Der mühsame Weg in die Freiheit - Bahman Nirumand - E-Book

Der mühsame Weg in die Freiheit E-Book

Bahman Nirumand

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Beschreibung

Der Tod der Iranerin Mahsa Amini, einer 22-jährigen Frau aus der Provinz Kurdistan, die sterben musste, weil ein paar ihrer Haarsträhnen unbedeckt waren, hat in Iran allgemeines Entsetzen hervorgerufen und heftige Proteste ausgelöst. Mahsa war eine harmlose, unschuldige Frau aus der Provinz Kurdistan, die zu Besuch in die Hauptstadt Teheran gekommen war. Dort wurde sie von der Sittenpolizei festgenommen, nach zwei Stunden bewusstlos ins Krankenhaus gebracht, nach drei Tagen war sie tot. Tausende von mutigen Frauen nahmen aus Protest ihr Kopftuch ab, schwenkten es in der Luft und warfen es ins Feuer. Unterstützt von Männern weiteten sich die Proteste auf das ganze Land aus. Das Regime reagierte mit skrupelloser Gewalt, es gab zahlreiche Tote, Verletzte und tausende Festnahmen. Doch die Menschen scheinen die Angst überwunden zu haben, fordern das Ende des islamischen Regimes. Sie wollen ein neues, freies Leben. »Frau, Leben, Freiheit«, schallt es im ganzen Land. Was treibt die Menschen auf die Straße? Wie konnte es so weit kommen, dass die Protestierenden nichts Geringeres fordern als den Sturz des Regimes? Bahman Nirumand, einer der besten Kenner Irans, schildert und analysiert in diesem Buch den mühsamen Weg des iranischen Volkes in die Freiheit.

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Bahman Nirumand

Der mühsame Weg in die Freiheit

Iran zwischen Gottesstaat und Republik

Dieses Buch erscheint in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung.

© 2023 zu Klampen Verlag · Röse 21 · 31832 Springe zuklampen.de

Umschlaggestaltung: Stefan Hilden · München · hildendesign.de unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock Satz: Germano Wallmann · Gronau · geisterwort.de Druck: Docupoint GmbH · Magdeburg · docupoint-md.de gedruckt auf FSC-zertifizierten Materialien

ISBN-Printausgabe 978-3-98737-000-7ISBN E-Book-PDF 978-3-98737-360-2ISBN E-Book-Epub 978-3-98737-361-9

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Szenen eines gespaltenen Landes

Zwischen Tradition und Moderne

Gottesstaat statt Republik

Verpasste Reformchancen 1: die Ära Chatami

Eine Konferenz und ihre Folgen

Die »Achse des Bösen«

Am Rande des Chaos

Der Atomkonflikt

Feldzug gegen die »Moderne«

Vorwärts in die Vergangenheit:die Ära Ahmadinedschad

Im Auftrag des »verborgenen Imam«

»Kampf der Kulturen«

Bleierne Zeiten

Trotz Repressionen: Frauen begehren auf

Die fatalen Folgen ausländischer Einflussnahme

Neue Hoffnung auf Reformen – und ein Ende mit Schrecken

Ahmadinedschads irrlichternde zweite Amtszeit

Verpasste Reformchancen 2: die Ära Rohani

Eine Herkulesaufgabe

Änderungen? Fehlanzeige!

Ein Durchbruch im Atomkonflikt?

Worte statt Taten

Misstrauen auf allen Seiten

Auf ganzer Linie gescheitert

Alles auf null? Ein Ausblick

Die Monopolisierung der Macht

Iran am Scheideweg: »Frau, Leben, Freiheit«

Dank

Über den Autor

Vorwort

Als ich dieses Buch zu schreiben begann, ahnte ich nicht, dass der mühsame Weg des iranischen Volkes in die Freiheit, den ich beschreiben wollte, einen neuen bewundernswerten Aufschwung erleben würde, der das Ende des Regimes in Iran einläutet, eines Regimes, das seit 43 Jahren seine anachronistische Ideologie und seine menschenfeindliche Lebensauffassung dem Volk aufzuzwingen versucht. Seit Mitte September gehen meist junge Frauen und Männer landesweit bis in die entlegensten Provinzen Tag für Tag mit leeren Händen, ohne Furcht vor den auf sie gerichteten Maschinengewehren auf die Straße und fordern das Ende der Islamischen Republik.

Mit der Regierungsübernahme durch Ebrahim Raisi und damit der Monopolisierung der Macht durch Islamisten vor mehr als einem Jahr hat sich der Druck auf die Bevölkerung erheblich verstärkt. Die andauernde und sich vertiefende ökonomische Krise, die immer mehr Menschen in die Armut treibt, und die Zunahme der Repressionen haben das Leben für Millionen Bewohnerinnen und Bewohner nahezu unerträglich gemacht. Mitte dieses Jahres glich das Land einem Pulverfass, das nur eines Funkens bedurfte, um einen Flächenbrand auszulösen.

Diesen Funken lieferte der Tod der 22-jährigen Mahsa Amini. Sie war mit ihrem Bruder zu Besuch in die Hauptstadt Teheran gekommen und dort in die Fänge der Sittenpolizei geraten, weil sie das Kopftuch nicht vorschriftsmäßig getragen hatte. Dafür musste sie sterben. Zwei Stunden nach ihrer Festnahme wurde sie bewusstlos in ein Krankenhaus gebracht, nach drei Tagen war sie tot. Mahsa Amini war eine harmlose, unschuldige Frau, weit entfernt von jeder politischen Aktivität. Aber in der Islamischen Republik ist schon die unbedeckte Haarsträhne einer Frau eine politische Aktion. Dafür kann sie in Haft kommen, gefoltert oder gar getötet werden.

