Der Mond kommt von Finnland - Eva Rechlin - E-Book

Der Mond kommt von Finnland E-Book

Eva Rechlin

3,0

Beschreibung

Begleitet Christine und Sabine zu ihrem einzigartigen Sommer, den sie in Lappland verbringen wollen. Jedoch reisen sie nicht auf direktem Weg dorthin, sondern machen einen Zwischenstopp in Lübeck. Dort begegnen sie dem jungen Jürgen, mit dem sie sich anfreunden. Sie entscheiden sich, vorerst in Lübeck zu bleiben. Es entstehen jedoch Probleme, als beide Mädchen Gefühle für Jürgen entwickeln. Lassen sich diese Probleme lösen und werden die Mädchen nach Lappland weiter reisen? Nur eines klar: der Mond, der von Finnland aus in ihre Richtung scheint, wartet auf sie.-

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Eva Rechlin

Der Mond kommt von Finnland

SAGA Egmont

Der Mond kommt von Finnland

Copyright © 1954, 2017 Eva Rechlin og Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

All rights reserved

ISBN: 9788711754399

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach

Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Eines Tages hatten die beiden Mädchen Christine und Sabine es sich in den Kopf gesetzt, nach Lappland zu fahren. Um die Zeit der hellen, kurzen Nächte und der Mitternachtssonne gingen sie auf Fahrt. Vorläufig jedoch kamen sie erst einmal bis Lübeck — aber von Lübeck ist es bis Schweden ja nicht mehr so weit. Sie erreichten die Stadt am Spätnachmittag. Die Leute kamen alle gerade von Niendorf und Timmendorf zurück, und ihre Gesichter strahlten Ostseebrisen und Sonnenbrände aus. Christine sagte gleich: »Vielleicht können wir vor der Reise nach Lappland noch einmal nach Timmendorf fahren.« Sabine schwieg dazu, und sie machten sich auf die Suche nach der Wohnung von Christines Kusine, welche um diese Zeit gerade irgendwo im Süden weilte, um dort ihren Urlaub zu verbringen. Ihre Lübecker Wohnung hatte sie für die Zeit ihrer Abwesenheit gern ihren Verwandten zur Verfügung gestellt und vorsichtshalber auch gleich den dazugehörigen Schlüssel per Drucksache überreicht. Seit sie aus dem Zug gestiegen war, hielt Christine nun den Schlüssel bereitwillig in der Hand. Aber das änderte nichts daran, daß die beiden Mädchen Stunde um Stunde vergeblich nach der Straße suchten, in welcher sich die Wohnung befinden mußte.

So ließen sie sich denn bei einbrechender Dämmerung ratlos auf einem Brückengeländer nahe vorm Holstentor nieder, um darüber nachzudenken, ob man sich über ihre Situation Gedanken machen müsse. Aber plötzlich bemerkten sie so etwas wie einen großen Jungen oder Mann-Anfänger, der mehrmals an ihnen vorüberging — hin und her —, um sich dann ruckhaft neben sie auf das Brückengeländer zu setzen. Da saß er, pfiff vor sich hin und schlenkerte im Takt mit den Beinen. Deshalb war es kein Zufall, daß die Blicke der Mädchen sich auf seine Füße richteten. Manche Menschen können schon sympathisch sein, wenn man sich nur ihre Füße betrachtet. Es gibt Füße, die mit den Spitzen auffällig nach außen gerichtet sind — sie können rechthaberisch, eitel, sinnlich, intelligent, selbstsicher oder gewandt wirken. Sie können auch ganz und gar irreführend sein, denn es gibt Menschen, die wir außerordentlich schätzen, obwohl sie solche Fußstellung haben. Es gibt auch Füße, die sehr nach innen gerichtet sind, zueinander — wie zwei kleine Jungen oder wie zwei schwatzhafte Großväter. Diese Füße muten meistens unsagbar naiv und gutmütig, dumm oder auch schlampig, aber im ganzen warmherzig an. Und es gibt Füße, die nur ein ganz klein wenig nach innen gerichtet sind — nicht so wie bei einer Ente, etwa so wie bei einem Hund, der kein Dackel ist — und dann kann man von ihnen manchmal auf einen gottgefälligen Idealismus schließen. Solche Füße hatte der Jüngling. Sie waren mit weißen Segelschuhen bekleidet, und auch im übrigen schien dieser Mensch nur leichtes Gepäck zu tragen. Seine Nase allerdings war seltsam zielsicher und vermutlich war sie es gewesen, die ihn in die unmittelbare Nähe der beiden Mädchen gesteuert hatte. — Nachdem seine Füße einen guten Eindruck auf sie gemacht hatten, blickten sie wieder geradeaus und begannen ein Gespräch, von dem vorher keine der beiden auch nur einen einzigen Gedanken im Sinn gehabt hatte. »Ganz netter Betrieb hier in Lübeck«, sagte Christine, »wir wollen uns das mal ein Weilchen begucken.«

