Der Mond auf ihren Schultern - Jane E. Menning - E-Book

Der Mond auf ihren Schultern E-Book

Jane E. Menning

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Irgendwo im Universum gibt es einen Menschen, der gerade an dich denkt Wir schreiben das Jahr 2024: Sie war seine beste Freundin, seine Familie, sein einziges Glück: Zwölf Jahre ist es her, dass Shane mitansehen musste, wie Emma die Mondbasis mit ihren Eltern verließ und zurück zur Erde ging. Zwölf Jahre lang hat er sie beobachtet, gelitten und alles versucht, um sie zurückzubekommen. Aber sein Schicksal ist vorbestimmt: Als der Mondgeborene mit den größten Kräften hat die Gesellschaft IO ihre eigenen Pläne für ihn und seine genetischen Mutationen. Shane erkennt, dass ihm nichts anderes übrig bleibt, als zu radikalen Mitteln zu greifen: Wenn Emma nicht zurück zum Mond kommt, muss er eben zu ihr. Besonders jetzt, wo jemand anderes seinen Platz in Emmas Herzen einnehmen will. Aber kann sie sich überhaupt noch an ihn erinnern? Ihre eigenen Mutationen, die sich zu zeigen beginnen, lassen es vermuten. Und sie stehen in einem merkwürdigen Zusammenhang mit seinen, der alles ändert. "Der Mond auf unseren Schultern mochte uns zwar in Ketten legen, aber dafür schuf er eine Verbundenheit, die uns für den Rest unserer Tage nähren würde." New Adult Romance (mit Liebesszenen) meets Sci-Fi und Superhelden. Leserstimmen "Shane ist eine Sensation!" "Eine der schönsten Liebesgeschichten, die ich seit langem gelesen habe!" "Mennings Geschichte enthält alles, was ein gutes Buch braucht: Liebenswerte Charaktere, große Gefühle, eine spannende Story und unerwartete Wendungen bis zur letzten Minute." Liebe LeserInnen Seit Jahren denken die Regierungen dieser Welt darüber nach, eine Basis auf dem Mond zu errichten. Ich bin hier nur meiner Zeit voraus. Ich lernte den Mond vor einigen Jahren in einer tiefen Krise lieben und bin ihm seither verfallen. Es stand für mich fest, dass er seinen Platz in einem Buch finden würde. Meine Romane sind in Wahrheit Liebes- und Lebensgeschichten und bedienen sich verschiedener Themen & Genres - denn, wie du selbst weißt, ist das Leben keine Schublade: Manchmal ist es ein Abenteuer, dann wieder ein Liebesroman, Drama und hin und wieder ein absoluter Thriller. Wenn du gern in Young und New Adult Romance-Geschichten abtauchst, dann begleite meinen Shane und seine Emma auf ihrer Reise - im ersten Band der Buchreihe "Der Mond auf ihren Schultern". P. S. Band 2 und 3 erscheinen beide in 2020. Liebesgrüße vom Mond Jane E. Menning Über Jane E. Menning Menning (*1982) wuchs in Deutschland auf und studierte Literatur, Film und Journalismus. Seit 2015 arbeitet sie als freiberufliche Autorin im Indi- und Verlagsbereich. Sie lebt heute in Berlin. Auf ihrer Website janemenning.com können sich ihre LeserInnen über Jane, Neuigkeiten, den Mond und die Geschichte informieren. Für exklusive Inhalte wie gelöschte Szenen: Janes Instagram: @janeemenning Shanes und Ems Instagram: @shane_and_emma Facebook: facebook.com/janemenningbooks

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jane E. Menning

Der Mond auf ihren Schultern

Meer der Kälte (Shane & Emma, Band 1)

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Der Mond auf ihren Schultern

 

 

JANE E. MENNING

 

Der Mond auf ihren Schultern

 

Band 1- Meer der Kälte

 

 

Impressum

 

© Jane E. Menning, 2019

Jane Menning, c/o Postflex, Helmers Kamp 74, 48249 Dülmen

Fanpost, Mediakontakte und sonstiges bitte nur per E-Mail an: [email protected]

 

ISBN: 9781700035646

Independently published.

 

Alle Rechte vorbehalten. Jeglicher Abdruck, auch auszugsweise, ist untersagt.

 

Foto Credits

Mondkarte (aus dem Englischen übersetzt): ID 74672794 © Claudiodivizia | Dreamstime.com

Widmung

 

 

Ohne dich

wäre er nicht,

was er ist.

 

Ohne dich

gäbe es

dieses Buch

nicht.

 

Meine Muse:

Ta.

 

Jane

Anmerkung

 

 

Nicht nur die Erde besitzt Meere.

 

Auch der Mond hat Meere, sogenannte Mare, einen Ozean und mehrere Seen (kleinere Lava-Ebenen). Die des Mondes sind nicht mit Wasser gefüllt wie unsere, sondern stellen die Tiefebenen dar, die wir allnächtlich sehen können. Diese Buchreihe ist nach einigen dieser Mare benannt. Im Mare Frigoris liegt die fiktive Mondbasis, von der diese Geschichte erzählt.

 

 

Prolog

 

Prolog

 

Freitag, 18. Februar 2056

 

 

Der Abend war ruhig und ihr gleichmäßiger Herzschlag ließ sie glauben, dass die Nacht es auch sein würde. Am fast schwarzen Himmel prangten die Sterne und zum ersten Mal seit Jahren hatte sie das Gefühl, ihm nahe zu sein. Der Mond erhob sich vor ihr in seiner reinen weißglänzenden Schönheit und sorgte für die Sicherheit, die ihr in all den Nächten, seit er gegangen war, so gefehlt hatte.

»Schon als kleines Mädchen habe ich mich gefragt, was in dir vorgeht, wenn du zum Mond siehst.«

Emma atmete tief ein und legte die blassrosafarbene Wolldecke, die ihr Claire geschenkt hatte, ordentlich über ihre Beine. Nicht, dass es nötig war, aber sie wollte sich Zeit verschaffen, bevor sie antwortete – nachdenken, bevor sie mit ihrer Tochter darüber sprach. So, wie sich andere in den Sternenhimmel verliebten, war sie dem Mond verfallen. Wegen ihm. »Ich weiß nicht ...«, begann sie in gefasstem Ton. »Es ist so lange her.«

Claire nickte. »Wie viele Jahre sind es jetzt? 28?«

»26 Jahre und sieben Monate«, korrigierte sie langsam.

Claire schwieg.

»Es ist lächerlich, ich weiß«, winkte Emma ab. »Lass uns über etwas Schönes reden. Wie geht es meiner Enkelin? Macht sie sich gut?« Zum ersten Mal seit einer halben Stunde richtete sie ihren Blick zu Claire.

»Maggie geht’s gut, ja. Sie hat sich wieder verbrannt, nicht sehr, nur etwas an den Fingern. Aber es ärgert sie, dass sie es noch nicht steuern kann und mir jagt es eine Heidenangst ein. Es waren einfach zu viele Unfälle in letzter Zeit.«

»Sie wird es lernen. Es braucht nur seine Zeit.« Sie überlegte kurz und sah wieder zum Mond auf. »Die brauchten wir alle.«

»Dad auch?«

Eine Minute, die so langsam verstrich wie der Winter vor zweiunddreißig Jahren, wartete sie auf die Antwort ihrer Mutter. Eigentlich, erinnerte sich Claire, wartete sie schon so lange auf Antworten, dass sie für jede Information dankbar wäre. Nur ein kleines Stück der Wahrheit über ihre Wurzeln würde ihr schon genügen. Seit sie denken konnte, lebte sie mit der Ungewissheit darüber, wer sie wirklich war und warum es manchmal leichter und dann wieder schwerer war, ihre Gabe zu kontrollieren. Seit Maggie auf der Welt war, nagten diese Fragen jeden Tag an ihr. Wie sollte sie ihre Tochter so beschützen? »Mum?«, fragte sie ungeduldig.

»Ja«, stieß Emma hastig aus, als würde sie die Ungeduld ihrer Tochter spüren. »Ja, Dad auch.«

»Wie hat er es geschafft?«

Emma starrte die alte Eiche in ihrem Garten an. Sie schimmerte im Mondlicht, weiß vom Schnee, der hier und da die Äste bedeckte. Wenn sie es ihrer Tochter erzählte, müsste sie ihr alles erzählen. Oder wenigstens, wie sie und Shane miteinander aufgewachsen waren und wie es damals dazu kam, dass sie sich wiedersahen. Vielleicht könnte sie Claire dann von ihren Sorgen befreien, nur ein bisschen. Vielleicht würde es sie ihrer Tochter wieder näherbringen. Das jahrelange Schweigen, zu dem IO sie gezwungen hatte, hatte die Beziehung zu Claire nicht leichter gemacht.

»Er wollte es nicht, weißt du? Er hat sich jahrelang geweigert, weil er dachte ... Er dachte, es wäre unnütz und gefährlich.«

»Für ihn?«

»Für alle.« Sie räusperte sich und zupfte an einem abstehenden Wollfaden der Decke. »Und für mich im Speziellen.«

Claire hob verständnislos die Hände. »Und wie hat er es schließlich doch geschafft, im Detail, meine ich?« Ihre Stimme klang härter, als sie gewollt hatte. Sie besann sich. »Es ist wichtig, dass du es mir sagst. Ich muss es für Maggie wissen, nicht für mich, Mum.«

Je stiller ihre Wut war, desto lauter konnte Emma sie hören. Sie hatte sie Claires ganzes Leben lang gehört.

