Tross folgte ihr wie ein Rudel wohl dressierter Hündchen. Manchmal musste ein Wanddurchbruch gemacht oder ein Durchgang mit Betonfresser verbreitert werden. Manchmal überquerte die Kolonne über Nacht die Straße und zog in ein neues Gebäude ein. Stammgäste behaupteten, das Lokal habe sich auf diese Weise im Laufe der Jahre schon zwölf Kilometer entlang der Franchise-Grenzen durch Herne bewegt, immer dorthin, wo Polizei und Franchise-Konsortien gerade wenig präsent waren und Drop-outs, Autonome und Kriminelle tun und lassen konnten, was sie wollten.

Gunther hatte das Lokal einige Tage lang beobachtet und festgestellt, dass hier immer etwas los war. Rund um die Uhr umlungerten mal eine Handvoll, mal über Hundert abgerissene Gestalten in allen Altersklassen die Theke und die wenigen Sitzgelegenheiten, standen vor dem Gebäude in verstreuten Gruppen zusammen oder saßen in der Gosse, soffen, rauchten, kifften oder prügelten sich.

An dem Abend, den der Anwerber genannt hatte, platzte der Laden aus allen Nähten. Der aktuelle Standort war wohl einmal ein Empfangsbereich oder Wartesaal gewesen, ein lang gestreckter Raum mit zersplitterter Glasfront und niedriger Decke, unter der sich Rauch und Mief stauten, viel zu eng für die zwanzig Inventarcaddys und die zahlreichen Arbeitssuchenden, die seit dem späten Nachmittag in Großraumtaxis, Charterbussen, Elektro-Rikschas und zu Fuß eintrafen. Gunther ging eine Zeit lang auf der anderen Straßenseite auf und ab und zögerte, sich in das Getümmel zu stürzen. Er hatte vier Nächte in einem Squeeze-Motel verbracht, und seine Gelenke schmerzten vom Schlaf in der engen, zwei Meter zwanzig langen Plastikröhre. Er trug einen speckigen, verschwitzten Overall, den er seit Tagen nicht ausgezogen hatte, um möglichst überzeugend als armer Schlucker durchzugehen, und es juckte ihn am ganzen Körper. Vergeblich versuchte er sich einzureden, dass er keinen Grund hatte, nervös zu sein. Die Security-Experten hatten keine Mühen und illegalen Tricks gescheut, um ihm eine lückenlose falsche Identität zu verschaffen, bis hin zu Geburtszertifikat, Einträgen in Melderegistern, DNA- und biometrischen Datenbanken, Schul- und Arbeitszeugnissen und so weiter. Dennoch war ihm nicht wohl bei dem Gedanken, im Syndikats-Territorium herumzuschnüffeln. Er wagte sich nicht vorzustellen, was ihm blühen würde, wenn seine Tarnung aufflog.

Als er endlich hinüberging und sich durch einen Pulk lärmender Jugendlicher ins Lokal quetschte, rätselte er nicht zum ersten Mal, welcher Teufel ihn geritten hatte, sich bei der Redaktion freiwillig für diese Undercover-Reportage zu melden. Stampfende Musik und ein grelles Stimmengewirr dröhnten ihm in den Ohren. Aus Holo-Fernsehern unter der Decke spazierten durchsichtige Cartoon- iguren, Nachrichtensprecher und Soap-Opera-Darsteller über die Köpfe der Gäste hinweg und plapperten durcheinander. Die Luft war gesättigt von Schweiß, Bier, Schnaps und billigem Cannabis-Verschnitt. Um die wenigen Frauen im Saal, heruntergekommene Säuferinnen oder junge, halb nackte Zwanzig-Euro-Huren mit aufgepumpten Lippen und Brüsten, hatten sich ganze Trauben paffender, saufender und tatschender Männer gebildet. Gunther fand in einem Winkel neben der Theke Platz, wurde von Nachrückern aber bald so gegen seinen Nachbarn gepresst, einen kleinen, greisenhaften Typen mit Dreadlocks und eingefallenen Wangen, dass er kaum atmen, geschweige denn das Bier an die Lippen führen konnte, das er auf einen Wink hingestellt bekommen hatte.

Langsam, kreuz und quer, wie von einem riesigen Quirl verrührt, rotierten Inventar und Gäste um die gläserne, von bunten Neonreklamen schillernde Theke. Gunther versuchte, sich einen Überblick des Publikums zu verschaffen, das an ihm vorbeiströmte, wurde aber immer wieder vom Schwadronieren des Wirts abgelenkt, eines schmerbäuchigen, hemdsärmeligen Veterans der EU-Eingreiftruppen, der ständig mit schroffer, durchdringender Stimme Anekdoten seiner Militärzeit zum Besten gab und darauf bestand, dass alle ihn »Oberst« nannten. Über der Theke hing ein Sammelsurium vergilbter Urkunden und stumpf gewordener Medaillen und Abzeichen. Digitale Bilderrahmen zeigten Slideshows mit verwackelten Schnappschüssen der Einsätze, an denen er teilgenommen hatte, zumeist wenig ruhmreiche: 2028 bei Urmia im Nordiran, als friendly fire der amerikanischen Bundesgenossen ein Ölfeld in Brand gesetzt hatte und achtzig EU-Soldaten gegrillt worden waren; 2034 beim Grenzkonflikt auf Zypern, als Vermittlungsversuche der schwächelnden Regierung in Brüssel die Türken und Griechen gleichermaßen gegen sie aufgebracht hatten; 2038 an der Adria beim Vorgehen gegen Klimaflüchtlinge aus Libyen und Tunesien, die täglich zu Tausenden in gekaperten oder selbst gezimmerten Booten eingetroffen waren.

Der Alte verströmte einen schalen, metallischen Geruch, vielleicht eine Nachwirkung der Kampfstoffe, denen er ausgesetzt gewesen war. Seine Augen waren gerötet und verkniffen wie die eines Junkies. Seine dunkle Oberhaut – eine biotechnische Modifikation, vermutete Gunther, die Soldaten vor der erhöhten UV-Einstrahlung in Nordafrika und Kleinasien schützen sollte – begann sich in großflächigen Schuppen abzulösen und hatte am Kinn, Hals und den Oberarmen rohes, nässendes Fleisch freigelegt. Er saß, an Kabel und Schläuche angeschlossen, die unter einer Art Rock zwischen seinen verkrüppelten Beinen hervorkamen, auf einem Ding wie ein Klosettbecken und scheuchte zwei verwelkte Blondinen herum. Ein Gast, der Gunthers verdutzten Blick bemerkte, lehnte sich herüber und erklärte, dass der Oberst seit Jahren nicht mehr aufgestanden sei. Das Med-Modul reinigte sein Blut, beseitigte seine Ausscheidungen, versorgte ihn mit Aufputschmitteln und lebensnotwendigen Medikamenten. Er war angeblich immer da, bediente Stammgäste persönlich, und nur selten fielen ihm die Augen zu und er döste für ein paar Minuten.

Erstaunlich zurückhaltend, fast unterwürfig wurde der Oberst immer nur dann, wenn einer der Männer an die Theke kam, in denen Gunther Handlanger der Syndikate vermutete, und sich zu ihm hinüber beugte. Dann nahm er das, was ihm ins Ohr gesprochen wurde, mit einem ergebenen Nicken und stummen Lippenbewegungen zur Kenntnis. Gunther fielen im Laufe des Abends zehn, fünfzehn Männer auf, die sich dezent vom Gros der Gäste abhoben und unauffällig im Lokal verteilten, zwar größer, kräftiger und gepflegter als die Durchschnittsbesucher des Lokals, aber nicht mehr die bulligen, kahlköpfigen Hünen mit monströs breiten Schultern und aufgepumpten Oberarmen, die die Syndikate früher favorisiert hatten, eher neutrale, unauffällige Gestalten mit Allerweltsgesichtern, die in jeder Menge untertauchen konnten – was der Grund dafür war, dass Gunther sie erst nach und nach bemerkt hatte.

Nur bei genauerem Hinsehen fiel auf, dass ihre Anzüge an Rücken, Brustkorb und Oberschenkel leicht ausgebeult waren und es unter ihren Hemdkragen metallisch blitzte, klare Anzeichen dafür, dass sie mechanische Exoskelette trugen, die ihre Körperkräfte um ein Vielfaches verstärkten. Aus ihren Ärmeln lugten Schuss- und Stichwaffenexplantate hervor, eng an die Unterarme gefaltet wie die Mundwerkzeuge monströser Insekten. Ihre Gesichter waren von feinen, kaum sichtbaren Netzen aus Nanotube-Fasern überzogen, und selbst mit militärischem Equipment wäre es schwierig gewesen, ihnen ernsthafte Verletzungen beizubringen. Einige standen am Rand, zwei am Eingang, die anderen schoben sich durch das Gedränge, und manchmal packten sie jemanden, der deutlich schmutziger, klappriger, berauschter oder lauter war als die übrigen Bewerber, am Kragen und warfen ihn vor die Tür. Gunther zuckte jedes Mal zusammen, wenn Betroffene, die zu protestieren wagten, draußen mit kurzen, trockenen Schlägen niedergestreckt wurden und reglos in Müll und Schutt liegen blieben.

Gegen Mitternacht hatten sich die Reihen deutlich gelichtet. Gunther konnte sich endlich wieder strecken und durchatmen, doch das milderte seine Beklemmung kaum. Sein Herz machte einen Sprung, als sein Nebenmann, der seit einer halben Stunde versonnen an einem Joint-Stummel herum saugte, ihn unversehens mit dem Ellbogen anstieß.

