Der Nebelfelsen - Alexandra Kui - E-Book

Der Nebelfelsen E-Book

Alexandra Kui

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Beschreibung

Mysteriöse Dinge geschehen in der Kleinstadt Grauen... Die Fotografin Antonia kann es nicht fassen: Ihre Freundin Cleo hat sich umgebracht. Antonia reist in den Harz in das Städtchen Grauen, wo der Selbstmord passierte. Hier befinden sich die »Schläferklippen«, von denen sich schon viele Todessehnsüchtige stürzten und die auch Cleo zum Verhängnis wurden. Antonia trifft bald auf Tom, den attraktiven, wenn auch schon etwas angegrauten Chef der Harzer Lokalzeitung – und erliegt seinem Charme. Doch was hat es mit dem mysteriösen Tod ihrer Vorgängerin in Toms Leben auf sich? Und was ist wirklich dran am traurigen Ruhm der Schläferklippen? Ein spannender Thriller in der mystischen Umgebung des Harzes! Begeisterte Leserstimmen: »Hält einen bis zur letzten Seite gefangen.« Cellesche Zeitung »Ein fesselnder Liebeskrimi.« Stader Tageblatt »Wie der Nebelfelsen einen Sog auf Lebensmüde ausübt, so kann sich der Leser dem Sog des Romans nicht entziehen. 300 Seiten vergehen in freiem Fall – Rettungsschirm nicht vergessen.« Goslarsche Zeitung

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Seitenzahl: 338

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Alexandra Kui

Der Nebelfelsen

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

WidmungPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Epilog
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Für Heike und Kerrin

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Prolog

Nichts ist wie im Traum, wenn du um dein Leben rennst. Du kommst von der Stelle. Sogar so schnell, dass die Welt um dich herum verschwimmt und deine Füße mehr wissen als deine Augen. Aber das genügt nicht, wenn du einen schnellen Verfolger hast. Meiner ist sehr schnell: ein kleiner Mann in einem Pulli aus gelber Wolle. Ich sehe das Gelb durch den tief verschneiten Wald hüpfen, sobald ich mich umdrehe; jedes Mal ist der Abstand etwas kleiner geworden. Jetzt geht es nur noch steil bergauf. Ich verfluche mich, weil ich unbedingt in die Berge wollte, um davonzulaufen. Diese eisigen Berge.

Alte Wut treibt mich über steinige Wege nach oben bis zu den Klippen. Alle haben geglaubt, dass ich springen werde, das ist noch gar nicht so lange her. Der kleine Mann wollte mich retten. Jetzt hat er es sich anders überlegt. Ein Pfad, den ich zuvor nie gesehen habe, führt nach unten. Wie im Rausch geht es bergab. Ich kann noch schneller, viel schneller, und es ist ganz leicht. Der gelbe Pulli ist verschwunden. Ich habe mich freigerannt. Deswegen begreife ich auch nicht, warum ich falle, und erst, als ich seinen vertrauten Griff im Nacken spüre, weiß ich, dass ich schließlich doch verloren habe.

 

Nichts ist wie im Traum, wenn du um dein Leben rennst. Du wachst nicht auf.

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Kapitel 1

Der Plan von Pompeji

Neapel bereitet sich auf Ostern vor. Die Einheimischen tragen kinderkopfgroße Schokoladeneier durch die Straßen. Verpackt in schrillbuntes Glitzerpapier gibt es die an jeder Ecke zu kaufen. Wir hören die Prozession jeden Morgen, während wir versuchen, Marmelade aus winzigen Plastikschälchen mit Plastikmessern auf Croissants zu verteilen. Die Italiener scheinen Plastik zu lieben. Sogar die Croissants kommen in Plastik eingeschweißt auf den Frühstückstisch. Sie zerbröseln in unseren Händen.

»Heute will ich sie sehen«, sage ich beim Klang der Pauken, Klarinetten und Fanfaren, die es eilig haben mit ihrem schrägen Klagelied. Die Töne werden in den Häuserschluchten gebrochen, kommen bruchstückhaft wieder bei uns an. Seit Tagen geht das so, jeden Morgen. Kai steht so abrupt auf, dass Croissantkrümel durch die Luft wirbeln, und starrt durch das Fenster in den Innenhof.

»Da ist nichts.«

»Natürlich nicht. Die sind auf der Gasse. Wenn wir uns beeilen, erwischen wir sie noch.«

Wir beeilen uns sehr, aber wir sehen nur noch das Ende des Zuges: Männer mit grünen Umhängen, hinten bestickt mit weißen Kreuzen. Sie tragen gemeinsam etwas hoch über ihren Köpfen: eine zu klein geratene Jesus-Statue, die aussieht wie ein steif gefrorenes Kind. Auf dem Asphalt liegen Blumen, und ich weiß nicht, wer sie warf, denn niemand ist zu sehen.

»Los komm, die kriegen wir.« Kai sprintet los, von plötzlicher Neugier getrieben. Als er merkt, dass ich zögere, kommt er zurück, nimmt meine Hand und zerrt mich hinter sich her. Wir folgen den Blüten und der Musik. Manchmal sind wir so nah, dass wir sogar die Schritte hören können. Wir eilen durch menschenleere Gassen, bis wir orientierungslos und verwirrt sind, denn die Gläubigen scheinen vor uns davonzulaufen. Immer wieder erwischen wir nur die Nachhut der Prozession – die Männer in Grün.

 

Erst mittags befinden wir uns erneut in dem kleinen Hafen, wo man das brauseartige neapolitanische Bier mit Blick auf den Vesuv trinken kann. Ich kann mich nicht entscheiden, ob mir die gestochen scharfe Silhouette des Vulkans zusagt, zu oft wurde sie gemalt, gefilmt oder fotografiert. Kai kämpft gegen seine schlechte Laune. Er bekommt schlechte Laune, sobald eine Situation nicht planmäßig abläuft. Das ist das Bemerkenswerte an Kai: Er hat immer einen Plan, egal, ob er duscht oder arbeitet oder sich ein Croissant schmiert.

»Ich finde es in Ordnung, dass wir die Jungs nicht erwischt haben«, verkünde ich beim ersten Schluck von meinem zweiten Bier.

»Wieso? Du wolltest sie doch unbedingt sehen.«

»Habe ich ja. Gerade genug, um mir ein Bild zu machen. Und das ist jetzt für immer vor der Realität geschützt.«

Kai seufzt. Natürlich will er kein zweites Bier und schaut mir schweigend beim Trinken zu.

»Ich glaube, die Sache mit der Prozession sagt alles. Auf dem gleichen Prinzip basiert unsere ganze Beziehung.«

»Ich verstehe kein Wort«, sagt er kopfschüttelnd.