Emma legte ihre Hand auf Claires Bein. Ihr Oberschenkel war warm, doch die Jeans klamm von der Abendfeuchtigkeit. »Wir schulden dir schon lange eine Erklärung, ich weiß.«

»Aber?«

Emma suchte nach den richtigen Worten. Nein, in Wahrheit wollte sie sich nur mehr Zeit verschaffen. Sie hatte seit Jahrzehnten nicht darüber gesprochen und mit aller Kraft versucht, nicht an ihn zu denken oder daran, wie sehr sie ihn jede Minute vermisste, die er nicht bei ihr war ... dass sie schon wieder darauf wartete, dass er zu ihr zurückkam, um ihre Hand zu halten und bei ihr zu sein.

»Wo ist Daddy?« Es brachte nichts.

»Bei den anderen«, stieß Emma mit brüchiger Stimme aus.

Claire stand von der Verandabank auf. »Ich geh’ ihm mal Hallo sagen.« Sie beugte sich für einen flüchtigen Kuss zu ihrer Mutter herunter und verschwand in der Dunkelheit.

Emma blickte noch eine Weile ins schwarze Nichts. So sehr sie sich die vergangenen Jahre um die Illusion bemüht hatte, ihr Leben und das ihrer Familie könne genauso alltäglich wie jedes andere sein, so wusste sie doch genau, dass es eine Lüge war. Wie lange würde sie noch warten können, bis ihre Tochter es ihr ernsthaft übel nehmen würde? Wie lange würde es ihre Enkelin noch aushalten, bevor sie endgültig aufgab? Irgendwann würde sie sich erinnern müssen und das Geheimnis, das sie seit Jahrzehnten zu vergessen versuchte, offenbaren müssen. Ob IO es duldete oder nicht. Sie dürften es nur nicht erfahren. Alles könnte genauso weiterlaufen wie eh und je. Würde man sie fragen, wenn Claire oder Maggie wieder zu einer Untersuchung bei ihnen wären, müssten sie nur heile Welt spielen. Claire würde keine Fragen stellen, wenn sie es ihr verbot und erklärte, wieso. Und Maggie war viel zu klein. Sie hatte noch Zeit, bevor auch sie auf der Suche nach Antworten sein würde.

Der kalte Abendwind blies Emma ins Gesicht. Ob ein Geheimnis weniger schwer wog, wenn man es teilte? Sie legte die Decke über ihren Beinen zur Seite und ging ins Haus.

Im Kaminzimmer brannte das Feuer; es war unnötig, das Licht anzuschalten. Sie rückte den alten Ohrensessel ihres Vaters, der vor dem Kamin stand, ein Stück zur Seite und kniete sich auf den Boden. Drei der Dielen waren locker, doch nur, wenn man das wusste, fiel es einem ins Auge. Der Sessel hatte ihr Geheimnis all die Jahre unter sich bewahrt, eingebettet im Boden des Hauses.

Als sie die Dielen abgenommen hatte, holte sie einen Karton heraus und hielt ihn eine Weile in ihren Händen. Eingewickelt in ein altes Tuch ihrer Mutter, lagen darin Shanes Tagebücher.

Behutsam ging sie mit der Kiste zum Sessel und setzte sich. Für einen langen Moment starrte sie sie an und strich vorsichtig über den staubigen Deckel. Sie traute sich kaum, ihn zu öffnen, seine Tagebücher nach all den Jahren wiederzusehen, seine Handschrift.

Als sie die Kiste schließlich öffnete, kehrten die Bilder sofort in ihr Gedächtnis zurück, als hätten sie nur darauf gewartet. Seine kinnlangen blonden Haare, seine grünen Augen, seine Hand, die immer ihre gehalten hatte.

Em. Seine tiefe Stimme erklang von Neuem in ihren Ohren; sie kniff vor Schmerz ihre Augen zusammen, um nach all den Jahren keine Tränen zu vergießen.

Es waren mehrere Tagebücher in der Schachtel, beschriftet von eins bis sieben, und unter dem siebten würde ein Brief liegen, den Shane Claire geschrieben hatte. Nachdem er gegangen war, hatte ihn Emma so oft gelesen, dass das Papier ganz abgegriffen war. Doch gezeigt hatte sie ihn Claire bis heute nicht. Sie würde sich rechtfertigen müssen, das wusste sie. Aber der Grund, wieso sie ihn ihrer Tochter vorenthalten hatte, würde sich wegen seines Inhalts von allein erklären, hoffte sie.

Sie zog ihn unter dem siebten Tagebuch hervor, sog seinen Duft ein und hielt ihn für ein paar Sekunden an ihr Herz, bevor sie ihn ganz hinten ins letzte Tagebuch schob, gerade als Claire ins Zimmer kam.

»Mum, was machst du?« Sie ging zu ihrer Mutter, sah die ausgehobenen Dielen auf dem Fußboden herumliegen und schaute sie fragend an.

»Setz dich zu mir.« Emma deutete auf einen Hocker neben dem Kamin.

Claire nahm mit fragendem Blick Platz. »Was hast du da?«, sagte sie und deutete mit ihren Augen auf den Karton.

Emma umarmte die Kiste genauso fürsorglich, wie sie Claire als Baby gehalten hatte, streichelte an den Außenseiten entlang, bevor sie antwortete. »Das sind die Tagebücher deines Vaters. Er hat alles aufgeschrieben.« Sie sah ihre Tochter nicht an. Sie konnte nur in diese Kiste schauen, als würde darin ihre Zukunft liegen, zwischen seinen Zeilen die Hoffnung auf ein besseres Leben oder wenigstens auf eine Vergangenheit, die ihre Schwere verlieren könnte.

Aus Wut darüber, dass sie erst jetzt von ihnen erfuhr, und tiefer Erleichterung, dass der Moment doch gekommen war, lief Claire eine Träne die Wange herunter.

Emma nahm das Tagebuch mit der Aufschrift 1 aus der Schachtel und stellte die Kiste mit den anderen auf den Boden. Sie strich über den Ledereinband; er roch nach kalter Erde und verbranntem Holz.

Em ... Shanes Stimme hallte ein weiteres Mal in ihren Ohren.

»Willst du sie allein lesen oder soll ich dir noch was dazu erzählen?«

»Ja, wenn du möchtest. Das wäre schön«, sagte Claire.

Emma nickte still und schloss ein letztes Mal ihre Augen, bevor sie sich zu erinnern begann.

Kapitel 1

 

Kapitel 1

 

Samstag, 7. Dezember 2024

 

EMMA

 

 

»Dieser einzigartig kalte Winter hält die USA weiterhin in Atem. Die Polarluft sorgte zuletzt in Wyoming und Idaho für insgesamt siebzehn Tote, Stromausfälle in über fünfzigtausend Haushalten und hunderte Unfälle. Sie wird über Nacht weiterziehen und in den frühen Morgenstunden die Bundesstaaten Nevada und Utah erreichen. Die Anwohner werden dringend aufgefordert, ihr Auto in die Garage zu fahren, die Fenster geschlossen zu halten und möglichst zu Hause zu bleiben. Es wird örtlich mit starken Schneewehen bis zu fünf Metern Höhe, heftigen Stürmen und Eiswind gerechnet. Zuletzt hatte der nationale Wetterdienst darauf hingewiesen, dass dies nur der Anfang eines noch nie dagewesenen Wetterphänomens sein könnte. Zum Rückgang der Sonnenflecken in den letzten Jahrzehnten kam vor einigen Tagen eine plötzliche Stratosphärenerwärmung, wodurch sich die Polarluft in einzelnen Teilen der USA verteilte. Wie uns unsere Korrespondentin Cynthia Levin eben mitteilte, würde die Regierung aktuell diskutieren, ab wann der nationale Notstand auszurufen sei. Eine staatenweite Bedrohung konnte bislang von führenden Meteorologen nicht ausgeschlossen werden ...«

Im Radio ratterten die Moderatoren weiter ihre Katastrophenwarnungen herunter, als würden sie aus der Bibel das Jüngste Gericht zitieren. Ich stand vom Tisch auf und schaltete es aus.

»Ey, Mann! Ich will das hören!«, paffte mich Sammy an. Mein fünf Jahre jüngerer Bruder rührte währenddessen mit empörter Miene in der versalzenen Kartoffelsuppe unserer Mutter.

»Ich kann den Scheiß nicht mehr hören«, sagte ich leise und setzte mich wieder zu ihm an den Tisch.

Draußen peitschte der Schneewind an die Fensterscheiben und Eiskristalle in allen Formen ließen sich auf ihnen nieder. Es sah aus, als würden sie jeden Moment die Glasscheiben durchdringen, wie ein Virus, der nach und nach alles in seinem Umfeld verdrängte. Die Tiefsttemperaturen hatten selbst die Heizungsrohre eingefroren; im ganzen Haus war es seit Stunden eiskalt. Mein Vater machte gerade im Wohnzimmer mit dem wenigen Feuerholz, das trocken geblieben war, den Kamin an.

»Bist du bald fertig?«, rief Sammy ihm zu, als er das Holz im Kamin knacken hörte. Er schüttelte sich vor Kälte und vergrub die Hand, die sich nicht steif um seinen Löffel gewickelt hatte, in den Ärmel seines Pullis. Er trug einen weiten, viel zu großen von Dad, der ihm bis zu den Knien reichte.

Ich saß ruhig da und suchte in meiner Suppe nach Lösungen. Wie sollte ich meine Eltern dazu bekommen, mich später noch zu Phils Party gehen zu lassen? Ich warf einen Blick auf die Küchenuhr an der Wand: 20:47 Uhr. In dreizehn Minuten war ich mit Steven in Phils Haus verabredet. Doch jetzt, da der Wetterdienst die Gefahrenstufe angehoben hatte, würden sie mich nicht mal eine Straße weiter gehen lassen, verständlicherweise, obwohl ich fast volljährig war. Es war keine ihrer typischen Rohei-Situationen, an die ich mich schon mein ganzes Leben lang zu gewöhnen versuchte. Draußen wurde es von Minute zu Minute gefährlicher. Aber ich musste diese Party besuchen, notfalls auch ohne ihre Einwilligung.