»Mmh«, machte Sabine gedehnt, »meinetwegen bis es dunkel wird.«

»Haben wir überhaupt noch Zeit?«

»Aber ja — es sind doch Ferien!«

Der große Junge hörte plötzlich auf zu pfeifen.

»Ach schau mal«, sagte Sabine hastig und laut und wies mit dem Zeigefinger auf das Holstentor, »wie schön das Dingsbummstor da in der tiefstehenden Sonne aussieht!« »Dingsbummstor?« brummte Christine spöttisch, aber noch ehe sie fortfahren konnte, war da plötzlich die Stimme des Jungen: »Entschuldigen Sie, wenn ich mich einmische, aber ich hörte zufällig — na, jedenfalls heißt das Tor da Holstentor.«

Sabine nickte ihm mit einem angedeuteten Lächeln zu und sagte: »Danke. Es sieht aus wie zwei dicke alte Tanten, die ihren zarten Neffen zwischen sich führen. Finden Sie nicht?«

»Wunderbar!« lachte er auf, »die Tanten tragen sogar Hüte.«

Sie lachten alle drei, und als sie damit fertig waren, beugte sich Sabine ein wenig über das Brückengeländer und sagte wieder hastig: »Ich nehme an, daß dieses die berühmte Trave ist.«

»So berühmt ist sie gar nicht.«

»O doch — durch Travemünde. Das kennen wir auch noch nicht.«

»Sie sind fremd hier?« fragte er und musterte die Rucksäcke, die unter ihren Füßen am Geländer lehnten.

»Ja«, erwiderte Christine, »so fremd, daß wir nicht mal die Wohnung meiner Kusine finden können.«

Er schwieg ein Weilchen, dann sprang er plötzlich von der Brüstung hinunter, baute sich vor den Mädchen auf und sagte ernst: »Mein Name ist Jürgen.«

Sie nickten erschrocken, murmelten ihre Vornamen und fürchteten, er könne ihnen nach dieser Erklärung davonlaufen. Aber er schien damit etwas ganz anderes beabsichtigt zu haben — für die Preisgabe seines Namens wollte er ihr Vertrauen. Er machte eine Handbewegung und schlug ihnen vor, sich doch bitte seiner bei der Suche nach der Wohnung zu bedienen. Und wie er da erwartungsvoll vor ihnen stand, wurde er so sehr zu einem Teil ihrer Reise nach Lappland, daß die Mädchen nach dieser Begegnung eine ziemliche Strecke ihrer Nordlandfahrt streichen konnten. Aber das kam ihnen erst viel später zum Bewußtsein. —

Die Wohnung lag unmittelbar unter dem Dach, aber dennoch hoch über den andern Dächern der Stadt. Eigentlich war sie nur eine Andeutung von Wohnung — drei winzige Räume mit insgesamt drei Stühlen, einem schmalen Bett und einem ebenso schmalen Diwan, einem altersschwachen Tischchen, einem Wandspiegel und einigen Kisten und Vorhängen, die die Einrichtung vervollständigten. Der eine Raum war die Küche, die so groß war, daß sich eine Person darin bequem herumdrehen konnte, ohne allzuviel Schaden anzurichten.

