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Glaube, Liebe, Hoffnung – Mord.
In Shaftesbury ist es wieder einmal Zeit für den Wettbewerb um den schönsten Liebesbrief. Den hat in den letzten Jahren stets die rüstige Greta Huntington-Dillinger gewonnen. Doch daraus wird in diesem Jahr nichts: Greta stürzt von der Leiter an der Liebeseiche, in deren Astloch die Teilnehmenden ihre selbst verfassten Briefe hinterlegen. Schnell ist klar, dass es kein Unfall war: Jemand hat die Leitersprossen angesägt. Wer wollte der alten Dame Böses? Penelope St. James nimmt sich der Sache an ...
Das schräge englische Dorf kann das Morden nicht lassen: der vierte Fall für die charmanteste Hobbydetektivin südwestlich von London!
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Seitenzahl: 415
Veröffentlichungsjahr: 2025
Da kann der junge Pfarrer von Shaftesbury noch so viel von Harmonie, Eintracht und Liebe predigen, gemordet wird in dem wunderbar schrulligen Dorf mit seinen eigenwilligen Einwohnern trotzdem, als gäb’s kein Morgen mehr. Diesmal trifft es eine alte Dame. Als die nichts ahnende Greta Huntington-Dillinger nämlich todesmutig die Leiter zur Liebeseiche hinaufsteigt, in der traditionell die Briefe für den jährlichen Liebeswettbewerb hinterlegt werden, krachen die angesägten Sprossen unter ihr zusammen. Hat jemand es nicht ausgehalten, dass Greta den Wettbewerb zuverlässig Jahr um Jahr gewann? Oder war es ein Racheakt des hiesigen Vogelschützers, weil die schriftlichen Gefühlsbekundungen ausgerechnet das Astloch verstopfen, in dem der Buntspecht so gern sein Nest baut? Und bei einem Mord soll’s nicht bleiben: Dummerweise findet ein Handwerker in Penelopes neuem Haus nicht nur Ziegel und Mörtel im Mauerwerk, sondern auch einen Toten. Das kann kein Zufall sein! Der Mordclub nimmt die Fährte auf.
Emily Winston ist das Pseudonym von Angela Lautenschläger. Sie arbeitet seit Jahren als Nachlasspflegerin und erlebt in ihrem Berufsalltag mehr spannende Fälle, als sie in Büchern verarbeiten kann. Ihre Freizeit widmet sie voll und ganz dem Krimilesen, Schreiben und Reisen. Besonders die britische Lebensart und der englische Humor haben es ihr angetan. Sie lebt mit ihrem Mann und drei Katzen in Hamburg.
Im Aufbau Taschenbuch liegen in ihrer Reihe »Der Mordclub von Shaftesbury« bisher die Bände vor:»Eine Tote bleibt selten allein«»Ein Herz und eine tote Seele«»Nur die Toten kommen in den Garten«.
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Emily Winston
Der Mordclub von Shaftesbury – Die Tote fällt nicht weit vom Stamm
Kriminalroman
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Wer von diesem Kriminalroman begeistert ist, liest auch ...
»Der Mörtel wird bald trocken sein. Wir stellen den alten Schrank davor, dann bemerkt niemand was.« Seine Stimme klang merkwürdig in dem leeren Raum. Es war kalt hier drinnen, und er fröstelte. Er wusste nicht, ob es richtig war, was sie hier taten. Doch, natürlich wusste er, dass es nicht richtig war. Andererseits hatte er sich nichts vorzuwerfen. Jedenfalls nicht viel. Schweigend betrachteten sie gemeinsam die aus grobem Stein errichtete Mauer.
»Und es wird niemand auf die Idee kommen, die Mauer einzureißen?«
»Nicht in den nächsten hundert Jahren. Wenn überhaupt jemals jemand auf den Gedanken kommen wird, hier einzuziehen. Mit ein bisschen Glück kommt irgendwann der große Bagger und reißt alles ein.«
Eine schreckliche Vorstellung. »Ja, gut«, sagte er und sah sich unschlüssig um. »Ich nehm den Sack mit den Mörtelresten mit und den Eimer.«
»Die Schaufel nicht vergessen. Wir wollen doch keine Spuren hinterlassen.«
»Nein, natürlich nicht.«
In der Tür sah er sich noch einmal um. Das Geheimnis war jetzt hinter Steinen verborgen, aber er wusste nicht, ob er es auch ewig in seinem Herzen verborgen halten konnte.
»Diese Wand?«
»Diese Wand«, bestätigte Penelope und reckte das Kinn vor.
Sam ließ den Blick nach oben zur Decke schweifen. Er hing nicht besonders an dieser Wand. Sie war aus grob gehauenen Felssteinen gemauert, wirkte ein bisschen geflickt. Allerdings hatten solche Mauern häufig noch einen anderen Zweck, als zwei Räume voneinander abzutrennen. Beispielsweise den, eine Zimmerdecke zu tragen. Und wenn das hier eine tragende Wand war, wäre es nicht besonders sinnvoll, sie wegzureißen.
Sam öffnete den Mund, um Penelope an seinen Überlegungen teilhaben zu lassen, aber sie war nicht mehr da. Jedenfalls nicht dort, wo sie eben noch gestanden hatte.
»Besonders schön ist sie ja nicht«, stellte Penelope von der gegenüberliegenden Seite des Raumes aus fest. »Wir könnten stattdessen hier eine neue Wand einziehen.« Sie breitete die Arme aus. »Und eine kleine Treppe einbauen. Dann wäre hier Platz für ein schmales Apartment. Für Gäste.« Sie blinzelte. »Und wenn wir drüben sechs Abteile für Tiere haben, reicht das doch völlig aus, oder? Wir wollen ja keinen Zoo einrichten, sondern eine Tierarztpraxis.« Sie seufzte.
Mit wenigen Schritten war Sam bei ihr und nahm sie in den Arm. »Wir machen es genau so, wie du sagst, und natürlich wollen wir keinen Zoo einrichten, sondern nur Platz für Tiere haben, die etwas länger in unserer Obhut bleiben müssen.« Er gab ihr einen Kuss aufs Haar. Dass Penelope, die es vor etwas mehr als einem Jahr als Städterin aufs Land verschlagen hatte und die unter einer Aversion gegen Felltiere litt, mit ihm gemeinsam auf den Resthof von Albert Fry gezogen war, grenzte praktisch an ein Wunder. Und das, wo er Tierarzt war und eine Tierklinik im Nebengebäude errichten wollte. Wie sein Freund Luke immer sagte: Das muss wahre Liebe sein. Dagegen war eine hässliche Wand gar nichts, selbst wenn die Decke einstürzen würde. Außerdem konnten sie jemanden fragen, der sich damit auskannte, bevor sie hier Wände einrissen.
»Daddy!«
Sam ließ Penelope los und wandte sich um. Seine Tochter Lilly stürmte mit einem Fellknäuel auf dem Arm herein.
»Guck mal, lebt der noch?«
Sam hob die schwarze Nase in dem Maskengesicht des Waschbären an. Die Augen des kleinen Kerls waren halb geschlossen, und sein Atem ging schwach.
»Er ist sehr jung. Und offenbar dehydriert.« Sam prüfte die Schleimhäute.
Lilly sah ihn mit ängstlicher Miene an. »Können wir ihm helfen?«
»Wir gehen schnell rüber in die Praxis. Er kriegt eine Infusion. Hast du weitere Tiere gesehen? Das Muttertier vielleicht?«
Seine achtjährige Tochter schüttelte den Kopf. »Er war ganz allein.«
»Dann komm.« Er fasste ihre Schulter und schob sie vor sich her nach draußen. Der kleine Waschbär war in schlechter Verfassung. Vermutlich war der Mutter etwas passiert, und der Kleine war noch nicht in der Lage, selbst zu fressen.
Sam lächelte Penelope zu, dann überquerten sie den von Schlaglöchern übersäten Innenhof zwischen den Gebäuden und betraten auf der gegenüberliegenden Seite das Nebengebäude mit den Praxisräumen. Dort legte Lilly den kleinen Kerl vorsichtig auf den Behandlungstisch, während Sam eine Infusion vorbereitete. Wenig später lag das Tier in ein Handtuch gewickelt und mit einem Infusionsschlauch im Vorderbein auf dem Behandlungstisch. Lilly erzählte ihm leise eine Geschichte, und Sam nahm weitere Untersuchungen vor.