»Schmeckt dir deine Suppe nicht?« Dad stand an der Ecke zur Küche und grinste mich an. Er wusste um die miserablen Kochkünste seiner Ehefrau.

»Doch! Sie ist köstlich!«, log ich.

Er lachte. »Ihr könnt im Wohnzimmer essen, wenn ihr wollt. Hier drinnen wird’s ja immer kälter.«

»Boah, endlich!« Sammy schnappte sich seine Suppe und watschelte in seinen quietschroten Rennautohausschuhen rüber.

In meiner Hosentasche vibrierte mein Handy.

»Was ist mit dir? Kommst du auch?«, fragte mich Dad.

Ich blickte von meinem Teller auf. »Ja, bin gleich da.« Ich wollte noch mein Handy checken und Bescheid sagen, dass ich erst später kommen würde.

Sollte ich Dad um Erlaubnis bitten? Im Vergleich zu meiner Mutter war er um einiges verträglicher. Aber etwas sagte mir, dass auch er sich eher nach dem Wetterdienst richten würde als nach meiner Abendplanung.

Ein lauter Knall an der Fensterscheibe hinter mir ließ mich zusammenzucken. »Was war das?«, fragte ich Dad und drehte mich um. Doch außer den Schneekristallen und dem dichten weißen Gestöber war nichts zu erkennen.

»Bleib sitzen!« Er stellte sich vor das Fenster und schaute raus. »Die Verwehungen sind so dicht, dass ich nichts erkennen kann. Ich sehe mal nach, aber geh du rüber zu Sammy. Wenn du noch mal krank wirst, tötet mich deine Mutter.«

»Okay.« Ich würde ihn nicht fragen und Mum, die oben ein Bad nahm, erst recht nicht.

Ich schaute ihm noch dabei zu, wie er sich trotz des Gegenwindes nach draußen drängte und mit aller Kraft die Haustür schloss. Als die Luft rein war, holte ich mein Handy aus der Tasche.

Steven hatte mir drei Nachrichten geschickt:

 

Freu mich auf dich, Baby ;)

Megaviele sind hier und warten auf den Sturm. Das wird geil.

Ich bin jetzt schon total heiß auf dich! Bis gleich!!! :))))

 

Ich steckte mein Handy mit einem Grinsen wieder weg, als Dad zurück ins Haus kam.

Seine Jacke war weiß vom Schnee. Selbst in seinem Dreitagebart und seinen Augenbrauen und Wimpern hatte sich Eis abgesetzt. Er bibberte vor Kälte und stemmte sich erneut gegen die Haustür, um dem peitschenden Wind zu trotzen. »Muss ein Vogel oder Ast oder so gewesen sein.«

»Gegen unser Fenster ist ein Vogel geflogen?«

»Ja, kann sein, Schatz.« Dad presste die Lippen zusammen, wohlwissend, dass es nichts gab, das dieses Bild aus meinem Kopf verbannen konnte. Der Tod war nichts für mich.

»Komm«, sagte er und deutete mit dem Kopf in Richtung Wohnzimmer. »Wir gehen ins Warme.« Er ging vor.

Ich nahm meinen Teller und schüttete die restliche Suppe in den Ausguss, bevor ich mein Handy wieder herausholte und Steven schnell schrieb: Komm nach. Fangt ohne mich an!

Oben hörte ich, wie Mum das Bad verließ.

Irgendwie würde ich schon einen Weg finden.

Kapitel 2

 

Kapitel 2

 

SHANE

 

 

Ihm die ID Card aus der Hosentasche zu klauen, war so einfach wie sonst auch. Mein Vater schlief seit 21:30 Uhr tief und fest in seinem Zimmer, wie immer auf der rechten Seite des Bettes. Die linke hatte meiner Mutter gehört. Ihr Kissen war trotz der Dunkelheit im Raum schemenhaft zu erkennen: weiß, glatt gestrichen und aufgeklopft, als würde er sie jeden Moment zurückerwarten. Es blieben nur noch wenige Tage bis zu ihrem Todestag; für ihn die schlimmste Zeit des Jahres. Ich hatte sie nie kennengelernt. Alles, was ich über sie wusste, hatten mir die Kolonisten erzählt. Mein Vater, der ihren Verlust noch immer nicht überwunden hatte, schwieg seit fast einundzwanzig Jahren. Von ihm kannte ich nur einen Satz: ‚Sie war alles, was ich je wollte.‘ Und was mich anging, meinte er das todernst.

Ich verscheuchte den Gedanken – es war keine Zeit für Trauer oder Wut – und tastete seinen Nachttisch ab. Unter meinen Fingerspitzen spürte ich die umgekippte Tablettendose. Die Aufschrift kannte ich auswendig:

 

Ammena 10 mg

Patient: -

1x Tablette vor dem Schlafengehen oral einnehmen.

 

Er machte sich schon lange nicht mehr die Mühe, das Namensfeld mit Dr. Dr. Timothy O’Neill auszufüllen. Als Henry, damals der hauptverantwortliche Arzt, vor zwölf Jahren die Station verließ, übernahm mein Vater, eigentlich Genetiker, die medizinische Versorgung der Kolonisten zusätzlich. Seither verfügte er über den uneingeschränkten Zugriff auf alle Medikamente und machte sich das auch zunutze. Es gab niemanden in der Basis, der es nicht wusste, aber keiner wagte es, ihn darauf anzusprechen. Er wurde zu sehr gebraucht. Und wo sollten sie ihn auch hinschicken? Wenigstens würde er so schnell nicht aufwachen und bemerken, dass seine ID Card fehlte. Und ich.

Ich schlich aus seinem Zimmer zur Wohnungstür, ein Gang von wenigen Sekunden.

Die ersten Kolonisten hatten die Mondbasis vor rund dreiundzwanzig Jahren in einem alten Lava-Tunnel im Mare Frigoris, dem Meer der Kälte, errichtet. Der Status quo erinnerte noch immer an die Zweckmäßigkeit, mit der man das Projekt begonnen hatte: eng, klinisch und aufs Wesentliche beschränkt. Die Wohneinheiten der Mondbasis waren klein, zwischen 15 und 40 qm, mit 2,30 m hohen Wänden und nur spärlich eingerichtet. Die Schlafräume der Bewohner bestanden aus einem Bett mit Nachttisch, einem Schreibtisch mit Stuhl und einem Kleiderschrank. Die Wohnzimmer mit Küche waren mit einem kleinen beigefarbenen Sofa und einem Metallbeistelltisch ausgestattet, einer winzigen Sitzecke mit je einem Stuhl pro Person und einem Minikühlschrank. Für alles andere mussten wir den Gemeinschaftsraum nutzen.

Ich versuchte, so leise wie möglich zu sein, um meinen Vater nicht zu wecken. Hier bedeutete jedes kleine Geräusch Lärm. Zum Glück strahlten die schneeweißen Blechwände selbst in der erdrückenden Dunkelheit und machten es mir leichter, nirgendwo gegenzustoßen.

Entfernt hörte ich einen der Nachtwächter im Gang; er bewegte sich langsam weg. Ich würde noch etwas warten, obwohl ich wusste, dass er erst in fünf Minuten und dreißig Sekunden wieder an unserer Tür vorbeikommen würde. Denn so lange dauerte es, um von hier zum Gemeinschaftsraum, in die Küche, zum Wassertank, Gewächsraum, der technischen Produktionsstätte, zu den Wohneinheiten, den Laboren und zurück zu gelangen – die wesentlichen Räume der Basis waren in einem Kreis angeordnet. Die restlichen Abteile der Basis hatte man nachträglich gebaut. Sie waren nur extern zugänglich, wie das Planetarium. Wenn ich erst das Labor eins, das nach den Wohneinheiten folgte, erreicht hatte, brauchte ich mir keine Gedanken mehr zu machen. Aus Sicht der Stationsleitung bestand nämlich kein Grund, die Labore unter Beobachtung zu stellen. Nur die Wissenschaftler hatten mit ihrer ID Card Zutritt. Ohnehin verbrachte niemand gern seine Zeit da, außer diejenigen, die tagsüber dort arbeiteten. Es erinnerte zu sehr an den Tod, der zu Beginn der Mission um sich geschlagen hatte. Von den ursprünglich vierunddreißig Kolonisten waren heute nur noch fünfundzwanzig am Leben – wir sieben Kinder, die auf dem Mond geboren waren, ausgeschlossen.

Ich hielt den Atem an, als ich langsam die Tür zum Flur öffnete, obwohl alle Türen der Basis nur aus einem dünnen, aluminiumartigen Material bestanden, das dem der Wände ähnelte. Sie quietschten weder noch knarrten sie. Trotzdem musste ich vorsichtig sein. Ich war bei meinen nächtlichen Ausflügen in den letzten Wochen zu oft erwischt worden und meine Streifzüge hatten die Stationsleitung in Alarm versetzt. Ihre Angst, ich würde den geschützten Teil der Basis verlassen und sterben, war in meinen Augen völlig übertrieben. Aber: ‚Es gibt Regeln, an die sich jeder zu halten hat‘, tönte Alissa Montgomerys betont strenge Stimme in meinem Kopf. Sie war die zweite Kommandantin der Basis und so regeltreu, wie ich es nur gern gewesen wäre. Auch wenn sie niemanden gern bestrafte, besonders nicht die Kinder der Kolonisten, bestand sie auf ihre Prinzipien und machte bei mir keine Ausnahme. ‚Hier müssen alle zusammenhalten! Das betrifft auch dich!‘ Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das zum ersten Mal zu hören bekommen hatte, aber es musste schon früh in meiner Kindheit gewesen sein. Manchmal kam es mir so vor, als wären alle in der Basis insgeheim darauf vorbereitet, zu sterben und die Erde nie wiederzusehen – außer mir, auch wenn ich es aus gutem Grund für mich behielt. Mein nächtliches Ziel war seit Jahren alles, was mich am Leben hielt – meine einzige Motivation, das triste Leben in dieser kargen Gegend des Universums zu ertragen. Mein winziges Stückchen Zufriedenheit.