»Das weiß ich. Aber du hast trotzdem ein Bild von mir, das dir irgendwie zusagt.«

Kai grinst, die Chance zum Rückzug auf leichteres Terrain erkennend. »Also, manchmal bin ich mir da nicht so sicher.«

Sein Kuss knallt auf meiner Stirn. Ein unpersönliches Geräusch. Wir sind beide erleichtert, dass die Unterhaltung nicht weitergeht.

 

In den Ruinen von Pompeji sind so früh im Jahr nur wenige Touristen unterwegs. Aber in den antiken Straßenzügen wimmelt es von Schulkindern, die unisono loslachen, als Kai über unebene Zeugnisse römischer Straßenbaukunst stolpert. Staunend betreten wir, ohne anzuklopfen, fremde Wohnzimmer. Die Leute von Pompeji haben sich zu Hause gefühlt, wenn ihre Wände Geschichten erzählten, je mehr, desto besser. Ich fange an, mich für jeden Quadratmillimeter weißer Raufasertapete in unserer Wohnung zu genieren. Der Nachfahren wegen. Wie phantasielos wir sind. Das Buddeln in unseren Ruinen würde sich nicht lohnen.

Wir picknicken zwischen rosa blühenden Kirschbäumen. Kai erzählt von der Agentur. Ich sehe den Kindern beim Spielen zu, bis die Sonne mich müde macht und ich im Gras liegend einschlafe: ein wonniger Frühlingsluxusschlaf, auch wenn die Natur in Wahrheit piksiger ist als in der Literatur.

Als ich wach werde, ist das Gefühl wieder da. Ich erkenne es sofort, diesmal lässt es sich nicht so leicht verleugnen, es ist, was es ist: die selbstsüchtige Lust, einfach so abzuhauen. Mich davonzustehlen. Das fühlt sich relativ banal an, so ähnlich wie der Wunsch nach einer neuen Frisur – es geht um eine radikale Veränderung, um die Illusion von der Autonomie des eigenen Handelns wiederherzustellen. Ich entwerfe fabelhafte Dramen, Inszenierungen des eigenen Verschwindens, und komme nicht mehr davon los. Die Idee setzt sich fest. Vielleicht sollte ich Kai warnen. Das wäre fair, weil wir zusammen leben, schlafen und in den Urlaub fliegen. Seine linke Hand ist gerade unter meinem T-Shirt unterwegs zu den Brüsten.

Kai, der Werbetexter, braucht seine gesamte Spontaneität für den Job. Privat ist er eher ein Beamter, im preußischen Sinn. Ein ganz korrekter. Er würde niemals abends Aronal nehmen. Wie soll er da verstehen, wenn jemand fahnenflüchtig werden will? Er wird keine Freude an der Unterhaltung haben. Ich erspare sie ihm trotzdem nicht, schließlich geht es auch um seine Zukunft.

»Stell dir vor, du wachst auf und ich bin weg.«

»Du hast doch geschlafen, nicht ich.«

Typisch Kai. »Egal, stell’s dir trotzdem mal vor. Was würdest du tun?«

»Ach, Antonia.« Die Hand zieht sich zurück, Kai ist genervt, nicht beunruhigt.

»Wie kommst du jetzt darauf? Schau dich doch mal um, wie schön es hier ist, und du denkst dir so einen Mist aus und machst alles kaputt.«

Wie befohlen, schaue ich mich um, atme Blütenduft, lausche Vogelgesängen und fernen Stimmen und fühle mich unverstanden. Schlecht behandelt.

»Dir geht’s zu gut«, sagt Kai.

»Das gibt es nicht. Selbst wenn ich in Ekstase bin, was übrigens sehr lange nicht der Fall war, hätte ich nichts gegen eine weitere Steigerung des Glücksgefühls. Du versuchst mir einzureden, dass ich angesichts meines gehobenen sozialen Status moralisch verpflichtet wäre, zufrieden zu sein. Schließlich bin ich jung, schön, erfolgreich und mit einem gleichwertigen Geschlechtspartner fest liiert. Also hat es mir gut zu gehen.«

Kai starrt mich an, als wäre ich ein Blutfleck auf seinem hellen Kaschmirpulli.

»Genau so ist es doch. Auch wenn es sich aus deinem Mund anhört wie der letzte Dreck.«

»Es ist Dreck, mein Schatz.«

 

Wenn etwas im Leben gründlich schief gelaufen ist, wirst du mit einer Lüge getröstet. Die Botschaft lautet: »Jetzt kann es nur noch besser werden.« Das ist Unsinn. Es kann schlimmer werden, viel schlimmer, und selbst dann, wenn es so schlimm ist, dass du selbst drauf und dran bist, dem Schwindel zu glauben, kann es immer noch weiter abwärts gehen.

 

Als wir aus Neapel zurück sind, ruft mein Chef mich in sein Büro. Ich habe lange gebraucht, um zu begreifen, dass er nicht mein Freund ist. Genauso wenig wie die anderen Kollegen. Nur weil wir auf Formalitäten verzichten und unkonventionell zu sein unsere Konvention ist, weil im durchgestylten Großraumbüro mit seinen durchsichtig-bunten Computern das Szeneradio dudelt, während wir uns duzen und herzen und manchmal zusammen Pillen schlucken – wegen all diesem Getue haben wir füreinander noch lange keinen Wert. Wir sind verwöhnte Einzelkinder, die verstört darüber sind, dass all die anderen sich genauso einzigartig finden, wie wir das eigentlich nur uns selbst zugestehen.

Mein Chef heißt Lars und ist neuerdings Marathonläufer. Er hat sich selbst neu erfunden. Je zufriedener er mit sich ist, desto weniger ist er es mit mir beziehungsweise mit meinen Fotos. Ich gehöre schon sehr lange zur Agentur, nach der Schule habe ich angefangen, hier zu jobben. Habe sogar aus Kalifornien Fotos geliefert und bin es gewöhnt, dass meine Arbeit hoch geschätzt wird. Heute will Lars mich vorführen.

»Das ist alles Mist, alles«, pöbelt er los, um allgemeine Aufmerksamkeit bemüht. »Todlangweilig. Viel zu brav, geh doch mal dichter ran ans Motiv, das hat dir doch früher nichts ausgemacht. Mensch, Mädel.«

»Früher warst du ja auch latent übergewichtig und hast nie Sport getrieben. Die Menschen ändern sich, Larsi«, sage ich und beobachte, wie der Marathonläufer zu schwitzen beginnt: Wutschweiß. Seine sonnenbankgebräunte Stirn glänzt vor Nässe. Er kneift die kleinen Augen zusammen, blinzelt böse wie ein Hund kurz vorm Zubeißen. Mit dem Gerenne hat Lars ein neues Ventil für seine Eitelkeit entdeckt, das alte – seine nimmermüde Partytauglichkeit – war verschlissen. So groß ist sein Hunger nach Bewunderung, dass er meine Bemerkung nicht einfach übergehen kann.