»Und wenn man Bratkartoffeln haben will«, sagte Jürgen, der es sich nicht hatte nehmen lassen, ihnen die Rucksäcke herauf zu tragen, »dann muß man die Fenster öffnen, damit der Pfannenstiel auch noch Platz hat.«

Die beiden Mädchen liebten diese Wohnung vom ersten Augenblick an. Und zum zweiten Male an diesem Tage brach ein Stück ihrer Lapplandreise ab. —

Sie nannten die Straße, in die sie an diesem Tage eingezogen waren, von Anfang an ,Nordstraße‘, obwohl sie in ostwestlicher Richtung verlief. Sie wollten den Gedanken an Lappland auf diese Weise besonders lebendig erhalten. — Jürgen blieb nicht lange bei ihnen. Eine Weile lang stand er unschlüssig am Fenster, wies dann plötzlich mit seinem Zeigefinger vielsagend in den Abendhimmel und empfahl sich gleich danach. Sekunden später hörten sie ihn unten auf der Straße grell pfeifen.

»Er muß das Treppengeländer benutzt haben«, sagte Christine und beugte sich aus dem Fensterchen. Jürgen legte die Hände trichterförmig um den Mund und rief herauf: »Morgen früh?«

»Was meint er?« fragte Christine.

»Ob er morgen früh kommen kann.«

»Abgemacht!« rief sie hinunter. Er nickte ernst und trottete bedächtig davon. —

An diesem Abend warteten sie lange auf den Mond. Sie konnten die Zeit am offenen Fenster verbringen, weil es nichts für sie zu tun gab. Die Rucksäcke wollten sie gar nicht erst auspacken.

Es dauerte eine lange Zeit, bis sie den Mond sahen, obwohl er schon seit der Dämmerung am Himmel gehangen hatte. Zuerst sahen sie nämlich nur die Dächer. Sabine sagte: »An der Frisur kann man manchmal den Charakter erkennen. Wie findest du diese Frisur?«

Sie sahen die Dächer schon unter einem Schleier von Blau und Violett. Zwischen ihnen hingen Fetzen von künstlichem Licht, und die Nordstraße roch nach Fisch und Bratkartoffeln. Hinter einer fernen Pappelallee war die Sonne versunken. Christine hatte einmal gehört, daß Napoleon die Pappeln in Deutschland eingeführt hätte. Seitdem sah sie in ihnen immer französische Soldaten. Und noch etwas war an ihnen: eine Spur der steilen Flammen, die in Zypressen lodern. Das hatte sie nun wieder gesehen, als die Sonne hinter den Pappeln verglüht war. Von diesem Verbrennen blieb ein aschgrauer Horizont übrig, der sich den Dächern als Abend genähert hatte.

»Ach«, sagte Christine, »wir könnten die Rucksäcke eigentlich doch auspacken. Gerade jetzt soll es in der Tundra so viele Mücken geben …«

*

Am nächsten Morgen brachen sie um vier Uhr auf. Sie wußten noch nicht genau, wohin es gehen sollte, nur eines war sicher, daß es noch nicht nach Lappland ging. Es war dämmerig. Bevor sie aufbrachen, warfen sie einen Blick aus dem Fenster und sahen, daß die Stadt noch schlief.

Es ist etwas Geheimnisvolleres um eine Stadt, die noch schläft, als um eine, die schon schläft. Wer noch schläft, der träumt. Wer noch schläft, hat dafür Gründe, und sie liegen in der letzten Nacht. Es können ganz einfache Gründe sein, aber es können auch Abgründe sein. Man kann sie nur erkennen, wenn man hinabsteigt. Aber die meisten Menschen steigen immer nur in ihre eigenen Abgründe hinab — oder lassen sich hinunterfallen — und deshalb bleiben die fremden ihnen geheimnisvoll. Und weiter ist um eine noch schlafende Stadt etwas Rührendes und Unangetastetes. Augen, die aufwachen, sind sekundenlang sehr junge, kindhafte und unwissende Augen. Je weiter der Tag vorgeschritten ist, desto erstaunter und hilfloser sind die erwachenden Augen, desto verwirrter und ferner — fern im Unergründlichen. Die Mädchen sahen nur einen Mann, der dem Bahnhof zuzueilen schien. Er trug einen Koffer in der Hand, und der Mantel flatterte um seine Gestalt. Als er an einer Straßenlaterne vorüberhastete, war er plötzlich eine letzte große Motte, die herab und weiter, weiter taumelte.