Ich befürchtete, mein laut pochendes Herz würde mich verraten, als ich rechts in den engen, spärlich beleuchteten Gang schielte, der zum Gemeinschaftsraum führte. Abends trafen sich dort die Erwachsenen auf ein Glas Alkohol, der selbstgebrannt war und nach Benzin roch. Tagsüber aßen und verbrachten wir unsere Pausen dort.

Ich konnte ihr Gelächter hören.

Heute Nacht hatten Eric und Wolf Wachdienst. Einer der beiden würde aus dieser Richtung kommen und dann den Gang weiter nach rechts zum Labor eins und zur Schleuse gehen, um danach in die Wohneinheit zwei abzubiegen. Der Zweite würde aus der anderen Richtung kommen und hin und wieder in der Kommandozentrale auf die Monitore schauen, die die Bilder der Überwachungskameras zeigten.

Ich sah kurz nach links – der Weg war frei – und schloss vorsichtig hinter mir die Tür. Dann lief ich los.

Im Flur flackerten und sirrten die bläulich schimmernden Lampen, die in die Deckenverkleidung eingebaut waren. Die Wände wirkten im Nachtlicht jedes Mal wie glitzerndes Lametta. In Wahrheit bestanden sie aus Gerodium, einem speziellen Material, das die Kolonisten der Basis vor Extremtemperaturen und tödlicher Strahlung schützte. Bei Schwankungen zwischen plus 130 und minus 160 Grad auf der Mondoberfläche war das überlebenswichtig, auch wenn die Temperaturen im Lava-Tunnel leicht geringer waren. Durch das Gerodium hatten es die Wissenschaftler zumindest geschafft, die Temperatur innerhalb der Basis auf konstante 18 Grad zu regulieren und in den erschlossenen Gebieten des Tunnels minus 20 am Tag und nachts minus 80 Grad Celsius zu gewährleisten. Es war dennoch eine Gefahr, die allen – außer mir – das Leben kosten konnte.

Externe Hitze und Kälte machten mir nichts aus. Es reichte ein bisschen Wut oder Angst und meine Körpertemperatur stieg an. Kein schönes Gefühl, aber mittlerweile hatte ich mich an meine Anomalie gewöhnt. Sie glich einem Monster in meinem Inneren, das endlich ausbrechen wollte – wie in den Alien-Filmen, nur dass ich selbst das Monster war. So hatte ich es einmal Annabelle erklärt. Aber sogar sie, die mich als meine Mentorin besser kannte als sonst jemand, verstand nicht, was mit mir passierte, wenn es losging. Seit dem Unfall früher trainierten Annabelle und ich deshalb nur noch, wie ich meine Gefühle in den Griff bekam – und das war allen recht. Die Sicherheit der Mission hatte oberste Priorität und die Anomalien der anderen Mondgeborenen waren so viel leichter zu steuern als meine.

Ein Blick auf meine Uhr machte mir klar, dass ich mich beeilen musste, bevor mich noch jemand entdecken würde.

Es dauerte nur noch zwanzig Sekunden bis zum Labor. Während ich schon durch den schmalen Gang auf die Tür zulief, holte ich die ID Card meines Vaters aus der Hosentasche. Das Alarmsystem auf meiner Brusthöhe neben der Tür zum Labor verlautete in roten Lettern Authentifizierung notwendig – darüber ein Schild mit der Aufschrift Zutritt Unbefugten verboten. Ich schob die Karte in den Schlitz und gab hastig den fünfstelligen Code ein – das Geburtsdatum meiner Mutter: 7.11.73. Mit einem Piep verkündete mir IO, benannt nach der Intergalactic Organisation, die das Projekt Mondbasis ins Leben gerufen hatte: »Zutritt gewährt.« IOs Stimme klang nicht wie Siri. Sie erinnerte eher an ein menschliches Wesen.

Mit einem dumpfen Zischen entriegelte sich die Tür und fuhr vollautomatisch in die Wand hinein, um sich wieder zu schließen, als ich sicher im stockdüsteren Raum stand. Ich lehnte mich für einen kurzen Moment gegen die Wand und atmete tief durch. Ein Erfolg der Mission war es zwar, in unserem Areal eine künstlich erzeugte Schwerkraft und annähernd erdähnliche Atmosphäre zu schaffen. Aber man konnte spüren, wie viel dünner die Luft im Lava-Tunnel im Vergleich zu der in der Basis war.

Noch ein letzter Atemzug, bevor ich ihn betreten würde.

Mich trennten einundzwanzig Schritte von der Schleuse.

»Achtung: Zutritt nur mit Atemmaske und Wärmeanzug!«, tönte IO, als ich schließlich die ID Card ein letztes Mal durchzog.

Ich öffnete die schwere Tür und trat in den dunklen Tunnel. Wenn ich mich beeilte, bräuchte ich vielleicht elf, zwölf Minuten zu ihr. Nicht mehr. Aber selbst die waren mir nach all den Jahren noch immer zu lang.

Ich startete den Timer meiner Armbanduhr, die auf Erdzeit, genau genommen die Uhrzeit in Houston, USA, eingestellt war. Bis um halb eins musste ich wieder zurück sein; danach verriegelten sich sämtliche Türen automatisch für die ganze Nacht und öffneten sich erst um sechs Uhr morgens wieder. Bis dahin kam niemand aus der Basis raus oder wieder hinein. Ich hatte zum Glück noch Zeit.

Genug Zeit mit ihr.

Kapitel 3

 

Kapitel 3

 

EMMA

 

 

Ich sah auf mein Handy. 22:37 Uhr. Ich würde jetzt los oder hierbleiben müssen; der Schneesturm hatte sich in den letzten zwei Stunden zu sehr verstärkt. Je länger ich wartete, desto schwieriger würde es werden, vom Dach bis zur Rosenleiter zu rutschen und dann herunterzuklettern. Wenn es mir überhaupt gelang ...

In meinem Kopf hörte ich die Stimme meines besten Freundes Connor sagen: ‚Ernsthaft? Für so einen Trottel?‘ Ich ignorierte sie, wie so oft. Er fand – um es mit seinen Worten auszudrücken –, Steven würde es an Anmut fehlen. So gern ich Con hatte: Mir gefiel es, Zeit mit Steven zu verbringen, auch wenn wir nicht das beste Match waren. So viel wusste ich ja selbst. Es war auch sicher nicht der perfekte Abend für mein erstes Mal. Aber es mit Steven zu erleben, war nicht das Schlechteste, was mir passieren konnte, hoffte ich. Der Klügste war er zwar nicht, aber dafür der Liebling der Schule. Unzählige Mädels aus allen Klassenstufen waren in ihn verknallt. Er sah ziemlich gut aus und würde als erfolgreichster Sportler der Monroe High spielend leicht ein Stipendium fürs College bekommen. Das volle Klischee einmal rauf und runter. Und mit ihm würde ich in wenigen Minuten rummachen und mehr. Er hatte schon seit der Siebten eine Schwäche für mich. Das war kein naives Wunschdenken; jeder wusste davon. Ich hatte mich nur nie auf ihn eingelassen. Bis vor zwei Wochen, als ich seiner gefühlt einhundertsten Frage nach einem Date zugestimmt hatte. Ich wusste nicht mal, warum, denn ich war nicht in ihn verliebt. Selbst als Connor mich mit dieser Frage konfrontiert hatte, wusste ich nur mit den Schultern zu zucken. ‚Ich erkenn’ dich nicht wieder, Emma‘, hatte er geantwortet.

Ich dachte daran, wie es sich anfühlte, mit meinen Fingerspitzen Stevens Oberarme entlangzufahren. Ich wünschte nur, er würde besser küssen, aber auch das würde schon noch werden. ‚Alles braucht seine Zeit‘, wie Oma immer so schön gesagt hatte.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach mich in meinen Gedanken.

»Schlaf gut, Schatz!«, sagte Dad. »Wir gehen ins Bett.«

»Okay. Gute Nacht!«, antwortete ich und spielte ein Gähnen. »Ich wollt’ auch gerade schlafen.«

»Mach das.« Er nickte mir zu. »Zieh dir was Warmes an. Die Heizung geht zwar wieder, aber wer weiß, wie lange.«

»Alles klar.« Ich trug einen Wollpulli, aber trotz der heftigen Minustemperaturen war mir nicht wirklich kalt. Ich war zu aufgeregt, um irgendwas um mich herum zu merken.

»Schlaf gut!«

»Du auch.«

Draußen ließ der Sturm einen Ast der Eiche auf das Dach knallen, das ich gleich besteigen würde. Er berührte zum Glück nur den rechten Teil des Daches. Ich musste links herunter, aber wenigstens würden meine Eltern wegen der Geräusche des Sturms nichts von meinem nächtlichen Ausflug mitbekommen.

