Die Schatzsucher aus der Gustergasse - Eva Rechlin - E-Book

Die Schatzsucher aus der Gustergasse E-Book

Eva Rechlin

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Beschreibung

Die Gustergasse ist eine lebhafte Straße, auf der Arm und Reich direkt beieinander wohnen. So auch der elfjährige Junge Thees. Eines Tages findet eine seiner wohlhabenderen Nachbarinnen, die junge Gabriella, eine Brieftasche mit viel Geld, die sie jedoch zum Fundbüro bringt. Nach dieser Nachricht beschließt Thees, gemeinsam mit seinem besten Freund, ein alter Mann, den alle schönen Ak-ak nennen, selbst auf eine ereignisreiche Schatzsuche zu gehen. Denn die beiden sind überzeugt, dass auch sie eine mit Geld gefüllte Brieftasche entdecken können, wenn sie nur lange genug suchen. Auf dieser Suche erleben die beiden einige spannende Abenteuer.-

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Eva Rechlin

Die Schatzsucher aus der Gustergasse

SAGA Egmont

Die Schatzsucher aus der Gustergasse

Copyright © 1959, 2017 Eva Rechlin og Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

All rights reserved

ISBN: 9788711754429

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach

Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com

Erstes Kapitel

Die Gustergasse veränderte sich eigentlich nie. Vor hundert Jahren hatte sie schon ausgesehen wie jetzt. Sie lag immer noch am Rande der Stadt, wenn nicht am Rande der Welt.

Als Thees über das Kopfsteinpflaster ging, war alles genau so wie gestern und vorgestern und die Tage davor: der Geruch von Petroleum, Mottenpulver, Kaffee und Bratkartoffeln und von Heringen … In der Gustergasse aßen fast alle Leute Heringe. Am Anfang lagen die Häuser der besseren Leute, und weiter hinten die der Armen. Am Anfang — in einem der besseren Häuser — wohnte auch Gabriella. Alle nannten sie nur Gabriella, und Thees kannte sie besonders gut, weil er dann und wann Botengänge für sie machte. Gabriella wohnte im Parterre links. Das Schild an ihrer Tür mit dem Namen ihres Vaters war im Laufe der Zeit schon gelblich geworden. Das Haus, in dem sie wohnte, sah so grämlich aus, als wäre vor seinen Fenstern ewiges Regenwetter. Alles war schwer von Echtheit und dunkel vor Alter. Wenn man über die Teppiche ging, hörte man nichts von sich selbst, geschweige denn von anderen. Gabriella schien ihr ganzes Leben am Frühstückstisch zu verbringen. Niemals hatte Thees sie anders als in einem ockerfarbenen Kleid, Brötchen schmierend, gesehen. Und obwohl man nichts als dieses Kleid an ihr kannte, unterhielt sie sich mit allen Leuten über ihre Garderobe.

Zwischen den besseren und den armen Leuten wohnte der Kaufmann. Er hatte einen Kopf, der klein und verschrumpelt war wie die geräucherte Hirnschale des Feindes am Gürtel eines Kannibalen. Seine Frau — sie war rund und warm wie eine Suppenterrine — sagte zu jedem Kunden: »Du bist treu!« Sie sagte es aus langjähriger Gewohnheit und mit einem langgezogenen, nasalen eu.

Und dann kamen die Häuser der Armen. Sie hatten etwas an sich, was Thees besonders liebte, vor allem in den Abendstunden. Am Abend hatten die Häuser der besseren Leute am Anfang der Straße viele hellerleuchtete Fenster mit schaukelnden Vorhängen, und ihre Treppenstufen waren schimmernd und kühl wie hängende Matten. Thees ging abends gern daran vorbei, auch an Gabriellas Haus, wo nur aus einem einzigen Fenster das gelbrote Licht von Gabriellas Lampe fiel. Es war nicht anders als die Farbe ihres Kleides. Der Nebel hatte sich zwischen die Mauern gehängt, und irgendwer machte auf seinem Klavier müde Fingerübungen. Weiter unten lief dann schon der getigerte Kater des geierköpfigen Kaufmanns von rechts nach links über das Kopfsteinpflaster, und plötzlich stand man vor den offenen Türen der armen Häuser, aus denen ein warmer Dunst von gekochten Kartoffeln und von Petroleumlampen in die Gasse schlug.

