Falsche Nähe - Alexandra Kui - E-Book

Falsche Nähe E-Book

Alexandra Kui

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Beschreibung

Um ihr nah zu sein, geht er über Leichen.

Der frühe Unfalltod der Eltern hat Noa und ihre große Schwester Audrey zusammengeschweißt. Durch deren Erfolg als Krimiautorin konnten die beiden gerade in die schicke Hamburger Hafencity ziehen, als plötzlich eine unveröffentlichte Romanidee als reale Mordserie in der Tageszeitung auftaucht. Noa bekommt Zweifel, wie gut sie ihre Schwester eigentlich kennt. Was geschah wirklich an dem Tag, als ihre Eltern starben? Je mehr Noa herumschnüffelt, desto klarer wird: Es gibt jemanden in ihrem Umfeld, der nichts Gutes im Sinn hat, und diese Person ist hochgefährlich ...

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 329

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Alexandra Kui

Falsche Nähe

Thriller

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in der Verlagsgruppe Random House

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

1. Auflage 2013

© 2013 cbt Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: init.büro für gestaltung, Bielefeld

Umschlagfotos: © plainpicture/BY; Gettyimages/Chris Stein/Stone

mi · Herstellung: kw

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-10594-5V002

www.cbt-jugendbuch.de

Gottes Freund, der Welt Feind

Inschrift auf dem Sockel des Störtebeker-Denkmals

in der Hamburger Hafencity

Was willst du noch?

Willst du meine Tage zählen?

Warum musst du mich mit meiner Sehnsucht quälen?

Deine Hölle brennt in mir

Du bist mein Überlebenselixier

Ich bin zerrissen

Wann kommst du meine Wunden küssen?

Falco, Out of the Dark

Prolog

Riechst du den Duft der Nacht? Dieses erdige Schweigen. Die Süße der Schatten. Wenn die Blätter fallen und die Tage kürzer werden, so kurz, dass die Dunkelheit nie ganz verschwindet, ist es Zeit, die Angst einzuladen. Lausche dem Sturm und kuschele dich ein, die Lieblingsdecke um die Schultern, das Buch auf den Knien. Oder die Fernbedienung in der Hand, egal, Hauptsache, du hast etwas zum Knabbern besorgt, dir einen Kakao gekocht, vielleicht auch Tee. Rotbusch mit Vanille-Aroma. Behaglichkeit ist wichtig, sie verleiht dem Schrecken das gewisse Etwas.

Auf geht’s. Am Anfang steht das Verbrechen. Jetzt gilt es, die Verbindung zu den Opfern aufzubauen. Du musst sie mögen, dich mit ihnen identifizieren, sonst bleibst du nicht am Ball und der Gänsehautfaktor lässt zu wünschen übrig. Genügt es, wenn ich dir erzähle, dass mein Vater und meine Mutter anständige Leute waren? Nicht gerade die besten Eltern der Welt, so etwas zu behaupten wäre reine Rührseligkeit, aber sie haben getan, was sie konnten. Vati neigte dazu, aus der Haut zu fahren, wir hatten oft Streit. Mama, meine schöne, zarte, elfenhafte Mama, war meistens müde und wirkte desinteressiert, wenn ich nach Hause kam und in dem Essen herumstocherte, das sie für mich gekocht hatte. Dabei hätte sie allen Grund gehabt, stolz auf mich zu sein, denn bevor ich aufhörte, dazuzugehören, eine von euch zu sein, war ich vor allem eins: vielversprechend. Eine ausgezeichnete Schülerin. Auf dem Weg von der Schule nach Hause ging ich im Kopf meistens meine Hausaufgaben durch. Wenn niemand in der Nähe war, summte ich dabei vor mich hin. Habt ihr mich vor Augen? Ein bildhübsches Ding mit guten Manieren und einem gesunden Selbstbewusstsein. Ich gehe davon aus, dass meine Mutter tatsächlich Stolz empfand, wenn sie mir – in zusammengesunkener Haltung gegen die Arbeitsplatte der Küche gelehnt – beim Herumstochern zusah. Wie ich heute weiß, litt sie an einer chronischen Anämie, daher die Müdigkeit. Sie war also blutarm, und so sah sie auch aus: eine feingliedrige, selbst im Hochsommer blasse Frau, geradezu durchscheinend.

Aus dramaturgischer Sicht ist es vermutlich zu früh, jetzt schon davon anzufangen, aber ich kann dir versichern: Am Tag, als sie starb, hat sie dennoch geblutet wie ein Schwein. Obwohl es natürlich unmöglich war, Vatis und ihr Blut voneinander zu unterscheiden. Man konnte ja nicht mal mehr erkennen, wer wer war.

Genug davon.

Fürs Erste.

Ich will dich nicht desillusionieren. Denn womöglich gehörst du noch zu denjenigen, die Mord für eine ästhetische Inszenierung halten: ein Kinderfahrrad am Wegesrand, eine leblose Knabenhand im Schilf, sauber wie frisch gespültes Porzellan, die Fingernägel ordentlich geschnitten, ringsum Vogelgezwitscher. Eine glänzende Flut schwarzer Haare auf einem Bett aus Schnee, kunstvoll zum Fächer drapiert. Eine mandeläugige Schönheit im Brautkleid, die mit leerem Blick auf dem Wasser eines Sees dahintreibt, makellos wie eine Kirschblüte.

Dazu die passende Musik, Kylie Minogues sanftes Säuseln:

»They call me the white rose

But my name was Eliza Day.«

Murder Ballads von Nick Cave and The Bad Seeds, ein Begriff? Solltest du dir anhören.