Mahsa war nicht das erste Opfer und sie wird auch nicht das letzte Opfer sein, das Iranerinnen und Iraner im Kampf für soziale Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und Freiheit zu betrauern haben. Niemand kennt die Zahl der Menschen, die auf den Straßen erschossen, in den Gefängnissen ausgepeitscht, zu Tode gefoltert oder hingerichtet wurden. Das Regime hat stets auf jede Kritik, jeden Protest, mit Gewalt reagiert. Wie oft sind die Menschen, hoffend auf grundlegende Reformen, geduldig zu den Wahlurnen gegangen, wie oft haben sie auf den Straßen, in den Fabriken, an den Universitäten für die Durchsetzung ihrer Forderungen protestiert und gestreikt. Doch alle ihre Rufe nach Freiheit und Mitbestimmung stießen auf taube Ohren. Die Erfahrung der nun 43 Jahre währenden »Islamischen Republik« zeigt, dass dieses durch und durch korrupte Regime nicht nur nicht gewillt ist, den Bedürfnissen und Nöten der Bevölkerung entgegenzukommen. Es beharrt auch hartnäckig auf der Fortsetzung der ideologisch verbrämten und religiös getarnten Irrwege. Aufgrund dieser Erfahrung hat sich inzwischen die Erkenntnis durchgesetzt, dass dieses Regime nicht reformierbar ist. Daher geht es bei den jüngsten Protesten nicht mehr um einzelne wirtschaftliche oder soziale Forderungen, es geht um das gesamte System, um einen Regimewechsel, um ein neues Leben. »Frau, Leben, Freiheit«, schallt es im ganzen Land.

Die gegenwärtigen Proteste bilden vorerst das letzte Glied einer Kette von Rebellionen in der 43-jährigen Geschichte der Islamischen Republik. Bei diesem Kampf geht es hauptsächlich um den Aufprall von zwei Kulturen, zwei einander entgegengesetzten Lebensauffassungen. Auf der einen Seite steht eine traditionell und islamisch geprägte Herrschaft, die die Menschen gemäß der eigenen moralisch-ethischen Vorstellung von vor der Geburt bis nach dem Tod kontrollieren und deren Leben bestimmen will, auf der anderen Seite eine Zivilgesellschaft, die nach Freiheit, Selbstbestimmung und sozialer Gerechtigkeit strebt. Kurz gesagt: Es ist der Kampf der Moderne gegen die Tradition.

Ich habe mit diesem Buch versucht, den Prozess und den langen Weg dieses Kampfes zu beschreiben. Bei diesem Kampf, an dessen vorderster Front mutige Frauen stehen, hat es immer wieder Niederlagen, aber auch Teilerfolge gegeben. Doch mit den aktuellen Protesten scheint die iranische Zivilgesellschaft ihrem Ziel sehr nah zu kommen. Im Gebälk des islamischen Gottesstaates sind starke Risse entstanden. Das Licht der Freiheit leuchtet am Horizont. Meine Hoffnung ist, dass dieses Buch dazu beiträgt, den Interessierten mehr Einblick in die Verhältnisse Irans zu verschaffen und die jüngsten Vorgänge und deren Hintergründe begreiflich zu machen. Alle Zitate und Informationen in diesem Essay stammen aus internationalen und iranischen Agenturen, Zeitungen und Zeitschriften, Nachrichtenportalen und von iranischen und ausländischen Sendern.

»Frau, Leben, Freiheit«, der Slogan des iranischen Widerstands, hat weltweit großen Anklang gefunden, überall spüren die Menschen, dass er auch ihre Sehnsüchte und Bedürfnisse zum Ausdruck bringt, Sehnsucht nach Freiheit, Gleichberechtigung und Frieden. Ein Sieg der iranischen Zivilgesellschaft über das autoritäre, theokratische Regime würde nicht nur in der Region Folgen haben, sondern auch insgesamt dem Frieden in der Welt dienen.

Szenen eines gespaltenen Landes

Um der sommerlichen Hitze in der Hauptstadt Teheran zu entrinnen, fuhren wir gelegentlich an den Wochenenden nach Norden. Am Hang des Alborz-Gebirges, dessen Gipfel mit 5670 Metern in den Himmel ragt und das ganze Jahr über mit Schnee bedeckt ist, schlang sich eine unasphaltierte schmale Straße an kleineren und größeren Dörfern vorbei. Je weiter man fuhr, desto kühler und angenehmer wurde die Luft. Der Fluss Djadjrud, der aus den Bergen herabfloss, belebte die Natur und sorgte für eine idyllische Landschaft. Bäuerinnen und Bauern, die zumeist in Lehmhütten wohnten, bearbeiteten ihre Obst- und Gemüsefelder und sorgten durch den Verkauf ihrer Produkte für ihren bescheidenen Lebensunterhalt. Der schönste Ort auf dieser Strecke ist Lawasan.

Hier geschah im Juni 2001 ein unerwartetes Ereignis, das dem idyllischen Leben der Bauernfamilien ein Ende setzte. Der Bürgermeister von Lawasan und der Stadtrat genehmigten den Verkauf eines riesigen Areals von 128.222 Quadratmetern. Käufer war ein Milliardär namens Gholamhosein Mottaharri, der durch Investitionen in der chemischen Industrie, im Bergbau und in der Landwirtschaft zu einem enormen Reichtum gelangt war. Mottaharri erhielt zugleich die Baugenehmigung für fünfzig Wohneinheiten, deren Grundstücke nicht größer sein sollten als 1000 Quadratmeter.

Inzwischen ist das Areal zu einer Siedlung der Superreichen geworden. Die Wohneinheiten bestehen ausschließlich aus Luxusvillen, die durch sieben bis acht Meter hohe Mauern, Wachpersonal und Schutzhunde von der Außenwelt und vor fremden Eindringlingen abgeschirmt werden. Die neuen Bewohner, zumeist hohe Amts- und Würdenträger, mit oder ohne Turban, und vor allem deren Töchter und Söhne scherten sich nicht um Gesetze und Bauvorschriften oder Proteste der Umweltschützer und bauten nach eigenem Gutdünken. Für die Missachtung der Vorschriften mussten sie ein kaum nennenswertes Strafgeld zahlen.