Das war die Gustergasse mit allem, was in ihr lebte — dieser Dunst hier unten, und die Großväter vor den Türen mit ihren langstieligen Pfeifen, die warmen, offenen Flure, der getigerte Kater — und weiter oben die Kaskadenteppiche der Aufgänge, die vielen hellen Fenster, Gabriellas Ockerfarben — und noch weiter oben der Mond. Thees dachte immer, daß es in der ganzen Welt wohl nichts anderes zu sehen gäbe als dieses: weiter unten die Armen mit ihren offenen Türen, weiter oben die Reichen mit ihren kühlen, geschlossenen Pforten, und darüber der Mond, der auf das alles herabschien.

Zweites Kapitel

Thees hatte einen Freund. Er wohnte im letzten Hause der Gustergasse, und das war auch das armseligste Haus. Das Dach saß so schief auf den schmutzigen Mauern wie ein kleiner Deckel auf einem großen Karton. Wenn der Freund von Thees auf die Straße trat, riefen alle Kinder: »Schöner Ak-ak!«

Die Kinder wußten selbst nicht genau, weshalb sie den alten Mann so nannten. Irgendwann mußten sie es von irgend jemand aufgeschnappt haben. Als Thees seine Großmutter einmal danach fragte, sagte sie nur: »Ach — das kommt wohl, weil er, als er noch jung war, sich immer so herausgeputzt hat, als wäre er zu fein für die Gustergasse. Da wollte er immer schöner sein als wir alle. — Das ‚Ak-ak' dahintendran ist einfach ein Spottruf … nichts als Spott, mein Jung'. Man könnte ebensogut ‚SchönerBä-bä' oder so was sagen.«

Thees hatte sich keine besonderen Gedanken mehr darüber gemacht. Und alle Leute in der Gustergasse hatten anscheinend vergessen, wie sein Freund in Wirklichkeit hieß.

Schöner Ak-ak hätte ohne weiteres der Großvater von Thees sein können — Thees war immerhin erst elf Jahre alt. — Aber sie waren Freunde, seit Thees das Laufen gelernt hatte.

An diesem Morgen saßen sie beide auf der Schwelle von Schöner Ak-aks Haus und unterhielten sich. Im Grunde machte nämlich nur die Unterhaltung ihre Freundschaft aus. Sie waren beide sehr gesprächig.

Schöner Ak-ak rauchte dabei seine Pfeife. Es war kein Tabak drin, sondern gut getrockneter Pfefferminztee. Schöner Ak-ak rauchte meistens Pfefferminztee. Er fand es gesund und schmackhaft, und seine Gesundheit ging ihm über alles. Ab und zu ließ er Thees an seiner Pfeife ziehen, damit auch dieser etwas für seine Gesundheit tue. Und Thees hatte sich an diese täglichen Pfeifenzüge schon so gewöhnt, wie etwa an seine schmutzigen Fingernägel oder an den gelben Flicken auf dem linken Knie seiner schwarzen Hose.

»Ich hab' was gehört«, begann Schöner Ak-ak.

»So?« sagte Thees. Er wußte, daß Schöner Ak-ak um eine Sache immer viel drumherum redete. Es fing meistens sehr langweilig an, was Schöner Ak-ak zu erzählen hatte.

»Ich habe es gestern abend schon gehört«, fuhr Schöner Ak-ak fort und preßte dabei mit einem spitz zulaufenden Feuerstein die Pfefferminze in seinem Pfeifenkopf zusammen. Thees sah gar nicht hin. Er blinzelte in die Morgensonne und fand, daß sie mehr wert sei als der alte Knallerofen seiner Großmutter, bei welcher er wohnte.

»Ich habe es gestern abend von Kaufmann Olix gehört.«

»Olix spinnt manchmal«, erwiderte Thees.