Ich könnte mir noch Hunderte solcher Bilder aus den Fingern saugen, eins schaurig-schöner als das andere, damit bestreite ich meinen Lebensunterhalt, und das nicht schlecht. Doch die Sache hat einen Haken. Leider sieht die Wirklichkeit anders aus, und ich habe das dringende Bedürfnis, diesmal nichts zu beschönigen.

Echte Verbrechen sind hässlich wie eine tote Ratte. Sie haben ein hässliches Motiv, hinterlassen hässliche Spuren und einen verdammt hässlichen Gestank, der dich verfolgen wird bis ans Ende deiner Tage. Wenn du (wie ich) jemals das Pech haben solltest, selbst in so eine Sache reingezogen zu werden, kann ich dir eines versprechen: Nichts wird jemals so werden wie früher. Du gehörst nie mehr ganz dazu, denn du hast was abgekriegt, einen Sprung in der Schüssel, wie die Leute sagen. Es ist nicht fair, aber dein Unglück fällt auf dich zurück, wird zum Makel und macht es jedem unmöglich, dich von ganzem Herzen zu lieben.

Jeder Tag wird zur Nacht. Jede Nacht zum Feind. Und niemals, wirklich niemals, säuselt im Hintergrund Kylie Minogue.

Giftwind

Die Hitze hat Biss. Wie jedes Mal, wenn sie ein Flughafengebäude verlässt, begierig etwas Neues kennenzulernen, atmet Noa tief durch. Ihr erster Gedanke: Wüste! Dabei ist es noch keine zehn Uhr. Spätestens mittags wird die Luft glühen, dann hilft nur noch ein Bad im Mittelmeer. Darauf freut sie sich am meisten. Was ihr vorschwebt: glasklares Wasser in einer Felsenbucht, Aquamarinblau, ein Schimmer von Türkis. Der Strand feinsandig und natürlich privat – ein Hochglanzidyll, nur besser, weil echt. Ja, sie ist verwöhnt. Ein neues, aufregendes Lebensgefühl.

Um den durchaus greifbaren Traum wahr werden zu lassen, müssen sie allerdings der Vorhölle des Ankunftsbereichs entkommen. Ringsum Ströme von Reisenden und Fahrzeugen: Privatwagen, Taxis, Busse. Es wird gedrängelt und gehupt, als ginge es um Leben und Tod, die Autos parken in zweiter und dritter Reihe, blockieren teilweise rettungslos verkeilt den nachfolgenden Verkehr, während ein Polizist mit Trillerpfeife sich redlich bemüht, für Ordnung zu sorgen. Noa ist fasziniert, aber nicht überrascht, solche Zustände kennt sie, neuerdings weitgereist, von Rom und Barcelona. Im Süden ticken die Leute anders. Wie das Wetter.

Ob Audrey diesmal mit ihr schwimmen geht? Eher nein. Noa sieht zur Seite. Entgegen ihrer Absicht, die Schwester die ganze Zeit im Blick zu behalten, ist sie ihrer Neugier und der Versuchung erlegen, sich einfach treiben zu lassen. Nun sind sie getrennt worden. Nachdem sie sich mehrmals um die eigene Achse gedreht hat, beschließt sie den Parkplatz der Mietwagenfirma allein ausfindig zu machen. Sie ist ein großes Mädchen.

Während sie ihren Rollkoffer durch Horden verschwitzter Pauschaltouristen manövriert, von denen zwar nicht alle, aber erschreckend viele so früh am Tag bereits Dosenbier konsumieren, überlegt Noa, warum ihre Schwester ausgerechnet für einen Wochenendtrip nach Mallorca den eigenen Prinzipien untreu wurde. Denn Audrey hasst Inseln. So gern sie auch um die Welt fliegt, solange es irgend möglich ist, steigt sie überall nur auf dem Festland ab. Von der bevorstehenden Geburtstagsparty am Abend – Anlass der Stippvisite auf den Balearen – muss sie sich einiges versprechen. Aber was? Noa hat probiert, Audrey zu löchern. Bislang vergeblich.

Über einen Seiteneingang erreicht sie das Parkhaus und sucht nach den Stellplätzen des richtigen Anbieters. Die Beschilderung ist nicht besonders hilfreich. Von draußen treibt ein heißer Wind die Abgase durch die Reihen, ein süßlicher Gestank. Es herrscht Hochbetrieb. Das Quietschen der Reifen auf glattem Beton, das Aufheulen, wenn jemand den Motor startet und im Leerlauf aufs Gaspedal tritt. Manche Fahrer lassen es sich sogar hier drinnen nicht nehmen, dauerhaft die Hupe zu betätigen. Der Lärm hallt von den Wänden wider, multipliziert mit seinem eigenen Echo.

Wo steckt bloß Audrey? Allmählich wird Noa doch etwas nervös, was mit Sicherheit auch an der Wärme liegt. Ihr wird schwindelig davon. Sie wünschte, sie hätte vorhin am Mietwagenschalter besser aufgepasst, als die Formalitäten erledigt wurden. Dann wüsste sie vielleicht noch die Nummer des Stellplatzes.

Als sie Audrey endlich entdeckt – neben dem geöffneten Kofferraum eines mintfarbenen Cabrios – ist die Schwester sogar noch aufgelöster als Noa selbst. Sie fallen sich in die Arme.