Penelope breitete ein Blatt Papier auf der Fensterbank aus und skizzierte den Grundriss des Gebäudes. Das Cottage des Resthofs, das sie aus dem Nachlass von Albert Fry gekauft hatten, war mittlerweile bewohnbar, ebenso wie das Nebengebäude mit der Praxis. In dem Gebäude, in dem sie sich befand, waren früher die Pferde untergestellt gewesen, was an den abgetrennten Abteilen erkennbar war. Drüben, wo sie eben mit Sam über die Wand gesprochen hatte, war dem vielen Stroh nach zu urteilen eine Art Strohlager gewesen. Aus bestimmten Gründen hielt sie es für klug, hier ein Gästezimmer einzurichten und nicht im Haupthaus. Und in den Abteilen sollten kleine Unterkünfte eingerichtet werden für Tiere, die sich von schweren Behandlungen erholen mussten. Penelope hob den Blick und sah einen Mann den Feldweg entlanggehen, an dem ihr Anwesen lag. Wie ein Spaziergänger wirkte er nicht, er hatte ein ziemliches Tempo drauf und auch keinen Hund dabei. Irgendwie kam ihr der Mann bekannt vor, aber sie konnte sein Gesicht aus der Entfernung nicht erkennen. Außerdem waren die Büsche, die das Grundstück vom Weg abtrennten, viel zu hoch.
»Merkwürdig«, murmelte sie. Schließlich lebten sie hier am äußersten Ende von Shaftesbury. Als sie vor einem Jahr hergekommen und in das kleine Cottage im Ort gezogen war, hatte sie das Gefühl gehabt, auf einer fernen Insel gestrandet zu sein. Dass es einen Platz gab, an dem noch weniger Menschen und noch mehr Tiere lebten, war für sie unvorstellbar gewesen. Aber hier, in der Umgebung von Greenheart, sagten sich wirklich Fuchs und Hase gute Nacht.
Im Augenblick lag Penelope nachts häufiger wach. Gestern Nacht war sie aufgestanden und hatte sich ein Glas Wasser aus dem Bad geholt. Damit war sie ans Schlafzimmerfenster getreten und hatte in die Dunkelheit hinausgesehen. Daran, dass dort draußen Tiere vorüberhuschten und es immerzu im Gebüsch raschelte, hatte sie sich gewöhnt. Auch wenn man das eher ahnen als sehen konnte. Aber dann hatte sie tatsächlich einen Menschen gesehen, der über den Feldweg gehuscht war. Das hatte sie doch erschreckt. Und jetzt schien schon wieder jemand ein unbekanntes Ziel in der Wildnis von Shaftesbury anzusteuern. Penelope klappte den Zollstock auseinander und begann, die Abteile auszumessen. Als sie die Maße notieren wollte, kam der Mann wieder zurück. Er war nicht so zügig unterwegs wie auf dem Hinweg und wirkte eigentümlich zufrieden. Penelope legte den Bleistift auf die Fensterbank. Schmutz und kleine Steinchen knirschten unter ihren Schuhsohlen, was kein Problem war mit den Gummistiefeln, die sie trug. Noch vor einem Jahr wäre sie mit ihren Louboutins über den Hof gegangen, aber das war bei den mit Regenwasser gefüllten Schlaglöchern keine gute Idee. Sie hatte gelernt, dass man auf dem Land Zugeständnisse machen musste: vielleicht keine zweieinhalb Zoll hohen Blockabsätze, aber immerhin geblümte Gummistiefel.
Als sie jetzt wieder aus dem Fenster sah, lief eine Gestalt auf dem Feldweg vorüber, die sie trotz hoher Hecke erkannte: Edith Fergus war eine zierliche Person, die immer mit einer riesigen Handtasche unterwegs war, in der sie unter anderem ihren geliebten Flachmann verbarg, aus dem sie sich gern mal ein Schlückchen genehmigte. Mit eiligen kurzen Schritten lief sie den Feldweg entlang, wobei die große Tasche hin und her schwang. Irgendwo dort im Nirgendwo schien es ein beliebtes Ziel zu geben.
Penelope klappte den Zollstock zusammen und rollte die Skizze auf. Zeit für eine Tasse Tee.
»Glaube, Liebe, Hoffnung«, sagte Marc Force.
Penelope gähnte herzhaft. Sam neben ihr bewegte sich.
»Entschuldige«, flüsterte sie.
Sam nahm ihre Hand.
»Aber die Liebe ist die Größte unter ihnen«, fuhr der Pfarrer fort.
Die Kirche war erstaunlich gut gefüllt an diesem Sonntagmorgen, und Penelope stellte eine gewisse Unruhe unter den Gottesdienstbesuchern fest. Luke, der den örtlichen Pub The Golden Horse führte, beugte sich zu seiner Frau Laura und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Edith Fergus hielt Händchen mit ihrem Mann Jocelyn, den Penelope an diesem Tag zum ersten Mal sah: ein netter älterer Herr, der vermutlich Nerven wie Drahtseile hatte, um es mit seiner Frau auszuhalten. Edith war eine liebenswürdige Person, aber ein wenig anstrengend. Chris Sutton hatte seinen muskulösen tätowierten Arm um die Schultern seiner beleibten Ehefrau Mrs Colombine gelegt. Heute lag Liebe in der Luft.
»Ich glaube, Blacky muss mal.«
Penelope beugte sich zu Lilly hinunter. »Wer?«
Sams kleine Tochter klappte ihre Jacke auseinander und gab den Blick auf schwarzes Fell frei. »Na, Blacky. Er ist ein bisschen unruhig.«
Penelope unterdrückte ein Seufzen. Eigentlich hätte sie sich denken können, dass Lilly den Waschbären in den Gottesdienst schmuggeln würde. Immerhin hatte ihr Vater bei ihrem ersten Rendezvous ein verletztes Eichhörnchen unter seiner Jacke versteckt, das ihm noch vor dem ersten Drink aufs Hemd gepinkelt hatte.
»Dann geht ihr beiden schon mal raus«, flüsterte Penelope. »Der Pfarrer wird hoffentlich, also, wird vermutlich bald fertig sein mit seiner Predigt.«
Lilly schloss ihre Jacke wieder und rutschte aus der Bank. Kurz darauf hörte man das Kirchenportal zufallen.
»Die Liebe ist langmütig, und sie ist gütig«, sagte Marc Force. »Sie tut nicht groß, und sie erträgt alles.«
Penelope war ein wenig übel. Am liebsten wäre sie Lilly nach draußen gefolgt. Es folgten noch ein Gebet, ein Lied, bei dem Luke, der die Orgel spielte, beherzt in die Tasten haute, und dann erhob sich die Gemeinde endlich. Die junge Frau vor Penelope setzte einen wagenradgroßen Sommerhut in Kirschrot auf, unter dem ihre blonden Haare hevorwallten und ihr über den Rücken fielen. Penelope, die einen Blick für Markenkleidung hatte, gefiel ihr ebenfalls kirschrotes Satinkleid mit ausgestelltem Rock – vermutlich von Prada.
Lilly saß neben dem Grabstein von Agatha Westcombe, die 1904 verstorben war. Der Waschbär schlief in ihren Schoß gekuschelt.
»Das war knapp«, erklärte sie. »Blacky musste mal groß.«
»Hat der Waschbär etwa auf das Grab gek… gemacht?«, fragte Sam.
»Ja, aber ich habe den Haufen vergraben.«
Sam betrachtete die geschändete Grabstelle.
»Da hinten neben dem Mülleimer.«
»Gut«, sagte Sam erleichtert. »Dann gehen wir jetzt ins Golden Horse.«
Sam nahm wieder Penelopes Hand. Die schlenderte ganz entspannt an seiner Seite ins Pub, wo die wöchentliche Gemeindeversammlung stattfand. Später würde sie ein gemütliches Nickerchen machen und sich anschließend mit den Umbauplänen für das Gästeapartment befassen. Ein schöner gemütlicher Sonntag lag vor ihr. Im Pub brachte Sam ihr eine Tasse Tee, in die Penelope ein Löffelchen Zucker gab. Sie vergaß die Umgebung um sich herum, die Gespräche der anderen waren eine angenehme Geräuschkulisse für ihre Überlegungen über die passende Farbgestaltung des Gästezimmers.