»Ich war nie fett«, entgegnet er.

»Latent übergewichtig heißt nicht fett. Du hast eben diesen Hang zur Schwammigkeit.«

Dauerlauf schult. Durch gleichmäßiges Atmen bringt Lars seinen Puls so weit unter Kontrolle, dass er zum eigentlichen Kern der Unterhaltung vordringen kann, ohne sich weiter von mir provozieren zu lassen. Er wirkt beinahe souverän. Nur ein paar Schweißperlen kleben noch am Haaransatz.

»Wenn du kein Blut mehr sehen kannst, bist du in einer Rotlicht-Blaulicht-Redaktion fehl am Platz.«

»Versuchst du gerade, mich rauszuwerfen?«

Er zögert, stützt den Kopf in beide Hände: eine gewollte Geste. Seine Finger sind lang und dünn, ebenso das dunkle Haar, das an den Schläfen langsam grau wird. Wir hatten einmal Sex, bevor ich nach Amerika ging.

»Du akzeptierst mich nicht als Führungspersönlichkeit«, sagt er kalt. »Das schadet dem Team.«

»Du bist keine Führungspersönlichkeit. Alle wissen das.« Manchmal sind Worte so unheimlich schnell, machen sich selbstständig. Zu weit gehen, nennt man das wohl.

Falls er noch Zweifel hatte, habe ich die zerstreut. Jetzt zögert Larsi keine Minute länger. »Dein Vertrag läuft nächsten Monat aus. Er wird nicht mehr verlängert.«

»Ich hätte sowieso gekündigt.« Eine schwache Erwiderung, leider allzu offenkundig gelogen.

Er lächelt. »Na, dann ist ja alles bestens.«

»Ja, alles ist bestens.«

 

Ganz ohne schlechtes Gewissen kann sich niemand aus dem Staub machen, nicht mal ich. Obwohl mein Egoismus angeboren ist und durch die weiche Schule meiner Jugend konsequent gefördert wurde. Du willst wenigstens eine Antwort parat haben, falls dich doch jemand wieder findet und wissen will, warum. Aber, wie viele Gründe rechtfertigen eine Flucht ohne Not und ohne Ziel? Wo doch jeder weiß, dass die Ungewissheit für die Hinterbliebenen das Schlimmste ist, schlimmer als das Wissen um den Tod eines Vermissten. Lars hat mir zumindest einen Grund geliefert, der politisch korrekt ist: Arbeitslosigkeit. Sie wurde gefeuert, damit ist sie nicht klargekommen. Und dann die Sache mit ihrer Freundin. Ach ja, diese Sache: Cleo ist im Herbst von einem Felsen gesprungen, einfach so. Weg von der Welt im Supersprint, kein Marathonsterben. Ihre Schwester behauptete auf der Beerdigung, dass dauernd Leute von diesem Felsen springen würden. Niemand wäre also schuld, wir nicht und Cleo auch nicht, nur der Berg, an dem es passierte. Was heißt schon Schuld? Ich war noch in Kalifornien, als es sie starb, und ich hatte sie monatelang nicht angerufen. Früher waren wir jeden Tag zusammen. Es gab Nachholbedarf, ich hätte ihr so viel zu sagen gehabt. Aber nicht am Telefon.

Trotzdem sind die Verluste, die ich erlitten habe, nicht der eigentliche Anlass für die Verdichtung der Idee von Pompeji zu einem handfesten Plan. Es geht um die Verluste der Zukunft. Ich muss mich festigen, emotional unabhängig werden. Mir selbst genug sein. Seit meiner Rückkehr aus Amerika liege ich ständig auf der Lauer, allzeit bereit, starke Gefühle im Keim zu ersticken. Ich glaube, deswegen habe ich mich so schnell mit Kai eingelassen, wissend, dass eine Trennung, egal, auf welche Weise, kaum Spuren hinterlassen wird. Ich kann mir ja kaum sein Gesicht merken. Ich glaube, ihm geht es genauso.

Vielleicht ist es ein Unglück, glücklich aufzuwachsen. Wenn die Kindheit kein Kampf war, sondern ein cocacolasüßes Versprechen, ist das Leben danach ein Minusgeschäft. Du musst dich nicht freistrampeln, sondern wirst von der Wirklichkeit eingefangen, und nach und nach geht immer mehr flöten: Zuerst stirbt der Familienhund, dann beginnen die Eltern zu schwächeln, haben Bandscheibenvorfälle und andere Verschleißerscheinungen geistiger und körperlicher Art. Muss ich artig den Tiefpunkt abwarten? Ich will nie wieder auf eine Beerdigung gehen. Mit siebenundzwanzig Jahren durchzubrennen, heißt, den Blick in weitere Abgründe zu verweigern. Grund genug.

Meine Eltern müssen mir verzeihen. Sie haben es mir immer zu leicht gemacht.

 

Zwei Wochen muss ich noch arbeiten, obwohl ich gefeuert bin. Ich übernehme die Nachtbereitschaft, um weniger mit den anderen zu tun zu haben, der mitleidigen Blicke wegen. Das Frühjahr ist stürmisch. Heftige Böen toben tagelang über das flache Land hinweg, ihre Zerstörungskraft hat etwas Gleichmütiges: der Wind ist nicht zornig, wie alle immer sagen, er ist einfach gut in Fahrt. Das Wetter nervt vor allem die Hausbesitzer. Ich stehe auf dem Balkon und sehe zu, wie der Sturm mit seiner Beute spielt. Zeitungen wirbeln hoch bis zum vierten Stock, eine Mülltonne und ein Fahrrad werden Seite an Seite über die Straße getrieben. Das Geschepper verliert sich im Getöse des Unwetters. In den Nachrichten wurde gemeldet, dass draußen in den Vorstädten wieder Bäume umgestürzt sind und Dächer abgedeckt wurden. Hier, mitten in Harvestehude, haben die Jugendstil-Altbauten schon ganz andere Stürme überstanden. Sogar die aus Feuer.

Der Pieper geht los, genau darauf habe ich gewartet. Es handelt sich um einen verunglückten Reisebus im Freihafen, »eine Person ex« wird vermeldet. Das ist ja nicht so toll, denke ich aus alter Gewohnheit, greife zur Kamera und fahre los. Der Unfallort ist abgeriegelt. Ein Polizist will meinen Presseausweis sehen, winkt mich dann durch.

