Der Nachtjäger - Sabine Klewe - E-Book
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Der Nachtjäger E-Book

Sabine Klewe

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Beschreibung

Linus Roth, Ex-Bulle, jetzt Privatermittler, genannt der Gepard, lebt auf einem Hausboot im Düsseldorfer Hafen. Gerade hat er einen Auftrag erledigt, da tauchen seine ehemaligen Kollegen auf und wollen ihn verhaften. Denn Roth wird des Mordes an einem Jungen aus seinem Heimatdorf verdächtigt, der vor 20 Jahren verschwand. Dessen Überreste wurden nun gefunden – zusammen mit Spuren von Roths DNA. Doch das ist nicht alles: Der Journalist Bodo Stein, den Roth für eine Auftraggeberin ausfindig gemacht hat, ist ermordet worden. Stein recherchierte im Fall des toten Jungen. Für Roths Kollegen ist der Fall klar. Für den Gepard gibt es nur eins: Die Flucht nach vorn.

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Seitenzahl: 355

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Buch

Gerade hat Exbulle Linus Roth einen vermeintlich leichten Fall abgeschlossen: Bodo Stein, den untergetauchten Exmann einer Auftraggeberin, hat er schon nach kurzer Zeit aufgespürt. Doch nun steht die Polizei vor seinem Hausboot, das im Düsseldorfer Hafen liegt. Bodo Stein wurde ermordet. Und Linus ist der Letzte, der ihn gesehen hat. Nicht nur das: Stein war Journalist und hat den Fall eines Jungen recherchiert, der vor 20 Jahren spurlos aus Linus’ Heimatort verschwand. Jetzt sind die sterblichen Überreste aufgetaucht, und die Polizei hat an dem Fundort DNA von Linus sichergestellt. Mithilfe der mysteriösen Kunstdiebin Nadja versucht er nun, die Morde aufzuklären, ohne von seinen Exkollegen gefasst zu werden. Erst spät erkennt er, dass die Polizei nicht seine größte Sorge sein sollte. Denn längst ist er in eine viel gefährlichere Falle getappt …

Weitere Informationen zu Sabine Klewe

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

SABINE KLEWE

Der Nachtjäger

Thriller

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Originalausgabe August 2018

Copyright © 2018 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Sabine Lubenow/getty images, FinePic®, München

Redaktion: Heike Rosbach

em · Herstellung: kw

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN 978-3-641-22073-0V002

www.goldmann-verlag.de

Tag EinsMittwoch, 31. Oktober

Linus

Ich bemerkte den Schatten erst, als er bereits im Vorgarten war. Er bewegte sich dicht an der Hauswand entlang, fast unsichtbar im grauen Nachtlicht der Stadt.

Ruckartig setzte ich mich auf. Hab ich dich!

Ohne die Gestalt aus den Augen zu lassen, stieß ich die Wagentür auf und stieg aus, pirschte mich durch den Vorgarten an sie heran. Sie wirkte schmaler und wendiger, als ich erwartet hatte, aber das lag bestimmt daran, dass ihre Konturen mit der Nacht verschmolzen.

Zu meiner Überraschung hielt die Zielperson auf die Gartenmauer zum Nachbargrundstück zu, statt auf den Bürgersteig zu treten. Mit so viel Vorsicht hatte ich nicht gerechnet. Hatte der Kerl mich etwa im Auto sitzen sehen, während ich das Haus observiert hatte? Floh er vor mir? Zugegeben, ich war nicht sonderlich wachsam gewesen, bei Routineaufträgen dieser Art hatte man es normalerweise mit Menschen zu tun, die nicht damit rechneten, beobachtet zu werden. Vielleicht hatte ich es mir zu leichtgemacht. Aber es war noch nicht zu spät, die Scharte auszuwetzen.

Ich schlich näher heran, und als der Mann kurz nach rechts und links blickte, um sich zu orientieren, nutzte ich die Gelegenheit und schoss ein Foto mit meinem Handy. Viel würde nicht darauf zu erkennen sein, dafür hätte ich meine unhandliche große Kamera mitschleppen müssen. Ich musste darauf hoffen, dass sich gleich eine bessere Gelegenheit bieten würde.

Plötzlich hörte ich hinter mir ein Klicken. Die Haustür!

Ich erstarrte, horchte in die Nacht, ohne die Gestalt vor mir, die ebenfalls stehen geblieben war, aus den Augen zu lassen.

Schritte knirschten auf dem Kies in meinem Rücken, jemand lief den Gartenweg hinunter in Richtung Straße. Ich riskierte einen Blick und erkannte die Person, auf die ich gewartet hatte, im Licht einer Straßenlaterne.

Fuck!

Mein Blick schoss zu der Gestalt vor mir. Wer bist du, Dreckskerl? Und was treibst du hier mitten in der Nacht?

Ich machte diesen Job nicht erst seit gestern, ich wusste, dass auch der langweiligste Routineauftrag unangenehme Überraschungen bereithalten kann. Aber ich observierte das Haus seit Stunden, und außer der Zielperson hatte ich niemanden auch nur in der Nähe gesehen. Wie hatte der Unbekannte das Grundstück betreten, ohne dass ich etwas bemerkt hatte? Wie lange war er im Haus gewesen? Und was zum Teufel hatte er dort gemacht?

Kurz spielte ich mit dem Gedanken, dem Fremden zu folgen, dann besann ich mich auf meinen Auftrag, wandte mich um und konzentrierte mich auf den Mann, der gerade die Straße überquerte und vor einem silbernen BMW stehen blieb. Ein elektronisches Piepsen ertönte, die Warnblinkanlage leuchtete auf.

Rasch zückte ich erneut mein Handy, schoss Fotos von dem Mann neben dem Auto, von seinem Gesicht, als er sich noch einmal zum Haus umdrehte, dann vom Kennzeichen. Als er einstieg und losfuhr, trat ich zurück in den Schatten eines Baums.

Ich verfasste eine Nachricht an meinen Auftraggeber, hängte die Fotos an und schickte sie los. Job erledigt. Mehr sollte ich nicht tun. Nur die Zielperson ablichten, in flagranti vor dem Haus, dem sie sich nicht nähern durfte, mit dem Rhein im Hintergrund und der Skyline der Altstadt am anderen Ufer als Beweis. Darüber hinaus interessierte mich die Sache nicht.

Abgesehen von dem unbekannten Eindringling.

Ich schob das Handy zurück in die Hosentasche und schlich wieder in den Vorgarten. Von dem anderen Kerl war nichts mehr zu sehen. Natürlich nicht. Er hatte längst das Weite gesucht.

Wer war er? Ein Einbrecher? Ein Komplize, mit dem die Zielperson sich heimlich getroffen hatte? Sollte ich meinen Auftraggeber darüber informieren, dass noch jemand im Haus gewesen war?