Nachdem ich die Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern einrasten hörte, textete ich Steven, dass ich in zwanzig Minuten bei ihm sein würde. Bis zu Phil brauchte ich höchstens fünf, wenn ich die Abkürzung über den Weg zwischen Mrs. Myers Haus und dem der Andrews nahm.

Beeil dich. Ich vermiss dich!

Ich musste lächeln. Steven war eine Abwechslung zur sonstigen Tristesse meines Lebens in Monroe. Ich hoffte nur, dass sich nach heute Nacht Liebesgefühle für ihn von allein einstellen würden.

Ich holte meine Wechselwinterjacke aus dem Schrank, die bei Weitem nicht so warm war wie die, die unten im Flur hing. Aber jetzt runterzugehen, war zu gefährlich. Meine Eltern oder Sammy würden mich wegen der knarrenden Treppenstufe sofort bemerken. Auch meine Stiefel musste ich unten lassen und holte stattdessen meine Boots hinter der Tür hervor. Schal, Mütze und Handschuhe hatte ich heute Morgen Gott sei Dank zum Trocknen auf die Heizung gelegt, nachdem ich meinem Vater geholfen hatte, das Feuerholz aus dem Schuppen zu holen. Der Schneeregen hatte meine Sachen in weniger als zehn Minuten durchgeweicht. Sie waren noch immer etwas klamm, weil die Heizung schon kurze Zeit später ausgefallen war, aber es würde schon irgendwie gehen.

Ich wartete noch zwanzig Minuten, bevor ich mir dicke Socken überzog und in die Schuhe schlüpfte, mich in meinen Parka wickelte und mit Schal & Co. vermummte.

Im Radio hatten sie von Polarluft gesprochen, doch wie es sich wirklich anfühlte, als ich das Fenster hochgeschoben hatte, war eine ganze andere Welt. Der Wind war so schneidend kalt, dass ich fürchtete, die Luft in meinen Lungenflügeln würde jeden Moment gefrieren. Das war einer der Momente, in dem ich mir wünschte, Wintersport zu lieben. Dann würde ich jetzt Skikleidung mit einer dieser lächerlich bunten und klobigen Brillen tragen. Aber ich war eher der Sommertyp, liebte das Meer, die Wärme der Sonne und den feinen Sand, der zwischen den Zehen kitzelte. Ich kletterte aufs Dach, schloss das Fenster hinter mir und rutschte langsam zur Dachrinne herunter.

Der Schnee war weich und glatt und binnen weniger Sekunden spürte ich die Begrenzung der Rinne unter meinen Schuhsohlen. Ich robbte zur linken Seite, wo ich die Rosenleiter packte und mich Stufe für Stufe nach unten bewegte. Der Ast der Eiche knallte aufs Dach und mischte sich in den Takt des Windes.

Die Sprossen der Leiter waren aalglatt; ich hatte Mühe, weder mit meinen Handschuhen noch den Boots abzurutschen.

Unter mir flog der Deckel einer der Mülltonnen durch die Luft.

Ich atmete tief in meinen Schal und versuchte, mich zu beruhigen, während ich mich an die Sprosse klammerte. Es waren vielleicht noch zehn oder fünfzehn Stufen, bis ich wieder sicheren Boden unter meinen Füßen haben würde. Nun war ich so weit gekommen. Kein Ausnahmewinter würde mich davon abhalten, heute Abend auf diese Party zu gehen ... und zu Steven. Vorsichtig ertastete ich die nächste Sprosse und vergewisserte mich, dass ich genug Halt hatte, um auch den anderen Fuß abzusetzen.

Eine Schneewehe warf mir Schneeflocken wie Salz ins Gesicht. Meine Augen brannten und begannen sofort zu tränen; noch nie war ich dankbarer für wasserfeste Wimperntusche gewesen. Ich drehte den Kopf vom Wind weg und tapste mit geschlossenen Augen voran. Wenn dieser Sturm nur nicht wäre ... Aber es würde alles gut werden. Dieser Abend würde besonders und unvergesslich sein.

Kapitel 4

 

Kapitel 4

 

SHANE

 

 

Ich brauchte nicht zu befürchten, irgendjemandem über den Weg zu laufen; nachts hielt sich niemand im Tunnel auf. Es war zu kalt und zu ungewiss. Selbst nach dreiundzwanzig Jahren Mondbasis wusste bis heute keiner mit Sicherheit, ob es hier unten noch anderes Leben gab. Gäbe es das, läge es nur nahe, dass es sich ebenfalls in den Tunneln aufhalten würde. Auch fremde Lebensformen müssten sich bestimmt vor Sonnenstürmen und Strahlung schützen. Nicht, dass ich an ihre Existenz glaubte. Für mich war es allein die menschliche Kreativität, gepaart mit der hiesigen Einöde, die Geschichten über Außerirdische entstehen ließ.

Jonas liebte es, sich Verschwörungstheorien auszudenken. Seine momentan liebste war, dass wir die erste Generation wären, die zum Mars starten sollte. Wir waren beinahe perfekt angepasst an die Bedingungen, hatten Terra Forming, wenn man eine Umgebung erdähnlich macht, zufriedenstellend hinbekommen – zumindest unterirdisch – und würden es jederzeit wiederholen können. Wir hatten das Zeug, um in einer überschaubaren Zeit die erste Siedlung auf dem Mars zu bauen. Seit Jahrzehnten dachte man auf der Erde darüber nach, welchen Planeten man sich als Nächstes sicherte, wenn die irdischen Ressourcen gefährlich knapp würden.

Kate hingegen ließ sich seit Jahren nicht davon abbringen, dass es im All intelligentes Leben gäbe, das sowohl die Erde als auch uns ausspionieren würde. Eigentlich wartete sie nur darauf, dass hier eines Tages ein Raumschiff unbekannten Ursprungs auftauchte, um sich am ganzen Helium-3 des Mondes zu bedienen. Sie glaubte, auch Aliens würden diesen Rohstoff gut gebrauchen können.

Ich musste bei solchen Gesprächen immer lächeln, wusste ich doch genau, was sich hier in den Tunneln befand: nichts. Vielleicht lebten Menschen in der angeblich existierenden Außenkolonie auf der Rückseite des Mondes. Doch ich würde erst in einigen Tagen – wenn ich einundzwanzig wurde – erfahren, ob es sie gab oder nicht, genauso wie die Aufgabe, die für mich vorgesehen war. Wir Mondgeborenen, wie uns IO nannte, würden alles erst mit unserer Volljährigkeit erfahren – noch ein Grund, wieso ich mich hier wegwünschte. Welchen Sinn machte es schon, auf dem Erdtrabanten zu leben, wenn man nicht wusste, wozu? Mir war in dieser Dunkelheit und Enge kaum etwas geblieben außer Musik, Lesen, manchmal ein paar Filme, Kraftsport und natürlich die paar Freunde, die ich in unserer Gruppe hatte. Ansonsten lebten wir verborgen vor der wahren Welt, der Erde, auf der es Regenbögen gab, echte Hotdogs, Ozeane, Jahreszeiten und Häuser, so groß, dass man sich darin verlaufen konnte. Und auch wenn ich keine Kälte spürte: Die, die in vielen von uns herrschte, weil auf dem Mond kaum etwas unsere Seelen nährte, lähmte mich wohl am meisten. Auf die eine oder andere Art flohen wir alle vor der Leere in unseren Herzen, auch wenn die wenigen Pärchen, die es in der Mondbasis gab, sie leichter verdrängen konnten als wir Singles. Insgeheim aber sehnten wir uns alle nach Überfluss und Möglichkeiten, eine Art der Lebensgestaltung, die keine Wünsche offenließ – etwas, das wir niemals haben würden.

Und deshalb war es mir auch egal, ob nun ein Ding aus dem kargen schwarzen Tunnel gesprungen käme oder nicht. Niemand jenseits des Mondes wusste von mir und niemand vermisste mich. Für die Welt gab es mich nicht einmal. Ich hatte nur noch die blasse Hoffnung, dass sich Emma an mich erinnerte und manchmal an mich dachte. Ihre Eltern hingegen wünschten mir sicher nichts Gutes. Wie oft ich mich gefragt hatte, wozu ich mein Leben ohne sie ertragen musste. Das alles wäre nicht nötig gewesen. Hätte man mir nach dem Unfall doch nur zugehört. Aber wer glaubte schon einem Achtjährigen? Auf eine merkwürdige Weise konnte ich es sogar verstehen.

Noch zehn Minuten. An den Kraterwänden hingen zwar gelbrote Lampen, die aber bei Nacht deaktiviert waren, um Energie zu sparen. Doch ich musste mich noch einige Sekunden durch die Dunkelheit kämpfen, bevor ich das Licht meines Handys anmachen konnte. Lieber nichts riskieren! Mein Herz schlug noch immer laut, aber zum Glück verdrängte das die ohrenbetäubende Stille des Mondes. Dieses ewige, viele Nichts ... Ich holte mein Handy aus der Hosentasche, scrollte mich durch Ems Playlist und machte mir Radioheads Creep an. Sie hörte es oft, wenn sie mies drauf war, allein in ihrem Zimmer saß und zum Mond hochsah.