»Aber behindern Sie die Einsatzkräfte nicht.«

Das ist schwierig, denn die Straße, die hinauf zur Köhlbrandbrücke führt, wimmelt von Feuerwehrleuten, Sanitätern und Polizisten. Obwohl gar nicht viel passiert ist – der Bus liegt leicht verbeult auf der Seite, sonst nichts. Viel Blaulicht für wenig Blech. Die Fahrgäste stehen wartend im Abseits. Es sind Rentnerinnen aus der Provinz, natürlich geschockt und irgendwie auch beleidigt, weil der Sturm ihre Dauerwellen ruiniert. Lustlos schieße ich ein paar Fotos, suche dann vergeblich nach einem von unseren Reportern. Ich bin eigentlich nur für die Fotos zuständig. Marc müsste hier sein, wahrscheinlich ist er wieder versackt. Schließlich rede ich doch selbst mit einem Feuerwehrmann.

»Es soll einen Toten gegeben haben?«

Der Mann nickt.

»Was ist passiert?«

»Suizid.«

In mir zieht sich alles zusammen, leider auch die Luftröhre, was das Atmen erheblich erschwert. Mein Herz pumpt tapfer gegen die Mangelversorgung an. Es macht mich nervös, wenn Leute sich umbringen. Seit letztem Jahr. Ich verstehe es nicht. Der Feuerwehrmann wartet, und ich versuche, Marcs Arbeit fortzusetzen.

»Suizid, sagen Sie? Scheiße. Im Bus?«

»Hat sich vor den Bus geschmissen. Die Kollegen sind noch dabei, die Reste von den Rädern zu kratzen. Gehen Sie da lieber nicht hin.«

»Vielleicht hat der Sturm das Opfer auf die Straße geweht?«, frage ich, um ganz sicher zu gehen. Aus professionellem Interesse: Mit Selbstmorden macht die Redaktion keine Geschäfte, außer bei Promis. Also ist hier vermutlich für mich nichts zu holen. Der Feuerwehrmann reibt sich die Augen und gähnt.

»Zu schwer, der Kerl«, sagt er. »Außerdem hat der Busfahrer gesehen, wie er gesprungen ist. Er hat noch versucht auszuweichen, ist ins Schleudern geraten und – peng.«

So einfach geht das: peng und weg. »Okay, danke.«

Eigentlich könnte ich nach Hause gehen. Aber ich kämpfe mich gegen den Wind hinauf auf die Brücke, die sonst kein Fußgänger betreten darf. Oben sind die Böen so stark, dass ich mich am Geländer festklammern muss. Ich drehe mich um, konzentriere mich auf die Blaulichter. Die sind hier in Hamburg so anders als in Amerika. Trotzdem kommen die Erinnerungen: »Get out. GET OUT.« Das Gesicht im Staub. Ich will nicht daran denken.

Plötzlich weiß ich genau, wie die Sache hier gelaufen ist: Ein Seelenverwandter meiner besten Freundin Cleo Strassberger hat vor etwa einer Stunde den höchsten Punkt der schwankenden Brücke erreicht. Er will also springen. Immerhin ein Abgang, der ein Mindestmaß an Würde garantiert. Leider ist er ein Versager bis zuletzt. Er bricht das Unternehmen ab. Fast unten angekommen, wird ihm schlagartig klar, dass er nicht mehr zurück ins Leben kann: die Schulden … die Perspektivlosigkeit. Weil er ein unsportlicher Typ und nach dem langen Spaziergang aus der Puste ist, geht er nicht wieder nach oben, sondern nimmt den nächsten Bus. Blöd für die Omis.

Genau hier muss er gestanden haben. Ich beuge mich nach vorn. Tief unten ist es schön. Da flackern die Lichter der Schiffe und Hafenanlagen, so als gäbe es etwas zu feiern, die Elbe ist aufgewühlt und klingt wie ein viel größeres Gewässer. Ist doch ganz leicht, denke ich. Tiefensog.

»Hey, was soll das? Was tun Sie da?« Der Feuerwehrmann ist mir nachgelaufen.

Ich zucke zusammen. »So ein Trottel«, rufe ich dem Mann zu. »Schmeißt sich vor den Bus. Das hier, das ist doch großartig. Hier hätte er runterspringen sollen, dann hättet ihr Jungs eure Ruhe gehabt.«

Jetzt hat er mich erreicht und reißt mich unsanft vom Geländer weg. »Sie dürfen hier gar nicht rauf.« Er ist schon älter, wahrscheinlich kurz vor der Pensionierung, und hat ein liebes, zerknautschtes Gesicht. Unsinnigerweise fühle ich mich ertappt.

»Sie halten mich doch nicht wirklich für selbstmordgefährdet?«, will ich wissen.

Der Mann zuckt die Achseln. »Also, wenn Sie sich eben gesehen hätten … na ja, eine Leiche am Abend genügt mir jedenfalls.«

 

Ich treffe Marc in einer Bar im Schanzenviertel.

»War was Wichtiges?«, fragt er.

Ich schüttele den Kopf. »Selbstmord.«

»Mist.«

»War okay. Das Thema steht bei mir hoch im Kurs.«

Er starrt mich an. »Was soll das denn heißen? Drehst du durch wegen der Kündigung, oder was? Spinnst du jetzt komplett? Larsi würde deinen Vertrag sofort verlängern, wenn du einen einzigen Schritt auf ihn zu machen würdest. Warum musst du ihn andauernd bloßstellen? Du bist unsere beste Fotografin, und er weiß das.«

»In letzter Zeit war ich nicht mehr gut. Ist eben viel Glück dabei.« Ich starre zurück, verwundert, weil er meine Bemerkung auf diese Weise interpretiert hat. Habe ich etwa in der Redaktion einen lebensmüden Eindruck gemacht? Wie peinlich. Ich erwäge, ihm von Cleo zu erzählen, doch ich lasse es bleiben. Ich spreche nicht darüber, mit niemandem.

Wir trinken Tequila und mexikanisches Bier. In Kalifornien kostet das einen lausigen Dollar, wegen der vielen Schadstoffe. Hier, im Eldorado des Reinheitsgebots ist es zurzeit ein Szeneprodukt, also höllisch teuer. Marc will, dass wir »richtig lustig werden«, was mir besser gelingt als ihm. Erst dachte ich, er macht sich ehrlich Sorgen um mich. Aber dann will er doch nur von seinen eigenen Problemen reden, die ich uninteressant finde, und das sage ich ihm auch. Also gehen wir im Streit auseinander. Als ich gerade mein Auto aufschließen will, ruft er trotzdem noch: »Mach keinen Scheiß.«

Tja, genau danach steht mir der Sinn – Scheiß machen. Allerdings hat er Recht: Fahren sollte ich besser nicht mehr. Während ich mich noch wundere, weil ausgerechnet Marc erfolgreich an meine Vernunft appelliert hat, braust er hupend an mir vorbei. Idiot!