»Aber manchmal redet er auch die Wahrheit, Junge. Ich möchte schwören, daß er diesmal die Wahrheit geredet hat!«

»Und wenn er die Wahrheit spricht«, sagte Thees so langsam, als würfe er jedes Wort wie einen Stein in einen Brunnen, »dann weiß man noch lange nicht, ob du nun auch die Wahrheit sprichst!«

Schöner Ak-ak riß vor Empörung die Pfeife aus dem Mund.

»Junge, ich möchte schwören, daß das eine Beleidigung ist, was du da eben gesagt hast!«

»Aber die Wahrheit ist es auch, Schöner Ak-ak.«

Eine ganze Weile lang sagte keiner von ihnen ein Wort. Es ging auch gerade Tine Schröder mit ihrer Milchkanne vorbei, und deshalb mußten sie erst einmal zugucken, wie Tine Schröder so durch die Gustergasse ging. Es war gar nichts Besonderes an ihr, aber zum Angucken war sie eben noch gut genug. Als sie weg war, fing Schöner Ak-ak wieder an: »Weißt du auch, was ich gehört habe?«

»Nein.«

»Ich habe gehört, daß Gabriella gestern etwas gefunden hat.«

»So?«

Jetzt war Thees wenigstens schon neugierig. Wenn Gabriella etwas gefunden hatte, worüber die ganze Gustergasse sprach, dann mußte es etwas Besonderes sein.

»Weißt du auch, was sie gefunden hat, Thees?«

»Nein.«

»Sie hat etwas ganz Großartiges gefunden.«

»So?«

»Ja, etwas ganz Großartiges. Eine Brieftasche nämlich!«

»So? Eine Brieftasche?«

Thees dachte: Gabriella hat eine Brieftasche gefunden. Eine Brieftasche! Das ist ja etwas ganz Großartiges. Aber plötzlich fiel ihm ein, daß er ja gar nicht wußte, was eine Brieftasche ist. Er fragte Schöner Akak danach. Der legte sofort die Stirn in Falten und gab sich ein gelehrtes Aussehen.

»Eine Brieftasche ist meistens aus Leder«, fing er an, »und die Herren tragen sie in der Jackentasche. Sie haben allerhand wichtige Papiere drin — ihren Geburtsschein, ihren Taufschein, ihren Impfschein, ihre Schulzeugnisse, ihren zweiten Impfschein, ihre Heiratsbescheinigung, ihren Personalausweis, ihren Reisepaß, ihr Sparbuch …«

»Und das hat Gabriella alles gefunden?« warf Thees ein.

»Ja.«

»Was soll sie mit all den Scheinen denn anfangen?«

»Nichts. Aber es war ja auch noch Geld in der Brieftasche!«

»Geld?«

»Ja. Viel Geld!«

»Sie hat doch schon genug Geld.«

»Ach Junge, Geld kann man nie genug haben. Aber Gabriella hat die Brieftasche mit dem Geld nicht behalten. Sie hat sie zum Fundbüro gebracht!«

»Mensch! Ich dachte gar nicht, daß sie so dumm sein könnte.«

»Thees! Gabriella ist eben ein anständiges Mädchen!«

»Na ja …«, gab Thees zu, »wenn sie sowieso schon genug Geld hat …«

Nachher ging Schöner Ak-ak zum Lumpensammeln und ließ Thees allein in der Gustergasse zurück. Thees schlenderte die Gasse hinauf und setzte sich vor Gabriellas Haus auf die Bordschwelle. Er dachte unentwegt an die Brieftasche mit dem Geld. Es ging ihm nicht aus dem Kopf, daß Gabriella alles zum Fundbüro getragen hatte. Er schämte sich auch bei diesem Gedanken, denn für so anständig hatte er Gabriella nie gehalten.

Plötzlich hörte er, wie hinter ihm ein Fenster geöffnet wurde. Als er sich umwandte, stand Gabriella in ihrem ockerfarbenen Kleid da und sagte: »Komm mal 'rein, Thees. Du kannst dir einen Fünfer verdienen.«

Thees sprang sofort auf und die Stufen zur Haustür empor. Als er eintrat, nahm er die Pudelmütze vom Kopf, und die Teppiche verschlangen wieder den Klang seiner Schritte. Im Zimmer sah er Gabriella händereibend vorm Ofen stehen.