»Sag mal, hast du was zu rauchen?« Er ließ den Stummel fallen, stampfte mit der Hacke auf, kratzte sich mit einer hageren, klauenartigen Hand am Gemächt, während er Gunther die andere zahnlos grinsend entgegenstreckte. »Hi, ich bin Charlie. Das erste Mal hier, Freund? Ich war schon ein paar Mal unten, aber dich habe ich, glaube ich, noch nie hier gesehen.«

Gunther schüttelte widerwillig die angebotene Hand, zerknittert und rissig wie ein Stück gebrauchtes Schleifpapier. Er fingerte eine Packung Dope-Zigaretten aus seiner Brusttasche und hielt sie dem Alten hin, ein harmloses Kräuterzeug, das er gelegentlich rauchte, um seine Nerven zu beruhigen, genetisch gerade so weit modifiziert, dass die ätherischen Öle einen Halbwüchsigen berauschen konnten. Charlie grinste trotzdem dankbar, zog eine Fluppe aus der Packung, ließ sich Feuer geben und paffte Rauchkringel zur Decke empor.

»Ich habe im Franchise Homberg unten in Moers gewohnt«, erzählte Gunther die fiktive Lebensgeschichte, die er sich im Vorfeld ausgedacht hatte, »aber vor Kurzem hat ein neuseeländisches Konsortium das Viertel aufgekauft und die ganzen Wohnblöcke platt gemacht. Die wollen mehrere Franchise-Bezirke zusammenlegen und Luxus-Apartments für reiche Australier und Neuseeländer bauen, die wegen des Hautkrebsrisikos nach Europa auswandern. Jetzt weiß ich nicht mehr wohin. Ein Freund hat mir den Tipp gegeben, es hier zu versuchen. Wie stehen denn die Chancen?«

Charlie zuckte die Achseln. »Schwer zu sagen. Eigentlich werden in der Subville immer Arbeiter gebraucht. Hängt von deinem Gesundheitszustand ab, Allergien, Unverträglichkeiten und so. Die checken dein DNA-Profil, und dann darfst du entweder runter oder nicht. Wer zu empfindlich ist, hält da unten nicht lang durch. Ist ein Knochenjob, aber wenn du nichts anderes hast …«

»Wie läuft denn die Sache? Ich habe mit einem Anwerber online gesprochen, aber er hat mir nur gesagt, wo ich einsteigen kann. Ansonsten weiß ich gar nichts.«

»Wir fahren erst einmal in eine alte Arbeitersiedlung, wo wir übernachten können, nicht weit von der Zeche entfernt. Wenn wir ankommen, musst du eine Gewebeprobe abgeben, die über Nacht analysiert wird. Wenn du Glück hast, stehst du morgen früh auf der Liste und kriegst einen Registrierungschip injiziert. Die neuen Arbeiter werden dann zum Malakow-Turm gefahren, und mit so einem Servo-Dings geht’s dann durch den alten Schacht 1 achthundert Meter runter. Von da an musst du dich allein zurechtfinden.«

»Was soll das denn heißen?«

»Wirst du schon sehen.«

Günther spürte eine Vibration und hörte lautes Brummen und Rumpeln. Er blickte über die Köpfe der Umstehenden hinweg und stellte fest, dass draußen gerade eine Kolonne von ausrangierten Polizeibussen vorfuhr, alte VW T4er, flüchtig umlackiert und notdürftig zu Quarantänefahrzeugen umgebaut, mit dicken Gummiringen um die Fenster, Türen und Kotflügel.

Charlie nahm noch zwei tiefe Lungenzüge, dann zerdrückte er die Zigarette auf der Theke. »Sie sind da. Auf geht’s.«

Die Musik verstummte, und die Syndikatstypen trieben mit barschen Befehlen die Leute hinaus. Gunther und Charlie packten ihr spärliches Gepäck, und es gelang ihnen, zusammenzubleiben und sich draußen unauffällig nach vorn zu schieben. Es kam zu einigem Gedränge und Geschrei, weil nicht für alle Platz war. Gunther und Charlie hatten es ihren schmächtigen Staturen zu verdanken, dass sie sich gerade noch in den letzten Bus drängen und auf die Rückbank quetschen konnten, bevor einer der Syndikatsmänner die Hand hob und seine Kollegen mit Knuffen und Kopfnüssen die Leute zurückdrängten, die draußen bleiben und vierzehn Tage auf ihre nächste Chance warten mussten.

Ein sattes Wumms erschütterte den Wagen, ein Saugen war zu hören, als die Isolationskapsel versiegelt wurde, dann war Gunther zusammen mit Charlie, elf anderen und dem Robo-Fahrer, einem kantigen, schwarz lackierten Ding mit surrenden Motoren und zackigen Bewegungen, eingesperrt in einer rollenden Gummizelle, angefüllt mit abgestandener Luft und dem Geruch von Schweiß, Gummi und Dekontaminationsmitteln. Er saß am Fenster und wischte mit einem Ärmel über die Scheibe, konnte draußen aber wenig erkennen. Ein lauter Pfiff war zu hören, der Anlasser spotzte, dann setzte sich der Bus stockend und mit qualvoll schnaufendem Motor in Bewegung. Auf der Hauptstraße kurvte er in einem trägen Slalom durch den Strom der rumpelnden und scheppernden Straßendrohnen, massigen, bottichartigen Fahrzeugen, an die sich Robo-Kräne und -Bagger wie metallische Krebse klammerten. Ein feister, stoppelhaariger Kerl in Bundeswehruniform, der dauernd etwas aus Russisch vor sich hin brabbelte, kippte auf der Rückbank hin und her und brachte mal seinen Sitznachbarn auf der einen, mal Charlie und Gunther auf der anderen Seite zum Japsen.

Als die Buskolonne auf die Bergmannstraße und anschließend auf das Gelände der Königsgrube abbog, bremste der Wagen auf Schritttempo ab. Für einen Moment wurde es hell, und Gunther sah draußen etwas wie ein stationäres, wallendes Nordlicht, einen dünnen, funkelnden Lichtvorhang wie aus Millionen Wunderkerzen, vermutlich die chemische Barriere, die die umliegenden Franchise-Viertel vor dem Nanogoo der Deponie schützen sollte (recht unzureichend, wie Nachbarschaftsinitiativen seit Jahren behaupteten). Statische Entladungen knisterten über die Karosserie, und Gunther wurde mulmig bei dem Gedanken, dass ihn jetzt nur noch eine fingerdicke Schicht aus inertem Gummi und Guttapercha vor dem tödlichen Partikelnebel in der Luft draußen schützte.

Von dem früheren Park auf der Königsgrube waren nur verstreutes Gestrüpp und ein paar geschwärzte, wie mumifiziert in den Himmel ragende Baumstümpfe übrig. Die Kolonne rollte eine lange Steigung hinauf, folgte einer gewundenen Gasse zwischen immer höher aufragenden Schlackenhalden. Gunther wusste durch seine Recherchen, dass hier jede erdenkliche Art von Abfall abgeladen wurde: verschrottete Fahrzeuge, demontierte Industrieanlagen, Fässer mit Giftmüll und Container mit Haushaltsabfällen, Leichen und Tierkadaver. Das Nanogoo wurde mit allem fertig. Was immer hier landete, zersetzten die gierigen Mikroautomaten binnen weniger Tage zu einer braunen, teerigen Masse, die im Dunkeln lumineszierte und das Gelände nachts, so wie jetzt, in ein schwaches, eisblaues Leuchten tauchte. Oben auf den Halden waren noch Dinge mit konkreten Formen zu erkennen, ein Kühlschrank oder Stahlträger hier, eine verfaulte Rinderhälfte dort, doch am Fuß war alles längst zu einem harten, inhaltsreichen Granulat getrocknet, einem Rohstoff für die chemische Industrie.

Als die Kolonne einige hundert Meter in die Goo-Zone vorgedrungen war, ließ Gunther sich zurücksinken und aktivierte mit einem Blinzeln seine Retina-Displays. Rechts oben in seinem Blickfeld erschien ein Menü aus roten Lettern, und er richtete den Cursor des EyeTrackers auf die Message-Funktion. Mit minimalen Lippenbewegungen, die einem Außenstehenden kaum auffallen konnten, formulierte er seine Nachricht, und die unter seine Wangenknochen implantierten Com-Module, seine hoffentlich unauffällige Verbindung zur Außenwelt, übertrugen sie verschlüsselt an die Redaktion. Martin, Gunthers Lokalredakteur, und Sina Anders, seine Kontaktperson bei den Medics for Men, die gemeinsam die Undercover-Ermittlung geplant hatte, erwarteten möglichst regelmäßige Zwischenmeldungen. Wenn alles gut ging, sollte Gunther bis Samstag genug Informationen und Bildmaterial übermitteln, dass Sina auf dem Krisenreferendum eine Bombe platzen lassen konnte. Sie hatte ihm immer wieder eingeschärft, wie viel davon abhing – nicht nur für ihn und das Web-Magazin, für das er arbeitete.

Freitag, 0:48: Bisher läuft alles reibungslos. Ich bin mitgenommen worden. Sie verlangen Gewebeproben, wie wir vermutet haben. Ich werde mich unterwegs mit einem mimetischen Plasma präparieren, das sollte funktionieren. Wenn die anderen schlafen, lasse ich eine Mikrodrohne los. Vielleicht kann ich dann schon ein paar Bilder von der Zeche schicken. Bis später.