Jede Villa ist ein Muster an unglaublichem Luxus und Konsumwahn. Wasserfälle, Swimmingpools, Fitnessräume, Bars und Säle, in denen ungeachtet der islamischen Vorschriften Orgien veranstaltet werden, bieten eine goldverzierte Welt, die von dem Leben, das die Menschen außerhalb der Siedlung führen, meilenweit entfernt ist. Allen Hasstriaden gegen die USA, die täglich von den Kanzeln abgelassen werden, zum Trotz wurde die Siedlung, in Anlehnung an Beverly Hills, Basti Hills genannt. Noch bis vor Kurzem hatte kein Fremder Zugang zu der Siedlung. Nur Gäste der Bewohner mit schriftlicher Einladung durften die strengen Zugangskontrollen passieren. Erst als die Vorgänge der Öffentlichkeit bekannt und Proteste laut wurden, wurden die Sperren beseitigt. Wie die Mullahs, die einst für ein Handgeld himmlische Botschaften verkündeten, und deren Weggefährten zu diesem Reichtum gelangt sind und wie sie diesen Luxus und Überfluss mit den moralischen und solidarischen Verpflichtungen, die sie den Menschen draußen abverlangen, in Einklang bringen können, bleibt unbeantwortet.

Jamkaran ist ein Dorf mit rund zehntausend Einwohnern in der Nähe der Pilgerstadt Ghom. Neben der Moschee des Dorfes befindet sich ein Brunnen. Weitverbreitete Gerüchte besagen, der Brunnen sei im Auftrag des verborgenen Imams Mahdi entstanden. Manche behaupten sogar, der Imam lebe in dem Brunnen. Mahdi war, der Glaubensauffassung der Schiiten zufolge, der zwölfte Nachfolger des Propheten Mohammed. Er sei im Kindesalter untergetaucht und werde erst dann zurückkehren, wenn die Welt sich in äußerster Not und am Abgrund befindet. Dann werde er die Menschheit retten und auf der ganzen Welt Gerechtigkeit walten lassen. Täglich pilgern Tausende Frauen und Männer zu dem Brunnen, um ihre Bittschriften an Mahdi und ihre Spenden für den verborgenen Imam in den Brunnen zu werfen, mit der Hoffnung, er werde ihre Wünsche erfüllen.

Der Brunnen gelangte erst durch den früheren Staatspräsidenten Mahmud Ahmadinedschad zur Berühmtheit. Beim Amtsantritt sagte der Präsident, seine Regierung werde von Mahdi geleitet. In der ersten Kabinettssitzung unterzeichneten er und seine Minister ein Schreiben an den verborgenen Imam, in dem sie gelobten, dessen Anweisungen zu befolgen, und ihn baten, ihnen bei der Erfüllung ihrer Pflichten Unterstützung zu gewähren. Das Schreiben wurde von einer Delegation nach Jamaran gebracht und in den Brunnen geworfen. Die Regierung investierte Millionen Euro, um in Jamaran Parkplätze und Unterkünfte für Pilger einzurichten. Alle Appelle einiger geistlicher Instanzen, der Brunnen habe mit Mahdi nichts zu tun, konnten die Massen von Hilfesuchenden nicht davon abhalten, nach Jamaran zu pilgern.

Fünfzehn junge Frauen, die ihr Studium abgeschlossen hatten, posierten im Dezember 2021 vor Glück strahlend, lachend und singend vor dem Portal der Teheraner Universität. Nur eine einzige von ihnen trug ein Kopftuch. Auf dem Video, das blitzartig in den sozialen Netzwerken veröffentlicht wurde, ist ein Motorradfahrer mit einer voll verschleierten Frau auf dem Rücksitz zu sehen. Beide scheinen überrascht zu sein. Einige Passanten bleiben stehen und schauen den Frauen zu, andere laufen gleichgültig vorbei.

Die Teheraner Universität gilt als Symbol des Widerstands. Sie befindet sich in der Straße, die den Namen Enghelab (Revolution) trägt. Das ganze Viertel, in dem sich zahlreiche Buchhandlungen befinden und auch auf den Gehsteigen Bücher feilgeboten werden, ist ein Treffpunkt von Intellektuellen, Künstlern und Schriftstellern. Hätten die Frauen im südlichen Teil der Stadt ihren freundlichen Protest gegen den Kleidungszwang kundgetan, wäre dies vermutlich nicht ohne Zwischenfall möglich gewesen. Noch vor nicht allzu langer Zeit hätten die Ordnungskräfte auf diese Aktion mit Gewalt reagiert. Junge Frauen, die zwei Jahre zuvor auf öffentlichen Plätzen demonstrativ ihr Kopftuch ablegten, sitzen heute noch im Gefängnis.

Dieses Mal sind Sittenwächter und die Polizei nicht eingeschritten, es gab auch keine Festnahmen. Die einzige Reaktion des Regimes bestand darin, dass sich wenig später etwa dreißig voll verschleierte Frauen auf denselben Platz stellten und Parolen gegen USA und Israel skandierten: Ein Kampf der Kulturen, der seit Jahrzehnten geführt wird.

Mitte Juni 2022 trafen sich rund hundert junge Frauen und Männer auf einem Platz im Zentrum der im Süden des Landes gelegenen Stadt Schiras. Sämtliche Frauen waren ohne Kopftuch, manche trugen ärmellose Blusen. Bei dem Treffen wurden keine politischen Parolen skandiert, keine Plakate getragen. Die jungen Leute hatten einfach Spaß, sie unterhielten sich, lachten und neckten sich. Die Ordnungshüter waren von dieser »provokativen Dreistigkeit« überrascht, sie nahmen einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer fest.