»Wo warst du denn bloß?«

»Wo warst du? Erst warst du doch hinter mir und dann plötzlich weg.«

»Ich musste noch ein Buch signieren, stell dir vor. Irgend so eine alte Schachtel hat sich an mich geheftet und ließ sich nicht abschütteln.«

»Tja, du bist eben eine Berühmtheit.«

»Übertreib nicht gleich.«

Von Übertreibung kann keine Rede sein. Audreys Thriller stehen seit einiger Zeit auf den Bestsellerlisten. Einer wurde bereits sehr erfolgreich verfilmt, weshalb Audrey ziemlich oft fürs Fernsehen interviewt wurde, seitdem kennt sie fast jeder, was einerseits cool ist, aber auch Nachteile hat. Dauernd wird sie von Fremden angequatscht: im Supermarkt, im Restaurant, beim Joggen an der Elbe. Sicher, die meisten Leute sind nett und höflich, manche legen jedoch eine Distanzlosigkeit an den Tag, die geradezu unheimlich ist. Für gewöhnlich steckt Audrey solche Störungen mit arroganter Lässigkeit weg.

Heute hingegen ist sie ziemlich von der Rolle, wie sich wenig später zeigt, als sie schon im Wagen sitzen, im Begriff, das Parkhaus zu verlassen: Audrey schiebt die Karte in den Schlitz – doch anstatt zügig Gas zu geben, sobald die Schranke sich hebt, zieht sie die Handbremse, lässt die Stirn auf das Lenkrad sinken und gibt ein seltsames Stöhnen von sich, eine Mischung aus Schluchzen und Wutschrei. Noa ist eher verwirrt als erschrocken.

»Was ist los?«

Hinter ihnen Hupkonzert. War ja klar.

»Audrey? Du musst fahren.« Behutsam legt sie ihrer Schwester eine Hand auf die Schulter.

Audrey hebt den Kopf und schüttelt sie ab. »Ich muss überhaupt nichts«, sagt sie und drückt einen Knopf auf dem Armaturenbrett, worauf die Klimaanlage sich fauchend einschaltet und einen zornigen Strom Kaltluft in ihre Gesichter bläst.

»Audrey!«

»Nix Audrey. Es geht einfach nicht, dass wir uns so aus den Augen verlieren. Du bist noch keine achtzehn. Vergiss das nicht.«

»Ist doch nichts passiert.«

»Es hätte aber sonst was passieren können.«

»Und was bitte soll das sein: sonst was?«

»Das willst du nicht wissen, Noa, das schwör ich dir.«

Noa starrt ihre Schwester entgeistert an. Manchmal sagt sie Sachen, die einem Schauer über den Rücken jagen, einfach so aus dem Nichts heraus. Es könnte mit ihrer Arbeit zusammenhängen, den düsteren Büchern. Kopfschüttelnd wendet Noa sich ab.

Die Schranke ragt immer noch steil nach oben, ein rot-weiß gestreifter Fels in der Brandung. Leider sind die Autofahrer, die ihretwegen warten müssen, weit weniger geduldig. Im Seitenspiegel beobachtet Noa, wie drei Fahrzeuge hinter ihnen ein massiger Typ aus einem Pick-up steigt und mit entschlossenen Schritten in ihre Richtung marschiert. Glücklicherweise entdeckt Audrey ihn ebenfalls und tut das einzig Richtige, indem sie einen Gang reinwürgt und endlich losfährt.

Fünf Minuten später Harmonie pur. Sie haben die Sonnenbrillen aufgesetzt, lassen die Haare im Fahrtwind wehen, zusammen mit dem Eishauch der Klimaanlage ergibt sich ein angenehmer Mix, der die Gemüter kühlt. Sie hören Musik, Dark Side of the Moon, ein legendäres Album von Pink Floyd. Audrey steht auf altes Zeug und Noa lässt sich gern mitreißen. Sie ist froh, dass die Stimmung gerettet ist.

Das Mittelmeer wartet. In Gedanken geht sie ihre Bikinis durch: den bunten, den schwarzen mit Perlen, den braunen, der so komisch golden changiert. Obwohl sie nur bis morgen Abend hier sein werden, hat sie vorsichtshalber eine Auswahl in den Koffer gesteckt. In den großen Ferien hat sie zu wenig Sonne abbekommen. Erst das schlechte Wetter, dann Liebeskummer, der Sommer vergeudet. Mit ihrer Figur steht es auch nicht zum Besten, wenn sie ehrlich ist. Zu wenig Busen, definitiv. Egal, besser als fett.

»Mallorca ist ziemlich groß«, sagt Audrey unvermittelt. »Für eine Insel.«

»Kann sein.«

»Ich finde, es fühlt sich überhaupt nicht an, als würde man sich auf einer Insel befinden.«

Um ihrer Schwester einen Gefallen zu tun, stimmt Noa zu.

Audrey ist noch nicht fertig mit der Selbstbeschwörung: »Der Verkehr, die breiten Straßen. Alles völlig normal. Da vorn kommt ein richtiges Autobahnkreuz. Siehst du?«

Noa nickt, wenngleich sie nicht weiß, warum das ein Argument dafür sein soll, einer Insel den Inselcharakter abzusprechen. Solange es Audrey hilft, sich wohlzufühlen – bitte.

»Da vorn müssen wir, glaube ich, rechts ab Richtung Andratx«, sagt sie.

Doch wie gewöhnlich hört Audrey nicht auf sie, sondern steuert stur geradeaus.

Dann eben Palma. Rechts erhebt sich eine Kathedrale aus hellem Sandstein, die unzähligen Türmchen wie riesige Buntstifte, die jemand aneinandergeklebt hat. Links der Hafen mit Kreuzfahrtschiffen an einer Pier. Fast wie zu Hause.