Er griff nach dem Lederriemen, der über seinen Knien hing, zog seine Tasche vom Boden und kramte darin herum. Sie enthielt, versteckt in Zigarettenschachteln, Getränkedosen, Snacktüten und Flaschen für Shampoo und Duschgel, ein ganzes Sortiment von raffinierten, gewöhnlich nur Militärs und Geheimdienstleuten zugänglichen Utensilien, mit denen sich auch die gründlichsten medizinischen und biometrischen Tests austricksen ließen: Kontaktlinsen, die Netzhautscannern falsche Muster vorgaukelten; Fingerkuppen aus Kunststoff, die falsche Abdrücke und Hautpartikel hinterließen; Cellophansäckchen mit Kunstblut, die unter die Haut geschoben wurden und beliebige Blutwerte simulieren konnten; und nicht zuletzt zwei Plastikflaschen mit einer halb lebendigen Substanz, die unschätzbare Dienste leistete, wenn DNA-Analysen und Gewebetypisierungen überlistet werden mussten.

Gunther schaute umher, und als er sicher war, dass ihn keiner seiner Sitznachbarn beachtete, krempelte er die Ärmel seines Overalls hoch und hielt sich eine der Shampooflaschen an den Unterarm. Was er herausdrückte, war allerdings kein schneckenartig glitschiges Gel, das sich selbstständig auf der Haut verteilte, sondern eine klebrige, übel riechende Paste, die unangenehm brannte. Er runzelte die Stirn, hielt die Flasche ans Fenster und stellte fest, dass auf dem Behälter Druck gelastet und den Verschluss beschädigt hatte. Ohne Wirtsgewebe, auf dem es sich festsetzen konnte, denaturierte das mimetische Plasma an der Luft sehr schnell und war nicht mehr zu gebrauchen. Gunther fluchte bei dem Gedanken an die zwei- bis dreitausend Euro, die ein Viertelliter des Zeugs auf dem Schwarzmarkt kostete, wischte sich den Arm ab und kramte nach der anderen Flasche. Diesmal klappte alles, und binnen weniger Minuten hatte sich ein millimeterdicker Film, der schnell trocknete und von echter Oberhaut kaum zu unterscheiden war, auf seinen Armen ausgebreitet. Das Zeug würde zuverlässig jede Gewebeprobe kontaminieren, nach wenigen Tagen absterben und sich wie die oberste Hautschicht nach einem Sonnenbrand abziehen lassen. Es kostete ihn einige Überwindung, einen kirschgroßen Klecks in den Mund zu nehmen. Das Gallert schmeckte halb ätherisch, halb metallisch, zuckte eine Weile wie unschlüssig auf seiner Zunge, dann verteilte es sich auf den Schleimhäuten, und nach ein paar Minuten spürte er nichts mehr davon.

Der Wagen rollte ruckweise bergan, schaukelte heftig hin und her. Die Karosserie ächzte an allen Ecken und Enden, als könne sie jeden Moment zerbersten. Durch das Stottern des Motors und Knirschen der Reifen glaubte Gunther, ein leises Zischen zu hören, das immer schärfer und gepresster klang, und er hoffte, dass die Ursache nicht eine Undichtigkeit in der Isolationskapsel war. Alle entblößten Hautstellen, sein Gesicht und seine Hände, sein Hals bis in den Ausschnitt seines Hemds, fingen an zu kribbeln und fühlten sich nach ein paar Minuten wund und klebrig an. Er versuchte, sich zusammenzureißen, damit zu beruhigen, dass zwar bereits ein paar ppb Nanogoo in der Luft organisches Gewebe reizen konnten, bei solchen Konzentrationen aber nichts Ernsthaftes zu befürchten war. Doch sein Unbehagen wuchs, während allmählich ein eigenartiger Geruch den stickigen Mief im Wagen überlagerte, eine kränkliche Ausdünstung, die Assoziationen an Fäulnis, Fäkalien, verrottendes Papier und nassen Schutt weckte, aber viel aggressiver in die Nasenlöcher drang, als bitterer Geschmack den Rachen hinunter kroch und irgendetwas Unangenehmes, Nervöses im Hals und den Innereien bewirkte, ohne dass Gunther genau sagen konnte was.

Vorn im Bus hustete jemand. Ein anderer röchelte asthmatisch, wie beim Versuch, einen Fremdkörper aus dem Hals zu würgen. Charlie rempelte Gunther an, als er mit der Handkante zwei violette Rotzfäden wegwischte, die ihm aus der Nase troffen. Gunther wollte etwas sagen, brachte aber keinen Ton über die Lippen. Ihm schwindelte. Seine Augen tränten. Bei jedem Ruck, der den Wagen durchfuhr, hatte er das Gefühl, als ob eine schwere Masse in ihm nachpendelte. Eine leichte Trübung in der Luft verwischte die Konturen des Wageninneren, machte aus den wenigen intakten Lampen unter der Decke schmutzig gelbe Lichtflecken.

Als der Bus plötzlich nach vorn kippte, wurde Gunther, schlaff und kraftlos, gegen den Sitz seines Vordermanns geworfen. Er glaubte zu fallen, fürchtete im ersten Moment, der Wagen sei in eine Grube oder einen Graben gestürzt, und klammerte sich in Erwartung des Aufpralls an die Rückenlehne. Doch weiter geschah nichts. Beim Blick nach draußen stellte er fest, dass die Kolonne lediglich den höchsten Punkt der Deponie erreicht hatte, einen tiefen Einschnitt zwischen zwei ausgedehnten, von weißblauen Lichtbändern marmorierten Schlackenhalden. Dahinter ging es steil abwärts, und Gunther konnte einen weiten, verschwommenen Blick auf die nächtliche Kulisse der Nordstadt werfen, zahllose Nester von Licht und Bewegung, verwoben mit Schnellstraßen und Bahnstrecken wie Glühfäden, in einem irregulären Muster ausgebreitet wie die Zellen eines monströsen, künstlichen Organismus’, und im Vordergrund, düster und formlos wie ein Fremdkörper, der sich in die Stadt hineinfraß, das kalte Leuchten der Deponie.

Die Halden waren auf dieser Seite zerfurcht und zerklüftet. Ein Gewirr metallisch schimmernder Gebilde bohrte sich auf einer Breite von gut zweihundert Metern in die Abfallberge. Aus allen Richtungen drang gedämpftes Rasseln, Kratzen und Schaben in den Wagen. Als die Busse auf einen schmalen, asphaltierten Fahrweg einbogen, konnte Gunther am Straßenrand Rutschen, Tröge, Förderbänder, rotierende Schaufeln und rüttelnde Siebe erkennen und vermutete, dass es sich hier um die Förderanlagen handelte, die das Granulat abernteten. Nach einem halben Kilometer gingen sie in eine Art Sackgassenbahnhof über, zwanzig, dreißig parallele Gleise, befahren von Schienendrohnen wie riesigen Käfern, die träge heranrollten, beladen wurden und wieder davon wummerten. Die Kolonne fuhr rechts daran vorbei, überquerte die K11, und Gunther bemerkte ein Stück voraus das Flimmern und Funkeln einer weiteren chemischen Barriere.

Beim Näherkommen stellte sich das Gebilde als turmhoher, oben ausgefranster Lichtzylinder heraus, der nach Gunthers Schätzung eine Fläche von vielleicht einem Quadratkilometer umspannte. Das aufsteigende Aerosol wallte und flatterte wie eine Fahne in leichtem Wind und tauchte die lockere Ansammlung von Gebäuden dahinter in fahles Leuchten, im Zentrum alte, verfallene Giebelhäuser, zum Rand hin auch einige Neubauten, schmucklose, kastenförmige Betonklötze, wie sie für Notunterkünfte typisch waren. Für einige Sekunden prasselte ein Schauer von Funken und Blitzen über die Karosserie, und Gunther roch Ozon. Kurz darauf hatte die Kolonne ihr Ziel erreicht und hielt im Halbkreis auf einer Art Marktplatz, einem Kreuzungspunkt von fünf kurzen, jeweils nur von ein, zwei Dutzend Häusern flankierten Straßen.

Die Hydraulik ächzte, und die Türen öffneten sich. Die Männer grunzten und schnauften, einige fluchten. Gunther sog begierig die frische, kühle Luft ein, die hereindrang. Charlie stupste ihn mit dem Ellbogen an, doch er brauchte mehrere Versuche, bis genug Gefühl in seine tauben, unwilligen Glieder zurückgekehrt war, dass er sich aufrappeln, seine Tasche greifen und ihm nach draußen folgen konnte. Die Neuankömmlinge wurden von einer Handvoll Syndikatsmänner in Empfang genommen, die sich in einer lockeren Runde um den Platz postiert hatten. Gunther stand einige Minuten lang schwankend da und hatte Schwierigkeiten, sich zu erinnern, wo er war und was er hier wollte. Als aus dem wattigen Nebel der Betäubung in seinem Kopf wieder die ersten halbwegs klaren Gedanken aufstiegen, bat er Charlie, auf seine Tasche aufzupassen, und vertrat sich ein wenig die Füße.