Der nächtliche Fußweg durch das Viertel ist beschwerlich, wegen der vielen Leute, die nicht mehr in die hippen Kneipen gepasst haben und nun mit ihren Getränken in der Hand davor stehen. Bei dem Sturm. Kein Laden kann so gut sein, dass es lohnt, sich mit der Fassade zu begnügen. Doch leider ist das hier normal. Die Studis aus der Provinz flippen schon aus vor Stolz, wenn sie das Wort Schanze nur aussprechen. Bei denen zu Hause war bereits der Dönerladen am Busbahnhof das Tor zur Welt. Und hier ist so viel Multikuli, das gibt ein ganz neues Lebensgefühl – irgendwie kosmisch und gleichzeitig so globalisierungskritisch. Bin selbst vom Dorf.

Ich muss also ständig auf die Straße ausweichen, wo nur Typen wie Marc unterwegs sind. Ich werde fast von einem umherwirbelnden Pappkarton geköpft. Ziemlich harte Pappe. Nichts wie weg hier, verdammt, ich mag nicht mehr.

Beim Steh-Asiaten gibt es Hühnersuppe mit Kokosmilch, sehr scharf und gut, um nüchtern zu werden. Der Mann am Wok lächelt mich an. Ich drehe ihm den Rücken zu. Ich löffle die Suppe bis meine Nase läuft, die Augen tränen und ich begreife, dass ich heute Nacht ernst machen werde. Danach kriege ich keinen Bissen mehr runter. Jetzt wäre eine Zigarette gut. Raucher müsste man sein.

Ich denke an den Mann von der Köhlbrandbrücke. Und an Cleo. Versuche ihr nah zu sein. Ist Abhauen das gleiche Kaliber wie Selbstmord? Für mich nicht. Haust du ab, willst du, dass alles anders wird, tötest du dich selbst, glaubst du, dass es nicht mehr anders werden kann. Passt gar nicht zu Cleo. Oder habe ich sie nicht richtig gekannt?

Im Morgengrauen stehe ich am Hauptbahnhof und kaufe ein Ticket. Ich weiß zwar nicht, wohin ich will, kenne aber die erste Station meiner Reise: Ich muss sehen, wo meine Freundin freiwillig gestorben ist. Der Ort, zu dem dieser mörderische Felsen gehört, heißt Grauen und liegt im Harzgebirge. Die Züge fahren nur bis Wernigerode, dort kann ich umsteigen in eine Schmalspurbahn Richtung Elend und Sorge, wie die monotone Stimme des Service-Mitarbeiters verkündet. Er verzieht keine Miene beim Klang dieser Namen. Elend, Sorge und Grauen – was hatte jemand wie sie dort zu suchen?

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Kapitel 2

Hexentanz

Die Berge sehen aus wie von Kindern gemalt. Kugelförmige Hügel, die von Wattewolken geküsst werden. Tannengrüne Rutschen für verspielte Riesen. Der Regionalexpress taucht nicht in das Gebirge ein, sondern hält sich in respektvollem Abstand einige Kilometer weiter links. Das Harzvorland ist lieblich, in Ansätzen toskanisch. Frisches Grün überzieht die Hügel, am Rande der Bahnstrecke blühen bunte Blumen, deren Namen ich nicht kenne. In den Dörfern kauern schiefe Fachwerkhäuser eng beieinander, andere Gebäude sind ganz mit dunklem Schiefer verkleidet. Abweisend sieht das aus, daran können auch blutrote Geranien in hölzernen Blumenkästen nichts ändern. Der Zug ist überfüllt: Familien, Reisegruppen, Soldaten, nur wenige Rentner. Ich dachte immer, im Harz wären nur Rentner unterwegs. Alle sind laut und gut gelaunt. Ich habe einen mexikanischen Kater.

Endlich kündigt der knisternde Lautsprecher an, dass wir in wenigen Minuten Wernigerode erreichen werden. Meine vorläufige Endstation.

Im Bahnhof riecht es nach Kohle. Das erkenne ich allerdings nur, weil jemand im Abteil erzählt hat, wie hier die Züge angetrieben werden, vertraut ist der Geruch nicht. Zu Hunderten drängen die Leute aus dem Zug, schieben mich weiter über das Gleis und um eine Ecke. Wir werden gründlich eingenebelt, so dass ich ständig niesen muss. Es schüttelt mich durch. Dann sehe ich die Lok. Sie qualmt und schnauft, steht einfach da wie ein triumphierender Dinosaurier, der sich freut, sein Zeitalter überlebt zu haben. Ich habe zum ersten Mal seit langer Zeit Lust, zu fotografieren. Jetzt, wo es kein Job mehr ist. Während ich die Lokomotive und die dunkelgrünen Waggons samt Dampf im Gegenlicht fokussiere und abdrücke, fährt stampfend ein zweiter Zug ein. Würden die Menschen elegante Mäntel statt Windjacken tragen, wäre das Gemälde perfekt: So muss sie ausgesehen haben, die gute alte Zeit, jener romantische Teil der Vergangenheit, der ausgelöscht wurde, als Menschen in Viehwaggons in den Tod reisen mussten. Ich kann nie an das eine denken, ohne beim anderen anzukommen. Das Bahnhofsgebäude hat wohl beide Zeitalter überlebt. Drinnen gibt es noch diese kleinen Fahrkarten aus brauner Pappe. Nur die Preise sind von heute.

»Seien Sie froh, dass es überhaupt noch Tickets gibt«, sagt die Frau am Schalter. »Schließlich is’ ja Walpurgis.«

»Ach so«, erwidere ich langsam und versuche, mich zu erinnern, was das ist. »Das hat was mit Hexentanz zu tun, oder?«

»Na, Sie machen mir Spaß. Sind doch selbst eine von uns Zauberweibern.«

Gackernd zeigt die Frau auf ihre rot gefärbten Haare und zwinkert mir verschwörerisch zu. Ich mag nicht angezwinkert werden. Außerdem ist mein Rot heller und längst nicht so glänzend, eher ein Blondton, der Sonnenlicht braucht, um zu schimmern, und im Winter straßenköterartig aussieht. Nur dann töne ich mit einer natürlichen Nuance nach, aber so einen Griff ins Farbklo würde ich mir niemals leisten. Die Fahrkartenverkäuferin und ich haben nichts gemeinsam. Als ich nicht mitlache, nicht einmal ein Grinsen zustande bringe, gefriert die Freundlichkeit im Gesicht der selbst ernannten Hexe. Sie informiert mich darüber, dass ich mit der Schmalspurbahn nicht nach Grauen fahren kann.