Zu guter Letzt landen sie in einer Bar etwas außerhalb der Stadt, direkt an einer belebten Strandpromenade. Kein Zufall, wie sich zeigt, drinnen werden sie bereits erwartet. Julian, Gastgeber der ominösen Geburtstagsparty am Abend, empfängt sie mit großem Hallo. Soweit Noa weiß, ist er ein alter Freund Audreys, aber da er überwiegend auf Mallorca lebt, kennt sie ihn nur flüchtig. Von den Leuten, die mit ihm am Tisch sitzen, hat sie nur eine der ausnahmslos attraktiven Frauen zuvor schon einmal gesehen, und zwar auf einer Buchpremiere. Der Name ist ihr entfallen.

Peinlich, so etwas passiert ihr ständig in Audreys Kreisen, wohingegen ihre Schwester sich etwas darauf einbildet, nie ein Gesicht zu vergessen. Was sie sogleich erneut unter Beweis stellt, indem sie mit der für sie so typischen, seltsam widersprüchlichen Mischung aus Distanziertheit und Wärme alle am Tisch einzeln begrüßt. Küsschen links, Küsschen rechts, ein paar persönliche Worte, um Interesse zu bekunden – und zu demonstrieren, wie sehr sie auf Zack ist: »Was macht deine neue Wohnung, schon fertig eingerichtet?« »Geht es deiner Mutter wieder besser?« »Ich habe gehört, die Finanzierung für deine Dokumentation über die Anden steht, Glückwunsch. Habt ihr schon einen Kameramann gefunden?« Audrey in ihrem Element. Noa nimmt schon mal Platz und bringt sich auf dem kissenlosen Designer-Stuhl aus transparentem Acrylglas in eine halbwegs bequeme Position. Das hier kann dauern. Obwohl ihre Schwester – abgesehen von Noa selbst natürlich – augenfällig die Jüngste in der Runde ist, dürften ihre beruflichen Erfolge schwer zu übertreffen sein, das schindet natürlich Eindruck. Audrey gibt es nicht gern zu, aber sie genießt Auftritte wie diesen, lässt sich gern feiern. Noa versteht das.

Während sie Café con Leche und frisch gepressten O-Saft trinkt und mit größtmöglicher Langsamkeit ein verboten süßes, köstliches Schokocroissant vertilgt, stellt sie sich vor, wie es sein wird, auf die nett gemeinte Frage, was sie denn so mache, nicht mehr sagen zu müssen: Ich gehe noch zur Schule.

Aber wie wird ihre Antwort dann lauten? Ich studiere Biologie und will unbedingt in die Forschung, Schwerpunkt Stammzellenkunde. Oder: Ich bin Kapitänsanwärterin und werde demnächst als erste Steuerfrau einen Bananenfrachter von Panama nach Hamburg steuern. Oder doch bloß: Ich absolviere gerade ein freiwilliges ökologisches Jahr, danach mal sehen. Es ist eine große und äußerst schwierige Entscheidung, die wie der Scheitelpunkt eines Achterbahnhügels mit nervenaufreibender Unerbittlichkeit näher rückt, und anders als ihre Schwester hat Noa zwar tausend Ideen und Interessen, aber keine richtige Berufung. Auf alle Fälle will sie nichts Künstlerisches machen, da würde es ihr nie gelingen, sich aus Audreys Schatten zu befreien.

Sie will nicht undankbar sein, aber manchmal ist Noa es leid, als Anhängsel ihrer Schwester betrachtet zu werden. Zum Beispiel jetzt gerade. Vielleicht hätte sie besser daheim bleiben sollen, mit ihren eigenen Freunden abhängen oder ausnahmsweise für die Matheklausur lernen, die nächste Woche ansteht. Andererseits: Die Aussicht auf dreißig Stunden Rückkehr in den Sommer war einfach zu verlockend. In Hamburg liegt der Herbst bereits auf der Lauer. Heute früh um fünf, als sie durch die schlafende Stadt raus zum Flughafen fuhren, waren es laut Temperaturanzeige im Taxi gerade mal sieben Grad.

Viel wärmer ist es in der Bar, in der sie die Zeit vergeuden allerdings auch nicht, denn das Gebäude ist stark klimatisiert. Sehnsüchtig blickt Noa durch das leicht getönte Fenster hinaus aufs Meer, das flach wie ein Spiegel in der gleißenden Sonne liegt.

»Und was hat dir die Laune verhagelt?«, wendet sich Julian überraschend an sie.

Audrey winkt ab. »Ach, lass sie, sie schmollt, weil sie am liebsten gleich zum Baden wollte.«

»Das kann ich allerdings verstehen. Bei der Hitze. Das Wetter ist ja nicht mehr normal für September. Drei Tote in der letzten Woche, stellt euch vor. Hitzschlag – und aus. Schlimm, schlimm.«

Audrey merkt auf. »Ist es hier sonst nicht so heiß um diese Jahreszeit?«

»Heiß schon, aber die Luft ist anders.«

»Inwiefern?«

Noa registriert, wie Audrey sich innerlich Notizen macht. Wann immer irgendwelche Leute unerwartet aus dem Leben gerissen werden, wittert sie Inspiration, einen möglichen Ausgangspunkt für einen neuen, brutalen Roman.