Christine sagte: »Am Hafen muß es jetzt am schönsten sein.« Am Hafen sägte der Motor einer kleinen Barkasse die Dunkelheit auseinander und spaltete sie in ein Zwielicht, das für die Mädchen ein Vorschimmer der hellen Nächte in Lappland war. Die Barkasse fuhr mit einem grünen Licht durch den Hafen, als sollte der Tag damit angezündet werden. Das Licht war groß und breit, wo es als glimmernde Straße über das dunkle, glucksende Wasser hingeisterte. Der Hafen kam ihnen klein vor, aber deshalb war er auch von ihrer ganzen Zuneigung zu umschließen. Sie standen oben an der Brüstung einer gewölbten, graugelben Steinbrücke und warteten und warteten darauf, daß ihnen ein Schiff, eine Welle oder eine fremde Flagge ein Zeichen von der Welt und der Ferne gäbe. Aber es ereignete sich an diesem Morgen nichts, was von außerhalb der Stadt kam. Am Kai lagen nur Schiffe, die nicht größer als Gartenhäuser waren. Die Namen am Bug dieser Schiffe waren statt skandinavisch, amerikanisch oder asiatisch nur plattdeutsch, und als sie sich endlich aus diesem Bild lösten und zur Stadt umwandten, hatte der Tag — der geräuschvolle Tag mit Straßenbahnen, Autos und Fischfrauen — längst begonnen. Da stiegen sie hinab in ein Kellerlokal und bestellten sich heißen Kaffee mit Sahne und Zucker. —

Auf dem alten, ehrwürdigen Rathausmarkt kam ihnen Jürgen entgegen. Er sah so aus, als hätte es für ihn keine Nacht gegeben, als hätte er gar nicht geschlafen — oder mindestens so, als hätte er sich inzwischen nicht einmal aus — und angezogen. Es saß an ihm alles genauso wie am Tage zuvor. Nur sein schmales Gesicht war frisch und hell, und zum ersten Male fielen ihnen die unzähligen Sommersprossen auf. Er wunderte sich gar nicht darüber, daß sie noch nicht in Lappland waren. Er lächelte nur ein bißchen und sagte: »Ich war grad auf dem Wege zu euch.« Zögernd erwiderte Christine: »Du siehst — wir wären gar nicht dagewesen.«

Vergnügt nickte er und bemerkte nicht, daß Sabine erstaunt von ihm zu Christine und rasch wieder auf ihn blickte. Ihr erschien das unüberlegte ,Du‘ nicht so selbstverständlich wie den beiden, sie hätte das ,Sie‘ gerne noch eine Weile lang benutzt — aber nun war es wie mit einem Schwamm von der Tafel gelöscht worden, und sie konnte sich nicht davon ausschließen.

»Wir können ja mal irgendwohin gehen«, schlug Jürgen vor, »ich habe ja auch Ferien.«

»Hast du dir dafür nichts anderes vorgenommen, als irgendwohin zu gehen?«

»Mmh. Zum ersten Male kann ich mit meinen Ferien nämlich machen, was ich will. Zum Angewöhnen. Nächstes Jahr bin ich mit der Schule fertig.«

»Beneidenswert!« rief Sabine. Dann nahmen sie ihn in die Mitte und gingen irgendwohin. Das erste Irgendwohin war eine ganze Kette von Schaufenstern, über die es immer etwas zu sagen gibt, und als sie sich warm geredet hatten, erkoren sie ein altes Eisengerüst am Hafen zum zweiten Irgendwohin. Bis zur Mittagszeit hockten sie in den Sparren und unterhielten sich.

»Wann wollt ihr nun nach Lappland?« fragte Jürgen.

»Och, wir haben uns überlegt, daß man eine Reise nicht so hastewaskannste machen sollte. Lübeck ist eine alte, schöne Stadt, die man nicht wie ein Rennfahrer durchqueren kann.«

»Also bleibt ihr noch etwas?« Sie nickten unbestimmt und gleichmütig und beobachteten den Verkehr auf und unter der stählernen Schleusenbrücke vor ihren Augen.