Dann war es plötzlich still. Penelope blickte auf. Direkt in die Augen von Dorian Grey, Shaftesburys Briefträger und inoffizieller Leiter der wöchentlichen Gemeindeversammlung. Penelope blinzelte. Nach ihrer Kenntnis standen keine größeren Veranstaltungen an, weshalb es praktisch ausgeschlossen war, dass er sie wieder mit einer Aufgabe betrauen wollte. Wobei »auferlegen« wohl der passendere Begriff war.
Dorian Grey nickte wissend. »Und wer wäre dafür wohl geeigneter als Mrs St. James?«
»Äh, wofür jetzt?« Penelope klopfte den Teelöffel am Tassenrand ab.
»Um den Wettbewerb zu organisieren und die Jury zusammenzustellen.«
»Schon wieder ein Wettbewerb?« In Shaftesbury fand praktisch jede Woche ein Wettbewerb statt, bei dem es um das schönste Kräuterbüschel oder das beste Stickzeug ging. Dieser hier war ihr völlig entgangen.
»Schon wieder, Mrs St. James. Ein sehr schöner Wettbewerb, der an den heutigen Gottesdienst anschließt.«
Penelope musste an die Notdurft des Waschbären denken und mochte sich nicht ausmalen, worum es bei diesem Wettbewerb ging.
»Und für den Fall, dass Sie eben ein wenig unaufmerksam waren, wiederhole ich noch einmal, worum es bei dabei geht.« Grey grinste. »Wer schreibt den schönsten Liebesbrief, Mrs St. James. Darum geht’s.«
Sam tätschelte ihre Hand. »Ich hole dir noch eine Tasse Tee.«
»Du hast wieder nicht zugehört, stimmt’s?«, fragte Lilly und tätschelte dem Waschbärbaby den Kopf.
»Liebesbrief?«, fragte Penelope. Das war der einzige Begriff, der ihr in Erinnerung geblieben war. »Und wer schreibt den?«
Der Briefträger breitete die Arme aus. »Jeder. Jeder, der sich berufen fühlt.«
»Ach du Schreck«, murmelte Penelope. »Und an wen?«
»An denjenigen, der ihm am Herzen liegt.«
Ganz zu Beginn, als sie nach Shaftesbury gekommen war, hatte es häufig diese Situationen gegeben, in denen sie sich nicht nur fremd, sondern völlig fehl am Platz gefühlt hatte. Als würden alle eine andere Sprache sprechen oder auf Händen gehen. Das war im Laufe der Zeit besser geworden, Penelope hatte zumindest teilweise gelernt, wie eine Bewohnerin von Shaftesbury zu denken – auch wenn dieser Denkprozess häufig mit Kopfschmerzen einherging. Jetzt kam sie sich wieder vor wie vor einem Jahr: ahnungslos und verloren.
Dorian seufzte theatralisch. »Gut, fangen wir also noch mal von vorne an, Mrs St. James. Liebesbrief schreiben, in der Eiche ablegen, aus der Eiche abholen und antworten.«
»Eiche? Welche Eiche?«
Ein ungeduldiges Raunen ging durch die Menge der Pubbesucher.
»Die Liebeseiche, Liebes«, sagte Sam und stellte ihr eine dampfende Tasse Tee hin.
Penelope sah zu, wie er ein wenig Zucker in die Tasse gab, etwas Milch und sie dann freundlich anlächelte. Sie beugte sich zu ihm hinüber. »Eine Eiche? Eine Liebeseiche? Ist das irgendetwas Unanständiges?«
»Überhaupt nicht. Es ist sehr romantisch und in manchen Fällen sogar recht literarisch, obwohl ich zugeben muss, dass die literarischen Fälle eher selten vorkommen. Genau genommen fast nie.«
Sie sah ihren Ehemann an. Hatte sie sich so sehr in ihm getäuscht? Oder hatte er sich in dem Monat seit ihrer Eheschließung so stark verändert?
»Die Liebeseiche steht in Shaftesbury Wood, am Fuße des Shaftesbury Hill«, erklärte Dorian mit angespannter Geduld. »Sie hat ein Astloch auf etwa drei Meter Höhe, darin legt man seinen Liebesbrief ab und holt den an sich selbst gerichteten Liebesbrief heraus.«
»Aha.« Penelope zog die Untertasse zu sich heran. »Und warum macht man das?«
»Ich bin überrascht, dass ausgerechnet Sie das fragen, Mrs St. James. Als Inhaberin einer Partnervermittlungsagentur. Da geht es doch wohl auch um Liebe.«
Penelope senkte den Blick in ihre Teetasse. Schön wär’s, dachte sie. Häufig genug ging es bei der Vermittlung zweier Menschen um etwas ganz anderes.
»Hat sie es jetzt verstanden?«, rief jemand.
»Ich weiß nicht. Mrs St. James, sind Sie mitgekommen?«, gab Dorian die Frage weiter.
»Natürlich bin ich mitgekommen. Was soll ich jetzt genau tun?«
»Eine Jury zusammenstellen und den schönsten Liebesbrief küren.«
Hm, dachte Penelope. Das klang in ihren Ohren nicht allzu schwierig und musste mit einem überschaubaren Zeitaufwand zu wuppen sein. »Okay«, sagte sie. »Kann losgehen.«
Dorian sah sie überrascht an. »Sie haben keine weiteren Nachfragen? Keine Einwände? Nichts dergleichen?«
Sie hob die Schultern. »Nichts dergleichen. Sie können zum nächsten Tagesordnungspunkt übergehen.«
Sam sah sie besorgt an. »Geht es dir gut?«
»Mir geht’s prima.« Penelope kraulte den Waschbären unter dem Kinn. »Und dir, wie geht’s dir? Musst du mal Pipi?«
Lilly sah sie verwundert an. »Nein, Blacky muss kein Pipi. Das hat er erledigt, als …«
»Okay, haben wir verstanden«, fiel Sam ihr ins Wort.
»Bevor wir zum nächsten Tagesordnungspunkt übergehen, hätte ich noch eine Anmerkung zu machen.« Ein großer kräftiger Mann war aufgestanden, die Hände in den Hosentaschen seiner Latzhose vergraben. »Ich möchte gern den Ort für die Briefablage ändern.«
»Martin«, sagte Dorian. »Das ist seit dreihundert Jahren der Ort für diese Tradition. Wir werden jetzt nicht anfangen, die Funktion der Liebeseiche infrage zu stellen.«
»Aber diese Briefsache stört den Tagesablauf des Buntspechts.«
Penelope spürte ein Kichern im Bauch, das gleich ihre Luftröhre hochsteigen und nach draußen dringen würde. Sie hielt sich eine Hand vor den Mund und räusperte sich.
»Den Tagesablauf«, wiederholte Dorian fassungslos.
»Ja, sicher. Der Specht krallt sich an der Baumrinde fest und pickt in die Borke, auf der Suche nach Käfern.« Martin machte ruckende Kopfbewegungen nach vorn. »Tok, tok, tok.«
»Nun, ich denke, keiner der Liebesbriefschreiber hat etwas dagegen, wenn der Specht tok tok macht.«
»Tok, tok, tok.«
»Oder so.« Dorian wandte sich zum Tresen und trank einen Schluck Ale.
»Jetzt beginnt die Balz, und da ist es sehr wichtig, dass sein Tok, Tok, Tok überall gehört wird.«
»Sicher. Wie gesagt, ich denke nicht, dass wir deshalb den Wettbewerb ausfallen lassen müssen. Vielleicht denkt einfach jeder daran, auf den Specht Rücksicht zu nehmen.«
»Ich finde nicht …«, hob Martin an, wurde aber von einem anderen Gemeindemitglied unterbrochen.
»Können wir den Wettbewerb nicht ganz ausfallen lassen? Ich meine, den gewinnt doch ohnehin wieder die Dobbleton-Springman.«
»Die heißt Singleton-Goodwill«, rief ein anderer.