»Der Wind weht von der Sahara rüber und lässt die Luftfeuchtigkeit in null Komma nichts dramatisch sinken. Sie haben es in den Abendnachrichten sogar als Aufmacher gesendet, es handelt sich um die Ausläufer eines gewaltigen Sandsturms.«

Also hatte Noa am Flughafen den richtigen Riecher. In gewisser Weise sind sie tatsächlich in der Wüste gelandet. »Das wusste ich gleich«, entfährt es ihr.

»Aha. Du bist ja ein schlaues, kleines Ding. Weißt du denn auch, dass die Araber dazu Samum sagen, was so viel bedeutet wie Giftwind?«

Noa schüttelt den Kopf

»Giftwind«, wiederholt Audrey fasziniert, und Noa stellt sich vor, wie sie das Wort in ihrem imaginären Notizblock rot umkringelt. Früher oder später wird es irgendwo auftauchen, da geht sie jede Wette ein. Um den Beweis anzutreten, müsste sie allerdings anfangen, Audreys Bücher zu lesen. Warum eigentlich nicht? Alt genug ist sie ja inzwischen.

»Der Samum hat natürlich, wie alle bösen Jungs, auch seine Qualitäten, liebste Audrey«, hält Julian das Gespräch am Laufen.

»Als da wären?«

»Er verdreht allen den Kopf und heizt das Blut auf. Genau das Richtige, um sich zu verlieben. Und der perfekte Kandidat steht schon in den Startlöchern. Wir haben heute Morgen noch telefoniert. Er freut sich.«

Audrey und Julian tauschen vielsagende Blicke aus, während bei Noa in Zeitlupe der Groschen fällt. Darum geht es also, deshalb die ungewöhnliche Reise. Audrey soll auf Mallorca verkuppelt werden. Das allein ist nichts Besonderes, das haben schon ganz andere versucht. Ungewöhnlich ist Audreys unverhohlene Bereitschaft, sich diesmal darauf einzulassen. Noa rätselt, was es damit auf sich hat.

Im Meer, endlich. Noa hat diesen Moment so herbeigesehnt, dass es sie nicht stört, ihn allein genießen zu müssen, da Audrey sich erwartungsgemäß ums Schwimmen drückt. Soll sie. Wenn sie ehrlich ist, kann Noa die Ruhe gut brauchen, nach dem ganzen Geschwätz in der Bar. Nur sie und das leise Zischeln der Wellen auf Kies. Eine private Bucht, genau wie erhofft. Ausschließlich die Bewohner der sandsteinfarbenen Villen, die sich architektonisch mehr oder weniger gelungen an die bewaldeten Felshänge schmiegen, dürfen an diesem exklusiven Fleckchen Erde ins Wasser gehen.

Das Mittelmeer zeigt sich in seinen schönsten Farben, genau so, wie Noa es sich vorgestellt hat, dabei allerdings beinahe ein bisschen zu warm, beinahe Badewannentemperatur, weshalb sie entgegen ihrer Gewohnheit kein Kraultraining absolviert, sondern sich faul auf dem Rücken treiben lässt und über ihre berühmte Schwester nachgrübelt.

Audrey und die Männer. Solange Noa denken kann, ist sie nie eine längere Beziehung eingegangen. Ausgehen ja, ab und zu bleibt auch mal ein Typ über Nacht, doch das war es dann. Sie ist jung, hübsch und hat einen faszinierenden Beruf, an Verehrern herrscht demzufolge kein Mangel. Bislang schien sie einfach nie bereit, sich ernsthaft auf jemanden einzulassen, was sicher auch daran liegt, dass sie allein die Verantwortung für ihre kleine Schwester zu tragen hat. Audrey will ihre Sache als Mutter- und Vaterersatz unbedingt gut machen, das weiß Noa, und sie findet, es gelingt ihr hervorragend. Wer sonst hat mit siebzehn schon das Glück, ein so freies Leben zu führen – und sich dennoch aufrichtig geliebt zu wissen? In ihrem Freundeskreis jedenfalls niemand.

Sie haben nie darüber gesprochen, aber Noa ist stets davon ausgegangen, dass Audrey die Männer auch weiterhin auf Distanz halten würde, und zwar so lange, bis sie selbst alt genug ist, um auf eigenen Beinen zu stehen. Die Vorstellung, sich ausgerechnet jetzt, in der Vorbereitungsphase fürs Abi, auf neue Verhältnisse einstellen zu müssen, behagt ihr nicht.

Noa dreht sich auf den Bauch und schwimmt einige kraftvolle Züge Richtung offenes Meer. So weit draußen sind die Wellen höher und der Wüstenwind peitscht ihr mit atemberaubendem Schneid ins Gesicht. Noa bietet den Elementen die Stirn. Wenn Audrey sie so zu sehen bekäme. Dass Noa ausgerechnet im Wasser derart tollkühn agiert, ist ihr, der Nichtschwimmerin aus Überzeugung, nicht geheuer, obwohl sie in anderen Lebenslagen für gewöhnlich die Mutigere von ihnen beiden ist. Sie sind eben sehr verschieden. Vielleicht ergänzen sie sich deshalb so wunderbar – und das soll bitte auch so bleiben. Never change a winning team. Nur die Ruhe, ermahnt sich Noa in Gedanken. Noch ist ja überhaupt nichts passiert.

Um mehr über den geplanten Verkuppelungsversuch herauszufinden, lässt sie sich nach dem Baden auf einer Liege am Pool nieder, wo Audrey und eine Handvoll weitere Frauen aus der Bar-Clique eine XXL-Flasche Champagner in Angriff genommen haben. Im Vergleich zu ihnen kommt sich Noa in ihrem kindlich bunten Bikini ohne Push-up-Einlagen wie ein kleines Mädchen vor.