Der Mond war nicht ganz so, wie es der Welt auf Fotos präsentiert wurde. Allein der natürliche Lava-Tunnel im Mare, in dem die Basis lag, war tief unter der Oberfläche verborgen, hatte eine Gesamtlänge von einhundertsiebenundzwanzig Kilometern, eine durchschnittliche Höhe von drei bis fünf Metern und eine Breite, die in den Hauptärmeln zwischen drei und dreißig Metern schwankte. Als wir einmal als Kinder auf Erkundungstour mit den Erwachsenen waren, standen wir plötzlich vor einer Klippe. Es ging über fünfzig Meter bergab in ein unerforschtes schwarzes Nichts. Wenn man hier unten die markierten Wege verließ, war es leicht, sich zu verirren. Wusste man um die Eigenheiten des Tunnels nicht oder war unvorsichtig, kam es einem Todesurteil gleich. Ich kannte den Weg zum Glück besser als mich selbst. Als Kind hatte ich mich oft gefragt, was sich wohl in den Nebentunneln verbarg, die zu betreten man uns verboten hatte. Weitere Gräben und Täler voller Dunkelheit? Noch mehr Enge und Nichts? Es war mir das einzige Mysterium geblieben.

Sieben Minuten. Ich schaltete die Taschenlampe meines Handys ein. Mit jedem Schritt wurde der Tunnel höher und weiter. An den Wänden zogen sich die Spuren der Lava wie gerade, mit Bleistift und Lineal gezogene Linien entlang. Gefrorenes Wasser glitzerte in der Dunkelheit, eingespeist in den Steinen und reflektiert vom Licht der Taschenlampe. Ich ging zügig und bräuchte nach der nächsten Abzweigung nur noch einige Meter, bevor ich das Außenlicht des Planetariums sehen würde. Zu meinen Seiten ragten ab diesem Abschnitt meterhohe Steine, die aussahen, als würden sie jeden Moment aus den Tunnelwänden herausbrechen. In Wahrheit waren sie so alt wie der Mond selbst.

Während Thom Yorke sang, dass er nur wolle, seine Liebe würde bemerken, wenn er nicht in ihrer Nähe war, stolperte ich über einige Brocken Regolith, Mondgestein, und konnte mich gerade noch so halten.

»Mann!« Ich atmete vor Schreck einmal tief durch.

Auf dem Mond hinzufallen, war eine dreckige Sache. Der feine dunkelgraue Mondstaub klebte an der Kleidung wie Zuckerwatte an feuchten Fingern. In der Basis hatten uns Sofia und Megan, die für die Küche zuständig waren, oft Zuckerwatte gemacht, als wir noch Kinder waren. Nachdem Em die Basis verlassen hatte, fragte ich mich ständig, ob Zuckerwatte auf dem Mond genauso schmeckte wie auf der Erde. Überhaupt stellte ich mir eine Menge Fragen, die sich darum drehten, wie es auf der Erde wirklich war.

An der Abzweigung angekommen, blieb ich abrupt stehen, als ich das Warnschild an der Wand links von mir sah. Ich vergaß es im Eifer immer wieder. Es zeigte ein Gesicht mit einer Atemmaske und tönte in großen neongelben Lettern: Achtung: Gesundheitsgefahr! Bitte Atemmaske aufsetzen!

Ich holte aus der Tasche meines Kapuzenpullis ein gefaltetes weißes Blatt. Man musste es nur zweimal aufklappen, nach dem Gummiband greifen, das an beiden Seiten befestigt war, und die Maske aufsetzen. Reine Vorsichtsmaßnahme, weil die Köpfe der Basis noch daran forschten, welche körperlichen Gefahren der Mondstaub barg.

Ab dieser Abzweigung war der Staub tiefer und feiner; man versank zentimetertief in der Schicht des Staubes und es roch stark nach verbranntem Schießpulver. Ohne dass man sich erklären konnte, wie der Staub bis in die entlegensten Ecken des Tunnels gelangt war, wurde die Gefahr der Partikel als hoch eingestuft. Die Glasstückchen im Staub gelangten leicht in den Blutkreislauf und enthielten winzige Eisenspitzen, die sich beim Einatmen in der Lunge festsetzen konnten. Ab einer Größe von weniger als drei Mikrometern – nahmen mein Vater und Maxim an – könnten sie für einen Menschen bereits tödlich sein. Für einen Menschen. Doch niemand konnte sagen, wozu die Körper der Mondgeborenen wegen ihrer anormalen DNS fähig waren. Und mein Körper schien sehr viel mehr abzukönnen als die Körper der anderen. Vielleicht läge es daran, dass ich der Erstgeborene auf dem Mond war, hatte ich Titus einmal sagen hören. Wir nannten Maxim nur Titus, weil er dem gleichnamigen römischen Kaiser wie aus dem Gesicht geschnitten war.

Ich konnte die sechs Lichter des Planetariums sehen. Sie blitzten in der Dunkelheit wie Fackeln hervor und wurden heller mit jedem Schritt, den ich tat. In wenigen Metern würde ich meine Taschenlampe ausmachen können.

Mich trennten noch zwei Minuten von ihr. Ich konnte es nicht erwarten, endlich unter der Sternenkuppel zu sitzen und ihr Gesicht zu sehen, ihr Lächeln und wie ihre Augen dabei aufflackerten – ihre Stimme zu hören. Sie war nicht so hoch wie die der Mädels in der Basis, sondern hatte eine faszinierende Tiefe; irgendwie erwachsen und trotzdem lieblich. Ich mochte Kate, Tracy und Nora, keine Frage, aber Em ...

Eine Minute noch, piepte meine Uhr. Ich öffnete die schwere, kreisrunde Tür. Meine Ungeduld kämpfte mit jeder Handlung, die nötig war – hineingehen, wieder zudrehen, warten auf die automatische Innentüröffnung. Gelassenheit war nicht meine Stärke.

Als ich endlich im Gang zum Planetarium war, ging ich schnellen Schrittes in den Kuppelraum hinein und schaltete das Licht an. Einzelne Lampen blitzten auf, die nicht mehr als Akzente setzten. Man brauchte für genaue Observierungen eine umgebende Dunkelheit und sie hauchte dem Moment eine unverwechselbare Romantik ein, wenn ich sie auch niemandem eingestanden hätte. In der Mitte des Raumes ragte das riesige Teleskop in die Höhe zur Kuppel. Es gehörte zu den innovativsten Teleskopen, das je gebaut worden war. Der Sockel allein nahm ein Drittel der Fläche des Planetariums ein; der graue Tubus war so dick wie der Stamm eines uralten Baumes. Aber ich wollte nicht zum Teleskop, auch wenn es mich jedes Mal aufs Neue beeindruckte.

Ich ging zur rechten Seite des Raumes, wo sich mehrere Flachbildschirme aneinanderreihten, schaltete einen der Computer und die Schreibtischlampe daneben ein und meldete mich am Server an. Es würde noch eine Minute dauern, bis sich eine Verbindung aufgebaut hätte.

Ich machte die Musik aus und schob mein Handy in die Hosentasche.

»Shane?«, hörte ich Wolf eine Sekunde später hinter mir sagen.

Bitte nicht! Ich drehte mich um.

Er war tagsüber Luft- und Raumfahrttechniker und Noras Vater.

Warum hatte ich ihn hinter mir nicht gehört? Natürlich: die Musik ... Wahrscheinlich war er mir die ganze Zeit gefolgt, ohne leise sein zu müssen.

Er lächelte mich an und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen. »Du wirst immer besser.«

Ich presste die Lippen zusammen und nickte. »Anscheinend nicht gut genug.« Ich wusste nicht, was schlimmer war: dass ich Em heute nicht mehr sehen würde oder dass sie mich schon wieder erwischt hatten. Das würde Ärger geben.

Im Hintergrund erklang IOs Stimme. »System startbereit. Bitte Benutzerdaten eingeben.«

Ich hielt den Atem an, während ich darauf wartete, was Wolf tun würde, aber er sah mich nur grinsend an und sagte kein Wort.

»Darf ich? Ganz kurz nur?«

Wolf machte eine Kopfbewegung zum Computer.

Gott sei Dank.

Ich drehte mich zum Monitor um, der mehrere Eingabefelder anzeigte, und gab Annabelles Zugangsdaten ein.

»Benutzerdaten akzeptiert«, tönte es.

IO verfügte über ein hoch entwickeltes Informationsnetz aus zahlreichen Satelliten, Teleskopen mit 3D-Okularen und unzähligen geheimen Kameras, versteckt unter anderem in Strom- und Fernsehmasten auf der Erde. Sie alle waren verbunden mit Fascination Earth, einer ebenso geheimen Software, die die Daten bündelte und so jeden Ort ansteuern konnte, in Audio und Video. Man brauchte nur die Koordinaten einzugeben. Es war wie die Welt on demand. Privatsphäre existierte nicht mehr, auch wenn die Regierungen sie vorgaukelten. In Wahrheit setzten sie schon seit Mitte des 20. Jahrhunderts Satelliten- und Fotospionage ein.

»Du hast fünf Minuten, Shane!«

»... keine einzige Sekunde länger. Versprochen!«, sagte ich.

Ich steuerte mit der Software schon lange nicht mehr Ems Adresskoordinaten an, sondern gab nur noch ihre Tracking ID ein. Allen Mondgeborenen war ein Chip mit so einer ID in den Nacken implantiert worden. Wenn sie nicht zu Hause war, konnte ich sie so wenigstens trotzdem hören und auch sehen, wenn sie an einem Ort war, an dem die Kameras im richtigen Winkel standen.

»Bitte warten«, sagte IO.

Ich klickte auf das Symbol eines Mikrofons und setzte mich auf den Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand.

»Stimmerkennung aktiviert.«

Fascination Earth zeichnete zwar alles auf, doch wir hatten schon lange keinen Zugriff mehr darauf. Überhaupt war es ein so anderes, viel intensiveres Gefühl, Em in Echtzeit zu erleben. Sie würde jetzt vielleicht am Fenster sitzen oder auf ihrem Bett ein Buch lesen. Sie ging selten schlafen, ohne den Mond am Firmament gesehen zu haben. Es hatte sogar Nächte gegeben, in denen sie gewartet hatte, bis er untergegangen war. Heute würde das um 1:16 Uhr sein. Mir wäre noch so viel Zeit bis zur automatischen Verriegelung geblieben, hätte mich Wolf nicht erwischt. Aber fünf Minuten waren besser als gar keine.