Etwa sechzig Leute waren mitgenommen worden, in unterschiedlichem Maße zerlumpt und abgemagert, mit Plastiktüten, Rucksäcken, Kühltaschen, zusammengerollten Schlafsäcken und Iso-Matten bepackt, die Jüngsten im Teenageralter, ausstaffiert mit billiger, veralteter Unterhaltungselektronik, Notepads, Mediaplayern, Kopfhörern und klobigen AR-Brillen, die Ältesten über fünfzig und von den vorzeitigen Alterserscheinungen – Haltungsschäden, Hautausschlägen, Haarausfall, Blutarmut und dergleichen – derer gezeichnet, die sich keine vernünftige medizinische Versorgung und saubere Nahrung leisten konnten. Es war nicht schwer, Vertreter der typischen Zielgruppen zu identifizieren, die laut Gunthers Recherchen den Großteil der Verstärkung für die Subvilles stellten: alternde Fabrikarbeiter, die von Allergien und Gebrechen um ihre Jobs gebracht worden waren; Schulabbrecher und Ungelernte, die das privat finanzierte Bildungswesen als ungeeignet aussortiert hatte; Obdachlose, die bei Eignerwechseln ihre Unterkünfte verloren hatten und, aus Mangel an Sicherheiten, in regulären Franchise-Bezirken unerwünscht waren; Körperbehinderte und psychisch Kranke; Südländer, die die Wasserknappheit in Spanien, Portugal und Italien nach Mittel- und Nordeuropa trieb, und dergleichen mehr.

Mindestens ein Drittel der Bewerber schien das Prozedere bereits zu kennen, warteten ruhig ab, rauchten oder tratschten miteinander oder starrten einfach dumpf ins Leere. Die anderen schauten sich vorsichtig um, ebenso wie Gunther eingeschüchtert von der stummen, grimmigen Präsenz der Syndikatsleute, die die Neuankömmlinge mit der Nüchternheit und Kälte von Wesen beobachteten, die sich weit über alle profanen menschlichen Regungen erhoben hatten. Entweder standen sie wie im Boden verankert reglos da, oder sie schritten mit der Präzision und machtvollen Behäbigkeit von Kampfrobotern auf und ab, nur gelegentlich einen Blick oder ein paar knappe Worte wechselnd, so als gäbe es in ihrer geordneten, pragmatischen Welt nichts, was nicht in Chiffren mitgeteilt werden konnte.

Den umstehenden Häusern war noch anzusehen, dass hier vor langer Zeit der halbherzige, bald wieder abgebrochene Versuch unternommen worden war, die frühere Bergmannssiedlung in eine Sozialunterkunft nach modernem Standard umzuwandeln, in die Subville-Arbeiter einquartiert werden sollten. Der neue Verputz und die Stellen, wo Nanoagentien die alten Rotziegelfassaden gereinigt und ausgebessert hatten, reichten stellenweise bis in die Obergeschosse. Auf Straßenhöhe hatte man die meisten Fenster ausgetauscht und Anbauten aus leichtem, billigem Steinimitat montiert. Die Obergeschosse waren aber schon nicht mehr fertiggestellt worden. Leere Fensterrahmen klafften in rohem Mauerwerk. Aus aufgemeißelten Wänden ragten Rohre und Kabelbündel. Die meisten Dächer waren ungedeckt, von den Dachstühlen nur ein paar Balken und Mauerreste übrig. Einen Teil der Häuser hatten improvisationsfreudige Retrofitting-Experten, wie sie in der ganzen Stadt mit einfachsten Mitteln Wohnraum schufen, in einen bewohnbaren Zustand versetzt. Sie hatten Dächer und Fenster mit Plastikplanen abgedeckt und in einem planlosen Durcheinander alle benötigten Aggregate einfach von außen an die Häuser montiert: Stromleitungen, Frisch- und Abwasserrohre, Glasfaserkabel und Router, Satelliten- und WLAN-Antennen, Transformatoren und Solarpanels.

Nachdem sich einige Minuten lang nichts getan hatte, ging Gunther mit immer noch weichen Knien zu Charlie zurück. Der Alte stand, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, gebeugt zwischen den beiden Gepäckstücken und grinste vor sich hin, als amüsiere er sich über einen Witz, den nur er verstehen konnte.

»Und was passiert jetzt?«, fragte Gunther.

Charlie deutete auf ein Gebäude gleich gegenüber der Buskolonne, wo hinter den drecktrüben Fenstern eines leeren, von Neonröhren kalt durchleuchteten Ladenlokals verschwommene Gestalten hin und her gingen. »Ich glaube, er kommt gleich«, sagte er. »Verhalte dich ganz ruhig, egal was passiert. Schau den Kerl am besten gar nicht an. Das is’n ganz scharfer Hund.«

Kurz darauf trat, mit zwei Syndikatstypen im Schlepptau, ein Mann aus dem Laden, ein deutlicher Gegensatz zu seinen straffen, beherrschten, ordentlich gekleideten Begleitern, kaum einssiebzig groß, hager, linkisch, in einen schmuddeligen Anzug gehüllt, der faltig an ihm herunterhing, mit einem schmalen, totenkopfartigen Gesicht und kurz geschorenem, dünnem Blondschopf. Er überquerte den Platz mit seltsam ungelenken, arrhythmischen Schritten, als habe er verschieden lange Beine oder eine schräg stehende Hüfte, und erteilte seinen Begleitern, wobei er mit einem kantigen, keulenartigen Plastikding herumfuchtelte, unverständliche, wie gebellte Anweisungen.

»Alle in einer Reihe aufstellen«, rief er, als er vor den Neuankömmlingen stehen blieb, die er keines Blickes würdigte. Seine dunklen, tief sitzenden Augen blickten ins Leere, schienen auf etwas Unsichtbares gerichtet, das er mit unruhigen, ruckartigen Kopfbewegungen im Visier hielt. Die Leute griffen ihre Sachen, setzten sich langsam in Bewegung, und er schnaufte mürrisch, während er sich das Gerät unter die Achselhöhle klemmte, zwei Gummihandschuhe aus seiner Jackentasche zog und sich über die Finger streifte. »Ärmel hochkrempeln und den Hals frei machen. Beeilt euch.«

Nach zwei Minuten hatte sich der Pulk der Leute zu einem lockeren Halbkreis auseinandergezogen. Der Hagere streckte die Arme aus, und einer seiner Begleiter besprühte seine Hände und den Scanner mit einem Desinfektionsmittel. Dann schritt er die Reihe ab und unterzog jeden Bewerber mit erstaunlich flinken, präzisen Bewegungen, die Gunther ihm nach dem ersten Eindruck nicht zugetraut hätte, derselben Prozedur: Er hielt ihm den Scanner an die Kehle, wo jeder registrierte Bewohner der Megapolis einen einpigmentierten, fürs bloße Auge unsichtbaren Mikro-Barcode trug (für dessen Fälschung illegale Einwanderer ihr letztes Hemd und gern mal eine Niere oder einen Lungenflügel hergaben), wartete ein akustisches Signal ab, hielt ihm das untere Ende, aus dem kurz eine Nadel hervorblitzte, an den Arm und steckte den Probennehmer schließlich in einen Behälter, den er am Gürtel trug. Alle paar Minuten gab das Gerät eine Tonfolge von sich, die – wie Gunther vermutete – die Komplettierung einer Voranalyse anzeigte, und manchmal blinkte dabei auf dem Display, in grellem Rot, eine Warnmeldung. In solchen Fällen ging der Hagere zu einem der Bewerber zurück, den er eben untersucht hatte, nahm ihn näher in Augenschein und fragte ihn über seine Herkunft und seine früheren Arbeitgeber aus. Den Betroffenen war das Muffensausen anzusehen, aber letztlich winkte er alle durch.

Als Gunther an der Reihe war, klopfte ihm das Herz bis zum Hals. In seinen achtundzwanzig Lebensjahren hatte er nie mehr als ein paar Stunden außerhalb der Mittelklasse-Franchises im Süden Düsseldorfs verbracht, wo er aufgewachsen war, eine kleine, geordnete Welt aus Apartmenthäusern, Shopping-Malls, Businessmeilen und Eliteschulen, abgeschirmt von den Tausenden sozialen und kriminellen Brennpunkten der Megapolis, die ihn bisher nur aus einem distanzierten, journalistischen Blickwinkel interessiert hatten und ihm nun mit einer Wucht nahe rückten, auf die er nicht vorbereitet war. Er blickte zu Boden, aber der Hagere murrte etwas, stieß ihn an die Schulter, und Gunther war gezwungen, ihm ins Gesicht zu sehen. Für einen Moment war er ganz sicher, dass er auffliegen, dass man ihm seine Herkunft und Absichten ansehen würde, und es erschien ihm als eine idiotische Anmaßung, jemanden täuschen zu wollen, der bei der Beurteilung von Menschen so routiniert und nüchtern vorging. Doch sein Gegenüber sagte nichts, sein Gesicht verriet keine Regung, und die Untersuchung ging reibungslos vonstatten, auch wenn Gunther das Gefühl hatte, dass alles eine Spur länger dauerte als bei den anderen, vor allem der Scan des Mikro-Barcodes, der sich nur schwer manipulieren ließ und die Redaktion einen Batzen Geld gekostet hatte.