Nach kurzem Überlegen beschloss ich, dieses Wissen zunächst für mich zu behalten. Es war immer gut, noch ein Ass im Ärmel zu haben. Ich kehrte zu meinem Wagen zurück, überquerte den Fluss und fuhr in den Hafen. Mein Boot, seit zwei Jahren mein wankendes Zuhause, lag in einem der hinteren Becken, wo noch keine schicken Büros, sondern Industriebetriebe das Bild bestimmten. Wo es nach Diesel roch und dem Futtermittel, das hier produziert wurde, und wo mir immer mal wieder Rheinschiffer an der Anlegestelle Gesellschaft leisteten.

Alles war dunkel, als ich eintraf. Um drei Uhr morgens herrschte selbst hier Ruhe. Sogar die Sprayer, die nachts an den leer stehenden Fabrikhallen ihre Tags hinterließen, waren längst in ihre warmen Betten gekrochen. Ich tat es ihnen gleich, kletterte in meine Koje und fiel in einen kurzen unruhigen Schlaf.

Azzo

Azzo Lupo schnippte mit den Fingern gegen die kleine, aus Papier gefaltete Figur auf dem Armaturenbrett und lehnte sich zurück. Teil eins des Plans war erledigt, alles hatte perfekt geklappt. Fast perfekt zumindest. Er warf einen Blick durchs Seitenfenster, in die Richtung, wo eben noch der Radfahrer gestanden hatte, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, ein unförmiges Bündel auf dem Rücken.

Ein Zufall, nichts weiter. Vielleicht ein Dealer, der irgendwo hier im Hafen seine Ware lagerte, oder einer von diesen Schmierfinken, den Rucksack voller Spraydosen.

Azzo schob den Zahnstocher mit der Zunge vom rechten Mundwinkel in den linken und nahm wieder das Boot ins Visier. Alles dunkel. Ein gutes Zeichen. Wenn die Zielperson Verdacht geschöpft hätte, würde noch Licht brennen, würde sie jetzt das Boot nach Spuren eines Eindringlings absuchen.

Aber Azzo hatte nicht damit gerechnet, dass so etwas geschehen würde. Er war Profi. Wenn er keine Spuren hinterlassen wollte, hinterließ er keine. Seine Auftraggeber würden zufrieden sein. Wie immer. Und er würde sie in dem Glauben lassen, dass sie in ihm einen ergebenen Handlanger hatten. Er allein wusste, dass er selbst in Wahrheit die Fäden in der Hand hielt. Er war der große Puppenspieler, und alle tanzten nach seiner Pfeife. Auch wenn sie es nicht merkten. Genau aus diesem Grund machte das Spiel solchen Spaß.

Azzo nahm die Figur vom Armaturenbrett und dachte daran, wie leicht es gewesen war, eine neue Identität anzunehmen. Niemand wusste, ahnte auch nur, wer er in Wirklichkeit war. Zwei Landesgrenzen, eine neue Identität und ein wenig den Ball flachhalten, mehr war nicht nötig gewesen. Den Namen hatte er sich extra für seine neuen Auftraggeber einfallen lassen. Der Alte hatte sofort begriffen, der Junge schien bis heute nicht zu wissen, wofür Azzo die Kurzform war.

Ein Donnern erscholl, wurde langsam lauter. Ein Güterzug polterte vorbei, die Bahnlinie verlief ganz in der Nähe des Hafenbeckens. Azzo blickte auf seine Armbanduhr. Fast vier Uhr morgens. Zeit aufzubrechen.

Er fuhr sich durch das Haar, sah noch einmal zu der Stelle, wo der Radfahrer gehalten hatte. Das ungute Gefühl ließ sich nicht abschütteln. Der Kerl war zeitgleich mit der Zielperson aufgetaucht, es hatte so ausgesehen, als wäre er dem Wagen hinterhergefahren. Aber wer verfolgte einen PKW mit dem Fahrrad? Es musste ein Zufall gewesen sein. Dennoch blöd, dass Azzo sich nicht hatte vergewissern können, ohne seine Deckung aufzugeben. Er würde sich erkundigen, ob bei der Villa alles glattgelaufen war. Falls der Radfahrer der Zielperson von dort gefolgt war, mussten seine Leute das bemerkt haben.

Seufzend drückte Azzo den Startknopf. Bestimmt war er übervorsichtig, sah Gefahr, wo keine drohte. Aber sein Instinkt hatte ihm schon mehr als einmal das Leben gerettet. Er würde einen Teufel tun, nicht darauf zu hören.

Linus

Es war noch keine sieben Uhr, und der Morgen dämmerte grau, als ich wieder aufstand, mich an meinen Schreibtisch setzte und versuchte, so viel wie möglich aus dem Foto herauszuholen, das ich von der unbekannten Person im Vorgarten gemacht hatte. Das Bild war sehr grobkörnig, doch ich besaß ein Programm, das wahre Wunder bewirken konnte.

Während ich darauf wartete, dass die Software ihre Arbeit erledigte, starrte ich auf das bleifarbene Wasser, das nur wenige Zentimeter unterhalb des Bullauges gegen den Schiffsrumpf plätscherte, rieb mir die verfrorenen Hände und dachte, dass es Zeit wurde, den alten Kohleofen anzuschmeißen. Der Herbst war bisher mild gewesen, doch bald würde der Winter anklopfen. Die kalte Jahreszeit war nicht die gemütlichste auf dem Wasser. Nicht auf dem Rhein zumindest, und noch dazu in einem betagten Gefährt wie dem meinem, auf dem es durch jede Ritze zog.

Mein Boot war ein alter holländischer Frachtkahn, der vom Vorbesitzer auf den Namen Tramp getauft worden war. Er war ziemlich geräumig. Vom Steuerhaus aus ging es über eine Holzstiege unter Deck in einen Wohnraum mit Kochzeile, Esstisch und Sofa. Dahinter lag ein schmaler Gang, von dem das Arbeitszimmer, das Bad und das Schlafzimmer abzweigten. Ein weiterer kleiner fensterloser Raum lag ganz vorne im Bug. Dessen Tür hielt ich immer sorgfältig verschlossen.

Als sich endlich das hochgerechnete Bild vor mir aufbaute, klappte mir die Kinnlade herunter. Ungläubig betrachtete ich das Gesicht einer Frau mit mädchenhaften Zügen und dunklen mandelförmigen Augen. Es lag halb im Schatten der Kapuze ihres Pullis, die auch die Haare verbarg, war aber trotzdem recht gut zu erkennen. Die Frau war einige Jahre jünger als ich, höchstens dreißig, vermutete ich. Was mich am meisten überraschte, war jedoch der Rucksack oder, besser gesagt, das, was ich im Dunkeln für einen Rucksack gehalten hatte. Es war eine Art Dokumentenrolle, die sie an einem Gurt auf dem Rücken trug.

Und in dem Moment begriff ich.