Dorian hieb auf den Tresen. »Sie heißt Greta Huntington-Dillinger, und wenn ihr euch verdammt nochmal mehr Mühe geben würdet bei euren Briefen, dann würde Greta auch nicht jedes Mal gewinnen!«
Stille breitete sich aus.
»Gibt es auch einen zweiten und dritten Platz?«, fragte Penelope Sam leise.
»Gibt es. Den zweiten macht Mrs Blixen und den dritten ein Bankdirektor aus Middlesbrough.«
»Wie, die Gewinner stehen schon fest?«
»Na ja, wie ich schon sagte, es sind jetzt nicht gerade literarische Ergüsse shakespear’schen Ausmaßes, die in der Liebeseiche landen. Und die drei sind nun einmal die besten Briefeschreiber.«
Penelope lehnte sich zurück. »Das ist enttäuschend.«
»Du bist doch berühmt für deine Kreativität. Du könntest dem Wettbewerb neuen Schwung versetzen.«
Penelope gähnte herzhaft. »Ach nein, ich glaube, ich schließe mich diesmal dem gemütlichen Gang der Dinge an und lasse alles so laufen wie immer.«
»Klingt, als wärst du endgültig in Shaftesbury angekommen.«
Penelope lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Glaube ich auch«, sagte sie schläfrig.
»Ich denke, ich nehme noch zehn Eier.«
Laura sah ihre Freundin skeptisch an. »Du hast am Freitag schon zehn Eier gekauft.«
Penelope runzelte die Stirn. »Tatsächlich? Habe ich vergessen. Gut, dann war es das.« Sie sah auf, als Laura keine Anstalten machte, die Preise ihrer Einkäufe in die Kasse einzugeben.
»Was ist?«, fragte Penelope.
»Das frage ich dich.«
»Könntest du aufhören, in Rätseln zu sprechen?«
Laura beugte sich vertraulich über den Tresen. »Geht es dir gut?«
»O Gott, du denkst, ich leide unter Vergesslichkeit?«
»Nein, ich dachte eher, dass du etwas hast, was zu einer temporären Vergesslichkeit führt.«
»Hä?«
Laura seufzte und begann dann doch zu kassieren. »Mir kannst du es doch sagen.«
»Ich würde es dir sagen, wenn ich wüsste, was es ist. Offenbar weißt du aber schon, was ich dir sagen soll, was ich nicht weiß.«
»Was?«
Das Läuten der Türglocke des kleinen Lebensmittelgeschäfts unterbrach die Unterhaltung jäh. Eine junge Frau im marineblauen Businesskostüm von Ralph Lauren kam herein. Sie trug die blonden Haare kunstvoll hochgesteckt und war dezent, aber sehr gekonnt geschminkt. Ihr Anblick machte Penelope deutlich, dass sie selbst auch modemäßig in Shaftesbury angekommen war. Früher hätte sie keinen Schritt ohne Markenkleidung gemacht, heute trug sie nur eine einfache Jeans, schwarze Stiefel und einen schwarzen Blazer. Okay, es waren alles Kleidungsstücke von großen Marken, aber das blonde Geschöpf hätte sofort in einem schicken Büro in der Londoner Innenstadt anfangen können, während man Penelope höchstens den Empfang in einem Nagelstudio anvertraut hätte.
»Hi.«
»Hi«, erwiderte Laura.
»Ich suche Dings, na ja, Sie wissen schon.« Die junge Frau wirkte ein wenig gehetzt.
»Zweites Regal hinten rechts«, sagte Laura.
»Danke.«
Penelope sah ihr nach, und als ihr Blick auf die dunkelblauen Wildlederpumps von Marina Rinaldi fiel, erinnerte sie sich wieder: Das war die junge Frau aus dem Gottesdienst mit dem roten Hut. Penelope kam kaum dazu, einen Blick mit Laura zu wechseln, denn das Klackern von Absätzen verriet, dass die junge Frau gefunden hatte, was sie suchte. Sie bezahlte und war schon wieder aus der Tür.
»Wer ist das?«, fragte Penelope und ging zur Ladentür. Draußen stieg die junge Frau in einen roten Sportflitzer mit offenem Verdeck. Mit dem Handy am Ohr warf sie ihre Handtasche auf den Beifahrersitz und legte einen Kavalierstart hin.
»Vanessa Burgess.«
Penelope wandte sich um. »Aha. Und wie kommt es, dass sie hier in Shaftesbury Damenhygieneartikel einkauft?«
»Sie ist Praktikantin bei Rupert Godfrey«, erklärte Laura und tippte den Preis für das Brot ein.
»Sie sieht aus wie jemand, der noch viel vorhat.«
»Ja, finde ich auch. Erinnert mich ein bisschen an dich, als du hier angekommen bist.«
Penelope winkte ab. »Kein Vergleich. Ich bin mit einem Tierarzt verheiratet und habe Katzenhaare auf dem Blazer. Das wünscht man nun wirklich niemandem.«
Laura grinste. »Den Tierarzt würde ich an deiner Stelle auch niemandem wünschen. Den solltest du selbst behalten.«
Das dachte Penelope auch, als sie einige Minuten später den Laden verließ und zu ihrer Agentur auf der anderen Straßenseite hinüberging. Sie selbst hätte auch nicht gedacht, dass sie in diesem kleinen Ort, in den das Schicksal sie verschlagen hatte, die Liebe ihres Lebens finden würde. Und das war Sam – auch wenn er Tierarzt war, seine Tochter Lilly praktisch jede Woche ein neues Tier anschleppte und Penelope Tiere früher nicht ausstehen konnte. Sie überschlug sich immer noch nicht vor Begeisterung darüber, dass sie der Schildkröte Arnold morgens zwei Salatblätter zum Frühstück servierte und zwei sabbernde Hunde an ihrem Bett erschienen und zum Aufstehen mahnten, aber das alles war ihre Familie. Sie öffnete die Tür zu den Agenturräumen.
»Du meine Güte«, sagte sie, als sich die Tür nur außerordentlich schwer bewegen ließ. Das lag offenbar an dem Berg Briefe, den Dorian durch den Briefschlitz eingeworfen hatte. Mit beiden Händen raffte Penelope die Umschläge zusammen und warf sie auf ihren Schreibtisch. Den Einkaufskorb stellte sie auf dem Boden ab. Shaftesbury litt unter einem Mangel an zuverlässigem Internetzugang, weshalb die Menschen hier häufiger Briefe schrieben als anderswo. Ein Brief war an Ethel Pimlico adressiert. Darunter stand Bitte bei The Golden Sunshine and Luxury Club einwerfen. Die nette Mrs St. James wird den Brief dann in das Astloch der Liebeseiche einwerfen. Ich habe im Augenblick Rücken und komme die Leiter nicht hoch. Penelope drehte den Brief um, der von Bruce Highman geschrieben war. Mr Highman war Kunde von ihr, dem sie einige Damen als Partnerin vorgeschlagen hatte. Offenbar war seine Wahl auf Ethel gefallen. Na schön. Würde sie also nachher bei der Liebeseiche vorbeisehen. Früher oder später musste sie sich ohnehin mit diesem Baum und dem merkwürdigen Ritual, das damit verbunden war, befassen.
Es war fast Mittag, bis Penelope alle Briefe geöffnet und sortiert hatte. Einige Kunden hatte sie angerufen, um einen Termin für eine Verabredung abzustimmen, und dann hatte sie eine geschlagene Stunde mit Henry Kline darüber diskutiert, ob es sinnvoll war, Phoebe Hollingsworth erst zum Abendessen auszuführen und dann ins Kino zu gehen oder umgekehrt. Penelope war für die erste Variante gewesen, weil sonst der Abend damit begann, dass man stumm nebeneinander saß, Henry hatte gemeint, mit dieser Reihenfolge hätte er schlechte Erfahrungen gemacht, weil seine Angebetete so satt war, dass sie eingeschlafen war und den gesamten Film verpasst hatte. Penelope hatte sich schließlich seinem Vorschlag angeschlossen, weil Henry sich dann mit Phoebe beim Abendessen über den Kinofilm unterhalten konnte. Anschließend hatten sie über einen geeigneten Film diskutiert, der weder zu viel Blut noch zu viel Liebe beinhalten sollte und außerdem gerade im Kino von Middlesbrough gezeigt wurde. Penelope wollte eben Mittagspause machen, als die Türglocke läutete.