Wer hätte ahnen können, dass drei Monate später Tausende von jungen und auch älteren Frauen ihr Kopftuch abnehmen, es in der Luft schwenken und ins Feuer werfen würden? Ausgelöst wurde diese Protestaktion durch den Tod von Mahsa Amini, die sterben musste, weil sie ihr Kopftuch nicht vorschriftsmäßig getragen hatte. Die Aktion der Frauen weitete sich zu landesweiten Protesten aus, die sich gegen das gesamte System richteten und ein neues, freies Leben forderten. »Frau, Leben, Freiheit« schallte es im ganzen Land – ein Ruf, dem sich Frauen auf der ganzen Welt anschlossen.

Zwischen Tradition und Moderne

Wenn Lawasan ein Symbol für Korruption, Scheinheiligkeit und Doppelmoral der herrschenden Islamisten ist und Jamkaran für Aberglauben und Rückständigkeit, zeigen der Protest der Studentinnen, das Treffen in Schiras und noch weit deutlicher die jüngsten landesweiten Proteste den Kampf der Kulturen, der seit Jahrzehnten in Iran stattfindet.

In kaum einem Land der Welt ist der Kampf zwischen Tradition und Moderne so sicht- und spürbar wie in Iran, ein Kampf, der seit mehr als vierzig Jahren andauert und sich inzwischen so weit zugespitzt hat, dass es zwischen den herrschenden Islamisten und der sich immer weiter verbreitenden Zivilgesellschaft kaum noch Verbindungen gibt. Allmählich hat man den Eindruck, als werde das Land von einer fremden Macht beherrscht. Der Versuch der Islamisten, dem Volk ihre Lebensauffassung, ihre Vorstellung von Moral, von ethischsittlichen Normen aufzuzwingen, ist gründlich gescheitert. Die Hoffnung von Millionen Menschen, der Reformbewegung werde es gelingen, durch Öffnung der Gesellschaft nach innen und außen einen Wandel herbeizuführen, hat sich mit der »Wahl« Ebrahim Raisis zum Präsidenten und der Monopolisierung der Macht durch Ultras und Konservative als Trugschluss erwiesen.

In diesem Dilemma ist die Islamische Republik gefangen. Der Unmut, der zunächst leise eingesetzt hatte und von Jahr zu Jahr lauter wurde, stellte bereits nach dem Tod Ayatollah Chomeinis die Weichen für eine Polarisierung der iranischen Gesellschaft. An der Spitze der emanzipatorischen Bewegung stehen Frauen und Jugendliche – weshalb gerade diese beiden Gesellschaftsgruppen von Anbeginn zur Zielscheibe der neuen islamischen Machthaber wurden. Frauen sollten die islamische Moral und die männerdominierte Rechtsauffassung aufgezwungen und die Jugend sollte zu frommen Gläubigen und opferbereiten Parteigängern des theokratischen Staates erzogen werden.

Der Kampf, den Frauen in den vergangenen Jahrzehnten um ihre Rechte geführt haben, trägt inzwischen viele Früchte. Zwar haben sie ihre Ziele längst nicht erreicht, sich aber viele Bereiche erobert, unter anderem die Universitäten und Hochschulen, in denen sie zurzeit mehr als sechzig Prozent der Studierenden stellen – eine für Islamisten alarmierende Entwicklung, die einige Abgeordnete im Parlament dazu veranlasst hat, eine Quotierung zu fordern. Heute haben zahlreiche Frauen in der Verwaltung, ja, selbst in der Wirtschaft wichtige Leitungsfunktionen. Es gibt Dutzende Frauenzeitschriften und Internetzeitungen, die als Foren zur Diskussion über die Lage der Frauen dienen. Das Bild von Frauen, die, geduckt, gedemütigt und in Schleier verhüllt, sich dem Diktat der Männer beugen, das oft von westlichen Medien verbreitet wird, entspricht nicht der realen Lage der Frauen in Iran.

Die Islamisten sind nicht nur mit ihrer Frauenpolitik gescheitert, sondern auch mit ihrem Versuch, jüngere Generationen zu einer stabilen Stütze ihres angestrebten Gottesstaates zu machen. Jene Jugendliche, die einst, von der Revolution begeistert und zum Märtyrertod bereit, in den Krieg gegen den Nachbarstaat Irak gezogen waren, um den Islam und das Vaterland zu verteidigen, haben längst in ihrer überwiegenden Mehrheit den Islamisten den Rücken gekehrt. Das bedeutet nicht, dass sie politisch engagiert und gegen das Regime aktiv wären. Was sie aus der Sicht der Islamisten weit gefährlicher macht, sind ihre Lebensauffassungen, Ideale und Bedürfnisse, die den Vorstellungen der Machthaber konträr entgegengesetzt sind. Sie wollen, nicht anders als ihre Gleichaltrigen in aller Welt, frei sein, wollen am Leben Spaß haben, in ihrem Beruf Karriere machen, ihre Begabungen frei entfalten.

Frauen, Künstler, Musiker, Schriftsteller, Filmemacher, Journalisten und insbesondere die Jugendlichen und jungen Erwachsenen bilden die Achillesverse der Islamischen Republik. Da das Regime keine unabhängigen politischen Organisationen, Gewerkschaften oder Berufsverbände außerhalb des islamischen Lagers zulässt, wird der Kampf – von Massenprotesten und Streiks abgesehen – vorwiegend auf kultureller und gesellschaftlicher Ebene geführt. Bücher, Kunstwerke, Filme, Musik verbreiten sich mehr oder weniger unterschwellig vorbei an oder unbemerkt von den Zensoren wie eine Schar von Viren und zersetzen die Substanz des Gottesstaates. Es ist kein Zufall, dass in der Islamischen Republik das Ministerium für islamische Führung auch für kulturelle Angelegenheiten zuständig ist. Auch die Zensurbehörde ist hier angesiedelt. Die Herrscher sind sich bewusst, was ein Roman, ein Film, eine Theateraufführung, ja, ein einziges Gedicht, sogar einfallsreiche Witze alles anrichten können. Sie sprechen von einer Invasion des Westens und warnen vor einer vom Westen gesteuerten »samtenen Revolution«, die weit gefährlicher sei als eine offene bewaffnete Konfrontation.