Das Haus, das ich gestern stundenlang observiert hatte, um meine Zielperson beim illegalen Betreten zu erwischen, beherbergte eine der exquisitesten privaten Gemäldesammlungen des Rheinlandes. Eine Sammlung, der jetzt womöglich einige Stücke fehlten.

Zwei Stunden später kehrte ich an meinen Arbeitsplatz zurück, frisch geduscht und versorgt mit der Tageszeitung und einem Cappuccino aus einem Café, das im schickeren Teil des Hafens lag. Ich blätterte in der Zeitung, suchte nach einer Schlagzeile, in der ein Gemälderaub erwähnt wurde, obwohl ich wusste, dass es dafür noch zu früh war.

Stattdessen stieß ich auf einen Artikel, der mich Hals über Kopf in die Vergangenheit katapultierte.

Gebeine vermutlich von verschwundenem Maik

Polizei schließt ein Verbrechen nicht aus

Die menschlichen Überreste, die vor einer Woche in einem Waldstück in der Eifel von Wanderern gefunden wurden, stammen wahrscheinlich von dem kleinen Maik Wilkens, der vor zwanzig Jahren spurlos verschwand. Im Sommer 1998 spielte der achtjährige Junge mit Freunden auf der Wiese hinter dem Hof seiner Eltern in Olefthal. Nach einem Streit gingen die anderen beiden fort, Maik blieb allein zurück. Was danach geschah, ist bis heute ein Rätsel. Der Junge tauchte nicht mehr auf, selbst eine groß angelegte Suchaktion mit Spürhunden und einer Hundertschaft der Polizei blieb ohne Ergebnis.

Nun scheint sicher, was die Eltern all die Jahre befürchtet haben. Ihr Sohn ist tot. Ob ein Verbrechen vorliegt, konnte die Polizei bisher noch nicht sagen, auch die Todesursache konnte anscheinend noch nicht ermittelt werden. Erik Hoffmann, ehemaliger Kriminalkommissar und seit Kurzem Bürgermeister von Olefthal, versprach, sich höchstpersönlich darum zu kümmern, dass der Fall aufgeklärt wird und die Familie endlich Gewissheit darüber bekommt, was damals mit ihrem Sohn geschah.

Ich erinnerte mich dunkel an den Fall. Zu der Zeit lebte ich schon nicht mehr in Olefthal, war für meine Polizeiausbildung nach Düsseldorf gegangen, gemeinsam mit Erik Hoffmann, den ich seit der Grundschule kannte. Zwei Jungs aus der Eifel, die glaubten, die Welt zu kennen, weil sie samstagabends wie die Kings mit dem Mofa in die Disco nach Zingsheim gefahren und sich dabei unheimlich cool vorgekommen waren.

Wir waren beide bei der Kripo gelandet, ich in der Mordkommission, Erik bei der Organisierten Kriminalität. Irgendwann hatte er sich nach Aachen versetzen lassen, und wir hatten uns aus den Augen verloren.

Offenbar hatte auch Erik inzwischen das Handtuch geworfen, war nicht mehr bei der Polizei, sondern in die Fußstapfen seines Großvaters getreten und in die Politik gegangen.

Den kleinen Maik hatte ich nicht gekannt, nur seine ältere Schwester Franziska, die auf die gleiche Schule ging wie ich. Jetzt waren also die sterblichen Überreste aufgetaucht. Je nachdem, welche Spuren sich daran fanden, standen die Chancen gar nicht so schlecht, dass der Täter endlich zur Rechenschaft gezogen würde.

Ich schlug die Zeitung zu, schob die Erinnerungen weg und zog den Laptop zu mir heran. Auf dem Bildschirm flimmerte noch immer das grobkörnige Foto mit dem Gesicht der unbekannten Frau. Nachdenklich betrachtete ich es. Im Nachhinein ärgerte es mich, dass ich ihr nicht gefolgt war. Auftrag hin oder her, das hier war ein Rätsel nach meinem Geschmack. Ich überlegte gerade, ob eine Bildersuche im Internet mir weiterhelfen könnte, als eine Bewegung mich innehalten ließ. Das Boot wankte, ich war nicht allein an Bord!

Ich starrte die Frau auf dem Bildschirm an. War es möglich, dass sie mich gestern Nacht im Vorgarten bemerkt hatte? Dass sie mir in den Hafen gefolgt war? Dass sie sicherstellen wollte, dass es keinen Zeugen gab, der sie auf dem Grundstück gesehen hatte?

Kurz entschlossen nahm ich die Walther aus der Schreibtischschublade und entsicherte sie. So geräuschlos wie möglich schlich ich durch den engen Gang in den großen Wohnraum und auf die Holzstiege zu, die an Deck führte. Das Boot wankte noch immer. Wer auch immer mein ungebetener Gast war, kannte sich offenbar nicht mit Booten aus, ahnte nicht, wie sehr jeder Schritt das Gefährt zum Schaukeln brachte. Oder er wollte bemerkt werden.

Die Stiege führte ins Ruderhaus, das rundherum verglast war, und von dort aufs offene Deck. Sobald ich oben auftauchte, würde der Eindringling mich sehen. Ich musste schnell sein.

Ich horchte ein letztes Mal, glaubte, das Klappern von Absätzen zu vernehmen, dann setzte ich den Fuß auf die erste Stufe.

Mit wenigen Schritten stürzte ich nach oben, stieß die Tür des Ruderhauses auf und hob die Waffe. »Hände hoch!«

Im gleichen Moment stutzte ich. An der Reling stand eine Frau, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Sie hielt eine Zigarette in der Hand und blinzelte mich irritiert an.

»Was wollen Sie hier?«, fuhr ich sie an und senkte die Waffe.

»Herr Roth?« Sie wirkte nicht im Geringsten beeindruckt von meinem Auftritt.

Ich betrachtete sie. Mitte dreißig, blonde Mireille-Mathieu-Frisur, die ihr etwas Gouvernantenhaftes verlieh, schwarzer Mantel, enger Rock, hohe Absätze. Attraktiv, aber auf eine unterkühlte Art. »Und wer sind Sie?«

Sie nahm einen letzten Zug, warf die Zigarette ins Wasser und lächelte. »Catrin Wertheim.«

Ich ignorierte die ausgestreckte Hand. »Was machen Sie auf meinem Boot?«

»Oh, entschuldigen Sie. Ich dachte, na ja, ich wollte nicht einbrechen, falls Sie das denken. Ich brauche Ihre Hilfe. Sie sind doch der Privatdetektiv? Spezialisiert darauf, Menschen zu finden, die abgetaucht sind?«

Ich steckte die Waffe weg. »Bin ich.«

»Dann möchte ich Sie engagieren.«

Normalerweise tauchten meine Klienten nicht einfach so ungebeten auf meinem Boot auf, aber ich war nicht in der Situation, wählerisch zu sein. Es gab viele Privatdetektive, aber nur wenige lukrative Jobs. Ständig untreue Ehepartner zu observieren war zudem nervtötend langweilig. Deshalb hatte ich mich darauf spezialisiert, verschwundene Personen zu finden. Die Jagd reizte mich. Das war schon so, als ich noch bei der Polizei war. Deshalb hatten mir die Kollegen den Spitznamen »der Gepard« verpasst. Ein Gepard ist sehr ausdauernd, während er seiner Beute auflauert. Und bei der Jagd verausgabt er sich so sehr, dass er danach am Ende seiner Kräfte ist. Aber er kriegt immer seine Beute. Er ist der erfolgreichste aller Jäger.