»Das is’ doch im Westen!«

»Ich dachte, wir wären wiedervereinigt.«

»Mag ja sein. Aber die alten Gleise gibt’s eben nur im Osten. Is’ gut fürn Tourismus. Sie müssen in Elend aussteigen.«

Hinter mir hat sich bereits eine lange Schlange gebildet. Die murmelnden Leute werden ungeduldig, was sich dadurch zeigt, dass sie mir langsam aber stetig auf die Pelle rücken. Ihre Windjacken knistern bedrohlich.

»Und wie komme ich dann nach Grauen?«

Da kichert sie wieder. »Mit dem Besen. Aber bleiben Sie doch bei uns. Elend hat die schönste Feier. Oder sind Sie eine von diesen Bekloppten? Von den Klippenspringern? Wir ham auch hohe Klippen, so is’ das nich’.«

Ich mache, dass ich wegkomme, das Gekicher der Hexe im Rücken. Die Chance, mit ihr zu lachen, habe ich ja vertan, nun lacht sie über mich, und es tut mir noch lange in den Ohren weh. Cleos Schwester hat also nicht gelogen: An der Geschichte über diesen Felsen muss etwas dran sein.

 

Im Zug ist Party. Die meisten Fahrgäste sind monothematisch kostümiert, als Hexen oder Teufel. Sie singen Lieder über Schierker Feuerstein und bieten mir etwas davon an: Ein brauner, klebriger Kräuterschnaps, der wie Hustensaft schmeckt und mich zum Husten bringt. Ich verlasse das Abteil mit einem Gefühl der Überlegenheit. Für meine Mitreisenden geht es doch auch um Flucht. Ich habe einen viel besseren Plan als sie. Es ist erlaubt, draußen zu stehen und das ätherisch wirkende Gemisch aus Waldluft und Lokomotivenrauch ganz tief einzuatmen, solange man sich nicht über das Geländer lehnt oder auf dem Übergang zwischen zwei Waggons stehen bleibt. Das Material quietscht und ächzt, ein authentischer Lärm ohne jede Verlogenheit. Im Gegensatz zu Partygesängen. Außer mir will niemand im Freien stehen. Wenn ich hochschaue, kann ich den Himmel nicht sehen, weil der Dinosaurier bergauf so schwer schuften muss. Er schwitzt Dampf, fauchend und stampfend. Wir fahren durch Nadelwälder, vorbei an hoch aufgeschossenen Felsformationen und bunt angepinselten Holzhäusern im Nirgendwo. Die Dörfer entlang der Strecke haben sich geschmückt, überall baumeln Hexenpuppen, die sie über ihren Eingängen, an Straßenlaternen und sogar an Bäumen aufgeknüpft haben. In den Straßen herrscht dichter Verkehr. Trotz der vermeintlichen Abgeschiedenheit dieses Gebirges sind unzählige Menschen und noch viel mehr Autos unterwegs. Ich bin froh, als der Zug sich endlich ganz in die Natur zurückzieht. Gerade noch rechtzeitig für ein hübsches Finale: Höllenrot gleitet die Sonne eine Bergkuppe hinunter, um eine Weile spielend mit uns Schritt zu halten, schließlich abzutauchen und anderswo für andere Leute zu scheinen. Ich glaube, auf ihrer Oberfläche einzelne Gasexplosionen gesichtet zu haben, so nah ist sie gewesen. Ich bin ganz allein, aber das wollte ich ja so. Nicht einmal Cleo ist bei mir, obwohl sie mir willkommen wäre – sonst würde ich ihr nicht hinterherreisen.

 

Pfeifend fährt der Zug in Elend ein. Wieder ist es überfüllt. Wieder bin ich Teil eines Pulks und lasse mich planlos treiben, bis ich drei grauhaarige Männer in schwarzer Bergmannskluft erblicke. Jeder von ihnen hält ein Schild hoch, aber nur eines davon ist für mich interessant: »Hexensabbat in Grauen«. Sie machen es mir leicht hier oben.

Die Kutschfahrt über verstopfte Straßen muss eigentlich im Voraus gebucht werden. Ich diskutiere nicht, sondern zahle gleich den doppelten Fahrpreis und darf mich zwischen zwei ältere Damen quetschen. Sie sind nicht verkleidet, aber fröhlich und riechen intensiv nach Schierker Feuerstein. Die Lieder, die in der Kutsche geschmettert werden, kenne ich schon.

 

Als wir in Grauen ankommen, ist es dunkel. Es gibt keine Alternative zum Hexensabbat. Der Kutscher und seine beiden unerschrockenen Pferde bringen uns durch Menschenmassen zum Festplatz im Ortskern. Ich habe wieder angefangen zu fotografieren. Hier haben die Hexenpuppen sogar Gesichter: böse, schmerzverzerrte Mienen. Auf einer Bretterbühne hüpft ein spießiger Teufel herum und rezitiert: »Da, sieh nur, welche bunten Flammen! Es ist ein munterer Klub beisammen. Das leuchtet, sprüht und stinkt und brennt! Ein wahres Hexenelement!« Faust? Am Rande des Platzes lodern kleine Feuer, das Hauptfeuer in der Mitte, mit einer Strohhexe obendrauf, ist noch nicht angezündet. Auf der Suche nach Motiven laufe ich umher. Ich entdecke eine unglaublich dicke Frau, die, bedrängt von allen Seiten, seelenruhig Bier zapft und Würstchen brät. Ich entdecke ein sehr hellhaariges, junges Mädchen, das ein amerikanisiertes Hexenkostüm mit spitzem Hut trägt und allen Mühen zum Trotz aussieht wie eine Fee, und zuletzt entdecke ich einen blonden, kleinen Mann, der an einem der Feuer Gitarre spielt. Er trägt einen garantiert selbst gestrickten Ringelpulli und spielt spanischen Flamenco mitten im Harz. Er kann’s, es klingt absolut wundervoll. Ich höre zu, bis das Grölen der Massen die Musik übertönt: »Brennen, brennen muss die Hex.« Für das funkenreiche Spektakel, das wohl den Höhepunkt des Treibens markiert, gehen die letzten Bilder drauf. Es wird Zeit, genug gefeiert. Plötzlich habe ich es eilig, dorthin zu gelangen, wo Cleo starb. Bis morgen kann ich nicht warten, egal, wie dunkel und unheimlich es dort draußen auch sein mag. Es hängt ein kleines Lämpchen an meinem Schlüsselbund.