»Ich war mal in Kopenhagen«, sagte Jürgen, »und da habe ich für vier Kronen Schlagsahne gegessen. Mir war hinterher so schlecht, daß ich mich gar nicht mehr an Kopenhagen erinnern kann.«

»Wann war es denn?«

»In meiner Kindheit.«

»Ich begreife nicht«, meinte Sabine, »wie man sich für die Ferien nur ein ungenaues Irgendwohin oder gar nichts Großartiges vornehmen kann. Das ist doch die einzige Gelegenheit für uns, etwas zu erfahren!«

»Ja, eigentlich hatte ich ja an Casablanca gedacht …«

»An Casablanca?«

»Ja. Ich finde, allein der Name ist schon voller Marokkaner, Sonnenglut und kreideweißer Haremsmauern.«

»Ach!« lachte sie, »ich weiß von Casablanca nur, daß dort der Schmuggel blüht.«

»Um so interessanter. Ich werde es mir wohl doch noch mal überlegen.«

»Kannst du es dir denn leisten?«

»Bis Lissabon würde mich Kapitän Filthaut wohl mitnehmen.«

»Wer ist Kapitän Filthaut?«

»Ein Apfelsinenfrachter.«

»Fährt er denn jetzt gerade?«

»Übermorgen läuft er aus.«

»Na, dann fahr doch!« sagte Christine und fühlte, daß Lappland ihnen damit näher rücken würde. Aber Jürgen erwiderte nur: »Ich muß es mir noch ein bißdien überlegen. Wir brauchen ja auch gerade jetzt nicht davon zu sprechen.«

»Aber ich finde es schön, von Plänen zu sprechen.«

»Ja? Na, dann sagt mir mal, was ihr euch so von Lappland dachtet.«

»Dachtet? Wir denken daran, Jürgen. Unentwegt. Ein ganzes Jahr lang haben wir dafür gespart — für den Anblick der Sonnenkugel um Mitternacht, für das Lappenzelt, in dem wir Rentiermilch trinken wollen, und für die Rentiere und …«

»Und was glaubst du«, fiel Sabine ein, »was für Augen unsere Klassenkameradinnen machen werden, wenn wir ihnen sagen, daß wir in Lappland waren. Es weiß — außer uns — nämlich überhaupt noch kein Mensch etwas davon.«

»Na dann«, erwiderte Jürgen bedächtig, »seid ihr ja auch nicht verpflichtet, nach Lappland zu fahren.«

Sie blickten erschrocken zu ihm hin. Er aber guckte nur zur Schleusenbrücke, schlenkerte mit den Beinen und begann wieder leise vor sich hinzupfeifen.

*

Die Tür, vor der sie standen, war fast ganz aus Glas. Man konnte aber trotzdem nicht erkennen, was dahinter war, denn der Blick in den Innenraum wurde durch einen flauschigen, weinroten Vorhang verdeckt. Unmittelbar hinter dem Glas hing ein viereckiges, weißes Schild, und darauf stand: ,Mittagstisch‘.

Jürgen, der die Mädchen bis hierher gebracht hatte, sagte: »Das Essen hier soll wenigstens gut und billig sein.«

Danach verabschiedete er sich hastig, und es ereignete sich, daß sein Händedruck bei Sabine einen Brief hinterließ, der nicht umfangreicher war als ein Kalenderzettel, weshalb Christine von der heimlichen Übergabe auch nichts bemerkte. Als er dann — nach einem sehr raschen Blick auf Sabine und einem nachdenklichen für Christine — gegangen war, öffneten sie die Glastür und schlugen den flauschigen Vorhang auseinander.

Der Ober, der in einer weißen Jacke und mit einer Serviette unter dem Arm an der Theke lehnte, blickte den Ankömmlingen — wie alle Ober es tun — halb ehrerbietig, halb neugierig entgegen. Seine Gedanken schienen von ihren Sommerkleidchen zu ihren Geldbörsen zu wandern. Er war groß und schlank, machte eher den Eindruck eines Handelsvertreters für Makkaroni und Spaghetti — und später erfuhren sie, daß er der Sohn des Lokalbesitzers war und sehr unter der gewichtigen Liebe seines Vaters zu leiden hatte. Jetzt aber ließen sie sich erst einmal von seinen Augen zu einem Tisch dirigieren, der ungemütlich der schutzlosen Mitte des Raumes preisgegeben war und an dem schon einige andere Gäste Platz genommen hatten — vermutlich Stammgäste, denn sie sprachen miteinander. Das war der ,Mittagstisch‘. Sie sahen es sofort, und um dem Ober anzudeuten, daß sie nicht die Absicht hegten, sich hier als Stammgäste einzunisten, blieb Christine in einiger Entfernung von dem Tische stehen. Sie sah sich suchend nach einer verschwiegenen Ecke um, einer solchen, in der man sich flüchtig und doch gemütlich niederlassen möchte, um unbeobachtet etwa nur Coca-Cola zu trinken. Aber Sabine, die den kalenderzettelartigen Brief in ihrer Hand wußte, wählte kurzerhand zwei Plätze am Mittagstisch. Und damit war für beide wieder einmal ein winziges Schicksal besiegelt.