Weil ich das Fieber der Jagd so genoss, war ich besonders gut darin, verschwundene Menschen aufzuspüren. Und die Tatsache, dass ich unter den Exkollegen noch ein paar Freunde hatte, half mir, an Informationen zu kommen, die für Privatpersonen schwer zugänglich sind. Deshalb hatte ich mir in den vergangenen zwei Jahren einen Ruf als unerbittlicher Menschenjäger erarbeitet.

Allerdings hatte ich ein Prinzip: Wenn ich während meiner Ermittlungen den Eindruck gewann, jemand wäre aus gutem Grund untergetaucht, lieferte ich ihn nicht aus. Dann cancelte ich den Job und gab meinem Auftraggeber das Geld zurück.

»Also gut«, sagte ich. »Kommen Sie.« Ich hielt der Frau die Tür zum Ruderhaus auf. Hier hatte ich eine Art Empfangszimmer eingerichtet. Ein niedriger Tisch, zwei Armstühle aus Stahlrohr und Leder, ein kleines Schränkchen mit Gläsern und ein paar feinen Flaschen Single Malt für ausgesuchte Gäste. Denn auch die bat ich normalerweise nicht hinunter in mein Wohnzimmer. In den Bauch meines Bootes durften nur wenige Besucher.

»Nett haben Sie es hier«, sagte Wertheim.

»Kann ich Ihnen etwas anbieten?«

»Nein, danke, ich würde lieber gleich zur Sache kommen.«

»Wie Sie wollen.«

Sie öffnete ihre Handtasche und nahm einen Umschlag heraus, den sie mir reichte. »Das ist mein Mann. Exmann. Er hat mich auf einem Berg Schulden sitzen lassen.«

Ich zog zwei Fotos aus dem Umschlag. Zweimal der gleiche Mann, einmal im Porträt, einmal in einem Gartenstuhl, eine Flasche Bier in der Hand. Glatte, etwas zu dünne, fettig aussehende Haare, Bauchansatz, grobschlächtige Gesichtszüge. Mindestens fünfzehn Jahre älter als die Frau im Stuhl mir gegenüber.

»Er heißt Bodo Stein«, erklärte sie. »Und ich bin sicher, dass er irgendwo eine Menge Geld gebunkert hat, von dem mir mindestens die Hälfte zusteht.«

»Haben Sie eine Ahnung, wo er stecken könnte?«

»Nicht die geringste. Er ist Journalist. Es ist seine Spezialität, für seine Artikel inkognito zu recherchieren.«

»Aha.« Zweifelnd betrachtete ich das Foto.

Wertheim studierte ihre Fingernägel. »Ich habe gehört, Sie sind richtig gut.«

»Stimmt. Arbeitet Ihr Mann für eine bestimmte Zeitung?«

»Nein. Und ich habe auch keine Ahnung, an welcher Sache er gerade dran ist. Oder ob er ganz allein meinetwegen abgetaucht ist. Aber ich habe etwas anderes für Sie.«

»Ach ja?«

»Er hat einen Tick. Er benutzt immer Decknamen, die sich irgendwie aus den Buchstaben seines Namens bilden lassen.«

»Interessant.«

»Also übernehmen Sie den Fall?«

Ich stellte mir die Sache nicht sonderlich kompliziert vor. Nur lästig. Wahrscheinlich brauchte ich bloß sämtliche Zeitungen, Online-Magazine, Fernsehsender und so weiter abzuklappern, um auf den derzeitigen Auftraggeber zu stoßen. Dabei musste ich mich nicht einmal von meinem Schreibtisch wegbewegen.

»Ich denke, ich benötige nicht länger als ein paar Tage.«

»Wunderbar.« Sie schlug ein Bein über das andere. »Wollen Sie eine Anzahlung?«

Für eine Sekunde dachte ich, sie würde mir eine Bezahlung in Naturalien anbieten, und ich blinzelte verwirrt. Sie war nicht mein Typ. Doch selbst wenn, hätte ich mich nicht darauf eingelassen. Denn einer meiner Grundsätze lautete, nie etwas mit einer Frau anzufangen, mit der ich eine geschäftliche Beziehung hatte.

Also nannte ich ihr meinen Tagessatz, verlangte drei davon als Anzahlung und geleitete sie die rostigen Eisenstufen hinauf von Bord. Auf dem Weg zurück zu ihrem Wagen, den sie am Rand des Industriegeländes geparkt hatte, drehte sie sich nicht ein einziges Mal um.

Kaum war sie außer Sichtweite, sprintete ich los. Ein weiterer meiner Grundsätze verlangte nämlich, dass ich jeden neuen Klienten zuerst überprüfte, bevor ich mich in die Arbeit stürzte.

Es war nicht schwer, dem schwarzen Mercedes Coupé zu folgen. Entweder hatte Catrin Wertheim mich bemerkt und machte es mir absichtlich leicht, oder sie war völlig arglos. Während wir die Innenstadt durchquerten, rief ich einen Exkollegen an, der mir hin und wieder half, und bat ihn, das Kennzeichen zu überprüfen und abzuchecken, ob es über Catrin Wertheim etwas zu wissen gab.

Fünf Minuten später rief der Kollege zurück. Wir fuhren inzwischen auf der Cecilienallee in Richtung Norden, und ich hatte mich zurückfallen lassen, weil es hier kaum Verkehr gab, wenn nicht gerade eine Messe war.

»Der Wagen ist zugelassen auf eine Catrin Wertheim«, sagte der Kollege. »Wohnhaft in der Robert-Bernardis-Straße.«

»Ist sie allein dort gemeldet?«

»Sieht so aus, ja.«

»Keine Vorstrafen, nehme ich an?«

»Leute, die vorbestraft sind, wohnen nicht in der weißen Siedlung.«

»Es sei denn, es ist eine Vorstrafe wegen Steuerhinterziehung.« Ich bedankte mich und legte auf.

Inzwischen ballten sich dunkle Wolken am Himmel, die das Tageslicht schluckten, obwohl es noch nicht einmal Mittag war. Wind war aufgekommen und trieb Laub in kleinen Wirbeln über die Straße.