Unterdessen laufen im Hintergrund die Vorbereitungen für die Party am Abend: Ein DJ baut seine Anlage auf und testet diverse Mikrofone, indem er reihenweise seltsame Geräusche von sich gibt und damit in der Champagnerrunde für Heiterkeit sorgt. Audrey, nebenbei mittels iPad mit ihrem Twitter-Account beschäftigt, wirkt gelöst. Eigentlich eine gute Gelegenheit, sie auszuhorchen. Noa gibt ihr Bestes, aber sie beißt auf Granit.

Was sie hingegen erfährt: Julian zelebriert keineswegs seinen Geburtstag, sondern den gesellschaftlichen Aufstieg zum Blaublüter. Nachdem er mit einem selbst erdachten Internetportal zum Millionär wurde, gelang es ihm anscheinend, irgendein abgebranntes Mitglied des deutschen Hochadels dazu zu überreden, ihn zu adoptieren. Darüber, wie viel Bargeld als Gegenleistung geflossen sein mag, können seine Freundinnen nur spekulieren. Man geht von einem sechsstelligen Betrag aus.

»Warum macht er denn so was?«, fragt Noa irritiert.

Audrey zuckt mit den Schultern. »Um seinen leiblichen Vater zu ärgern, nehme ich an.«

»Dafür blättert er mehr als hunderttausend Euro hin? Wie krank ist das denn bitte?«

»Ich kann ihn verstehen. Der Alte hat ihm übel zugesetzt, als sie noch miteinander gesprochen haben. Und danach irgendwie auch.«

»Und wenn schon, er ist sein Vater.«

»Ja und?«

»Na, ich wäre froh, wenn ich noch einen Vater hätte.«

Noa bereut die Bemerkung sofort. Audrey könnte sie falsch verstehen, als Kritik an ihren Qualitäten als Erziehungsberechtigte. Tatsächlich zieht die Schwester eine säuerliche Grimasse und teilt kräftig aus: »Du kannst dir doch gar nichts darunter vorstellen. Wie das so ist mit Vater. Mit unserem Vater.«

»Deswegen ja. Manchmal denke ich darüber nach, was er oder unsere Mutter von mir halten würden. Ob sie stolz auf mich wären.«

»Dich fänden sie super, glaub mir«, sagt Audrey und prostet ihr mit dem Champagnerkelch zu. »Was mich angeht, habe ich da so meine Zweifel.«

Noas Neugier ist geweckt, die der anderen leider auch, woraufhin Audrey sich beeilt, die Unterhaltung wieder in leichtere Bahnen zu lenken. So geht das jedes Mal, sobald sie zufällig auf ihre Eltern zu sprechen kommen, auch wenn sie ungestört sind. Bis zu einem gewissen Grad hat Noa Verständnis. Ihr Tod war ein traumatisches Erlebnis für Audrey: der Unfall, das Feuer, der Verlust. Das Schicksal, überlebt zu haben. Die Schuldgefühle deshalb. Audreys Weg, mit all dem fertig zu werden, ist Schweigen, was es für Noa nicht einfacher macht.

Was weiß sie denn schon über ihre Familie? Es ist auch ihre Vergangenheit, nicht bloß Audreys. Nur weil sie erst drei Jahre alt war, als ihre Eltern verunglückten, zu jung für eigene Erinnerungen, ist sie außen vor. Nicht mal ein Fotoalbum besitzt sie, denn kurz nachdem ihre Eltern starben, brannte auch noch ihr Haus nieder – eine absurde Pechsträhne. Ihre Mutter und ihr Vater ausgelöscht. Als hätte es diese zwei Menschen nie gegeben. Kein Wunder, dass in Noas Kopf längst alles zu einem riesigen, schwarzen Fragezeichen verklumpt ist. Eine Art Monument.

»Trink doch mal einen Schluck, Schätzchen«, fordert Audrey sie auf, schenkt ein Glas Champagner ein und hält es ihr hin. »Dann kommst du auf andere Gedanken. Wir sind hier, um uns zu amüsieren.«

Alkohol als Ablenkung, als Muntermacher, als Seelentröster – solange man nicht übertreibt, funktioniert das durchaus, das weiß Noa aus Erfahrung. Sie war dreizehn, als sie ihren ersten schweren Rausch durchlebte, danach las Audrey ihr die Leviten, erlaubte jedoch fortan, dass sie zum Essen Weinschorle trank oder sich im Restaurant einen Cocktail bestellte.

Sie führt das Glas zum Mund. Die Champagnerbläschen steigen in geraden Linien auf, kitzeln auf der Lippe. »Auf dich, Audrey«, sagt sie, trinkt schnell und viel und wartet auf die gewünschte Wirkung.

Sie wird belohnt. Das schwarze Fragezeichen verblasst und schrumpft vor sich hin, bis es in einem Strudel aus Leichtigkeit davontreibt. Irgendwann wird es wieder auftauchen, das weiß Noa. Hoffentlich nicht so bald.

Am frühen Abend bekommt Noa Kopfschmerzen und ihre Lust, an der Party teilzunehmen, tendiert gen null. Durch das geöffnete Fenster kann sie hören, dass es losgeht. Sie ist in einem Gästezimmer unterm Dach der Villa untergebracht, wo sie sich, noch immer im Bikini, auf dem Bett fläzt und abwechselnd die plüschige Einrichtung und die Decke anstarrt, die allen Ernstes mit einem Gemälde versehen ist: zwei Händchen haltende Putten, fürchterlicher Kitsch. Reichtum schützt leider nicht vor schlechtem Geschmack, eher im Gegenteil.