»Hach!«, machte Edith Fergus und ließ sich erschöpft auf den Besucherstuhl fallen. »Sie hätten wohl nicht eine Tasse Tee für mich?«
»Ist etwas passiert?«
»Das kann man wohl sagen.« Ediths Stimme klang ein wenig dumpf, weil sie mit dem Oberkörper in ihrer riesigen Umhängetasche verschwunden war. Vermutlich war sie auf der Suche nach ihrem Flachmann.
Penelope ging in ihre kleine Teeküche und brühte eine Tasse Earl Grey auf. Sehr viel Mühe musste sie sich mit der Zubereitung nicht geben: Der Tee war nur die äußere Hülle für den Whisky, den Edith gleich hineinschütten würde.
»Hach!«, machte Edith noch einmal, als Penelope ihr die Teetasse hinhielt. Die Frisur der alten Dame wirkte etwas zerzaust, und das, was in ihrer Stirnlocke hing, sah aus wie ein Stück Orangenschale.
»Augenblick«, sagte Penelope. »Sie haben da was.«
Die Orangenschale entpuppte sich als das, was beim Bleistiftanspitzen abfiel. Penelope warf es in den Müll, während Edith einen reichlich bemessenen Schuss Whisky in ihre Teetasse gab.
»Mr Godfrey ist gerade mit seiner jungen Assistentin nach London gedüst. Sie haben wohl Antony Wall verhaftet. Der soll seine Freundin erwürgt haben.« Edith sah auf. »Oder eine Bank überfallen? Na, ich hab’s vergessen, ist aber auch nicht wichtig. Rupert Godfrey muss ihn da jetzt raushauen.«
Penelope nickte. Rupert Godfrey war Rechtsanwalt in Middlesbrough. Sie hatte ihn gerade erst mit Catherine Blye, einer etwas exzentrischen Katzenfreundin, zusammengebracht. Die beiden hatten als erstes gemeinsames Hobby die Jagd auf den Schatz der Ogilvies entdeckt, allerdings waren sie beide leer ausgegangen.
»Geht’s wieder?«, fragte Penelope.
Edith stürzte den restlichen Tee hinunter. »Ja, danke. Ich wollte auch nur kurz vorbeikommen, um die Neuigkeit mitzuteilen.« Die alte Dame sprang auf. »Und jetzt muss ich Jocelyn das Mittagessen kochen.«
Das Mischungsverhältnis zwischen Tee und Whisky schien zugunsten des Alkohols ausgefallen zu sein, denn auf dem Weg zur Tür geriet Edith ein wenig ins Schlingern. Irgendwann war auch bei Edith der Punkt erreicht, an dem es zu viel wurde. Penelope folgte ihr kurz darauf mit ihren Einkäufen nach draußen, stellte den Korb auf ihren Beifahrersitz und machte sich auf den Heimweg.
Ihren Wagen stellte sie zu Hause ab. Den restlichen Weg zur Liebeseiche würde sie zu Fuß zurücklegen, denn wie sie am Morgen von Sam erfahren hatte, stand der Baum nur wenige hundert Meter von dem Resthof von Albert Fry entfernt. Damit und mit dem Liebesbriefwettbewerb erklärte sich auch der ungewöhnliche Betrieb auf dem Feldweg vor ihrem Haus. Der unebene Weg war von Schlaglöchern übersät, wurde immer schmaler und öffnete schließlich den Blick auf eine sonnenbeschienene Lichtung, in deren Mitte eine imposante Eiche stand. Sie hatte eine mächtige, ausladende Krone und einen gewaltigen Stamm, an dem eine Leiter lehnte, mit der vermutlich das Astloch zu erreichen war, in dem die Liebesbriefe hinterlegt wurden. Ein idyllischer Ort. Nur die Leiche am Fuß des Baumes störte den friedlichen Eindruck.
»Und Sie rufen jetzt von welchem Apparat an?«
»Ich rufe von meinem Festnetzanschluss zu Hause an«, erklärte Penelope etwas ungeduldig.
»Und der Baum steht wo?«
»Im Wald.«
»Im Wald«, wiederholte die Polizeibeamtin. »In welchem Wald?«
»In Shaftesbury Wood.«
»Der liegt wo, dieser Wald?«
»In Shaftesbury. Also, genau genommen nicht in Shaftesbury, sondern eher am Ortsrand. Passen Sie auf, Sie kommen über die Main Road nach Shaftesbury rein, die fahren Sie bis zum Ende entlang, biegen vor dem Dorfanger links ab, lassen Mrs Winterbottoms Tearoom links liegen und biegen dann noch mal links in den Weg ab.«
»Wie heißt der Weg?«
»Der hat keinen Namen.«
»Keinen Namen«, murmelte die Beamtin. »Okay. Und wie erkennt man ihn?«
»Schlecht, also die Abzweigung ist schlecht zu erkennen.«
»Wäre es denkbar, dass Sie sich an dieser Abzweigung positionieren und den Kollegen per Handy genaue Weisungen erteilen?«
»Nein.«
»Nein?«
»Nein, hier draußen gibt’s keinen Handyempfang. Deshalb rufe ich ja vom Festnetzanschluss an. Hören Sie, Constable.« Penelope seufzte. Sie hätte nie gedacht, dass sie das jemals sagen würde, aber jetzt ging es einfach nicht anders. »Ist Inspector Farnsworth im Haus?«
»Ja, sicher. Wollen Sie ihn vielleicht sprechen?« Die Beamtin klang genauso erleichtert, wie sich Penelope fühlte.
»Das wäre außerordentlich zuvorkommend von Ihnen.« Penelope wickelte die Telefonschnur um ihren Zeigefinger. Endlich hörte sie die bekannte Stimme in der Leitung.
»Mrs St. James, sind Sie das? Heißen Sie noch St. James?«
»Heiße ich, Inspector Farnsworth. Ich rufe an, weil ich eine Leiche gefunden habe.«
»Wer ist es?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Gut, ich komme. »
Diesmal ersparte sich Penelope die umständliche Wegbeschreibung. Von seiner letzten Ermittlung kannte der Inspector den Dorfanger noch sehr gut, ebenso ihr früheres Zuhause Ivy Cottage. Dort würde sie auf ihn warten. Es dauerte keine halbe Stunde, bis der Polizeiwagen vor ihr hielt. Ihm folgten der Transporter der Gerichtsmedizin, ein Leichenwagen und ein Notarzt.
»Wozu brauchen wir einen Notarzt?«, fragte Penelope, als sie bei dem Inspector einstieg. »Ich konnte keinen Puls fühlen.«
»Vorschrift.«
Penelope deutete nach vorn. »Dort links, dann den Weg entlang.«
Keine fünf Minuten später hatten sie die Lichtung erreicht.
Farnsworth hielt den Wagen an und beugte sich über das Lenkrad. »Hm.«
»Gut.« Penelope löste den Gurt. »Ab hier kommen Sie sicher allein zurecht.«
»Wo wollen Sie hin?«
»Nach Hause.«
»Das geht nicht. Sie müssen mir noch einige Fragen beantworten.«
»Ich weiß nichts, Inspector Farnsworth. Ich kenne die Tote nicht.«
»Und was wollte sie mit der Leiter?«
»Die Leiter war schon da, als sie kam.«
»Aha. Woher wissen Sie das?«
»Also, das weiß ich eigentlich nicht, aber ich vermute es, denn die Leiter steht immer da.«
Der Inspector wandte sich ihr ganz zu. »Klingt interessant.«
»Es ist so.« Penelope faltete die Hände im Schoß. »Das da vorn ist nicht irgendeine Eiche, sondern die Liebeseiche von Shaftesbury, und die hat ein Astloch, und in dem Astloch hinterlegen die Bewohner Shaftesburys Liebesbriefe für andere Bewohner Shaftesburys.«
Einen Augenblick war es ganz still im Auto.
»Verstehe«, sagte der Inspector schließlich.