Als Catrin Wertheim in die Siedlung abbog, fuhr ich geradeaus weiter. Ich wendete, gab ihr fünf Minuten, dann folgte ich ihr in die Robert-Bernardis-Straße. Die weiße Siedlung bestand tatsächlich ausschließlich aus weißgetünchten Backsteinvillen mit schwarzen Dächern. Sie war in den Dreißigerjahren von den Nazis als Mustersiedlung erbaut worden, damals wohnte hier unter anderem der Gauleiter in einem prächtigen Anwesen. Heute waren die Straßen nach Widerstandskämpfern benannt, und das Viertel war eine der begehrtesten Wohnlagen der Stadt. Wer hier lebte, hatte keine Geldsorgen. Oder richtig große.

Langsam rollte ich vor das Haus, einen spießigen Kasten mit Sprossenfenstern und kugelig geschnittenen Buchsbäumen rechts und links der Eingangstür. Das Coupé stand vor der Garage, im unteren Stockwerk schimmerte mattes Licht. Nichts rührte sich.

Jetzt musste ich nur noch herausfinden, ob die Frau auch wirklich im Haus war. Ich schaltete den Motor aus und stellte mich auf eine längere Wartezeit ein. Gerade als ich die Sitzlehne in eine bequemere Position rücken wollte, ging oben das Licht an, und Catrin Wertheim trat ans Fenster. Sie blickte kurz hinaus, dann zog sie die Vorhänge zu.

Einen Moment lang fragte ich mich, warum jemand mitten am Tag das Zimmer verdunkelte, doch dann entschied ich, dass es mich nichts anging. Ich hatte genug gesehen. Meine Klientin war ganz offenbar die, für die sie sich ausgab, mehr musste ich nicht wissen. Also drehte ich den Zündschlüssel und kehrte zurück in den Hafen, um mit meiner Arbeit zu beginnen.

Nadja

Nadja Ludwig steckte den Schlüssel ins Schloss und stockte. Nicht abgeschlossen. Ihr Herz schlug schneller. Sie war sicher, dass sie den Schlüssel zweimal umgedreht hatte. Sie schloss immer gewissenhaft ab, und zwar beide Schlösser, sie wusste schließlich, wie leicht man in eine fremde Wohnung gelangen konnte.

Vorsichtig presste Nadja das Ohr an die Tür und horchte. Drinnen war alles still. Hatte sie wirklich einfach nur vergessen abzuschließen? Hatte der Zwischenfall letzte Nacht sie dermaßen aus dem Konzept gebracht? Unmöglich. Sie hatte wahrhaft schon Aufregenderes erlebt und dennoch immer an die grundsätzlichen Sicherheitsvorkehrungen gedacht. Das war schließlich lebenswichtig. Vor allem in ihrem Job.

Lautlos legte sie die Brötchentüte ab, öffnete die Tür und schlich in die Diele. Das Holz knarzte unter ihren Schuhen. Sie erstarrte. Verfluchtes Parkett!

Wieder horchte sie, glaubte eine Art Rascheln aus dem Wohnzimmer zu hören. So leise wie möglich nahm Nadja ihren Rucksack ab, stellte ihn auf den Boden und zog das Handy aus der Hosentasche. Mit dem Telefon in der Hand bewegte sie sich langsam auf die Flügeltür zu, hinter der das Wohnzimmer lag.

Als sie die Wohnung vor Jahren gekauft hatte, waren der knarzende Parkettboden, die hohen stuckverzierten Decken und die riesigen Sprossenfenster mit Blick auf die alte Platane, deren Zweige so nah an die Scheiben heranreichten, dass man das Gefühl hatte, in einem Baumhaus zu wohnen, die Erfüllung eines Traums gewesen. Sie war in einem schäbigen Plattenbau groß geworden, umgeben von trostlosen Rasenflächen und so hellhörig, dass man den Nachbarn bei den Alltagsverrichtungen lauschen konnte.

Überglücklich hatte sie damals den Kaufvertrag unterschrieben. An die Nachteile einer solchen Wohnung hatte sie in dem Augenblick nicht gedacht. Jetzt waren sie ihr nur allzu bewusst.

Hastig tippte sie die Notrufnummer ein. Beim kleinsten Anzeichen für einen Eindringling würde sie das grüne Hörersymbol drücken. Aber nicht früher. Es wäre ein überflüssiges Risiko, in ihrer Situation ohne Not die Polizei auf sich aufmerksam zu machen. Auch wenn sie sicher war, dass sie bisher noch nie auch nur am Rande einer Ermittlung aufgetaucht war. Dazu war sie viel zu vorsichtig.

Dennoch wollte sie lieber unter dem Radar bleiben. Für die Polizei war sie ein unbeschriebenes Blatt. Und daran sollte sich nichts ändern.

Nadja erreichte die Flügeltür, die offen stand, genau wie vorhin, als sie zum Bäcker aufgebrochen war. Alles sah aus wie immer. Das graue Sofa mit der schwarz-weiß gemusterten Decke darauf schien unberührt, ebenso ihr Lieblingssessel am Fenster mit der Leselampe. Auch an den Bücherregalen hatte sich niemand zu schaffen gemacht. Erleichtert stieß sie Luft aus.

Das Schlafzimmer lag hinter dem Wohnzimmer, die Tür war angelehnt. So leise wie möglich schlich Nadja quer durch den Raum darauf zu.

Gerade als sie über die Schwelle treten wollte, regte sich hinter ihr etwas. Sie spürte mehr, als dass sie hörte, wie ein dunkler Schatten sich mit großer Geschwindigkeit auf sie zubewegte.

Entsetzt fuhr sie herum, doch sie war nicht schnell genug. Noch bevor sie sich ganz umgedreht hatte, stürzte sich eine Gestalt auf sie und warf sie bäuchlings zu Boden. Der Aufprall war hart, raubte ihr für einen Moment den Atem. Durch ihre Hüfte jagte ein stechender Schmerz, ihr Gesicht brannte. Das Smartphone glitt ihr aus der Hand und schlitterte unter das Sofa.

Seltsamerweise war ihr erster Gedanke, dass sie nicht wegen einer Verletzung ausfallen durfte. Dann besann sie sich, ihr Überlebensinstinkt sprang an. Wenn der Kerl sie umbrachte, wäre es egal, wie viele Knochen er ihr vorher brach.

Nadja versuchte, sich aufzurichten, doch kräftige Hände drückten sie zu Boden. Sie schnappte keuchend nach Luft, blinzelte die Tränen weg, die der Schmerz ihr in die Augen getrieben hatte, wand sich hin und her, um sich aus dem Klammergriff des Eindringlings zu befreien. Gleichzeitig winkelte sie die Beine an und trat ihm mit den Fersen in den Rücken.

Doch der Unbekannte zuckte nicht einmal, hockte auf ihr wie ein Sack Blei auf einer Fliege. Er schien die richtigen Griffe zu kennen, um sie bewegungsunfähig zu machen. Viele Muskelprotze waren ungefährlich, weil sie viel zu träge reagierten, doch dieser Kerl wusste, was er tat. Ein Profi? Was wollte er von ihr?