Bis zum Ende der Reihe gab es keine weiteren Unregelmäßigkeiten mehr. Gunther hörte kaum hin, als zwei Syndikatstypen hinterher die Leute auseinandertrieben und anwiesen, sich in den umliegenden Häusern Nachtquartiere zu suchen. Mit einem unguten Gefühl beobachtete er den Hageren, der noch einige Minuten mit seinen beiden Begleitern vor dem Ladenlokal zusammenstand. Sie ließen den Scanner rumgehen, studierten das Display, und Gunther glaubte, dass sie einige Male verstohlen, bemüht unauffällig, zu ihm herübersahen. Schließlich schienen sie zu einem Entschluss zu kommen. Der Hagere sagte noch etwas, was die Handlanger mit einem Nicken quittierten, dann verschwanden sie in dem Laden.

Gunther zuckte zusammen, als eine knochige Hand ihm auf die Schulter klopfte. »Na los, Kumpel«, sagte Charlie und schniefte. »Ich kenne da ein schönes Dachzimmer, nicht so kalt. Beeil dich, sonst ist es weg.«

Das »schöne Dachzimmer«, in einer kahlen, tür- und fensterlosen Doppelhaushälfte versteckt, die als Lagerraum für allerlei Retrofitting-Krempel diente, stellte sich als ein spitzer Dachboden mit kaum genug Grundfläche für zwei ausgerollte Isomatten heraus, leidlich vor dem Durchzug geschützt durch Styropor- und Steinwolle-Ballen, die nur dünnen Menschen das Hineinzwängen erlaubten, erfüllt von chemischen Ausdünstungen aus giebelhoch gestapelten Farbeimern, Lackdosen, Waschmittel- und Rattengiftkartons. Charlie bereitete sich aus einer löchrigen Wolldecke, seinem Beutel und seiner verschlissenen Lederjacke ein Nachtlager, ließ sich ungelenk zu Boden sinken, grunzte etwas Unverständliches und war binnen Sekunden eingeschlafen, sabbernd und röchelnd wie ein Baby.

Günther hielt so viel Abstand wie möglich, als er seine Matte ausrollte und sich hinlegte, und ignorierte, so gut es ging, die Geruchsaura von Alkohol, Schweiß und Dope, die sein Nebenmann wie eine zäh herankriechende Flüssigkeit verströmte. Er aktivierte noch einmal seine Retina-Displays, überprüfte die Uhrzeit – zwei Uhr zwanzig inzwischen –, schickte Martin und Sina eine Nachricht und versuchte, seine Unruhe durch Atemübungen zu bekämpfen, was aber wenig bewirkte. Mit zunehmender Beklemmung wurde ihm ein Unsicherheitsfaktor bewusst, den er und seine Auftraggeber bei den Vorbereitungen weitgehend der Improvisation überlassen hatten.

Wenn er morgen in die Subville gelassen wurde und es ihm gelang, die Zustände zu dokumentieren, musste er sich erst noch überlegen, wie er möglichst schnell wieder von dort verschwinden konnte. Und er hatte keine Ahnung, ob das so einfach war.

Noch in den frühen Morgenstunden lag er, stocksteif hingestreckt, die Hände über dem unstet pumpenden Brustkorb verschränkt, in der Finsternis und lauschte den Stimmen und dem Gepolter von der Straße. Er hörte kaum einen verständlichen deutschen Satz. Die meisten Neuankömmlinge sprachen jenen schauerlichen Mischmasch aus grob eingedeutschten spanischen, türkischen und arabischen Vokabeln, den Hunderttausende illegale Einwanderer in der Megapolis Rhein-Ruhr verbreitet hatten. Einige hatten sich vor dem Haus zu einer Sauferei versammelt, und erst als Schimmer trüben Morgenlichts durchs Fenster drangen, verstummten sie allmählich. Manchmal johlten zwei Typen eine schräge Melodie. Manchmal unterbrachen Schnaufen, Füßescharren und unterdrückte Schmerzenslaute das Durcheinander-Geplapper. Ab und zu klirrten Flaschen und wurden Türen zugeschlagen. Gunther wagte nicht, sich zu rühren, aus Angst, dass die kleinste Regung auf ihn aufmerksam machen könnte. Ihm war, als ob da draußen etwas gegen ihn vorging, als ob ihm Verfolger aus den Fersen waren, die ihn jeden Moment hier oben stellen würden. Er wünschte, er hätte sich auf einen Punkt zusammenziehen und durch die Maschen von Raum und Zeit schlüpfen können, zurück dorthin, wo er hingehörte.

Zuletzt vernahm er nur noch Charlies schabenden Atem und sein unaufhörliches, leises Gebrabbel, das so klang, als versuche er hartnäckig, eine Geschichte in einer Sprache zu erzählen, die er nicht beherrschte. Bemüht darum, möglichst wenig Geräusche zu verursachen, zog Gunther seine Tasche heran, kramte nach einer bestimmten Getränkedose und stand auf. Am Fenster schraubte er ihren doppelten Boden ab und kippte den Inhalt vorsichtig auf die Fensterbank. Die Mikrodrohne war kaum länger als ein Daumennagel und ähnelte, vom münzartigen Sensor am Kopf abgesehen, einer Stechmücke. Im verwaschenen, vielfarbigen Licht, zu dem die chemische Barriere die Morgensonne brach, schillerte sie wie ein Gebilde aus Rubin und Smaragd. Mit einem Blinzeln aktivierte Gunther sein Retina-Display, lud den Telepräsenz-Treiber, öffnete einen Spaltbreit das Fenster und berührte den Sensor. Sofort fingen die winzigen Flügel an zu schlagen.

Gunther musste sich auf die Fensterbank stützen, als er plötzlich die Welt aus der Sicht der Drohne sah. Sie hob ein paar Zentimeter vom Fensterbrett ab, surrte durch den Spalt und verharrte draußen wie unschlüssig über der Straße. Durch Neigen und Drehen des Kopfes konnte Gunther die Kameraperspektive steuern, aber er hatte wenig Übung darin und bekam nur sprunghafte, ruckelige Bilder hin, mal ein eingeschlagenes Fenster, mal einen nackten Dachstuhl, mal ein müllübersätes Stück Asphalt, mal eine glühende Smogwolke am Himmel. Er richtete den Cursor des EyeTrackers auf ein Fenster am unteren Bildrand, das eine schematische Umgebungskarte zeigte, und wählte die Zielkoordinaten. Bis zum Malakow-Turm waren es nur ein paar Hundert Meter, nur ein kurzes Stück durch die Goo-Zone, und vielleicht würde die Drohne lang genug halten, um ihm ein paar brauchbare Bilder zu liefern.

Er bestätigte mit einem Blinzeln, und sofort fühlte er sich wie in einem Rennwagen, der auf ein Höllentempo beschleunigte und ihn in den Sitz drückte. Zwei Minuten lang sauste die Drohne so schnell über die Siedlung hinweg, dass Dächer und Straßen zu Strichen verwischten, dann funkelte und blitzte für einen Moment das ganze Sichtfeld, als sie die Barriere durchquerte. Gunther sah noch den Fuß einer Schlackenhalde, verstreutes Granulat über einem kahlen, von Gestrüpp übersäten Gelände, und kurz darauf zwang ihn ein immer lauteres Knistern und Kratzen, die Audioverbindung stumm zu stellen. Vom Bild war bald kaum noch etwas zu erkennen, die vage Andeutung eines Horizonts, dunkle, unregelmäßige Formen auf der unteren, Schwaden oder Nebel in der oberen Hälfte, von Minute zu Minute unschärfer und dunkler. Die Verbindung brach aber nicht ab. Die Drohne schien noch in Bewegung zu sein. Als das Bild schließlich zu einer verwaschenen, abstrakten Schwarz-Weiß-Kulisse erstarrte und sich minutenlang nichts mehr tat, vermutete Gunther schon, das Nanogoo habe die Drohne zerfressen. Doch nach und nach klärte sich das Bild wieder, traten aus dem Pixelschnee die Umrisse einer Straße, eines Zauns, eines zweiteiligen Gebäudes hervor.

Düster vor der ausgezackten Skyline der Nordstadt, wuchtig wie der Turm einer Festungsmauer, ragte ein halb verfallener Rotziegelbau in den Himmel, mit zertrümmerten Rundbogenfenstern und einer Krone wie der Brustwehr einer Burg, umrankt von anmontierten Kabeln, Rohren und Aggregaten wie künstlichen Kletterpflanzen. Ein Tor der alten Fördermaschinenhalle stand offen, und nicht weit davon parkten zwei schwarz lackierte Pkws. Gunther neigte leicht den Kopf und starrte auf einen Punkt, um ins Bild zu zoomen, auf einen Syndikatsmann, der mit verschränkten Armen an seinem Wagen lehnte, ein gedrungener Typ mit krausem Haar, Pfannkuchengesicht und mürrisch aufeinandergepressten Lippen. Der Mann beobachtete etwas außerhalb des Bildes, gestikulierte ein paar Mal ungeduldig und rief jemandem etwas zu. Gunther war bereits aufgefallen, dass die Syndikatstypen einem Dresscode zu folgen schienen, alle dieselbe unauffällige Kombination aus schwarzer, einfach geschnittener Hose, T-Shirt und Kunstlederjacke trugen. Am Kragen trug der Kerl etwas, was man auf den ersten Blick für ein Markenzeichen halten konnte, aber Gunther wusste durch seine Recherchen, dass die Syndikate als Erkennungszeichen eigene Insignien verwendeten, die alle paar Wochen geändert oder ausgetauscht wurden, nach einem für Außenstehende undurchschaubaren System. Die Unterwelt der Nordstadt war eine undurchdringliche, diffuse Szene, aus der ständig neue Organisationen und Allianzen aufstiegen und sich wieder auflösten, mächtig und finanzstark, aber zugleich anonym und gesichtslos und deshalb für die frustrierten Gesetzeshüter, die ohnehin mit viel zu knappen Mitteln ausgestattet waren, praktisch unangreifbar.