Das Bild auf dem Monitor war noch verwischt und zeigte schemenhafte Umrisse eines Hauses an, während es langsam an ein Fenster im ersten Obergeschoss zoomte.

»Berechnung eingeleitet.«

Das System würde etwa zwanzig Sekunden brauchen, um eine hochauflösende Ansicht darzustellen.

Kapitel 5

 

Kapitel 5

 

EMMA

 

 

Im Zimmer war es außer der seichten Beleuchtung des billigen grasgrünen Oxfordlampenimitats dunkel. Steven und ich lagen auf irgendeinem Bett, das nach Schlaf und einem süßlich-herben Eau de Toilette roch. Draußen fügte sich das laute Gerede und Gelächter unserer Mitschüler in den Beat der Musik ein, während der Schneesturm gegen das Fenster peitschte.

Steven lag auf mir und küsste meine Schulter. Sein Brustkorb hob und senkte sich im Takt seiner Hand, die meinen Körper herunterwanderte – zu meiner Hüfte, meinem Oberschenkel, unter meinen Slip. Und mit jedem Atemzug stöhnte er leise.

»Nicht so schnell«, sagte ich etwas forscher als gewollt und hielt seine Hand fest.

Er zuckte zusammen, aber sagte nichts, sondern legte seine Hand wieder still an meine Taille und küsste weiter meinen Hals.

Ich wartete auf ein Kribbeln in meinem Bauch, auf das Gefühl der Lust und Liebe und Leidenschaft, damit ich später Connor erzählen könnte, wie wunderschön es gewesen wäre und wie sehr er sich doch in Steven getäuscht hätte. Stattdessen fühlte ich mich wie eine leere Hülle, taub und teilnahmslos. Dabei hatte ich mich so gefreut. War ich nur aufgeregt?

»Magst du es so?«, hauchte er zitterig in mein Ohr.

»Ja«, log ich und gab mir Mühe, angeturnt zu klingen.

Seine Hand glitt bemüht langsam meinen Körper herunter. »So?«

Mit einem ‚M-hm‘ ließ ich ihn gewähren, obwohl ich spüren konnte, wie eilig er es hatte. Wenige Sekunden später befand sich seine Hand wieder an meinem Po. Sie war rau und zog meinen Körper noch dichter zu sich heran. Wollte ich das wirklich?

»Küss mich«, sagte er und wartete darauf, dass ich meinen Kopf zu ihm drehte. »Küss mich, Emma!«

In seiner Stimme lag eine Gier, die mich abschreckte. Doch ich gab nach. Er schmeckte noch immer nach dem Bier, das er mit Phil und den anderen getrunken hatte.

Draußen schien es ruhiger geworden zu sein. Die Musik spielte zwar in gleicher Lautstärke wie zuvor, aber es schien, als ob weniger Menschen im Flur ständen. Nur hier und da nahm ich einzelne Wortfetzen wahr, während ich versuchte, mich auf Steven einzulassen. Er hörte nicht auf, mich mit seinen Küssen und Händen zu bedecken, gegen die sich mein Körper immer mehr zu wehren schien. Wieso fühlte ich mich so unwohl?

»Muffin!«

Ich riss meine Augen auf. »Was?«

»Nichts«, antwortete Steven und hob kurz seinen Kopf.

»Aber ... du hast doch gerade was gesagt!«

»Nein, hab’ ich nicht«, flüsterte er geistesabwesend und vergrub sein Gesicht wieder in meiner Halsbeuge, während er mit einer Hand in meinem Rücken meinen BH öffnete.

»Doch, hast du!« Ich schob ihn ein Stück von mir weg. »Ich hab’s doch gehört!«

»Ich hab’ rein gar nichts gesagt, Emma!«

Ich hatte deutlich eine Männerstimme ‚Muffin‘ sagen hören und außer mir war nur Steven hier. Die Stimme hatte ernst geklungen und eindringlich, wie die Warnung eines Vaters. Nur dass ich mich nicht daran erinnern konnte, dass Dad mich jemals mit diesem Spitznamen angesprochen hatte.

»Aber ich kann dir gern schmutzige Dinge ins Ohr flüstern«, entgegnete er grinsend und schaute mir dabei in die Augen. Dann schob er den rechten Träger meines BHs von meiner Schulter und verlagerte sein Gewicht auf die linke Seite, um ihn mir ganz auszuziehen.

Ich schloss meine Augen wieder. Ich musste mich einfach nur fallen lassen.

‚Hihihi ...‘, hörte ich ein kleines Mädchen kichern. ‚Noch mal!‘, rief es, sein Lachen so laut und glücklich, wie nur kleine Kinder klangen.

Starr vor Schreck öffnete ich wieder die Augen. In meinem Kopf war das Bild eines blonden Jungen aufgetaucht, einen Kopf größer und ein paar Jahre älter als das Mädchen, die vielleicht fünf war. Er griff nach ihren Händen. Seine grünen Augen beobachteten sie aufmerksam mit einem Lächeln auf den Lippen. Dann warf sie ihren Kopf in den Nacken und lehnte sich voller Vertrauen zurück. Sie begannen, sich im Kreis zu drehen, spielten so eine Art Ringelringelreihe oder so. Ich spürte die Luft förmlich über das Gesicht des Mädchens streichen, als würde ich in ihrem Körper stecken. In diesem Moment schien es für sie niemanden außer ihn und ihr Spiel zu geben. Vielleicht, weil er ihre Hände so festhielt, als wäre sie etwas ganz besonders Wertvolles, das er nicht verlieren wollte. Und er schien Angst zu haben, sie könnte während des Drehens wegrutschen und sich verletzen.

Wie kam ich denn jetzt darauf? War ich das Mädchen? Aber wenn ja, wer war dann der Junge? Ich kannte ihn nicht ...

Mein Herz polterte so sehr, dass ich nicht mal Stevens Lippen und Hände auf meiner Haut fühlte. Ich atmete tief durch, in der Hoffnung, wieder in den gegenwärtigen Moment zurückzufinden. Doch mit dem Mädchen hatte mich ein überwältigendes Gefühl erfasst: eine plötzliche Glückseligkeit, die ich schon lange nicht mehr gespürt hatte. Es fühlte sich wie eine Erinnerung an, eine warme und glückliche Erinnerung an eine Zeit lange vor dieser, die nun unter Stevens Körper langsam vor sich hinstarb. Und gleichzeitig überrollte mich das Gefühl, ich würde jemanden betrügen.

»Warte!«, unterbrach ich Steven. Aber er hörte nicht auf, sondern wurde nur langsamer. »Steven!«, sagte ich schließlich mit Nachdruck. »Hör auf, bitte!«

Steven seufzte. »Was ist denn?«

»Ich kann nicht!« Ich kroch unter ihm hervor, zog meinen BH wieder an und meinen Slip hoch.

»Muffin«, hörte ich wieder diese Stimme sagen. Diese tiefe, eindringliche Stimme. Sie war nicht zu ignorieren.

Ich sah Steven an und hielt mich an seinem Arm fest. »Hast du das gehört?«, flüsterte ich ängstlich.

»Was meinst du?«, sagte er verunsichert.

Steven hatte sie also nicht gehört. Ich wartete darauf, dass die Stimme wieder in meinem Kopf auftauchte. Aber nichts geschah.

Steven fuhr mit seiner Hand von meinem Knie die Innenseite meines Oberschenkels hoch. »Komm wieder zu mir, Emma!«

Aber ich war so ergriffen von Angst, dass ich seine Hand unsanft wegschob. »Nicht!« Ich zog mir mein Shirt hastig über.

»Okay. Wir müssen das nicht tun, wenn du nicht willst.«

Doch Steven war nicht das Problem. Vor meinem inneren Auge zog der Junge das Mädchen zu sich heran und drückte sie an sich. Sie lachte und sah zu ihm hoch, schlang ihre Arme um ihn, als wäre er ihr Kuscheltier, weich und warm, wie ein sicherer Ort, an dem sie atmen konnte. Er legte sein Kinn lächelnd auf ihren Kopf und hielt sie fest. ‚Noch mal?‘, hörte ich ihn ganz ruhig fragen. Er war kein bisschen außer Atem.

»Emma?«, sagte Steven und holte mich in die Wirklichkeit zurück.

Ich schluckte die Bilder herunter, aber der Kloß in meinem Hals wurde immer größer. »Ich hab’ das Gefühl, mein Herz explodiert gleich. Irgendwas stimmt nicht.«

»Sollen wir zum Arzt?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, nein. So meine ich das nicht.« Ich versuchte, mich zu beruhigen. »Es ist, als wenn ...« Es fühlte sich so an, als wäre etwas in mir erwacht, das Steven und mich, hier in diesem Bett, nicht zuließ. Nur fühlte es sich nicht nach mir an, sondern gänzlich fremd – wie ein Organismus, der unbemerkt unter meine Haut gekrochen war, um dort seine Eier abzulegen. Sie schlüpften und versuchten, meinen Willen zu verdrängen.

»Komm wieder zu mir! Ich bin vorsichtig. Versprochen!« Er drückte mich sanft zurück aufs Bett.

Ich wollte plötzlich nur noch raus aus diesem Zimmer, aber Stevens Gewicht machte es schwer, mich zu entziehen.

»Entspann dich«, hauchte er und begann, mich von Neuem zu küssen.