Nadja blickte sich um, soweit das ihre hilflose Position zuließ. Das Telefon war unerreichbar. Ebenso jeder andere Gegenstand, den sie eventuell als Waffe benutzen könnte. Also blieb nur eins. Sie hob den Kopf und schrie. Sie hatte die Wohnungstür nicht zugemacht, vielleicht hörte einer der Nachbarn sie und kam ihr zu Hilfe.

Sofort presste der Mann ihr die Hand auf den Mund.

Nadja versuchte zuzubeißen, doch der Fremde drückte ihr mit seiner Pranke die Kiefer zusammen. Verdammt, wie konnte ein einzelner Mann so viel Kraft besitzen? Mit der anderen Hand presste er ihren Oberkörper so fest auf das Parkett, dass sie vor Schmerz aufstöhnte.

Nadja überlegte fieberhaft. Vielleicht ließ der Kerl von ihr ab, wenn sie sich nicht länger zur Wehr setzte; wenn sie so tat, als wäre sie ohnmächtig geworden.

Falls es ein Einbrecher war, wollte er womöglich einfach nur unerkannt abhauen. Sie zumindest würde das an seiner Stelle wollen. Falls es allerdings ein Perverser war, der sie erst vergewaltigen und dann umbringen wollte …

Nein, darüber wollte sie nicht nachdenken.

Nadja entspannte sich, schloss die Augen, ließ alle Muskeln erschlaffen.

Zunächst geschah nichts, der Fremde löste seinen Klammergriff nicht. Dann hörte sie ein merkwürdiges metallisches Geräusch.

Im nächsten Moment schoss ein brennend heißer Schmerz durch ihren Schädel, und ihr wurde schwarz vor Augen.

Linus

Am späten Nachmittag machte ich mich auf den Weg nach Belgien. Die Suche nach Bodo Steins Auftraggeber hatte nichts ergeben, einige Online-Magazine hatten zwar bestätigt, dass der Journalist gelegentlich für sie arbeite, doch es gab keinen aktuellen Auftrag.

Dafür hatte ich eine andere Spur. Stein hatte die GSM-Ortung seiner SIM-Karte nicht deaktiviert. Er versteckte sich ja auch nicht vor der Mafia, sondern lediglich vor seiner Frau. Für einen Journalisten, der sich extra Decknamen zulegte, wenn er eine brisante Story recherchierte, fand ich das trotzdem reichlich unbedarft.

Jedenfalls hatte ich sein Handy zwei Stunden zuvor im Einzugsgebiet eines Funkmastes in der Eifel zwischen Monschau und Simmerath lokalisiert und sofort sämtliche Hotels und Pensionen in der Nähe abtelefoniert. Die Geschichte, die ich mir ausgedacht hatte, war zwar ziemlich an den Haaren herbeigezogen, doch alle gaben bereitwillig Auskunft.

Während ich die Liste abarbeitete, betete ich, dass Stein keine Ferienwohnung angemietet hatte, was die Sache deutlich komplizierter gemacht hätte. Schließlich hatte ich in einem Hotel im belgischen Eupen Glück. Dort hatte ein Ben Dostoi eingecheckt, angeblich für einen Wanderurlaub. Stein dachte wohl, auf der anderen Seite der Grenze wäre er sicher. Falsch gedacht.

Ich war lange nicht mehr in meiner alten Heimat gewesen, und es fühlte sich seltsam an, durch die vertraute Landschaft der Eifel zu fahren. Hier war der Herbst schon weiter fortgeschritten als in der Stadt, die Bäume leuchteten gelb und rot, manche waren sogar bereits kahl, und in den schattigen Senken hing feuchter weißer Dunst.

Als der Name Olefthal auf einem Hinweisschild auftauchte, versetzte es mir einen Stich in den Magen. Unwillkürlich dachte ich an den Zeitungsartikel, an meinen alten Freund Erik und an den kleinen Maik, dessen Eltern jetzt endlich zumindest sterbliche Überreste hatten, die sie beerdigen konnten. Vielleicht würde ich Erik in den nächsten Tagen mal anrufen und fragen, wie der Stand der Ermittlungen war.

Es war früher Abend, als ich das Hotel betrat, das in einer einspurigen Straße zwischen Weiden und abgeernteten Feldern am Ortsrand lag. Die Einrichtung war plüschig und in die Jahre gekommen, es roch nach altem Qualm, dessen vergilbte Rückstände noch an den Decken auszumachen waren. Eine dunkle Stiege führte neben der Rezeptionstheke in den ersten Stock, rechts der Lobby zweigte ein Raum ab, auf dem bereits fürs Frühstück eingedeckt war.

Noch bevor ich jemanden nach Ben Dostoi fragen konnte, entdeckte ich Stein an der Bar, die im hinteren Teil der Eingangshalle lag. Er saß allein auf einem Hocker und starrte in sein Bierglas.

Mit einem lauten Seufzer ließ ich mich auf den rissigen Ledersitz neben ihn gleiten und bestellte ebenfalls ein Bier.

»Auf die Freiheit«, murmelte ich und prostete niemandem im Besonderen zu, bevor ich einen Schluck nahm.

Stein reagierte nicht.

»Ich feiere meine Scheidung«, fügte ich hinzu. »Und die Tatsache, dass dieses blutsaugende Miststück es nicht geschafft hat, mich arm zu machen.«

Das brachte mir immerhin einen halb interessierten Seitenblick meines Opfers ein.

»Das Geld ist gut versteckt.« Ich zwinkerte ihm zu.

»Na dann, herzlichen Glückwunsch«, murmelte Stein und leerte sein Glas.

»Noch eins für meinen Freund hier«, rief ich dem Barkeeper zu und deutete auf Stein.

»Oh, danke.«

Eine Weile tranken wir schweigend. Ich wollte nicht zu schnell wieder aufs Thema kommen, um ihn nicht misstrauisch zu machen, hoffte darauf, dass er von allein etwas sagte. Doch er schien nicht sonderlich gesprächig zu sein.

»Wissen Sie, wo Sie das Geld verstecken müssen?«, nuschelte ich schließlich, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen. Vielleicht gelang es mir, Stein noch ein paar Informationen zu entlocken, die für meine Klientin nützlich sein konnten. Vor allem aber musste ich sicherstellen, dass er sich nicht aus gutem Grund vor ihr versteckte.

»Was für Geld?«, fragte er.

»Die geheimen Konten, von denen Ihre Ex nichts wissen darf.« Wieder zwinkerte ich. »Was halten Sie von den Kaimaninseln? Der Schweiz? Oder Luxemburg?«

Stein starrte mich an. »Was soll das?«, blaffte er erstaunlich nüchtern.