Dach und Seitenfenster eines Fahrzeugs schoben sich ins Bild, und als Gunther zurück zoomte, sah er einen Kipplaster aus dem Tor rollen, das Führerhaus ebenso mit dicken Gummi- und Plastikdichtungen isoliert wie die alten Polizeibusse vorhin. Die Übertragung büßte langsam an Kontrast, Auflösung und Farbtiefe ein – ein Zeichen dafür, dass die Mikrodrohne bald ausfallen würde –, deshalb konnte Gunther nicht genau erkennen, um was es sich bei den Gebilden handelte, die kreuz und quer auf der Ladefläche lagen. In Abständen von einigen Minuten rollten zwei weitere Laster ins Freie, und nach mehreren Versuchen gelang es ihm, den Kamerafokus an eins der Fahrzeuge zu heften, die an der Straße nach links abbogen, der Deponie entgegen. Er schaltete einen Schärfenfilter hinzu, aber auch das reichte nicht, um sicher sagen zu können, was die Laster geladen hatten. Er glaubte, verkrümmte Körper, Dutzende ausgemergelte, blutig zerschrammte Leichen in zerfetzten Lumpen zu erkennen. Aber vielleicht war das nur eine Einbildung, die seinen überreizten Nerven geschuldet war.

Gunther versuchte, nicht daran zu denken, was ihm selbst zustoßen konnte, falls er in ein paar Stunden in die Subville gelassen wurde. Als der Laster an einer Stelle anlangte, wo Gunther fast direkt von oben hineinsehen konnte, nahm er ein kurzes Video auf und schoss einige Standfotos. Keine Sekunde zu früh, denn kaum hatte er das Material an Sina und Martin weitergeleitet, flackerte das Bild, und nach einem kurzen Aufblitzen wurde alles schwarz. Für einen Moment hatte Gunther das Gefühl, dass ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wurde und er in einen Abgrund stürzte, dann fand er sich, schwankend, mit beiden Händen an die Scheibe gestützt, am Fenster der Dachkammer wieder. Noch eine Stunde danach schwindelte ihm und revoltierte sein Magen, und er zweifelte, ob das Ergebnis der Mühe wert gewesen war. Sina würde mehr brauchen als ein paar grobkörnige, unscharfe Bilder, um auf dem Referendum Aufsehen zu erregen. Er hoffte nur, ihr aus der Subville Besseres liefern zu können.

Charlie nahm es gleichmütig hin, dass er diesmal nicht ausgewählt worden war. Er stand, seinen Kram zwischen den Füßen, am Rande der Menschenansammlung, die sich auf dem Marktplatz bildete, und summte, leicht wankend, eine banale Melodie vor sich hin, als ginge ihn der ganze Trubel, die Unruhe unter den Bewerbern, das Hin- und Her-Manövrieren der Polizeibusse, die in zwei Gruppen aufgeteilt wurden, nichts an. Als schließlich Gunther, ausgezehrt von einer weitgehend schlaflosen Nacht, leidlich aufgeputscht von einem Exzitans-Drink, bibbernd in einem Platzregen, der allerlei Schwebestoffe aus der Luft wusch und ihm einen säuerlich-schwefligen Geruch in die Nase steigen ließ, als letzter auf der Liste mit seinem Decknamen aufgerufen wurde und ein Syndikatsmann verkündete, dass alle anderen zum Lokal zurückgefahren werden sollten, zuckte Charlie mit den Achseln, breit grinsend, als habe ihm jemand einen Riesengefallen getan. Er fasste Gunther an die Schulter und veranlasste ihn, sich zu ihm herunterzubeugen. »Hör zu, Freund, ich gib dir ‘nen Tipp«, sagte er. »Versuch dir bloß nicht den Chip rauszupulen, auch wenn er noch so weh tut. Das Ding ist da unten deine Lebensversicherung. Du bist ganz auf dich allein gestellt. Du musst dir selber einen Arbeitsplatz suchen, und manche Werkhallen sind ziemlich überlaufen, weil da am besten bezahlt wird. Nach jeder Schicht werden die abgeleisteten Stunden im Chip gespeichert. Wenn da nichts drauf ist, gehst du an der Essensausgabe leer aus. Glaub mir, die lassen dich eiskalt verhungern, wenn du nicht zurechtkommst. Falls du die Schnauze voll hast und wieder nach oben willst, kriegst du nur das ausgezahlt, was am Ende der Rotationsperiode abzüglich der Kosten für deine Verpflegung übrig ist. Ich rate dir …«

Den Rest verstand Gunther nicht mehr, denn im selben Moment riefen die Syndikatsmänner aus zwei Richtungen schroffe Kommandos, und Gunther musste den anderen Selektierten hinterher eilen, die sich in Richtung dreier separat stehender Busse in Bewegung setzten. Als er, von ungeduldig Nachdrängenden die Stufen hoch geschubst, über die Schulter einen letzten Blick auf den Marktplatz warf, hatte er erneut das Gefühl, dass der hagere Kerl von gestern, der in der Tür des Ladenlokals stand und das Geschehen mit fahrigen Gesten dirigierte, ihn beobachtete, beiläufige, aber aufmerksame Blicke in seine Richtung warf. Während der Fahrt zum Malakow-Turm schien es ihm, das die beiden Syndikatstypen, die mit eingestiegen waren, ihn im Auge behielten. Er überlegte die ganze Zeit, was er übersehen, welche der auswendig gelernten Vorsichtsmaßnahmen er vielleicht missachtet und sich damit verdächtig gemacht hatte. Es machte ihn nur noch nervöser, dass er bis zur Ankunft nicht behelligt, vor dem Abstieg nicht im letzten Moment aufgehalten wurde und damit die Bestätigung erhielt, entlarvt worden zu sein.

Zwanzig Minuten später stand er mit gut dreißig anderen Auserwählten vor dem Tor der höhlenartig finsteren Maschinenhalle, ein Klingeln in den Ohren, nachdem Syndikatsmänner mit Gummiknüppeln gegen die Buskarosserien getrommelt hatten, um die Leute rauszutreiben. Sie mussten sich in einer Reihe aufstellen und einzeln an einem Syndikatsmann vorbei, der mit einer Art großem, pilzförmigen Stempel in der Faust, den er jedem neuen Arbeiter in die Halsbeuge rammte, vor dem Tor stand. Als Gunther an der Reihe war, ließ ihn ein jäher, scharfer Schmerz in die Knie gehen. Er stolperte mühsam weiter, berührte die blutende Stelle über dem rechten Schlüsselbein und konnte eine harte, runde Schwellung unter der Haut ertasten, vermutlich den Registrierungschip.

Durch die Löcher und Risse im Hallendach drang so wenig Licht, dass Gunther kaum die Hände vor Augen sehen konnte. Die Lichtkegel der Taschenlampen, mit denen die Syndikatsmänner voraus leuchteten, geisterten verschwommen durch Rauch- und Dunstschwaden, die ihnen aus dem Durchgang zum Turm entgegenquollen. Stimmen und Schritte hallten metallisch wider, und Gunther glaubte, rechter Hand massige Gebilde aufragen zu sehen, wie stumme, wartende Ungeheuer aus Achsen, Rädern und Stahlplatten. Wasser plätscherte, Ketten rasselten im leichten Durchzug. Es roch nach Rost und Schutt, Moos und feuchtem Mauerwerk, überlagert vom Schweiß- und Lumpenmief der neuen Arbeiter, die herrisch vorangetrieben wurden. Einige Male bekam auch Gunther einen Schlag in die Waden. Ein Stück voraus sah er blaue Signallampen durch den mit Benzin und Fäulnis geschwängerten Dunst blinken, in lückenhaften, senkrechten Reihen angeordnet.

Die neuen Arbeiter versammelten sich schließlich, von fünf Syndikatsleuten umstanden, vor einem schiefen, mit Rost und Lackresten befleckten Stahlgerüst, das sich über ihren Köpfen in der Finsternis des eckigen Turmgewölbes verlor. Über der Schachtmündung hockte, im Blinklicht stroboskopartig aus dem Dunkeln hervorspringend, ein Ding wie eine riesige, mechanische Spinne, die Beine Hydraulikmechanismen mit Krallenfüßen, der Hinterleib ein feinmaschiger Stahlkäfig, der Kopf ein in den Schacht geneigter Kunststofftank, von dem Schlauch- und Kabelschlaufen herabhingen. Ein Syndikatsmann zückte eine Art Fernbedienung, ein Steg wurde ausgefahren, und die Arbeiter mussten, wiederum lautstark angetrieben, einer nach dem anderen in den Käfig hinüber balancieren. Gunther schätzte, dass darin maximal Platz für fünfzehn Leute war, aber die Syndikatsmänner gaben keine Ruhe, bis sich alle neuen Arbeiter, eng aneinander gezwängt, teils mit verrenkten Gliedern und ans Gitter gepressten Gesichtern, in den Käfig gequetscht hatten. Gunther stolperte beim letzten Schritt, kam in einer Ecke zu liegen und musste die Beine anziehen, um nicht niedergetrampelt zu werden. Er hielt sich zum Schutz seine Tasche über den Kopf und die zusammengerollte Matte an die Seite, bekam dennoch eine Menge harter Schläge und Stöße zu spüren, noch mehr, als die Hydraulik plötzlich ächzte und schnaufte wie eine gequälte Kreatur und sich der Kletterroboter langsam in Bewegung setzte.