»Tatsächlich?«
»Nein.«
»Nun, es geht dabei um einen Wettbewerb. Sie wissen ja, wir hier in Shaftesbury machen uns ziemlich viel aus Wettbewerben. Und hier geht es darum, wer den schönsten Liebesbrief schreibt.«
Farnsworth nickte. »Ich verstehe den Zusammenhang nicht. Wenn es hier um Liebesbriefe und Astlöcher geht, warum liegt dann da eine Leiche?«
Plötzlich kam Penelope ein dummer Gedanke. Sie beugte sich vor und kniff die Augen zusammen. »Es könnte sein, dass in diesem Jahr jemand anders den Wettbewerb gewinnt.«
»Hm?«
»Wenn das da vorn Greta Huntington-Dillinger ist, stehen die Chancen gut, dass auch mal jemand anders das Rennen macht.«
Ohne ein weiteres Wort stieg Inspector Farnsworth aus und ging die letzten Meter zur Eiche hinüber. Penelope sah zu, wie ihm zwei in weiße Schutzanzüge gekleidete Beamte von der Gerichtsmedizin folgten und drei uniformierte Beamte den Wald um die Lichtung herum absuchten.
»Greta Huntingon-Dillinger«, murmelte Penelope. War es vielleicht jemand leid, dass die Gewinnerin wie in jedem Jahr schon vor dem Wettbewerb feststand?
Penelope beschloss, doch noch nicht gleich nach Hause zu gehen. Sie saß hier warm und bequem und konnte die Ermittlungen aus erster Hand verfolgen. Einer der weißen Spurensicherer deutete auf das untere Ende der Leiter. Jetzt wäre es gut, ein Fernglas zur Hand zu haben. Bisher hatte sie sich geweigert, eines anzuschaffen, weil sie keine echte Landfrau sein wollte. Nun bereute sie diese Einstellung. Der Inspector trat ein paar Meter beiseite, der weiß gekleidete Mann machte einige Fotos, dann nahmen sie die Leiter von der Eiche und legten sie auf den Boden. Penelope konnte sehen, dass fünf Sprossen durchgebrochen waren. Das war ihr gar nicht aufgefallen, als sie sich die Frau kurz angesehen hatte. Ihr Fokus hatte mehr auf der Feststellung gelegen, ob sie tot oder lebendig war. Dabei war ihr aufgefallen, dass die Dame kein Leichtgewicht war, aber dass sie gleich fünf Sprossen auf einmal mit ihrem Gewicht den Garaus machte, war doch eher ungewöhnlich. Ob da jemand nachgeholfen hatte? Das dürfte klar einen Verstoß gegen die Wettbewerbsrichtlinien darstellen.
Der Inspector winkte einen uniformierten Beamten heran, der gerade mit einem Stock in einem Busch herumsuchte und missmutig aufsah. Als Farnsworth auf die Eiche zeigte und etwas zu ihm sagte, verfinsterte sich dessen Miene weiter. Zögernd ging der Mann auf den Inspector zu, sah erst seinen Vorgesetzten und dann die Eiche an und kratzte sich am Kopf. Schließlich machte er eine Räuberleiter. Der Inspector trat mit einem Fuß hinein, was bereits in diesem Stadium das Konstrukt ins Wanken brachte. Die beiden anderen Beamten eilten hinzu. Schwankend wie eine Clownsnummer im Zirkus, bauten sie eine Art Pyramide, mit dem Inspector an der Spitze. Oben angekommen, schob er den Ärmel seines Jacketts zurück, zog Latexhandschuhe an und steckte die Hand in das Astloch.
Jetzt!, dachte Penelope. Jetzt wird er Greta Huntington-Dillingers unübertroffenes Machwerk, das ihr posthum den Ehrenpreis des Wettbewerbs eintragen wird, aus dem Astloch ziehen.
Der Inspector zog seine Hand zurück. Sie war leer. Wieder entspann sich eine Diskussion zwischen Farnsworth und seinen im wahrsten Sinne des Wortes Untergebenen, aber auch beim zweiten Versuch kam die Hand des Inspectors wieder leer zum Vorschein. Ausgesprochen wackelig begann daraufhin der Abstieg, der die Standfestigkeit des ganz unten stehenden Polizisten erneut auf die Probe stellte. Er verlor und wurde unter dem Inspector begraben. Während Penelope zusah, wie sich das menschliche Knäuel vor ihr entwirrte, fragte sie sich, wo der Brief war, den Greta hatte einwerfen wollen. Sie musste ihn noch bei sich tragen.
Zu diesem Schluss war offenbar auch der Inspector gekommen, der sich den Waldboden von den Knien klopfte und dem einzigen Beamten, der noch auf zwei Beinen stand, eine entsprechende Weisung gab. Der suchte die Tote ab, sah in ihre Handtasche, in die Taschen ihres geblümten Kleides, und schließlich wagte er sogar einen Blick in ihr Dekolleté, aber dann schüttelte er den Kopf.
Das, dachte Penelope, ist ja nun wirklich eigenartig. Wenn diese Frau Greta Huntington-Dillinger ist, wo ist dann ihr Meisterwerk abgeblieben?
Sam zog die Flüssigkeit auf, scheitelte Missys Fell und setzte die Spritze an. In diesem Augenblick rumpelte es nebenan. Es gab einen dumpfen Knall, dann schepperte etwas, und schließlich brüllte jemand laut: »Aua!«
Die getigerte Katze von Mr Featherstorm nutzte den Augenblick, sprang vom Behandlungstisch auf den Medikamentenschrank, auf dem die geöffnete Ampulle stand. Die fiel um, ihr Inhalt ergoss sich auf den Boden und auf die Schuhspitzen von Mr Featherstorm. Die Katze sprang vom Schrank auf die Fensterbank, von dort auf den Schreibtisch und landete schließlich wieder auf dem Behandlungstisch, wo Sam sie mit beiden Händen packte.
»Das hat uns ja nun wirklich keinen Schritt weitergebracht«, sagte er zu der aufgebrachten Katze.
Mr Featherstorm schüttelte seine Schuhe. »Abgesehen von meinen Schuhen. Die sind hin.«
Tatsächlich breitete sich ein heller Fleck auf dem dunkelbraunen Leder aus. Dasselbe geschah bereits auf dem zweiten Schuh. Diesmal nutzte Sam die Gunst der Stunde und verabreichte der Katze die Spritze, bevor sie erneut ausreißen konnte.
»So, geschafft. Missy kann wieder in ihre Transportbox.«
Sam schob die Katze in die Box und ihr Herrchen aus der Tür. Dann ging er in den Abstellraum hinüber. Penelope stand in einem unentwirrbaren Chaos aus Latten, Besenstielen, zwei Farbeimern und den Scherben eines alten Waschbeckens.
»Ist dir was passiert?«
Sie sah auf. »Nein, ich glaube nicht. Ich suche die Leiter.«
»Die Leiter.« Sam hob die Latten an und lehnte sie gegen die Wand. »Die Leiter ist drüben im Nebengebäude.«
»Mist.« Penelope stieg aus dem Gewirr, das sie umgab, heraus.
»Wozu brauchst du sie denn?«
»Ich will sie an die Liebeseiche stellen.«
»Aha. Da steht doch schon eine.« Sam schüttelte eine Farbdose. Die konnten sie eigentlich gleich wegwerfen, der Farbrest war eingetrocknet.