»Nur eine Frage unter Leidensgenossen. Bei mir ist Ihr Geheimnis sicher.«

»Ach ja?« Er warf einen Blick über die Schulter, wirkte mit einem Mal unruhig. »Wer sind Sie überhaupt? Und was soll das mit Luxemburg?«

Volltreffer.

»Schon gut, schon gut. Ich finde ja nur, man soll diesen Hyänen nicht auch noch sein sauer verdientes Geld hinterherwerfen. Sie nicht auch?«

Er lehnte sich zu mir herüber. »Wenn Sie wirklich Geld im Ausland gebunkert haben, würde ich das an Ihrer Stelle nicht so herausposaunen.« Er richtete sich wieder auf, zog sein Smartphone aus der Jacketttasche und beugte sich darüber. Der Hinweis hätte nicht deutlicher sein können, für ihn war unsere Plauderei beendet.

Für mich ebenfalls. Ich nahm einen letzten Schluck Bier und klopfte ihm auf die Schulter. »Nichts für ungut, Kumpel. Einen schönen Abend noch.«

Als ich wieder auf dem Hotelparkplatz stand, entdeckte ich auf der Straße einen SUV mit abgedunkelten Scheiben, der vor der ländlichen Kulisse irgendwie fehl am Platz wirkte. Zu sauber, zu protzig.

Ich warf einen Blick zurück zum Eingang, dachte an den Mann an der Bar, an das kurze Aufflackern von Angst in seinen Augen. Vielleicht recherchierte er tatsächlich für eine brisante Story über organisierte Kriminalität oder die Mafia. Noch während ich überlegte, was ich machen sollte, setzte sich der Wagen in Bewegung und fuhr davon. Ich zuckte mit den Schultern und ging zu meinem eigenen Auto.

Bevor ich losfuhr, schickte ich Catrin Wertheim eine SMS mit der Adresse des Hotels und dem Namen, unter dem Bodo Stein eingecheckt hatte, und fügte hinzu, dass er auf die Erwähnung eines Bankkontos in Luxemburg ertappt reagiert hatte.

Die Antwort kam umgehend. Danke. Ziehen Sie sich sofort zurück, den Rest erledigt mein Anwalt. C. W.

Es war stockdunkel, als ich erneut an dem Abzweig nach Olefthal vorbeikam. Diesmal konnte ich der Versuchung nicht widerstehen. Ich bog ab und lenkte den Wagen durch das Städtchen, dessen Straßen um diese Uhrzeit menschenleer waren. Oben bei der Burg parkte ich und blickte hinunter auf die Fachwerkhäuser und das Wasser der Olef, das geheimnisvoll schimmerte. Eine Eule segelte über den Fluss und verdunkelte ihn sekundenlang mit ihrem Schatten.

Mich durchzuckte so etwas wie eine düstere Vorahnung. Unwillig schüttelte ich das Gefühl ab, stieg in meinen Wagen und machte mich auf den Heimweg. Ich glaubte nicht an Vorzeichen. Deshalb verschwendete ich keinen weiteren Gedanken an den kurzen Moment des Unbehagens.

Als ich eine knappe Stunde später über die dunkle Mole zu meinem Boot lief, merkte ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Allerdings wusste ich nicht gleich, was es war. Dann fiel es mir auf. Die Tramp lag nicht ruhig im Wasser wie sonst, sondern bewegte sich, wenn auch kaum sichtbar.

Mein Blick schoss in alle Richtungen, manchmal schaukelte das Boot, wenn ein anderes gerade vorbeigefahren war. Doch im Hafenbecken war es still. Neben meinem Boot waren einige Jachten eines Sportvereins vertäut, und ein Frachtkahn, der voll beladen tief im Wasser lag. Nirgendwo rührte sich etwas.

Ich tastete nach meinem Gürtel. Dann fiel mir ein, dass ich die Walther nicht mitgenommen hatte. Sie lag in meiner Schreibtischschublade. Da war sie mir keine große Hilfe.

Im Schatten einer Lagerhalle schlich ich näher, bis ich im Zwielicht der Laternen, die an der Außenseite der Halle angebracht waren, die Konturen einer Gestalt an Deck ausmachen konnte.

Klein. Zierlich. Eine Frau.

Meine Auftraggeberin? War sie vorbeigekommen, um sich einen detaillierten Bericht von mir geben zu lassen? Um elf Uhr abends?

Oder wollte sie Geld zurück, die zwei Tage Vorschuss, die ich zu viel erhalten hatte, weil ich ihren Mann schon am ersten Tag gefunden hatte? Nein, für so eine Krämerseele hielt ich Catrin Wertheim nicht.

Lautlos bewegte ich mich auf das Boot zu. Plötzlich trat der Mond hinter den Wolken hervor und beschien das Gesicht des Eindringlings.

Fuck!

In natura wirkte die Frau, die ich in der vergangenen Nacht vor der Villa in Oberkassel fotografiert hatte, noch jünger. Ein hilfloses kleines Mädchen mit großen Rehaugen und kastanienbraunen Haaren, die sie brav hochgesteckt hatte.

Aber ich wusste, dass sie nicht so unschuldig war, wie sie aussah. Abrupt trat ich aus dem Schatten und war mit drei langen Schritten am Boot. Das Deck lag fast zwei Meter tiefer als der Kai, was es mir erleichterte, abschätzig auf sie hinunterzublicken. »Was machen Sie hier?«

Noch während ich die Worte aussprach, schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass das heute bereits die zweite Frau war, die mich ohne Einladung auf meinem Boot besuchte. Ein Zufall?

»Auf Sie warten.«

»Das Boot ist Privatbesitz.«

»Nun haben Sie sich mal nicht so. Sind Sie noch nie ohne Erlaubnis irgendwo eingedrungen?«

Die Art, wie sie das fragte, machte mir klar, dass sie genau wusste, wer ich war und was ich beruflich machte. Damit war sie eindeutig im Vorteil.

»Wer sind Sie?« Ich stand noch immer auf dem Kai und blickte auf sie hinab, behielt dabei jedoch auch die Umgebung im Auge, achtete auf mögliche Bewegungen im Schatten der Hafengebäude, für den Fall, dass die Frau nicht allein gekommen war.

»Das wissen Sie nicht?«, fragte sie zurück.

»Sollte ich?«

»Wir müssen reden.«

Ich hatte genug von der Plänkelei und sprang an Deck. Die Frau wich zurück.

»Haben Sie etwa Angst vor mir?«

»Sagen wir so: Ich traue Ihnen nicht.«

»Dann hätten Sie besser nicht allein mitten in der Nacht aufkreuzen sollen.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe mich abgesichert.«

»Ach ja? Ich könnte bewaffnet sein.« Das wäre in der Tat besser, denn statt dieser zierlichen Frau, die ich ohne Probleme jederzeit überwältigen konnte, hätte auch irgendeine kräftig gebaute, zwielichtige Gestalt auf meinem Boot auf mich warten können. Manchmal war ich einfach noch zu sehr auf Bulle gepolt, hatte die Autorität des Gesetzes sowie die Verstärkung durch meine Kollegen im Hinterkopf, obwohl es die für mich längst nicht mehr gab.