Gunther konnte hinterher nicht einmal schätzen, wie lang der Abstieg gedauert hatte. Die Zeit schien stillzustehen, während der Käfig hin und her wankte, quietschte und knirschte, als könne er jeden Moment auseinanderfallen, immer wieder gegen die Schachtwände knallte, die Masse der zusammengepressten Insassen mal zur einen, mal zur anderen Seite kippte und die Leute sich gegenseitig die Luft aus den Lungen drückten. Gunther hatte das Glück, eng zusammengekauert, von einem Spalier aus Beinen umschlossen, in einem Winkel mit minimalem Spielraum zu sitzen. Zwei breite Kerle, die sich ans Gitter klammerten, bildeten eine Art Dach und verhinderten, dass andere auf ihn niederstürzten. Zwischen seinen Knien, einen Spaltbreit am bleich schimmernden Tank vorbei, konnte er in den Schacht hinabsehen. Das Licht der beiden flackernden Scheinwerfer drang nur wenige Meter in die Finsternis vor, und Gunther sah rissigen, zitternden Fels, herabrieselndes Wasser, aufsteigende Dämpfe.

Die Welt, in die er und seine Leidensgenossen vordrangen, schien zu beben, zu zersplittern und aus den Rissen eine Essenz aller schlechten Gerüche, aller Fäulnis und Verrottung der Welt auszuatmen. Gunther würgte nach und nach sein spärliches Frühstück hervor, und als nichts Festes mehr kam, spuckte er Galle und Magensäfte. Er konnte seinen Harn nicht mehr halten. Seine Nasenlöcher brannten und troffen von Schleim. Immer wieder hielt er unwillkürlich die Luft an, konnte aber nichts gegen das Gefühl tun, dass die herauf quellenden Gase, eine höllische Mischung aus Petrochemikalien, Chlor und Schwefeldioxid, Jauchegeruch, Abwasserdunst und Verwesungsgasen, sein Inneres auflösten. Gunther hörte ringsum Gestöhn und Geschnaufe, ganz in seiner Nähe ein kindliches Wimmern, das sein eigenes war, wie er nach einer Weile merkte. Er zitterte am ganzen Leib und hielt seine Schienbeine umklammert. Er versuchte an seinen Auftrag zu denken, an die Außenwelt, mit der er in Kontakt stand, an seine baldige Rückkehr ans Tageslicht, aber all das erschien ihm illusorisch und irreal. Die ganze Welt zog sich auf die vier mal vier Meter des Käfigs zusammen. Es gab nichts mehr außer der Enge, der Hitze, der Nässe, der qualvollen Atemnot, die ihm jeden Gedanken aus dem Hirn tilgte, und den Abgrund unter ihm, der ihn verschlingen und nie wieder ausspeien würde.

Irgendwann, von einer tiefen Betäubung, einer inneren Sperre gegen jede weitere Empfindung verschluckt, wurde er langsam der plötzlichen Ruhe gewahr, dem abrupten Ende aller Erschütterungen und Vibrationen, dem Absinken allen Lärms auf ein fernes Raunen und Wummern knapp über der Hörschwelle. Er stemmte sich mit schmerzenden Händen vom Käfigboden hoch und streckte zaghaft beide Arme in die Dunkelheit aus. Seine verklebten, tränenden Augen brauchten einige Minuten, um sich an das schwache Licht zu gewöhnen, das aus der Mündung eines kurzen Gangs vor der offenen Käfigtür drang. Der Käfig war leer bis auf einige verkrümmte oder zusammengekauerte Leiber auf dem Gitterboden, die meisten reglos, nur zwei darunter, die wie er zu trägem Leben erwacht und ungelenk bemüht waren, sich aufzurichten. Gunthers Sachen waren verschwunden. Er hielt lediglich eine Plastikflasche in der Hand, aus der er getrunken hatte, um sich den scheußlichen Geschmack halbwegs aus dem Mund zu spülen. Sie enthielt noch gerade genug, um seine brennende Kehle zu befeuchten.

Auf allen vieren kletterte er über die Bewusstlosen oder Erstickten hinweg und zog sich am scharfkantigen Türrahmen hoch. Für eine unbestimmte Zeit machte sein Bewusstsein Sprünge, erlebte er sich wie ein passiver, entrückter Beobachter seiner selbst in kurzen, von harten Schnitten getrennten Szenen. Er sah sich, plump wie ein umgekippter Mehlsack, aus der Käfigtür anderthalb Meter zu Boden fallen und mit dem Gesicht in knöcheltiefem Staub landen. Er sah sich, beide Hände an der Wand, durch den Gang tappen. Er sah sich schließlich, wankend wie ein Betrunkener, in eine riesige, düstere Halle stolpern, die er mehr erahnen als sehen konnte. Eine unsichere Kontinuität setzte in seinem Kopf erst wieder ein, als er sich unter Aufbietung aller Willenskraft an das zu erinnern versuchte, was er über die Subville wusste, an die Geschosspläne, die er ausgiebig studiert und sich, wie er hoffte, unauslöschlich eingeprägt hatte. Er wischte sich mit den Jackenärmeln über die Augen, blinzelte mehrmals, aber das Retina-Display flackerte nur, und das Menü blieb unscharf und verschwand schnell wieder – hoffentlich nur eine vorübergehende Störung, weil seine Augen gelitten hatte und er den Blick im Moment nicht scharf auf etwas richten konnte.

Was er hier vor sich hatte, ein Kessel von etwa achtzig Metern Durchmesser, mit zahlreichen ringsum einmündenden Gängen, einer Schienenanlage wie ein Rangierbahnhof, auf der fahrerlose, mit Pritschen versehene Wagen herumrollten, mittendrin ein haushoch aufragendes Gerüst mit großen und kleinen Anzeigetafeln, die konkaven Wände überkrustet mit eingeweideartigen Rohr- und Kabelbündeln und Aggregaten, zwischen terrassenförmig übereinander montierten Glaskästen – dies musste der Hub, die Zentrale und der Verkehrsknotenpunkt der Subville sein, früher ihr Aushängeschild, ein hell erleuchtetes, in Hochhausmaßen in die Erde getriebenes Atrium, heute völlig verdreckt und halb zerfallen.

Es lag ein Tuscheln und Grummeln in der Luft, von dumpfen Echos vervielfacht, mächtig, körperlos, eine dichte, aus allen Richtungen zusammen quellende Geräuschwolke, als habe sich in der Halle, unter den rissigen Betonplatten, unter zersplitterten Gleisschwellen aus Kunstholz, unter verstreuten Abfällen und an den Rand gekehrtem Geröll, eine riesige Menschenmenge versteckt, die jeden Moment in lautes Toben ausbrechen konnte. Tatsächlich sah Gunther anfangs aber nur Grüppchen von Leuten, die um Feuerstellen zusammenhockten, in löchrige Decken gehüllte Einzelgänger, die auf Bänken und unter Überhängen aus Stahl und Glas schliefen, hier und dort auf Pritschen zusammengedrängte Passagiere, die aus den müde dahin klappernden Wagen ausstiegen und einer neuen Schicht von Arbeitern Platz machten, viele davon, besonders die Älteren und die Halbwüchsigen, entsetzlich hager und ausgezehrt.

Gunther ging fast eine ganze Runde am Rande der Halle entlang, fühlte sich zu mikroskopischen Maßen geschrumpft angesichts der düsteren, wie Höllenschlünde klaffenden Tunnelmündungen, die je zwei bis vier parallele Schienenstränge wie monströse medizinische Sonden verschluckten, angesichts der Höhe, zu welcher sich die übereinandergestapelten Glaskabinen auftürmten, und der Ausmaße der Generatoren, Tanks und Wasseraufbereiter, die sich, in Nestern aus Rohren und Kabeln, teils in bedenklicher Schieflage an den nackten Fels klammerten. Die Glaskästen waren ursprünglich als Arbeitsräume für die Verwaltung vorgesehen gewesen, und auch jetzt konnte Gunther hinter manchen der verschmierten und zersprungenen Scheiben noch Büromöbel, mannshohe Plasmamonitore und Serverracks mit fluoreszent funkelnden optischen Prozessorbänken erkennen. In erster Linie aber dienten die Kabinen heute als Unterkünfte, in denen sich Paare oder Familien mit Decken, Kissen und diversem Krempel häuslich eingerichtet hatten, die Zugangsstege und -tunnel schwer verbarrikadiert. Wo immer man am Hallenrand Erde und Schutt in unbebaute Winkel gestampft hatte, sah Gunter zudem neben- und übereinander in den Hang gegrabene Kammern wie übergroße Bienenwaben, auch darin schlafende oder in träge Aktivitäten vertiefte Gestalten. Wenn man genauer hinsah, wimmelte es in der Halle nur so von Menschen, ein Bodensatz aus Erschöpfung und Verzagtheit, dem alle Lebenskraft verloren gegangen schien.