Auch die Rolle der modernen Kommunikationsmittel kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Das islamische Regime steckt diesbezüglich in einem ausweglosen Dilemma: Einerseits sollte sich die Gesellschaft dem »verderblichen, zersetzenden« Einfluss der Moderne, der »westlichen Dekadenz«, verschließen, andererseits konnte und kann das Regime nicht auf die Vorteile der modernen Kommunikationsmittel verzichten. Film, Radio und Fernsehen bildeten die Vorhut. Aber erst das Internet hat den islamischen Traditionalisten eine schwere Niederlage zugefügt. Dieses Medium hat wie ein mächtiger Strom alle Dämme gebrochen, die rund um die Grenzen des Landes errichtet wurden. Auf einmal wurde es möglich, unzensierte Berichte über Ereignisse im In- und Ausland zu empfangen. Das Internet hat mit einem Schlag die bis dahin verschlossenen Tore zur Außenwelt geöffnet, es könnte zum Triumph der Technik über die Diktatur werden.

Millionen Iranerinnen und Iraner benutzen das Internet. Inzwischen gehört Persisch weltweit zu den am meisten benutzten Sprachen im Internet. Alle Versuche der Zensurbehörde, die Kommunikation im Internet unter Kontrolle zu bringen, sind bislang gescheitert. Immer wieder werden einzelnen Internetnutzer erwischt und zu harten Strafen verurteilt. Doch die Einschüchterungsversuche können die Lawine, die vor Jahren ins Rollen gekommen ist, nicht mehr aufhalten. Der Versuch, mittels moderner Geräte, die für viel Geld aus den USA importiert wurden, die Internetseiten zu filtern, scheiterte daran, dass Begriffe, die als obszön, moralisch verwerflich oder politisch gefährlich eingestuft wurden, zur Blockierung von medizinischen, soziologischen und anderen wissenschaftlichen Texten führten. Noch schlimmer war, dass auch Texte von Islamisten, die inzwischen zu eifrigen Internetnutzern gehören, der Zensur zum Opfer fielen. Denn politisch benutzten die Gegner des Regimes dieselben Begriffe, die die Islamisten gegen die USA und Israel verwendeten. Also wurden die Blockierungen aufgegeben.

Zu dem Kampf zwischen Tradition und Moderne kommt die politische und vor allem wirtschaftliche Lage des Landes hinzu. Iran befindet sich schon seit geraumer Zeit in einer verheerenden Wirtschaftskrise, die nicht allein auf die von den USA verhängten Sanktionen zurückzuführen ist, sondern noch mehr auf die Misswirtschaft und die überall verbreitete, unvorstellbare Korruption. Heute leben breite Schichten der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, während die Mullahs und deren Weggefährten Multimillionäre und Milliardäre geworden sind.

Auch innen- und außenpolitisch haben sich wichtige Veränderungen vollzogen. Wie es scheint, war die Präsidentschaft von Hassan Rohani der letzte Versuch, den Schein einer Machtverteilung innerhalb des islamischen Lagers zu wahren. Dieses Spiel wurde nun zugunsten einer offenen Monopolisierung der Macht durch radikale Islamisten aufgegeben. Diese Macht scheint trotz sich häufender landesweiter Proteste immer noch in der Lage zu sein, das Land unter Kontrolle zu halten. Dafür sorgen die Militärs, die Revolutionswächter, die Geheimdienste und eine ganze Reihe von paramilitärischen Organisationen, die zum Teil öffentlich nicht bekannt sind.

Außenpolitisch ist Iran zwar inzwischen zu einer regionalen Großmacht geworden und spielt in einigen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens, wie in Irak, Libanon, Syrien und Jemen, eine wichtige Rolle, doch diese Position ist angesichts der Annäherung zwischen Israel und den arabischen Staaten, einer Front, die auch von den USA und dem Westen insgesamt unterstützt wird, sehr fragil. Die Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung ist keineswegs gebannt.

Gottesstaat statt Republik

Wie konnte ein Aufstand der Massen gegen die Schah-Diktatur, eine Revolution, die die Worte »Freiheit« und »Unabhängigkeit« auf ihre Fahnen geschrieben hatte und von mehr als neunzig Prozent der Bevölkerung getragen wurde, so einen schlimmen Verlauf nehmen? Als Ayatollah Chomeini im Februar 1979 aus seinem Pariser Exil nach Iran zurückkehrte und mit euphorischer Begeisterung von Millionen empfangen wurde, hatte Iran alle Voraussetzungen, um sich zu einem modernen, freien, unabhängigen und demokratischen Staat zu entwickeln. Die Einheit und Solidarität in der Bevölkerung und die reichen Ressourcen, die das Land bot, lieferten die Chance zu einem raschen Wandel. Doch die neuen Herrscher hatten anderes im Sinn: die totale Islamisierung eines Volkes, das zwar in weiten Teilen gläubig, jedoch weitgehend säkularisiert war. Nicht die Wahrnehmung der ökonomischen, kulturellen und politischen Interessen des Volkes und die Bedürfnisse der Individuen waren das Ziel der islamischen Geistlichkeit, die die Führung des Landes übernahm, sondern die Durchsetzung der ideologischen und religiösen Vorstellungen, die aus einer weit zurückliegenden Zeit stammten.