Ich versuche, mich durchzufragen, aber niemand reagiert – zu betrunken oder selbst fremd im Ort. Sie beachten mich nicht. Ich habe das Volksfest schon fast verlassen, da packt mich jemand an der Schulter.

»Hey, stopp.« Eine unbekannte Stimme.

In Sachen Berührung bin ich unflexibel. Ich halte einen gewissen Mindestabstand unter Fremden für unverzichtbar, und wenn das nicht geht, zum Beispiel in einer Menschenmenge wie dieser, will ich wenigstens nicht absichtlich angefasst werden. Als ich, zitternd vor negativer Energie, herumwirbele, entdecke ich den Gitarrenspieler.

»Was soll das?«

Er streckt mir eine braun gebrannte Hand entgegen.

»Ich bin Tom Sturm«, sagt er.

»Schön für Sie.«

Ich ergreife die Hand nicht, sondern starre ihn einfach nur an, in der Hoffnung, dass er die stumme Botschaft versteht: Lass mich in Ruhe. Unverdrossen starrt Tom Sturm zurück. Seine Augenpartie ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Links und rechts ist die Iris so kompromisslos blau wie der Wüstenhimmel im Tal des Todes. Unter den Augen haben sich die tiefsten Ränder eingegraben, die ich je gesehen habe – abgesehen von meinen eigenen nach dem letzten Rückflug aus LA.

»Bist du Fotografin?«

»Nein.«

»Ich habe aber gesehen, wie du fotografiert hast.«

»Das haben tausend andere auch getan. Was wollen Sie überhaupt?«

Wie ich soeben festgestellt habe, mag ich keine kleinen Männer in Strick. Schon gar nicht, wenn sie übermüdet sind. »Sagen Sie nichts, ich will es gar nicht wissen«, füge ich hinzu und wende mich ab.

»Warte doch mal.« Er stellt sich mir in den Weg. »Ich will deine Fotos kaufen. Für die Zeitung.«

Es ist nicht zu ändern, ich fühle mich geschmeichelt. Eitelkeit ist ein elender Virus, der dich dazu bringt, absurde Dinge zu tun, bis hin zur Selbstaufgabe. Er lässt dich stehen bleiben, obwohl du weglaufen solltest.

»Welche Zeitung?«, frage ich.

»Harzer Kurier.«

»Muss ja echt wichtig sein.«

Tom Sturm lacht. Ein ehrliches Lachen, keines von diesen gekünstelt-verbindlichen Männergeräuschen, die signalisieren sollen: Ich lass mich auf dich ein, Mädchen, hahaha.

»Wir finden uns kolossal bedeutsam«, sagt er. »Nur der Fotograf offenbar nicht, der ist nämlich verschollen. Und ich brauche ein paar Bilder vom Fest. Zwanzig Euro pro Stück.«

Nicht zu fassen. Mein Schnauben soll Verachtung signalisieren, erinnert aber mehr an das Pony, das ich als Kind ständig gespielt habe. »Wahrscheinlich ist Ihr Fotograf verhungert, bei den Honoraren. Wieso fragen Sie ausgerechnet mich?«

»Weil du eine anständige Kamera hast und dich in Ruhe umsiehst, anstatt wild drauflos zu knipsen. Ich habe dich beobachtet.«

Sein Verhalten – die Art, mit mir zu sprechen, der bohrende Blauaugenblick ohne jede Zurückhaltung – hat etwas Besitzergreifendes, was mich weitaus weniger stört, als mir lieb ist.

»Wir sind noch lange nicht per Du, Tom Sturm«, sage ich möglichst kühl. »Ich verkaufe Ihnen den Film jetzt und hier für hundertfünfzig, und glauben Sie mir: Das ist ein guter Preis. Danach lassen Sie mich in Ruhe.«

Ich strecke mich, so dass ich fast einen halben Kopf größer bin als er, und hole tief Luft dabei.

»Noch etwas: Ich lasse mich nicht gern anstarren.«

Komplexe scheint er nicht zu kennen. Ein selbstgefälliges Lächeln macht sich auf seinem Gesicht breit.

»Du hast doch zuerst gestarrt.«

Er zerrt ein Bündel zerknitterter Geldscheine aus der Jeanstasche hervor und zählt sie mit quälender Langsamkeit.

»Habe nur hundertdreißig Euro bei mir.«

»Geben Sie her.«

Ich nehme das Geld, das ich gut gebrauchen kann, und fummle den Film aus der Kamera.

»Glück gehabt, Kleiner. Heute ist Schlussverkauf.«

Als ich gehen will, hält er mich erneut an der Schulter fest.

»Ich glaube nicht, dass heute schon Schluss ist«, sagt er böse. »Nicht für dich und nicht für mich.«

Noch hat er nicht losgelassen, sein Griff ist unbarmherzig, aber nicht unangenehm, denn ganz fremd ist er ja nun nicht mehr.

»Los, komm, wir gehen ein Bier trinken.«

Tom Sturm schiebt mich vor sich her zum Festplatz zurück, ich unternehme nichts, um das zu verhindern. Die Energie, die mich so weit gebracht hat, ist aufgebraucht. Mein nimmermüdes Hirn ist tatsächlich träge geworden, bringt nur noch ein paar wirre Gedanken zustande, die Seltsamkeit des Gitarrenspielers betreffend. Was will der nur?

Wir erreichen den Stand, an dem die Dicke regiert.

»Ulli, machst du uns mal zwei Bier fertig?«

Die Frau nickt, und trotz des Andrangs werden wir sofort bedient.

»Auch ’ne Wurst?«, fragt sie und mustert mich prüfend von oben bis unten. Ich erkenne tiefes Mitleid in ihrem runden Pfannkuchengesicht. Die Anteilnahme einer Wohlgenährten im Angesicht des Hungers. Ich weiß, dass ich dürr bin.

»Nur das Bier«, antwortet er für mich. »Okay?«

»Okay.«

Wir trinken schweigend, und das ist okay. Besser als Konversation. Ist eigentlich auch egal, was Tom Sturm will. Manchmal kommen Leute und verwickeln ihn in belanglose Gespräche. Mich belauernd, plaudert er routiniert, während alle anderen durch mich hindurchsehen. Nur Ulli nicht. Sie macht gemeinsame Sache mit Tom, versorgt uns immer wieder mit Nachschub. Wir trinken sehr schnell. Die versuchen allen Ernstes, mich abzufüllen, und ich habe keinen Schimmer, warum. Werden die mich später ausrauben, wegen der teuren Klamotten, die ich trage? Was allerdings nicht einfach wird, denn ich bin in Übung, vertrage von Natur aus einiges. Ich beobachte müde aber stocknüchtern, wie Toms Blick sich eintrübt.