»Besitzen Sie mehr als eine Waffe?«, fragte die Frau und legte den Kopf schief. Heute trug sie kein Kapuzenshirt, sondern einen dicken Schal und einen Strickpulli über der schlabberigen Cargohose.

Irritiert starrte ich sie an.

Mit einer raschen Bewegung zog sie eine Pistole aus der Hosentasche. »Die hier habe ich nämlich vorsorglich aus Ihrer Schreibtischschublade genommen.«

Eine Mischung aus Wut und Schreck durchfuhr mich. »Geben Sie die sofort her! Sie haben wohl den Verstand verloren!«

Wortlos zog die Frau einen kleinen Gegenstand aus der anderen Hosentasche und stellte ihn auf die Reling.

»Was soll das? Lassen Sie die Spielchen und geben Sie mir die Waffe!«

»Erst wenn Sie mir sagen, was das ist.«

Ich überlegte kurz, ob ich die Frau mit einem schnellen Angriff überwältigen konnte. Aber sie stand zu weit weg, das Risiko war zu groß. Also trat ich an die Reling und betrachtete den Gegenstand. Es war ein aus Papier gefaltetes Tier, kaum größer als ein Feuerzeug, ein Wolf, wenn ich mich nicht täuschte.

Stirnrunzelnd sah ich die Frau an. »Das ist nicht Ihr Ernst, oder?«

»Doch, ist es.« Sie trat einen Schritt auf mich zu.

Und jetzt erkannte ich, dass sie eine Schürfwunde auf der rechten Wange hatte, die dort definitiv noch nicht gewesen war, als ich vor nicht ganz vierundzwanzig Stunden das Foto von ihr geschossen hatte.

Schlagartig verstärkte sich mein ungutes Gefühl.

»Okay«, sagte sie leise und hielt mir die Walther mit dem Griff hin.

Rasch schnappte ich sie mir. Offenbar hatte ich einen Test bestanden, auch wenn ich nicht genau wusste, worin er bestanden hatte. »Was ist mit Ihrem Gesicht passiert?«

»Genau darüber wollte ich mit Ihnen reden.«

Ich nickte, zögerte. Dann beschloss ich, meine Prinzipien über Bord zu werfen und sie unter Deck zu bitten. Wir konnten schließlich nicht stundenlang draußen in der Kälte stehen und plaudern. Ich war nicht sicher, ob mein Beschützerinstinkt den Ausschlag gab, Neugier oder ihre braunen Rehaugen, und ich wollte auch nicht darüber nachdenken. »Ich würde Sie gern auf einen Drink hereinbitten, aber ich weiß nicht einmal Ihren Namen.«

»Nadja Ludwig.«

»Linus Roth, aber das wissen Sie sicherlich längst.« Ich machte eine einladende Geste. »Kommen Sie.«

Fünf Minuten später saßen wir unter Deck. Ich hatte jedem von uns einen doppelten Talisker Skye eingeschenkt. Ohne Wasser, ohne Eis. Und dann erzählte Nadja von dem Mann, der am Vormittag in ihre Wohnung eingedrungen war und sie angegriffen hatte.

»Er hat nichts gestohlen?«, fragte ich, als sie geendet hatte.

»Ich habe alles durchgesehen, ich vermisse nichts.«

»Und er hat Ihnen …« Ich wusste nicht genau, wie ich meine Frage formulieren sollte. Aus meiner Zeit bei der Mordkommission wusste ich, dass Männer, die in die Wohnung einer Frau eindrangen, ohne die Absicht, etwas zu entwenden, es gewöhnlich auf die Frau selbst abgesehen hatten.

»Er hat mich nicht vergewaltigt, wenn Sie das meinen«, beantwortete Nadja meine unausgesprochene Frage.

Dann gab es noch eine dritte Möglichkeit, die allerdings einen Haufen neuer Fragen aufwarf. »Wenn er es nicht auf Sie und nicht auf Ihr Geld oder Wertgegenstände abgesehen hatte, dann hat er vielleicht nichts mitgenommen, sondern etwas dagelassen.«

Nadjas Blick schoss zu dem Origami-Wolf, der vor uns auf dem Couchtisch stand.

»Den hat er zurückgelassen?«

Sie nickte.

»Haben Sie einen Verdacht, was er bedeuten könnte?«

»Nein.«

»Es gibt niemanden in Ihrem Bekanntenkreis, der solche Tiere faltet?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Was ist mit einem Exfreund, der noch einen Groll gegen Sie hegt?«

»Auf keinen Fall.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Glauben Sie, der Wolf ist eine Drohung?«

»Gut möglich.« Ich nahm einen Schluck von meinem Whisky, ließ das Getränk langsam die Kehle hinunterbrennen und sah sie an. »Wieso glauben Sie, dass dieser Überfall mit mir zu tun hat? Das tun Sie doch, oder? Deshalb sind Sie hier.«

Nadja senkte den Blick. »Wegen gestern Nacht. Sie haben mich vor der Villa gesehen. Ich bin Ihnen gefolgt …«

»Sie sind mir gefolgt? Ich habe keinen Wagen bemerkt.«

»Ich war mit dem Fahrrad unterwegs. Ich habe kein Auto, ich habe nicht einmal einen Führerschein. War leichter, als ich dachte. Zweimal habe ich Sie verloren, aber zum Glück an der nächsten Ampel wieder eingeholt.« Sie schob sich eine Haarsträhne, die sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst hatte, hinter das Ohr. »Jedenfalls werde ich in meiner Wohnung überfallen, keine zehn Stunden nach unserer Begegnung. Halten Sie das für einen Zufall?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Kommt darauf an.«

»Worauf?«

»Was Sie in der Villa gemacht haben. Wenn es das war, wonach es aussah, könnte ich mir durchaus einige Personen vorstellen, die ein Hühnchen mit Ihnen zu rupfen hätten.«

»Ausgeschlossen.«

»Ach ja?«

Nadja nahm ihr Whiskyglas, trank jedoch nicht. »Die Details gehen Sie nichts an, aber ich kann Ihnen versichern, dass der Kerl, der in meine Wohnung eingebrochen ist, definitiv nichts mit meinem Auftrag in Oberkassel zu tun hatte.«

»Sie sind eine Auftragseinbrecherin?«

»Kein Kommentar. Was haben Sie vor dem Haus gemacht?«

»Das geht Sie nichts an.« Wenn sie nicht erzählen wollte, was sie dort getan hatte, würde sie von mir auch nichts erfahren.

»Es könnte mit dem zu tun haben, was mir passiert ist«, beharrte sie.

»Warum sollte mein Auftrag mit Ihnen zu tun haben?«