Ich erinnere mich, wie absurd, ja, lächerlich es uns vorkam, als auf einmal Menschen mit Turban und Umhang im Fernsehen auftauchten und den Zuschauern Lehren und Verhaltensregeln erteilten. Bisher sah man die Mullahs in den Moscheen oder bei Trauerfeiern, ganz selten im Fernsehen und schon gar nicht als Träger hoher Ämter. Wie wollen diese Leute ein halbwegs modernes Land wie Iran regieren?, fragte ich mich. Sie haben absolut keine Regierungserfahrung, und ihre Ansichten und Pläne sind in diesem Land völlig fehl am Platz. Wie ich dachten viele, die neuen Herrscher würden innerhalb einer kurzen Zeit scheitern, nicht zuletzt, weil der Widerstand gegen ihre Ideen und Forderungen massiv war. Doch sie sind geblieben und sind seit 43 Jahren an der Macht. Wie war das möglich, was geschah in diesen Jahrzehnten?

Kurz nach der Machtübernahme der Geistlichkeit begann ein Krieg, den Ayatollah Chomeini als »Geschenk des Himmels« bezeichnete. Denn dieser Krieg gegen das Nachbarland Irak gab der neuen Macht die Möglichkeit, von den heftigen Auseinandersetzungen im Innern abzulenken, Massen von jungen Männern an die Front zu schicken und, noch wichtiger, die eigene Ideologie, das Märtyrertum und die Bereitschaft, für den Islam und das Vaterland zu sterben, durchzusetzen. Acht Jahre lang dauerte der Krieg mit mehr als einer Million Toten auf beiden Seiten. Danach sollte eine neue Zeit beginnen, die Zeit des Aufbaus der zerstörten Städte und Dörfer und vor allem der Neuordnung des islamischen Staates. Es ging auch darum, die Hunderttausenden, die nun von der Kriegsfront zurückgekehrt waren – sie wurden als lebende Märtyrer bezeichnet – zu beschäftigen. Sie waren zum größten Teil Mitglieder der Sepah-e Pasdaran-e Enghelab-e Eslami (Das Heer der Wächter der Islamischen Revolution), auch Revolutionsgarde genannt, die wenige Wochen nach der Revolution als Parallelorganisation zu der regulären Armee zum Schutz des islamischen Staates gegründet worden war. Sie hatte sich in den acht Kriegsjahren rasch entwickelt. Ihre Kommandanten und Kader waren vorwiegend religiöse Fanatiker, die nun auch eine militärische Ausbildung erhalten und viel Kampferfahrung gesammelt hatten. Nach dem Krieg wurden die Garden für den Wiederaufbau des Landes eingesetzt – eine Entscheidung, die für die künftige Entwicklung weitreichende Folgen hatte, denn damit wurden die Weichen für ein theokratisch-militärisches Regime gelegt. Es dauerte nicht lange, bis die Pasdaran zur größten Wirtschaftsmacht und folglich zum wichtigsten Mitspieler auf der politischen Bühne wurden. Als Mahmud Ahmadinedschad, der selbst bei den Garden den Rang eines Kommandanten erreicht hatte, zum Präsidenten gewählt wurde (2005), wurden 13 von 21 Ministerposten mit ehemaligen Befehlshabern der Pasdaran besetzt. Heute sind die Garden der bestimmende Faktor in der Innen- und Außenpolitik der Islamischen Republik.

Mit der Neuordnung des Machtapparats sollte nun die Islamisierung der Gesellschaft durchgesetzt und jegliche Opposition mit Gewalt zum Schweigen gebracht werden. Hinrichtungen und Terroranschläge im In- und Ausland sollten Oppositionelle vor Aktivitäten warnen. Es wurde eine klare Linie gezogen zwischen dem islamischen Lager, die als »Eigene«, und dem Rest der Gesellschaft, die als »Nichteigene« bezeichnet wurde. Das Problem war nur, dass innerhalb des islamischen Lagers sowohl ideologisch als auch politisch keine Einigkeit herrschte. Viele von denen, die sich enthusiastisch für die Revolution eingesetzt und in den Kriegsjahren unter Einsatz ihres Lebens ihr Land und den Islam verteidigt hatten, schauten sich um und fragten sich, ob das, was sie im Land vorfanden, den Ideen und Idealen der Revolution entsprach. Haben wir so viele Opfer gebracht, um einen solchen Staat, eine solche Gesellschaft zu erreichen? Was ist schiefgelaufen, was haben wir falsch gemacht?

Es trifft zwar zu, dass Außenmächte sich immer wieder in die Entwicklung unseres Landes eingemischt und viel Schaden angerichtet haben. Hätten die USA und die Briten 1953 nicht gegen Ministerpräsident Mohammad Mossadegh, der die Unabhängigkeit Irans und die Demokratisierung des Landes anstrebte, geputscht und die Diktatur des Schahs unterstützt, wären die Islamisten wohl nie und nimmer an die Macht gekommen. Auch bei dem Krieg gegen die irakischen Nachbarn hatten die westlichen Staaten die Hand im Spiel. Aber haben wir selbst keine Schuld? Sind nicht die Gründe für die gegenwärtige Lage vor allem in unserer Geschichte, unserer Kultur und unserer Religion zu suchen? Kann eine echte (nicht vom Westen aufgesetzte) Modernisierung und Demokratisierung ohne eine gründliche Auseinandersetzung mit unserer Geschichte, unserem Glauben überhaupt erreicht werden?

Verpasste Reformchancen 1: die Ära Chatami

Als hätte der Krieg die Menschen wachgerüttelt. Eine Welle von Hoffnung und Zuversicht, es könnte doch eine Wende, einen Wandel geben, breitete sich über das ganze Land aus. Man sah wieder Licht am Horizont, hoffte auf eine Öffnung nach innen und außen. Der Widerspruch zwischen Gottesstaat und Republik sollte allmählich zugunsten der Republik gelöst werden. Träger der Hoffnung waren Mohammad Chatami und seine Anhänger, die sich als Eslahtalaban (Reformer) bezeichneten.