Noa seufzt. Ihre Haut ist heiß und brennt, vor allem an Rücken und Schultern. Sie hat vergessen, sich einzucremen. Als es klopft, bleibt sie liegen und gibt ein undefinierbares Brummen von sich.

»Sag nicht, du machst schlapp.« Audrey steckt den Kopf zur Tür herein, dezent in Parfümduft gehüllt. Sie ist toll geschminkt, Smokey-Eyes, die den Grünanteil ihrer Iris dramatisch unterstreichen.

»Hab ich schon«, gesteht Noa.

»Und die Party? Du bist ausdrücklich eingeladen. Julian mag dich sehr.«

Noa überlegt, lauscht eine Weile auf das Stimmengewirr und die Musik am Pool: Der DJ lässt es locker angehen, Trance und Soul passend zum Sonnenuntergang.

»Wenn ich ehrlich bin, sind mir alle etwas zu alt da unten. Für die bin ich doch bloß Frischfleisch.«

»Süße, ich weiß, was du meinst, aber falls es dich tröstet: Dieses Problem geht schneller vorbei, als dir lieb ist«, sagt Audrey mit einem Augenzwinkern und schließt die Tür.

Wieder allein fühlt Noa sich verloren, doch die Traurigkeit hält nicht lange genug vor, um ihren Entschluss infrage zu stellen. Sie hat keine Lust zu feiern, hier im Bett ist sie besser aufgehoben. Die Laken verströmen einen blumigen, aber nicht unangenehmen Weichspülergeruch, draußen ziehen rosafarbene Schönwetterwolken vorbei. Sie gähnt, die Partygeräusche dumpf in ihren Ohren, dann macht sie die Augen zu, und es dauert keine zwei Songs, bis sie einschlummert.

Sie wird wach, weil die Atmosphäre im Raum sich verändert hat. Es ist dunkel und heiß, dennoch fröstelt Noa, merkt, wie ihr Körper auf die widersprüchlichen Reize mit einer Gänsehaut reagiert. Als Nächstes nimmt sie eine Bewegung wahr, bekommt einen Riesenschreck, weil sie glaubt, dass noch jemand da ist und sie beobachtet. Sie ist auf den Giftwind hereingefallen, der theatralisch die Vorhänge aufbläht. Nachdem sie es kapiert und sich beruhigt hat, steht sie auf, geht zum Fenster.

Fledermäuse huschen durch die Nacht ganz nah an ihr vorbei. Unten am Pool wird exzentrisch getanzt, ein dunkler, aggressiver Beat hallt über die Bucht und bringt ihr Zwerchfell zum Vibrieren. Der DJ hat ein eigenes Schlagzeug aufgebaut und verleiht den avantgardistischen Elektronikklängen aus dem Computer mit seinen Soli eine noch härtere Note. Wie Wüstentrommeln, nur modern. Wegen der Fledermäuse und der manisch zuckenden Bewegungen der Tänzer wirkt das Szenario unheimlich und auch deshalb ziemlich cool.

Noa lehnt sich weit hinaus, um Ausschau nach ihrer Schwester zu halten, und entdeckt sie nur mit Mühe ein wenig abseits vom Getümmel neben der von heißen Böen gepeitschten Flamme einer Gartenfackel. Wie vorauszusehen war, hat sie einen Begleiter. Ein Typ im Anzug, zu klein, zu unscheinbar und, soweit Noa es auf die Entfernung erkennen kann, auch zu verlebt für sie. Vierzig mindestens. Sie plaudern mehr als angeregt, nahezu weltvergessen, die Köpfe dicht beieinander, die Körpersprache eindeutig zweideutig: zwei, die mehr voneinander wollen, sämtliche Hormone auf dem Sprung. Jetzt muss nur noch einer den Anfang machen. Lange kann es nicht mehr dauern.

»Das darf nicht wahr sein«, murmelt Noa. Wegen dem alten Kerl sind sie quer durch Europa geflogen? Der hat ja nicht mal mehr Haare.

Es hilft nichts, sie muss dringend auf die Toilette. Als sie ans Fenster zurückkehrt, haben Audrey und der Anzugheini sich verdrückt. Noa flucht. Sie hat es geahnt.

Jetzt hilft nur noch eine unangemeldete Stippvisite in Audreys Zimmer. Ihre nicht ganz perfekte, aber glaubwürdige Ausrede für den Fall der Fälle: Sie hat Durst und ist unsicher, ob das Leitungswasser hierzulande genießbar ist, und weiß, dass neben dem Bett der Schwester immer eine Literflasche Sprudelwasser bereit steht, und zwar nicht irgendein Wasser, sondern genau ihrer beider Marke. Da sind sie beide penibel.

Im Flur trifft Noa auf einen Besoffenen, der ihr mit dem Finger in den Bauchnabel bohrt und fragt: »Na, was bist du denn für eine?« Erschrocken und zugleich verärgert über die eigene Dummheit – warum hat sie versäumt, den Bikini aus- und etwas Vernünftiges anzuziehen? – stößt sie ihn weg.

In einer Sitzecke wird gekokst, das weiße Pulver auf einem Kosmetikspiegel ein stichhaltiger Beweis. Sie sieht so etwas nicht zum ersten Mal, denkt automatisch an Audreys Warnung, die Finger von Kokain zu lassen. Wenn sie sich die riesigen Pupillen der Leute so ansieht, die aufgeputschte Leere in ihren Gesichtern, hat sie kein Problem damit, ihrer Schwester diesen Gefallen zu tun.