»So, und jetzt will ich endlich deinen Namen wissen, damit ich auf dich trinken kann«, sagt er schließlich.

Ich habe das Gefühl, einen Fehler zu machen. Vielleicht sollte ich im neuen Leben den alten Namen ablegen. Aber ich heiße nun mal so.

»Antonia Czechy.«

»Ich bin immer noch Tom Sturm.«

Wir verschränken die Arme und trinken.

»So ein blödes Ritual«, sage ich.

»Es gibt blödere Handlungen, die weitaus mehr Schaden anrichten.«

Nach dem Kurzen geht alles ganz schnell. Ich habe mich verkalkuliert. Normalerweise gibt mein Körper einen Warnschuss ab: Die Lippen fangen zu kribbeln an, wenn ich wirklich dringend mit dem Alkohol aufhören muss. Heute nicht. Von einer Sekunde zur anderen sehe ich doppelt, kurz darauf verschwimmen Menschen und Gegenstände zu einem graublauen Schleier.

Mir ist schwindelig, und ich bin allein. Tom Sturm ist fortgegangen. Ich glaube, es ist Ulli, die mich dann über den schwankenden Boden geleitet. Zu einem Haus, über eine Treppe in ein Bett, das ebenfalls schwankt und sich dreht. Sie haben mich ausgebremst, aber ich bin nicht besoffen genug, um wirklich zu vergessen. Bald werde ich zu den Klippen gehen. Zuerst muss ich kurz die Augen zumachen. Nur ganz kurz.

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Kapitel 3

Albträume

Ein Mädchen liegt tot auf der Straße.

Ich gehe vorbei.

Vor unserem Haus im San Bernardino County brennt das Gras.

Ich bekomme keine Luft.

In einem leeren Zimmer klingelt das Telefon.

Ich hebe nicht ab.

 

Mobiliar ist reglos. Diesen Umstand lernst du irgendwann zu schätzen. Bewegt es sich doch, gibt es ein Problem. Bestenfalls hast du wieder gesoffen – ohne Sinn und Verstand. Schlimmstenfalls geht die Welt unter. Das Gefühl ist so ähnlich.

Der neue Tag provoziert hell und fröhlich. Ein Fenster ist offen, lässt grelle Sonnenstrahlen und Kinderstimmen in meine Kummerkammer eindringen. Im Raum drehen sich skandinavische Holzmöbel: ein Schrank, eine Kommode, ein Schreibtisch und das schwankende Bett, in dem ich liege. Meine Decke ist rot-grün-gelb-kariert.

»Ach, wie putzig«, murmele ich. Aber ein Stück Geborgenheit mischt sich doch in die Traurigkeit, diese destruktive Traurigkeit, die mich seit Monaten verfolgt wie ein penetranter Verehrer. Viel schlimmer als Wut.

Ich brauche beide Hände, um meinen dröhnenden Schädel festzuhalten. Neben meinem Bett steht ein grüner Plastikeimer, exakt in Kopfhöhe platziert: Jemand hat vorgesorgt. Ich nehme das Angebot an und übergebe mich. Danach liege ich einfach nur da. Mein Hals ist rau, aber von dem Wasser neben dem Bett will ich nichts trinken. Ich akzeptiere den Durst. Die Sonne wandert und scheint mir ins Gesicht. Ich rühre mich nicht, bis sie sich abwendet.

 

»Lebst du noch?«

Ich erkenne die Stimme: Ulli will das wissen. Sie wartet hinter der Tür.

»Weiß nicht.«

Die Tür geht auf. Die bullige Bierzapferin steht da mit einem Tablett und inspiziert mich schamlos. Sie trägt ein unbeschreibliches Nachthemd aus lila-blauem Pannesamt.

»Mehr tot als lebendig«, stellt sie fest und schüttelt den Kopf.

»Du musst Wasser trinken.«

Wie ich befürchtet habe, ist das Tablett überfüllt, Ulli hat Frühstück mitgebracht: Toast, Marmelade, Rührei und Speck. Es dampft und duftet.

»Ich habe, glaube ich, keinen Hunger«, sage ich.

Ulli lacht.

»Du hast nur vergessen, was das ist«, behauptet sie. »Das ist dieses Gefühl, als ob dir jemand seinen Ellenbogen in den Magen gerammt hat.«

»Das hatte ich noch nie.«

»So siehst du auch aus«, sagt sie seufzend.

Ich mag Ulli, weil sie nicht debattiert, sondern handelt. Sie setzt sich auf das Bett, und die Matratze senkt sich so stark, dass ich automatisch in Richtung Tablett kullere. Gut gelaunt fängt sie an zu futtern. Der Toast kracht laut. »Dann trink wenigstens was.«

Sie hat gewonnen.

»Ich nehme vielleicht ein bisschen Toast und Ei.«

Ulli wird mütterlich und verabreicht das Gewünschte in mundgerechten Häppchen. »Schmeckt’s?«

»Ungelogen genial.«

Nicht nur die Möbel beruhigen sich, als das Ei geschmeidig meine Kehle hinuntergleitet, das ganze Universum steht still. Es gibt kein Draußen, nur Ulli und mich hier drinnen auf einem ächzenden Holzbett, und wir essen alles auf, picken sogar mit fettigen Fingern noch die letzten Krümel vom Teller.

»Wer war eigentlich dieser kleine Mann gestern?«, frage ich beiläufig.

»Tom Sturm«, sagt sie.

»Kennst du ihn näher?«

»Jeder kennt ihn. Er macht die Zeitung und Musik.«

»Wie ist er so?«

Ulli atmet, leckt sich mit der Zunge über die Lippen und lässt sich Zeit mit der Antwort.

»Er wartet in der Redaktion auf dich. Mach dir selbst ein Bild.« Ihre Stimme ist abweisend geworden.

»Ist er ein Freund von dir?«, hake ich trotzdem nach.

»Ja.«

Sie steht auf, räumt das Geschirr zusammen und wendet sich ab.

»Er hat vorhin angerufen. Deine Fotos haben ihm gefallen. Ich bringe dich zur Redaktion, wenn du willst.«

Ulli ist schon lange gegangen, da weiß ich immer noch nicht, was ich will – zum Sterbefelsen gehen oder Tom Sturm treffen?

 

Als Cleo sprang, hatte ich einen Albtraum. Im gleichen Augenblick. In Deutschland war es früh am Morgen, ich war in Chino Hills gerade ins Bett gegangen. Ich habe überhaupt keine Erinnerung an den Inhalt des Traumes, aber er war so abscheulich, dass ich geschrien habe und von meinem eigenen Schrei aufgewacht bin. Nachts, wenn ich wachliege, kann ich ihn immer noch hören.