Der Geistliche Chatami hatte in den Sechzigerjahren sein Studium an der theologischen Hochschule in der Pilgerstadt Ghom abgeschlossen und danach an der Universität in Isfahan Philosophie studiert, wobei er sich vor allem mit westlicher Philosophie auseinandersetzte. In den Jahren 1977 und 1978 wurde er zum Direktor des Islamischen Zentrums in Hamburg berufen. Nach der Revolution wurde er Mitglied des ersten Parlaments der Islamischen Republik. 1980 übernahm er auf Anordnung des Revolutionsführers Ayatollah Chomeini die Leitung der Tageszeitung »Kayhan«. 1981 berief ihn Ministerpräsident Mir Hossein Moussawi in sein Kabinett. Chatami wurde Minister für Kultur und Islamische Führung. Diesen Posten behielt er auch im Kabinett von Ali Akbar Rafsandschani. Allerdings legte er im Mai 1992 sein Amt nieder. Grund für diesen Rücktritt war die Auseinandersetzung über die »kulturelle Invasion des Westens«, die der Nachfolger Ayatollah Chomeinis, Ali Chamenei, als eine Gefahr bezeichnete, der mit aller Kraft Einhalt geboten werden müsse. Die Warnung nahmen die Gegner der westlichen Kultur zum Anlass, um immer mehr Einschränkungen der Freiheit der Presse, des Wortes und der Meinung zu fordern und sie auch zum Teil mit Gewalt durchzusetzen.

Die Feindschaft gegen den Westen gehört zum substanziellen Bestandteil der Ideologie der Islamischen Republik. Die westliche Kultur sei dekadent, verderblich, unmoralisch. Daher müsse jeglicher Einfluss aus dem Westen unterbunden werden, forderten die Radikalen. Demgegenüber forderte Chatami einen Dialog der Kulturen. In seinem Rücktrittsgesuch an Präsident Rafsandschani schrieb er unter anderem: »Im Bereich der Kultur werden alle legalen, moralischen und religiösen Grenzen überschritten. Es geht längst nicht mehr um Kritik oder abwegige Einschätzungen, sondern darum, mit allen Mitteln bestimmte Ziele durchzusetzen. (…) Das stiftet Verwirrung, vergiftet die Atmosphäre und hat dazu geführt, dass selbst Künstler und Kulturschaffende, die von der Revolution begeistert und rechtschaffende Gläubige sind, in die Resignation und Verzweiflung getrieben werden.«

Nach seinem Rücktritt übernahm Chatami die Leitung der Staatsbibliothek in Teheran. Sein Rücktritt und seine Äußerungen über die Zivilgesellschaft steigerten enorm seine Popularität. Dennoch schien sein Sieg bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 1997 unwahrscheinlich. Die Konservativen und Hardliner waren sicher, dass ihr Kandidat, der amtierende Parlamentspräsident Ali Akbar Nategh Nuri, mit großem Abstand die Wahl gewinnen werde. Sie hatten alle legalen und illegalen Mittel der Propaganda eingesetzt, um Chatami zu denunzieren. Er erkenne die Grundsätze des Islam nicht an, sei scheinheilig und verstecke seine ketzerischen Ansichten hinter seinem Turban und Umhang, behaupteten sie. Der Verein der Lehrkräfte an der theologischen Hochschule in der Pilgerstadt Ghom veröffentlichte sogar eine Erklärung, in der es hieß, jeder gläubige Muslim habe die Pflicht, Nategh Nuri zu wählen. Selbst der Revolutionsführer Ali Chamenei hatte entgegen allen Gepflogenheiten die Wahl Nuris empfohlen. Der Empfehlung schlossen sich auch die staatlichen Medien und einflussreiche Instanzen an. Damit waren die Konservativen ihrer Sache sicher, erlebten aber einen Schock, als es doch anders kam. Fast siebzig Prozent der Wähler stimmten für Chatami. Die Besiegten schworen Rache und schmiedeten Pläne, um jeden Erfolg von Chatami zu vereiteln. Vor allem sollten die von der Regierung Chatami angestrebte Öffnung nach innen und außen, die Lockerung der Zensur, eine Milderung der Einschränkungen, die Schriftstellern, Künstlern, Journalisten und Kulturschaffenden auferlegt worden waren, verhindert werden. Dazu beschlossen sie, ihren Machtapparat, die Revolutionswächter, die paramilitärischen Basidjis, die Geheimdienste und die Justiz besser zu vernetzen.

Das Votum vom mehr als zwanzig Millionen Wählern, das Chatami zum Sieg verhalf, war in erster Linie eine klare Absage an die bisherige Politik, an den theokratischen Staat, an das verkrustete, mittelalterliche Weltbild der Mullahs, an die rigorose Repression und Zensur, an Unterdrückung, Terror und Mord. Es war ein Bekenntnis zur Freiheit, zu Demokratie und Menschenrechten. Doch das System des theokratischen Staates lässt nur einen geringen Spielraum für den Präsidenten. Über ihn steht der mit fast grenzenlosen Befugnissen ausgestattete Revolutionsführer, dem auch praktisch die Justiz untersteht, deren Chef vom Revolutionsführer ernannt wird. Dann gibt es den mächtigen Wächterrat, ohne dessen Zustimmung kein Gesetz in Kraft treten kann. Der Rat bestimmt auch, welcher Bewerber für das Amt des Staatspräsidenten oder für ein Parlamentsmandat zugelassen werden darf. Auch die Geheimdienste, das Militär, die Revolutionsgarden und andere wichtige paramilitärische Organisationen folgen dem Befehl des Revolutionsführers. So bleibt dem Präsidenten kaum eine Möglichkeit, selbständig zu handeln und Entscheidungen zu treffen, schon gar nicht, wenn sie sich gegen die Interessen des islamischen Establishments richten.