Der Herr zur Rechten Christines war etwas Unbestimmbares, aber Zweifellos Glatzköpfiges, der Herr zur Linken Sabines hatte früher ein Gut besessen. Zu den sicheren Existenzen gehörten offenbar zwei Damen, die man vor lauter Schleier erst bei der Suppe zu sehen kriegte. Sie sahen mit Schleier reizvoller aus.

An diesem Tag knüpfte noch niemand ein richtiges Gespräch mit den Mädchen an. Man gab nur gelegentlich Informationen von sich, und der einzige Satz, der an die Mädchen gerichtet wurde, lautete: »Das Salz bitte.« Auch sonst wurde nicht viel gesprochen. Es spricht sich nicht gut, wenn Uneingeweihte am Tisch sitzen.

Gleich nach dem Essen flüsterte Sabine ihrer Freundin zu, daß sie einmal ,da drüben hin‘ müsse, um sich die Hände zu waschen. Christine wollte gleich mitkommen, aber Sabine verwehrte es mit den Worten: »Wie sieht denn das aus!« Und dann passierte es, daß sie den Kalenderzettel in ihrer Aufregung schon vor der bewußten Tür aus der Bluse zupfte und daß Christine es sah.

Auf dem Zettel stand: »Wäre es sinnvoll, wenn ich Sie heute abend um zwanzig Uhr am Holstentor erwartete? Jürgen.« Sie lasen es beide noch einmal, als sie wieder draußen auf der Straße standen. Sabine warf ihrer Freundin dabei einen vorsichtigen Blick zu und sagte: »Er muß den Zettel schon zu Hause geschrieben haben — für alle Fälle.«

»Wie kommst du darauf?«

»Na, weil wir uns nachher doch einfach duzten!«

»Richtig —«

»Und dann hat er — als wir auf dem Gerüst saßen, wohl insgeheim gewählt und sich entschieden.«

»Für dich!«

»Ach was«, sagte Sabine, »vielleicht bist du morgen dran.« »Das läge an dir«, lachte Christine und dachte während des Heimwegs darüber nach, welche Mängel es sein mochten, die sie von Sabine unterschieden. Diese machte sich unterdessen Gedanken über die Wahl des Kleides, welches sie zu diesem Anlaß tragen sollte.

Der Nachmittag, der weiß und blauglitzernd über der Stadt lag, ließ sich in seiner schönen Gelassenheit durch das alles nicht beirren. Er steckte noch einige weiße Zirrusfahnen an den Himmel und ließ ganz unprogrammgemäß eine mächtige Schiffsirene ertönen. Das war ein Signal, dem beide nicht widerstehen konnten — und so nahmen sie ihren kleinen Reisewecker, um die Stunde am Holstentor nicht zu versäumen, und liefen zum Hafen. Aber der Hafen war eingefangen von gelben, blauen und rötlichen Häusern mit Treppengiebeln und geschlossenen Fenstern, und so liefen sie noch weiter, immer weiter, und immer nahe am Wasser hin, bis sie die blaue Brücke sahen. Die Brücke spannte sich als ein stahlblauer Bogen aus Filigran weit, weit draußen über eine flirrende Wasserstraße. In ihrem Geäste hing um einige Schattierungen heller der Himmel, und wie Altweibersommer woben sich seine fernsten Zirrusfahnen ein. So, wie sie sich da von Ufer zu Ufer bog, konnte niemand sagen, ob sie wirklich da war, oder ob sie nicht ein Einfall, eine herrliche Laune, ein Spiel aus Sonne und Wind, ein Traumgespinst, ein Riesenspinnennetz oder noch etwas viel Hinreißenderes war.