»An der sind fünf Sprossen kaputt. Damit kommt niemand an das Astloch heran.«
»Hm, wie ist das denn passiert?«
»Das ist passiert, als Greta Huntington-Dillinger von der Leiter gestürzt ist.«
»Ach du je, hat sie sich etwas getan?«
»Hat sie. Der Rechtsmediziner meint, sie hätte sich zwei Halswirbel gebrochen.«
»Sie ist tot?«
»So sieht’s aus. Ganz neue Wettbewerbsbedingungen.«
Sam sah sie fragend an. »Und woher weißt du das?«
»Das weiß ich, weil ich sie gefunden habe.«
»Penelope!«
»Ja, ich hab sie nicht runtergeschubst. Der Inspector meint, es seien fünf Sprossen angesägt.«
»Mord in Shaftesbury?«
Penelope hob die Schultern. »Kommt ja nicht zum ersten Mal vor.«
»Aber unter der Liebeseiche schon. Was wolltest du denn eigentlich da?«
Penelope schlug sich die Hand gegen die Stirn und stöhnte. »Ach, das hab ich total vergessen. Ich muss den Brief noch ins Astloch stecken.«
»Welchen Brief?«
»Den von Mr Highman. Der steckt noch in meiner Tasche.«
»Du gehst auf keinen Fall allein zur Eiche.« Sam sah auf seine Armbanduhr. »Meine Sprechstunde ist gleich zu Ende, dann begleite ich dich.«
»Also, ich denke nicht, dass jetzt jeder, der die Leiter hochsteigt, dafür mit dem Leben bezahlt. Abgesehen davon, dass es keine Leiter mehr gibt. Die ist bei der Polizei zur Untersuchung.«
Zwanzig Minuten später trugen Penelope und Sam ihre eigene Holzleiter über den Feldweg, Penelope am vorderen Ende, Sam am hinteren.
»Meinst du, dass Martin die Sprossen angesägt hat?«, fragte Penelope. »Wegen des Buntspechts?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. So weit würde er nicht gehen.«
»Martin liebt Tiere. Dafür würde er vielleicht auch über Leichen gehen.«
»Nein, Penelope, wirklich nicht.« Sam musste anhalten, weil Penelope abrupt stehen blieb. »Was ist?«
Sie deutete nach vorn. Dort stand John Smith unter der Eiche und kratzte sich am Kopf. Er umrundete den Baumstamm einmal linksherum und blieb dann wieder stehen, um sich an der Stirn zu kratzen. Anschließend ging er einmal rechtsherum um die Eiche.
»Ich schätze, er hat Probleme, seinen Brief loszuwerden.«
»Ich bin immer wieder überrascht«, stellte Penelope fest. »John sitzt sonst wie festgenagelt am Tresen im Golden Horse, und jetzt will er einen Liebesbrief einwerfen? Er hat sich schon beim Sticken hervorgetan.«
»Tja, in Shaftesburys Bewohnern steckt eben mehr als man denkt.« Sie setzten sich wieder in Bewegung. »John«, rief Sam. »Einen Augenblick, die Leiter kommt.«
»Was haben Sie mit der Leiter gemacht?«, fragte John. »Die gehört hier an die Liebeseiche.« Der alte Mann half Sam, die Leiter am Baumstamm zu platzieren.
»Das ist nicht die alte Leiter«, erklärte Sam und ruckelte noch einmal an der Leiter. »Das ist eine neue.«
»Sehr neu sieht die aber nicht aus.«
»Eine andere.« Sam deutete nach oben. »Sie können hochsteigen und Ihren Brief einwerfen.«
»Ich will keinen Brief einwerfen.«
»Sondern?«
»Einen Brief herausnehmen.«
»Aha? Und von wem?«
John Smith hob die schmalen Schultern. »Das wird sich zeigen. Irgendeiner wird schon geschrieben haben.«
»Ich geh mal gucken.« John stieg die Leier hoch und fummelte im Astloch herum. Penelope war nicht überrascht darüber, als er ohne einen Brief wieder herunterstieg.
»Alles Betrug«, schimpfte John. »Alles Betrug.« Er machte eine wegwerfende Geste und ging davon.
»Die Polizei hat Gretas Brief vermutlich zur Spurensicherung mitgenommen«, mutmaßte Sam.
Penelope schüttelte den Kopf. »Nein, das ist ja das Verrückte. Sie hatte keinen Brief dabei. Gibt es vielleicht jemanden, der Greta einen Brief geschrieben hätte, den sie holen wollte?«
»Nicht, dass ich wüsste.« Sam sah sich um. »Niemand hätte sich getraut, Greta einen Liebesbrief zu schreiben. Er musste damit rechnen, ihn mit einem Haufen Korrekturen und Verbesserungsvorschlägen zurückzubekommen.«
»Und wenn es doch jemand gewagt hat und Greta deshalb gestorben ist?«
»Ach, Penelope, ich finde nicht, dass du dich schon wieder in die Ermittlungen einmischen solltest. Du hast doch mit den Umbaumaßnahmen schon genug zu tun, und ich bin sicher, dass die Polizei den Fall aufklären wird.«
»Sam, der Mord geschah direkt unter der Liebeseiche. Kannst du mir mal sagen, wie ich den Wettbewerb ordnungsgemäß durchführen soll, wenn die Gewinnerin tot unterm Baum liegt?«
Sam legte ihr den Arm um die Schultern. »Vielleicht ist dann Greta einfach mal nicht die Gewinnerin. Dass das Ergebnis bereits feststeht, war dir doch ohnehin ein Dorn im Auge. Komm, wir gehen nach Hause. Ich kriege Hunger.«
Sie waren drei Schritte gegangen, als Penelope wieder stehen blieb. »Augenblick, ich hab noch was vergessen.«
Sam sah zu, wie sie einen Umschlag aus ihrer Handtasche nahm, die Leiter hochstieg und den Brief ins Astloch steckte. Als sie wieder herunterstieg, wandte er sich um und ging weiter. Zu seiner Überraschung schloss Penelope jedoch nicht zu ihm auf. Als er sich umdrehte, sah er, dass Penelope die Leiter erneut hochkletterte, den Brief wieder aus dem Astloch herausnahm und in ihre Tasche steckte.
»Und was sollte das jetzt?«
»Sag ich doch. Mr Highman kann den Brief im Augenblick nicht selbst einwerfen.«
»Habe ich verstanden, aber warum nimmst du ihn wieder raus?«
»Weil sich Ethel Pimlico vor zwei Tagen den Fuß verknackst hat und deshalb die Leiter auch nicht hochkommt.«
»Aha.« Sam krauste die Stirn. »Und warum dann dieser Umstand mit Leiter hoch und Leiter runter?«
Penelope nahm seine Hand. »Weil man nicht weiß, wie viel an diesem Liebeseichendings dran ist. Stell dir vor, es kommt darauf an, dass der Brief einmal im Astloch gelegen hat, sonst wirkt der Zauber nicht, und ich trage den Brief einfach nur von Mr Highman zu Mrs Pimlico, und die Sache geht schief.«
Sam gab ihr einen Kuss auf die Hand. »Nicht auszudenken, welche Folgen das haben könnte.«
Sie hätte es schlechter treffen können. Im Wohngebäude von Albert Frys Resthof gab es sogar ein Esszimmer. Es war eine Mischung aus Bibliothek und Speisezimmer, die Wände standen voller Bücherregale, in der Mitte des Raumes ein langer Esstisch. An dem saß Penelope heute Morgen allein. Sam war bereits drüben in der Praxis, und Lilly war zum Schulbus gegangen. Sam hatte die Hunde mitgenommen, die Katze Kinky war irgendwo in den Weiten des Hauses verschwunden, vermutlich unter der Bettdecke ihres Ehebettes, und Arnold knabberte in seinem Gehege ein Salatblatt. Für einen kurzen Moment fragte sich Penelope, wo der Waschbär sein mochte, aber dann stellte sie die Frage erst einmal zurück. So genau wollte sie es gar nicht wissen. Es war viel zu schön, hier zu sitzen.
Sie schenkte sich Tee nach und sah einfach nur aus dem Fenster. Auf der anderen Seite des Feldwegs, nur durch die Lücken in der Hecke ihres Grundstücks zu erkennen, lag Mr Sanders’ Cottagegarten. Der begnadete Gärtner hatte einen wunderschönen Blumengarten angelegt. So einen hätte Penelope auch gern gehabt, aber mit zwei Eseln, die ständig von ihrer Wiese ausbüxten, war das keine so gute Idee. Und die Esel gehörten nun einmal zum Anwesen dazu. Sie trank einen Schluck Tee. Auf dem Feldweg fuhr jemand auf einem roten Fahrrad vorbei.