Aber sie drehten sich weiter im Kreis. Er hielt die Kleine noch fester als beim ersten Mal, während er ihre Bewegungen aufmerksam studierte, als gäbe es nichts, was je wichtiger sein würde als sie, hier, in seinen Händen – und das nur, weil er sie glücklich sehen wollte.

Kapitel 6

 

Kapitel 6

 

SHANE 

 

»Muffin ...«, murmelte ich leise. Sie mit diesem Typen zu sehen, war mehr, als ich ertragen konnte. Ich wollte, dass sie aufstand und ging, damit ich ihnen nicht weiter zusehen musste – damit nicht jemand anderes außer mir sie berührte. Und dann auch noch so ein schmieriger Typ. Sie war so heilig.

Em hatte ihre braunen langen Haare leicht gelockt und sich sogar geschminkt, was sie sonst nur sehr selten tat. Sie trug normalerweise nur Wimperntusche, aber heute Abend hatte sie sogar roten Lippenstift drauf, auch wenn dieser Typ ihn schon fast weggeküsst hatte.

Mir drehte sich der Magen um bei dem Gedanken, dass sie mit ihm schlafen würde. Jeder Versuch, ruhig zu bleiben, war zum Scheitern verurteilt.

»Na guck mal einer an! Wen haben wir denn hier?«, hörte ich meinen Vater abfällig hinter mir sagen.

Ich drehte mich um – so gelassen, wie ich nur konnte. Ich wusste, was jetzt kommen würde.

»Timothy!«, schoss es aus Wolf heraus. »Er hat nur ...«

Aber mein Vater winkte sofort ab und kam schnellen Schrittes auf mich zu.

»Tut mir leid, Mann«, sagte Wolf zu mir und blickte auf den Bildschirm. »Beides.«

Ich hielt dem Blick meines Vaters stand, auch wenn mir seiner sagte, dass Auflehnung alles nur noch schlimmer machen würde. Er versuchte, einen Blick auf den Bildschirm zu werfen, aber ich stellte mich schützend davor, um die Anlässe, mich kleinzumachen, so gering wie möglich zu halten. Solche Gelegenheiten waren ihm immer willkommen.

»Geh vom Bildschirm weg, Shane!«

»Nein!« Ich drehte mich um, um ihn auszuschalten, in der Hoffnung, dass es die Situation schneller erledigen würde, aber er schubste mich zur Seite.

Als er Em sah, wie sie mit diesem Typen im Bett lag, lachte er laut auf. »Und?« Er schob die Hände in die Taschen seiner dunkelblauen Thermohose. »Gefällt’s dir? Soll ich dir noch Popcorn holen oder so?« Er schürzte die Lippen. »Ein paar Chips? Oder vielleicht«, sagte er grinsend und zuckte mit den Schultern, »Taschentücher?«

Ich drehte mich von ihm weg. Ihn allein nur aus den Augenwinkeln zu sehen, war schon zu viel. Tausende Gedanken wirbelten in meinem Kopf herum, doch keiner klang auch nur annähernd freundlich. Man sollte meinen, ich hätte mich mittlerweile an die offene Feindschaft, die er mir entgegenbrachte, gewöhnt. Aber seine Selbstgefälligkeit war nach wie vor ein Stich ins Herz.

»Lass das ...«, zischte ich leise und versuchte, Ruhe zu bewahren.

»Sonst was?« Er kam zu mir und stellte sich vor mich.

Ich vermied es, ihm direkt in die Augen zu sehen. Ich wollte ihm diese Genugtuung nicht geben, egal, wie viel Kraft es mich kosten würde, ihm keine reinzuhauen. Aber ich spürte es schon kommen: wie es langsam durch meine Adern floss und meinen Körper hochwanderte.

»Wolf?«, dröhnte es von der Tür.

»Eric ...«, bedeutete ihm Wolf mit einem Kopfnicken.

Als er mich sah, lachte er und verschränkte ebenfalls die Arme. »Schon wieder, Shane?«

Ich sah kurz zu ihm hoch und drückte ein Grinsen heraus, so wütend ich auch auf mich war, dass ich nicht besser aufgepasst hatte. Aber bestimmt hatten sie nur darauf gewartet, dass ich die Regeln ein weiteres Mal brach.

»Okay, Leute. Lasst es uns vergessen. Eric und ich müssen wieder zurück«, sagte Wolf.

Er war ein netter Kerl. Wie gern ich lieber ihn als Vater gehabt hätte. Immerhin zeigte er Verständnis für meine Situation und war nicht so ein bodenloser Arsch wie mein Vater. Wenn ich genau darüber nachdachte, konnte ich mich nicht erinnern, dass mein Vater jemals Rücksicht auf irgendjemanden genommen hatte – als wäre ihm jeder und alles egal, ganz besonders sein einziger Sohn.

»Du machst mich so verrückt, Emma«, stöhnte die Stimme dieses Typs aus den Lautsprechern.

Ich erstarrte, als wäre ein Blitz in mich gefahren – es ging los – und sah an mir herunter. Meine Hände begannen, gelbrot zu leuchten und wie die Flamme einer frisch angezündeten Kerze langsam vor sich hin zu flackern, nur darauf wartend, aus mir ausbrechen zu dürfen.

Wolf, Eric und mein Vater schauten auf den Bildschirm. Ich drehte mich langsam um, ohne sagen zu können, ob ich es ertragen würde, noch länger mit anzusehen, was er mit Em anstellte, wie er ihren Hals küsste und seine Hände ihre nackte Haut berührten. So viel wie ich in diesem Moment konnte kein Mensch atmen ...

Em sah, ohne es zu wissen, aus dem Fenster direkt in eine von IOs Kameras. Ihre Augen wirkten traurig und nachdenklich. Ihr schwarzer Slip war zum Glück da, wo er hingehörte, und auch mein liebstes Shirt von ihr, ein weites graues Langarmshirt mit der Aufschrift Music is my cardio, hatte sie noch an. Aber bald würden alle Techniken, um ruhig zu bleiben, nicht mehr wirken.

Ich ging zum Computer, um ihn auszuschalten.

Aber wieder schubste mich mein Vater weg. »Shane, Mann!«, schrie er gespielt. »Was machst du denn? Es wird doch gerade erst spannend!« Er grinste süffisant.

Jahrelang hatte ich versucht, so zu sein, wie mein Vater mich haben wollte. Ich hätte alles getan, um ihn zu beeindrucken – um wenigstens ein Tüpfelchen seiner Anerkennung und Liebe zu gewinnen. Irgendwann hatte ich verstanden, wie ausweglos dieser Versuch war, und hörte damit auf.

 »Lass das!«, forderte ich und sah ihm ins Gesicht.

»Ach sooo. Du machst Emmas Leben zu deiner Samstagabendvorstellung, aber ich bin der Böse, ja?« Er klatschte sich mit der Hand an die Stirn. »Verstehe!«

Ein Teil von mir wusste, dass er recht hatte. Auch wenn ich mit diesem Abend und Typen nicht gerechnet hatte. Ich hatte gesehen, dass sie ein paar Mal mit ihm im Kino gewesen war, aber weil IO den Zugriff auf die gespeicherten Aufnahmen gesperrt hatte, bekam ich nur noch Bruchstücke ihres Lebens mit. Und sowieso war immer Connor dabei gewesen.

»Ich finde, wir gucken Emma noch ein bisschen dabei zu, wie sie sich vögeln lässt.« Er klopfte mir selbstgerecht auf die Schulter und legte dann seinen Arm um mich. »Was meint ihr dazu?«, wandte er sich zu Wolf und Eric.

»Tim, es reicht!«, sagte Wolf.

Aber er ignorierte ihn. »Macht dich das eigentlich an, Shane?« Er drehte uns beide zum Monitor. »Stellst du dir dabei vor, du wärst er?«

Meine Wut verdichtete sich so sehr, dass es in mir knallte wie Feuerholz in einem Kamin. Nichts hätte mich noch zurückhalten können. Es war einer jener Augenblicke, die niemand bei mir erleben wollte, aus Angst, dass ich die Basis, Mission und das Leben aller Kolonisten gefährden würde. Aber als ich meinem Vater in die Augen schaute, so zufrieden über meine Ohnmacht wegen Em und gleichzeitig kurz befreit von seinem eigenen Schmerz, wurde mir alles egal. Einmal, nur einmal in meinem Leben, wollte ich sehen, dass er Angst hatte, dass er tatsächlich ein Mensch mit Gefühlen war, den man genauso verletzen konnte wie er mich: Ich befreite mich aus seinem Griff und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht.

Er schrie vor Schmerz auf und fiel zu Boden. Aber es war das beste Gefühl seit Langem – so erleichternd von der Schwere all dieser Jahre mit ihm.

Mein Vater fasste sich ins Gesicht. Als er das Blut aus seiner Nase an seinen Fingern sah, schaute er mich überrascht an. »Warum bist du eigentlich nur ein Mann, wenn es um Emma geht?«

»Tim, genug jetzt!«, brüllte Wolf.

Mein Vater lachte in sich hinein und wollte wieder aufstehen, doch mein Körper übernahm und schlug ihn erneut zu Boden. Ich kann nicht sagen, wann sich meine Augen mit Feuer gefüllt hatten; normalerweise war es der Auftakt zum Schlimmsten und ich spürte es sofort. Aber ich musste den Punkt schon überschritten haben. Aus meinen Händen schossen Flammen und ich konnte die Hitze in meinem Nacken spüren, wie sie sich mehr und mehr in meinem Körper ausbreitete – der Moment, kurz bevor ich ganz in Flammen aufgehen würde.

»Shane!«, hörte ich Wolf und Eric entfernt rufen.