Christine sagte, ohne den Blick abzuwenden: »Ich habe es mir ja gedacht, daß man über so etwas gehen oder darunter hin fahren muß, um nach Lappland zu gelangen.« Und Sabine sagte: »Es ist ganz gleich, ob es Lappland ist oder Casablanca oder ein fremdes Gefühl, ein neuer Herzschlag oder lebendigeres Blut — es ist alles dasselbe. Ich glaube, alles das ist auf dem Weg über eine solche Brücke. Wir wollen lieber nicht länger hinsehen, damit wir nie erfahren, daß sie vielleicht wirklich aus Stahl ist und daß die Straßenbahn darüber fährt.«

Aber sie schauten doch weiter hinüber, und die Brücke verwandelte sich nicht — und sie wird sich auch nicht verwandeln, solange es Ziele vor den Augen des Betrachters gibt, von denen er nichts anderes zu wissen glaubt, als daß sie den Ankömmling beglücken werden.

Später setzten sich die Mädchen an das Ufer der Trave. Von einem Anlegepfahl stürzte sich eine Möwe hinab auf den Wasserspiegel, wippte und taumelte mit hängenden Stelzen über ihrem Spiegelbild und schwang sich wieder empor — höher und höher und dann fort in nördlicher Richtung. Sie schien Travemünde noch vor dem Abend erreichen zu wollen. Sabine blickte ihr träge nach und sagte: »Wie kann man nur so häßlich schreien, wenn man so wundervoll vorm Himmel aussieht.«

Christine meinte, daß ja alle Dinge ihre zwei Seiten hätten; woraufhin jede von ihnen in Gedanken auf eine Wolke stieg, von der aus die Erde so klein ist, daß man selbst die guten Bekannten übersieht.

*

Zuerst dachte Sabine, daß sie sich das nur einbilde, aber dann sah sie, daß es stimmte: das Holstentor war schief. Die beiden äußeren rundlichen Türme neigten sich etwas dem Torbogen zu, der sie miteinander verband. Dadurch machte das ganze Bauwerk einen in sich gekehrten, nachdenklichen Eindruck. Sie wunderte sich lange darüber, bis sie Jürgen entdeckte. Er lehnte in aufdringlicher Lässigkeit an einem der Türme, hatte ein Bein quer über das andere geschlagen und sog hastig an einer Zigarette. Alles an seiner Haltung und an seinem Benehmen war voller Widersprüche. Einerseits wirkte er fahrig und ungeduldig, andererseits jedoch schien er schon vierhundertundzweiunddreißigmal in genau dieser Pose am Holstentor gewartet und sich längst an diese Beschäftigung gewöhnt zu haben. Er mußte allerdings eine ziemliche Weile zu ihr herübergeschaut haben, Sabine spürte es an seinem Blick, der sich schon von der ersten Musterung ihrer Erscheinung entfernt und einem ruhigen Überlegen zugewandt hatte. Jetzt gingen sie zögernd und lächelnd aufeinander zu; Sabine sah, daß er die weißen Segelschuhe mit leichten, braunen Lederschuhen vertauscht hatte. Auch sonst war er verändert — alles an ihm sah steif und ungewöhnlich aus. Er trug sogar einen Schlips. Der Schlips stand wie ein Lineal an seiner Brust, und dem Mädchen tat es ein wenig leid, daß sie dem Jungen so viele Umstände verursachte. Sie dachte: ,Es ist, als schreite er zum Abitur.‘ Sie näherten sich einander wie auf der Bühne vor tausend stummen, starrenden Zuschauern. Sogar sein Gesicht hatte sich verändert. Heute vormittag war sein Lächeln gewesen wie wohl das des Schiffsjungen eines Apfelsinenfrachters. Aber nun dieses, es war so beflissen. Nur der Mund wollte sorglos sein. Als er vor ihr stand und ihr die Hand reichte, sagte er: »Wie nett …« und so. Und grün stehe ihr wirklich gut, das hätte er gar nicht für möglich gehalten — so gut stehe es ihr. Und sie sei ja tatsächlich fast so groß wie er, es müsse sich gut mit ihr tanzen lassen; und ob er nun genug gequasselt habe, es sei — ehrlich gesagt — sein erstes Rendezvous, noch nie zuvor habe er sich mit so viel Überlegung umhäuten müssen …