»Guten Morgen, Thees«, rief sie. Sie hatte eine Stimme wie ein ganz kleines Mädchen. Dabei war sie schon sechzehn Jahre alt. »Komm her, Junge, und wärm dich erst mal auf.«

Als Thees neben dem Ofen stand, kam er sich wie ein eingefrorener Eimer voll Wasser vor, der langsam wieder auftaute. Sie blickte nachdenklich auf ihn nieder.

»Hast du schon gehört«, fragte sie, »daß ich gestern eine Brieftasche mit viel Geld gefunden habe?«

Er nickte. Sie begann zu lachen.

»Ach, ihr in der Gustergasse! Ihr seid schneller als die Zeitung!« Sie tat so, als wohnte sie sonstwo, nur nicht in der Gustergasse.

»Wird es denn in der Zeitung stehen?« fragte Thees.

»Natürlich! In der Brieftasche war schließlich eine Menge Geld. Sie gehörte einem Generaldirektor aus der Stadt. Und ich werde einen gebührlichen Finderlohn erhalten!«

»Was denn?«

»Oh — vielleicht ein wertvolles Schmuckstück. Oder eine Torte.«

»Dann hätte ich aber lieber das Geld behalten«, sagte Thees.

»Mensch!« rief sie empört. »So etwas tut man doch nicht als anständiger Mensch! Und das wirst du heute sogar in der Zeitung lesen können!«

»Ich lese nie die Zeitung.«

Sie wandte sich plötzlich um und trat vor einen Spiegel, beugte sich weit vor und starrte sich in die Augen.

»Alle Leute werden heute erfahren, daß es in der Gustergasse einen anständigen Menschen gibt«, sagte sie langsam.

Thees beobachtete sie. Er dachte, daß ihr die Anständigkeit nun plötzlich auf der Stirn geschrieben stehen müsse. Aber es war nichts davon zu sehen. Nur in der Zeitung würde es zu lesen sein.

»Wieviel Geld war denn drin?« fragte er.

»Tausend Mark.«

Thees schnappte nach Luft. »Tausend …« Er lief zur Tür.

»Wohin willst du denn?« rief sie. »Du solltest uns doch etwas einkaufen gehen!«

»Ich muß zu …«, er schluckte. Er dachte, daß er unbedingt Schöner Ak-ak von den tausend Mark erzählen müsse. Unbedingt! Tausend Mark …!

»Thees«, sagte Gabriella, »bleib jetzt hier. Du kriegst auch einen Groschen, wenn du mir ganz schnell eine Flasche Essig von Olix holst. Ich brauche ihn dringend zum Heringsalat.«

Thees war der Meinung, daß ein Groschen in der eigenen Hand besser ist als tausend Mark in einer fremden Brieftasche, und begab sich mit einer leeren Essigflasche zum Kaufmann Olix. Gabriella hatte ihm einen Markschein mitgegeben. Aber unterwegs — Thees war in Gedanken immer noch bei der märchenhaften Brieftasche—rutschte ihm der Markschein aus irgendeinem dummen, verspielten Grund in den Flaschenhals und sank gleich darauf hinab auf den Flaschenboden. Thees schimpfte wie Schöner Ak-ak. Das war ein lautloses Schimpfen, man hörte nichts davon, man sah es nur an dem verärgerten Gesicht.

Frau Kaufmann Olix sagte denn auch, als Thees die Flasche mit dem Mißgeschick auf den Ladentisch stellte: »Du bist ja treu!«

Sie war über den Zwischenfall ärgerlich, weil ihre Mittagssuppe schon auf dem Feuer stand. Sie versuchte, den Geldschein mit einer Häkelnadel aus der Flasche zu ziehen, und immer wieder sagte sie dabei: »Du bist ja treu!« — Mit der Häkelnadel hatte sie jedoch keinen Erfolg. Sie quälte sich so lange damit herum, bis ihr Mann eine Idee hatte. Er nahm die Flasche in seine linke Hand, während er mit der rechten eine Bindfadenschlinge durch den engen Flaschenhals ließ. Und während er den letzten Witz aus seiner allerletzten Fachzeitung ein wenig lispelnd erzählte, gelang ihm die Rettung des Geldscheines, ohne daß die Flasche dabei zu Schaden kam.