Nach einigen Hundert Metern mühsamen Dahintappens hatte Gunther jegliche äußere und innere Orientierung verloren, hatte er weder den Willen noch die Kraft, seinem Kopf wenigstens ein paar der mühsam eingeprägten Informationen zu entlocken. Ausgangspunkt und Zweck seiner Reise wurden in weite Ferne gedrängt von einem wachsenden Durst und Hungergefühl. Er stieß an einen geriffelten Metallkasten, vielleicht einen Abfallcontainer, sackte zu Boden und kam in einer Pfütze aus Öl und Fäkalien zu sitzen, völlig gleichgültig gegenüber dem Gestank und der klammen Nässe. In seiner Nähe klapperte etwas, ein Lichtfleck tanzte vor seinen Augen, und in einem Sekundenbruchteil der Klarheit sah er, wenige Schritte entfernt, eine gebeugte, in einen Plastikkittel gehüllte Gestalt im Schein einer Grubenlampe hocken, im Schoß eine Blechschüssel, die sie hastig auslöffelte.

»Hunger«, kam es ihm wie von selbst über die Lippen. »Kannst du mir was …«

»Nichts da«, hörte er eine mürrische Stimme und konnte nicht entscheiden, ob sie einem Mann oder einer Frau gehörte. »Das reicht gerade für mich selbst.«

»Bitte. Ich bin eben erst …«

»Anfänger, was?« Gunthers Kopf ruckte unwillkürlich in die Richtung, in welche die Gestalt gestikulierte. »Wenn du dringend was brauchst, fahr die A-17 bis zum Ende. Wirst schon sehen. Wenn du da zwölf Stunden am Tropf gehangen hast, geht's dir auch gleich viel besser.«

»Was … was meinst du?«

»Na geh schon. Gleich da drüben. In ein paar Minuten kommt der nächste Wagen. Nun hau schon ab!«

Wieder machte Gunthers Bewusstsein einen Sprung von einigen Minuten. Er hörte klappernde Räder und einen surrenden Elektromotor und fand sich unversehens auf der Pritsche eines Schienenwagens wieder, der gerade um eine Tunnelbiegung in ein von vereinzelten Leuchtröhren an der Decke durchglostes Halbdunkel eintauchte, ihm gegenüber eine Frau von unschätzbarem Alter, mit verfilztem Haar und kahlen Stellen am Kopf, ihr Gesicht aschfarben, trocken und faltig wie das einer Mumie, neben ihm eine Masse von Mensch, die eine schweißige Wärme und einen derart beißenden Geruch ausstrahlte, ganz zu schweigen von ihren Körpergeräuschen und dem viehischen Grunzen, dass Gunther keinen Seitenblick wagte. Während der Fahrt durch den gewundenen, ansteigenden und abfallenden Tunnel sah er flüchtig in riesige Hallen voller Maschinerien und chemischen Anlagen hinein, in und auf denen Hunderte Menschen herumwimmelten wie Ungeziefer auf einem verwesenden Kadaver. Auch der Tunnel war voller Menschen, Kolonnen zerlumpter Arbeiter, die nah an den feuchten Wänden entlang trotteten, reglose Gestalten, die in Wartungsnischen hockten, auf oder neben den Gleisen immer wieder verrenkte, nackte Körper und, auf den ersten Blick auffällig durch Größe, kräftigen Wuchs und solide, einförmige Kleidung, hier und dort Syndikatsmänner, die auf schwarzen Motorrollern herumfuhren oder mit blitzenden Elektroschocker-Ruten auf Leute eindroschen.

Was sich in der Halle, in die der Karren schließlich ausrollte, pyramidenförmig vor ihm auftürmte, versetzte Gunther einen solchen Schock, dass er sofort aus seiner dumpfen Lethargie hochschreckte und eine momentane Klarheit den verwaschenen Mischmasch in seinem Kopf lichtete. Eine kühle, chemische Lumineszenz in Blau-, Rot- und Gelbtönen, ein organisches Schlingern und Wabern rotierte über die Wand des zylindrischen Hohlraums wie ein Schwarm fremdartiger Lebensformen, die nur aus Licht bestanden, ausgestrahlt von einem transparenten, kirchturmhohen Tank in der Mitte, zusammengesetzt aus unzähligen, vom milchiger Flüssigkeit durchströmten Waben. Von dem Ding gingen verzweigte, mit Kabeln und Plastikschläuchen umschlungene Stahlträger ab wie Äste von einem Baum. In den oberen Etagen hingen die Leitungsenden schlaff herunter, nach unten hin aber waren in immer größerer Anzahl und Dichte kleinere, sargähnliche Tanks in das Gerüst montiert.

Gunther stemmte sich hoch, stieg aus dem Wagen und rieb sich die Augen, und beim Näherkommen wurden ihm nicht nur die Ausmaße der Anlage bewusst, die mindestens vierzig Meter der finsteren Hallendecke entgegen ragte, sondern er sah auch deutlich nackte menschliche Körper in den Kunststoffsärgen liegen, mit Infusionsschläuchen an den Hälsen und Armen, manche starr, manche sich träge windend, andere in konvulsivische Zuckungen verfallen.

Diesmal hatte Gunther mehr Glück. Er gelang ihm, sein Retina-Display zu aktivieren, sogar das Menü zu öffnen, das Kameramodul laden und einige Aufnahmen zu schießen. Ob und in welcher Qualität die Bilder bei Sina ankamen, konnte er nicht sagen, denn bevor ihm die Weiterleitung bestätigt wurde, wackelte für einen Moment sein ganzes Blickfeld und mit einem grellen Aufblitzen versagte das Display. Weitere Aktivierungsversuche blieben fruchtlos. Gunther hätte gern einen Kommentar mitgeschickt, seine eigene Vermutung, um was es sich bei der Anlage hier handelte und was die Aufnahmen für Sina besonders wertvoll machen könnte. Es gingen Gerüchte, dass in den Subvilles Menschen als lebende Bioreaktoren missbraucht wurden, Brutstätten für Antikörper, Antibiotika und synthetische Viren, eine nicht selten tödliche Prozedur – Gerüchte, die von öffentlichen Stellen und in den Handel mit solchen Erzeugnissen verwickelten Firmen besonders hartnäckig bestritten wurden.

Gunther stand gerade an der Rampe, die zur untersten Ebene der Anlage führte, einem Kranz aus Hunderten neben- und übereinander montierten Kunststofftanks, als ihn plötzlich ein jäher Schmerz durchfuhr. Er bekam einen gewaltigen Schlag in den Rücken, und ein unkontrolliertes Zucken ging ihm durch den Körper wie ein epileptischer Anfall. Er sackte zu Boden, hob mit letzter Kraft den Kopf und sah zwei schwarze Hosenbeine und eine Stiefelspitze, die auf ihn zukam.

Der Tritt traf ihn an der Schläfe, und bevor er das Bewusstsein verlor, hörte er eine dunkle, raue Männerstimme: »Genug rumgeschnüffelt, Freundchen. Ein Pressefritze, glaubt man’s denn? Hast du gemeint, wir merken das nicht? Kannst froh sein, dass wir dich nicht gleich abgeknallt haben. Der Chef wollte wissen, was du im Schilde führst.«

Wieder eine zerhackte Abfolge von Betäubung und sekundenlanger Wachheit, wie aus der Sicht eines Außenstehenden erlebt: Er sah sich, gleichgültig über eine Wagenpritsche geworfen, zwischen zwei massigen Syndikatsleuten. Beim nächsten Mal sah er sich verkrümmt auf dem Boden eines durchblinkten Käfigs liegen, leer bis auf ihn und einen Syndikatsmann mit kantigem Gesicht und einem Schädel wie ein Bulle, der schief grinste und den Kopf schüttelte, als Gunther sich rührte.

»Wenn du schon Spion spielen willst«, sagte er, »dann höre auf den guten Rat eines Profis. Du solltest niemals zwei verschiedene Chargen eines mimetischen Plasmas gleichzeitig verwenden. Die Abweichung ist bei der Analyse sofort aufgefallen und hat uns misstrauisch gemacht. Wärst du nicht so dämlich gewesen, hättest du dich vielleicht durchgemogelt.«

Wieder ein Schnitt, und Gunther sah sich, unscharf und verwackelt, unter leblosen Körpern in einer Art metallischer Wanne liegen. Ein schwindender Teil von ihm, der noch funktionierte, warnte ihn lauthals, dass es nur die Ladefläche eines Kipplasters sein konnte, aber die Warnung verlor sich im Drunter und Drüber seiner Schmerzen und zersplitterten Wahrnehmungen.

Als er zum letzten Mal erwachte, lag er auf einem harten, körnigen Untergrund, am Fuß einer Schlackenhalde, bestrahlt von einer ölig trüben, doch gnadenlos brennenden Sonne. Die Luft um ihn flimmerte und flirrte. Ein Geräusch brauste ihm in den Ohren wie das Zirpen, Summen und Klicken von Milliarden Insekten. Feine Nadelstiche bohrten sich in seine Haut, vereinzelt erst, dann immer dichter und tiefer, bis eine einzige rohe, wunde Nässe seinen ganzen Leib umhüllte. Etwas Heißes drang ihm wie flüssige Lava in den Mund und die Nasenlöcher. Er wäre ein Segen gewesen, von den Schmerzen überwältigt zu werden, in die Ohnmacht zurückzusinken, aber es geschah einfach nicht.

Mit den letzten Gedanken, zu denen er fähig war, nahm er Abschied von seinem Leben und verfluchte seine eigene Vermessenheit und Dummheit. Er wusste, dass ihm eine langsame, qualvolle Auflösung bevorstand.

1