Dennoch änderte sich mit der Wahl Chatamis die politische Atmosphäre. Die dunklen, Kriegsjahre schienen vergangen. Schriftsteller, Journalisten, Künstler, Filmemacher, Verteidiger der Frauen- und Menschenrechte wagten sich aus ihren Verstecken. Es entstanden neue, kritische Zeitungen und Zeitschriften, Manuskripte wurden aus den Schubladen geholt und gut gehütete Kunstwerke der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. In allen Bereichen der Gesellschaft entstanden regierungsunabhängige Organisationen, die sich um Anliegen der Bevölkerung kümmerten und Bürgerinnen und Bürger zu gemeinsamen Aktivitäten aufforderten.

Höchst bemerkenswert und von nachhaltiger Bedeutung war, dass nun auch die Auffassungen der Konservativen und Ultras vom Islam kritisch unter die Lupe genommen wurden, und zwar nicht von Laizisten, sondern von Islamwissenschaftlern, Intellektuellen, die dem islamischen Lager angehörten. Auch eine ganze Reihe von Geistlichen meldete sich zu Wort. Ein Forum für diese Auseinandersetzung bildete die Zeitschrift »Kian«.

Einer der profiliertesten Kritiker des traditionellen Islam war der Religionsphilosoph Abdolkarim Soroush. Soroush hatte bei der Gründung und Gestaltung der Islamischen Republik aktiv mitgewirkt. Eine Zeitlang gehörte er zu dem dreiköpfigen Vorstand des Rates der Kulturrevolution, dessen Aufgabe darin bestand, das gesamte Kulturleben, einschließlich Schulen und Universitäten, zu islamisieren. Soroush zog aus eigenen Erfahrungen Konsequenzen, nahm immer mehr Abstand von der Macht und entwickelte sich allmählich zu einem der fortschrittlichsten Denker der Reformbewegung.

Soroush lehnt jeden Gedanken an Erneuerung und Wiedergeburt des Islam, die von manchen islamischen Fundamentalisten gefordert werden, als unrealistisch und utopisch ab. Der Islam sei unveränderbar, schreibt er. Was von Grund auf geändert werden müsse, seien unser Denken und unsere Auffassungen vom Glauben. Es gehe um die Versöhnung einer unveränderbaren Religion mit einer sich permanent verändernden Welt. Diese Versöhnung werde nicht durch Bekenntnisse, durch Glauben an eine Utopie erreicht, sondern durch das Denken, Hinterfragen, Zweifeln. Durch neue Erkenntnisse, durch Vernunft. Jede Ideologisierung der Religion sei diesem Ziel entgegengesetzt, denn sie schränke die Freiheit des Denkens und der Erkenntnis ein, schließe Vernunft und Zweifel aus und verhindere Fortschritt und Emanzipation.

Soroush plädiert für einen säkularen Staat. »Ein säkularer Staat richtet sich keineswegs gegen die Religion«, schreibt er. »Aber er bezieht nicht daraus seine Legitimation, er handelt nicht nach Glaubensvorschriften. Der moderne Staat bezieht seine Legitimation aus dem Willen des Volkes. Der Säkularismus hat die Religion aus dem Staat ausgeschlossen und das Recht des Regierens und der Gesetzgebung auf das Volk übertragen.«

Der Säkularismus heiße nichts anderes als die Entzauberung der Welt, als die Akzeptanz von Wissenschaft, Vernunft und Erkenntnis, schreibt Soroush. Die Menschen seien bemüht, die Natur zu erforschen, ihre Gesetzmäßigkeiten herauszufinden und eigene Erkenntnisse darüber weiterzuentwickeln. Dasselbe gelte für die menschliche Gemeinschaft, für die Politik, für den Staat. »Wenn Staat, Politik und Gesellschaft ›entheiligt‹ werden und die Religion heilig bleibt, trennen sich ihre Wege. Genauso wie es keine religiöse Thermodynamik oder eine religiöse Geometrie geben kann, kann es auch keinen religiösen Staat und keine religiöse Verwaltung geben.«

Selbstverständlich hätten die Individuen in einer säkularen Gesellschaft die Freiheit an Gott zu glauben und ihrer religiösen Vorstellung nachzugehen, sie müssten aber gleichzeitig als Mitglied einer Gesellschaft wirken, die nach den Regeln der Vernunft und auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse regiert und verwaltet wird.

In vorsäkularen Gesellschaften hätten die Menschen nur Pflichten erfüllen müssen, fährt Soroush fort. Dasselbe gelte auch für einen religiös-ideologischen Staat. Die Sprache der Religion, besonders die des Islam, sei eine Sprache, die Pflichten verlange. Eine metphysische Macht stelle Gebote und Verbote auf, mache die Menschen auf ihre Pflichten aufmerksam, fordere Glaubensbekenntnisse, verlange die Pflicht zum Beten. Die säkulare Gesellschaft hingegen gehe von den Rechten der Menschen aus. Zu diesen Rechten gehöre auch das Recht, auf den Glauben zu verzichten.

»Zwischen diesen beiden Auffassungen besteht ein enormer Unterschied«, sagt Soroush. »Sobald man die Pflicht durch das Recht ersetzt, sobald man akzeptiert, dass der Glaube ein Recht ist und keine Pflicht, ändert sich die Lage grundsätzlich. Dort ist ein Geben, hier ein Nehmen, dort wirkt die Gesellschaft wie ein Heiligtum, hier wie ein Basar.«

Die konservative Geistlichkeit und die Staatsführung zeigten sich empört über die Ansichten von Soroush. Seine öffentlichen Auftritte wurden von Schlägertrupps gestört, seine Lehrtätigkeit an der Universität wurde verboten. Als sein Leben in Gefahr war, verließ er das Land. Eine Zeitlang war er Gast des Berliner Wissenschaftskollegs, heute lebt er in Amerika. Im Ausland entwickelte er seine Kritik an der traditionellen Auffassung des Islam weiter, so weit, dass er die These aufstellte, die Suren des Koran seien nicht Worte Gottes und daher nicht göttlich, sondern »weltlich« und »menschlich«, weil sie Äußerungen des Propheten Mohammad seien. Fazit: Der Koran, die Verbote und Gebote seien nicht unantastbar.