Als Thees mit dem Essig zu Gabriella zurückkehrte, saß sie wieder am Frühstückstisch und bestrich Brötchen mit Butter und Marmelade. Die Brötchen waren für ihren Vater bestimmt. Sie sagte: »Mein Vater liebt es, wenn ich die Brötchen wieder zusammenklappe, nachdem sie bestrichen sind. Ich finde es allerdings nicht gerade appetitlich, wenn beim Reinbeißen die Marmelade an allen Seiten herausquillt. Aber er liebt es so.«

Zu ihren Worten wußte Thees nichts zu sagen. Er stand nur da und starrte auf die hellbraune Kruste eines Brötchens.

»Hast du Hunger?« fragte Gabriella.

»Ich … ich …«

Sie lachte.

»Natürlich«, sagte sie, »ich wußte es ja. Warum tust du nur so, als wäre etwas Schlimmes dabei? Jeden Morgen ist für dich ein Brötchen dabei … ich begreife nicht, daß du nie von allein kommst, um es dir zu holen.«

»Ich wußte es doch gar nicht«, verteidigte er sich.

Sie schnitt ein Brötchen auseinander und bestrich beide Innenflächen mit Butter.

»Welche Marmelade willst du lieber haben — die Blaubeermarmelade oder die Johannisbeermarmelade?«

Thees entschied sich sofort für die Blaubeermarmelade.

»Aber du wirst einen blauen Mund und dunkle Zähne davon bekommen!« warnte sie.

»Na und?« fragte er und begriff nicht, wie man sich darüber überhaupt Gedanken machen konnte. Viel wichtiger war doch der Geschmack der Marmelade.

Als Gabriella ihm das Brötchen reichte, prüfte sie ihn mit einem langen Blick.

»Thees«, sagte sie traurig, »wenn du mein Bruder wärst, sähst du gewiß nicht so aus …«

»Aber ich bin doch nicht dein Bruder!«

»Ja, ja — das ist es ja gerade, was mir so leid tut. Es ist eben alles anders, als man möchte …«

Sie sann eine Weile vor sich hin. Thees biß vorsichtig in das Brötchen, doch die Blaubeermarmelade quoll an allen Seiten heraus.

»Krieg' ich auch noch den Groschen?« fragte er schließlich.

»O ja! Beinahe hätte ich es vergessen. Hier — und denke von nun an immer an das Brötchen, das hier jeden Tag auf dich wartet …«

»Wenn du auch daran denkst —«, erwiderte er, schon an der Tür.

Das letzte, was er an diesem Tage von Gabriella sah, war ein beteuerndes Kopfnicken.

Dann stürmte er hinaus auf die Gasse und begab sich auf die Suche nach Schöner Ak-ak.

Drittes Kapitel

Schöner Ak-ak stand gerade vor einer fünfstockigen Mietskaserne, als Thees ihn endlich fand. Er hatte ihn lange gesucht, in allen Straßen. Der halbe Tag war darüber vergangen. Nun hing schon der graublaue Spätnachmittag über der Stadt, und das Laub im Rinnstein wurde von der abendlichen Kälte wieder steif und zerbrechlich.

Schöner Ak-ak hatte angeschwollene, bläulich verfrorene Hände. Er besaß nicht einmal Handschuhe. Uber die Schulter hatte er einen Sack geworfen, der voller Lumpen war.

»Was ist?« fragte er, als Thees vor ihm stand.

»In der Brieftasche waren tausend Mark!«

Schöner Ak-ak ließ vor Verwunderung den Lumpensack fallen. Dann stellte er sich breitbeinig hin und stemmte die Fäuste in die Seiten.