»Dorian«, murmelte Penelope. Was will der Briefträger im Wald? Und warum bringt er nicht stattdessen unsere Post? Weil er zur Liebeseiche will, beantwortete sie sich selbst ihre Frage. Sieh an, Dorian Grey ist ein Romantiker. Vielleicht sollte sie einfach den ganzen Tag hier sitzen bleiben. Früher oder später würde bestimmt Gretas Mörder unter den Besuchern der Liebeseiche sein. Du wirst langsam träge, dachte sie. Andererseits hatte Sam recht damit, dass sie genug mit dem Umbau zu tun hatte. Neben ihr stapelten sich Stoffmuster für Gardinen und Tapetenmuster. Aber so weit war sie noch gar nicht. Erst einmal mussten sie die Mauer im Nebengebäude einreißen und versetzen.
Sie räumte die Küche auf und suchte ihre Handtasche. Als sie wenig später das Haus verließ, fuhr Dorian Grey gerade auf den Hof.
»Ah, Mrs St. James.« Der Briefträger bremste direkt vor ihr ab. »Das geht so nicht.«
Penelope wechselte ihre Double Bag von Prada vom linken auf den rechten Arm. »Was? Was geht so nicht?«
»Dass gleich zu Beginn des Wettbewerbs die erste Teilnehmerin tödlich verunglückt. Haben Sie überhaupt schon die Jury zusammengestellt?«
Penelope blinzelte. »Die Jury für die Bewertung des Todesfalls?«
Dorian stand vom Fahrrad ab und klappte den Ständer aus. »Das ist nicht komisch, Mrs St. James. Haben Sie schon das Astloch kontrolliert?«
»Dorian, es war nicht die Rede davon, dass die Gewinnerin von der Leiter stürzt. Und auch nicht davon, dass ich die Eiche kontrollieren muss. Meine Aufgabe beschränkte sich darauf, gemeinsam mit einer Jury die Liebesbriefe zu bewerten. Und nicht dafür zu sorgen, dass sich die Teilnehmer nicht gegenseitig das Leben nehmen.«
»Mrs St. James, Sie wissen aus Ihrem bisherigen Aufenthalt in Shaftesbury, dass das Profil des jeweiligen Wettbewerbs nachträglich ergänzt oder erweitert werden kann. Jetzt tun Sie also nicht so unschuldig.«
»Wollen Sie mir sagen, dass ich mich zukünftig immer darauf einrichten muss, dass ich neben der Organisation des Wettbewerbs einen Mord aufklären muss? Oder zwei?«
»Nein, aber Sie müssen dafür sorgen, dass der Wettbewerb ab sofort störungsfrei weiterläuft.«
»Habe ich schon. Sie sind ja eben selbst hochgeklettert.«
»Wo?«
»Die Leiter bei der Liebeseiche.«
»Ich habe Briefe in das Astloch gelegt«, erklärte Dorian verschnupft.
»Aha?«
»Ja, ich habe verschiedene Anfragen von Bewohnern bekommen, denen der Weg hier heraus zu beschwerlich ist.«
»Also, wissen Sie, Dorian, mir kommt das Ganze reichlich aufwendig vor. Kann man das Verfahren nicht irgendwie vereinfachen? Wir könnten auf dem Dorfanger einen Briefkasten aufstellen, dann muss nicht jeder erst hier in den Wald rausfahren, die Leiter hoch und mit viel Glück auch wieder heil runter kommen.«
»Sicher können wir das. Wir können den Wettbewerb auch umwidmen und lassen die Liebesbriefe einfach weg. Stattdessen schneiden die Leute einen Witz aus der Zeitung aus. Ich wundere mich doch wirklich sehr, dass Sie die Sache so pragmatisch angehen, Mrs St. James.«
»Gut. Von mir aus. Ich muss jetzt los.«, Penelope ging an ihm vorbei zu ihrem Wagen.
»Ausgerechnet Sie. Wenigstens Sie müssten doch Sinn für Romantik haben.«
Sie drehte sich zu ihm um. »Ist noch was, Dorian? Ich müsste jetzt mal zur Arbeit und die Jury zusammenstellen.«
Dorian hob die Hand. »Und nicht vergessen: Sie müssen regelmäßig die Briefe bewerten.«
»Mach ich.« Penelope drehte sich um und zog die Autotür auf.
»Aber den Teilnehmern keine Hilfestellung beim Schreiben leisten.«
»Nein.« Sie stieg ein und zog die Tür zu. Die Kontrolle der Kontrolle. Toll.
Nach einem turbulenten Vormittag in der Agentur des Golden Sunshine and Luxury Club beschloss Penelope, sich etwas zu gönnen. In Mrs Winterbottoms Tearoom herrschte bereits reger Betrieb. Der Tisch, an dem Samantha Smith, die Krimiautorin, Sarah, die Haushälterin von Blackmore Manor, und Edith Fergus, die ihre Tage mit der Verbreitung von Gerüchten und dem Trinken von Whisky verbrachte, saßen, hatte sich zu einer Art Stammtisch entwickelt, an dem auch Mrs Winterbottom selbst gern Platz nahm.
»Ah, meine Liebe.« Die beleibte ältere Dame erhob sich. »Sie kommen gerade recht. Zum einen haben wir ganz frische Gurkensandwiches und zum anderen einen Haufen Liebesbriefe.«
Penelope ließ sich erschöpft auf einen freien Stuhl fallen. Auf dem Tisch lag ein großer Berg Post. Sie öffnete ihre Tasche und holte einen weiteren Stapel heraus. »Wissen Sie, was ich nicht verstehe?«, fragte sie, als sie die Briefe auf die anderen legte.
»Vermutlich fragen Sie sich, wer jetzt der Gewinner des Wettbewerbs werden soll.« Edith zog die Teetasse, die Mrs Winterbottom Penelope hingestellt hatte, zu sich heran. »Nachdem Greta Huntington-Dingsbums den Tod gefunden hat. Schlückchen?«
»Nein!«, riefen Penelope und Mrs Winterbottom gleichzeitig.
»Nein, ich frage mich, ob es in Ordnung ist, dass wir diese Briefe lesen.« Penelope brachte ihre Teetasse vor Ediths Flachmann in Sicherheit. »Ich muss sagen, dass ich gewisse Skrupel habe, diese persönlichen Nachrichten anzuschauen.«
Sarah nahm den obersten Brief vom Stapel. »Das ist kein Problem. Was genau sind Skrupel?« Die Haushälterin von Lord Blackmore hatte sich noch nie durch zu große Zurückhaltung ausgezeichnet. Sie schlitzte den Brief mit ihrem Buttermesser auf, faltete das Blatt Papier auf und las.
»Tja, ich denke, hier müssen wir keine Skrupel haben.« Sie reichte den Brief an Edith weiter.
»Nein, das müssen wir wohl nicht.« Edith nahm einen Schluck aus ihrem Flachmann und gab den Brief Lydia Winterbottom.
»Ach«, sagte die. »Das trifft sich gut. Genau so etwas fehlt mir hier noch.« Sie deutete auf die freie Stelle neben dem gut bestückten Kuchentresen. »Und die Maße kommen auch hin.«
Penelope nahm ihr den Brief aus der Hand. »›Glasvitrine‹? ›So gut wie neu‹? ›Es fehlt nur eine Ecke oben rechts, wo Stan bei einem Probeschlag mit dem Golfschläger gegengekommen ist‹?«, zitierte sie einige Stellen. Sie sah in die Runde. »Ist das hier eine Verkaufsplattform?«
»Wo ist denn der Umschlag?« Mrs Winterbottom sah sich um. »Ich brauche doch die Kontaktdaten.«
Sarah gab ihr den Briefumschlag und nahm den nächsten Brief vom Stapel. »Also, ich würde sagen, dieser Brief erfüllt nicht die Teilnahmebedingungen.« Diesmal gab sie Penelope den Brief als Erstes.
Penelope kannte die Wettbewerbsbedingungen nicht, aber nach den ersten Zeilen wusste sie, was Sarah meinte. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich würde sagen, nimmt nicht teil.«
Samantha griff nach dem Brief. »Schlechte Köchin? Putzt nicht häufig genug? Und nicht gründlich? Wo ist der Briefumschlag?«
Sarah gab ihr den Umschlag.
»Der kriegt von mir eine Antwort, die sich gewaschen hat. Wo sind wir denn hier?« Samantha stopfte den Brief in den Umschlag zurück und legte ihn neben ihren Teller.