Dann endlich steht sie vor der richtigen Tür. Noa legt ihr Ohr an das massive, weiß getünchte Holz. Es scheint zu schwitzen. Das ganze Haus seufzt und dürstet unter den Attacken des Samum. Drinnen geht es hoch her, das ist durch den Partykrach hindurch deutlich zu hören.

Noa zögert. Ihr schlechtes Gewissen meldet sich zwar verspätet zu Wort, dafür aber umso eindringlicher. Was zum Teufel hat sie hier zu suchen? Es steht ihr nicht zu, ihrer Schwester hinterherzuspionieren. Sie begreift nicht, was mit ihr los ist. Ihr Bauchgefühl verrät: Das Wochenende wird sich zum Desaster entwickeln.

Eine langhaarige Gestalt im Bademantel gleitet aus Audreys Zimmer, Noa erliegt der Versuchung und riskiert nun doch einen Blick hinein. Drinnen Schummerlicht. Sie sieht ein Doppelbett, auf dem sich drei Frauen und ein Mann splitternackt miteinander vergnügen. Weit und breit keine Audrey. Gott sei Dank. Allerdings ist noch ein weiterer, ein bekleideter Mann anwesend, er steht bloß rum und sieht zu, im Halbdunkel an die Wand gelehnt wie ein gelangweilter Bodyguard. Ein nicht sonderlich großer Bodyguard. Es könnte der Anzugkavalier sein. Die Tür fällt zu, bevor Noa sich sicher ist.

Auf dem Weg zurück in ihr Zimmer hat sie erneut Pech und begegnet demselben Besoffenen ein zweites Mal, und wieder stellt er ihr dieselbe Frage. Was sie denn für eine sei?

Als Noa sich später vorm Spiegel die Zähne putzt, ihr zweidimensionales Gegenüber unter der Röte kreidebleich und leicht schwankend, dämmert ihr, dass sie die Antwort im Prinzip nicht kennt.

Bis zum Morgengrauen liegt Noa hellwach auf ihrem Laken, alle Sinne in höchster Alarmbereitschaft. Der Weichspülerduft irritiert sie jetzt doch, und sie wünschte, der DJ würde Feierabend machen, vielleicht könnte sie dann das Meer hören, den beruhigenden Klang der Wellen, das beste Schlaflied, das es gibt. Stattdessen hämmert die Base-Drum des DJ ohne Unterlass, wahrscheinlich ist der Gute längst auf Speed. Was noch schlimmer ist: Obwohl sie das Fenster geschlossen und die Klimaanlage eingeschaltet hat, spürt Noa den Atem des Giftwindes auf ihrer gereizten Haut.

Samum. Könnte es nicht sein, dass der Wüstensturm tatsächlich einen gefährlichen Einfluss ausübt, dass er einen irgendwie um den Verstand bringt? Noa fährt sich mit der Zunge über die Lippen, fühlt Sand. Winzige Partikel nur, aber unverkennbar Sand. Samum. Der arabische Begriff flattert durch ihre Gedanken wie ein ganzer Fledermausschwarm, bis es Noa in ihrem Dämmerzustand vorkommt, als handele es sich um eine Zauberformel für schwarze Magie. Und Audreys glatzköpfige Pool-Bekanntschaft ist der dazugehörige Hexenmeister.

Fünfzehn Stunden später sitzt sie in Reihe eins eines proppevollen Airbus auf dem Weg von Palma nach Hamburg-Fuhlsbüttel und beklagt sich bei ihrer Schwester über den alptraumhaften Verlauf der Nacht. Statt Mitgefühl erntet sie Gelächter.

»Na, du hast ja eine blühende Fantasie. Deine Einschlafprobleme hängen wohl eher mit dem Champagner zusammen, den du nachmittags getrunken hast. Schwarze Magie, also echt. Vielleicht solltest künftig du die Bücher schreiben.«

Noa lächelt müde. »Verzichte. Was würde denn dann aus dir werden?«

»Ach, ich wüsste mich schon zu beschäftigen.«

»Und womit?«

Audrey nimmt den Kaffee entgegen, den die Flugbegleiterin ihr reicht, bittet um Milch.

»Zum Beispiel mit Arne.«

»Arne.« Noa ist geschockt, will es sich aber keinesfalls anmerken lassen und sagt so lässig wie möglich: »So heißt er also.«

»Ja, so heißt er.« Audrey rührt ihren Kaffee um und trinkt, während Noa aus dem Fenster schaut. Mittelmeer. Der Schatten ihres Fliegers ein winziger, schwarzer Punkt auf dem endlosen Blau. Was auch immer sich Audrey von diesem Wochenendtrip erträumt hat, anscheinend sind ihre Erwartungen mehr als erfüllt worden. Sonst hätte sie den Namen nie und nimmer ins Spiel gebracht.

»Ich habe euch beobachtet«, gesteht Noa.

»Das habe ich befürchtet.«

»Er sah überhaupt nicht aus, als wäre er dein Typ.«

»Aha. Wie hätte er denn deiner Meinung nach auszusehen – als mein Typ?«

Noa zuckt mit den Schultern. »Weiß nicht genau. Jünger jedenfalls. Interessanter. Mit mehr Haaren.«

»Das sind doch bloß Oberflächlichkeiten. Du kannst ihn doch nicht von vornherein für uninteressant halten, nur weil er nicht mehr ganz so viele Haare hat.«

Audrey hat recht, das ist Noa klar. Mit einem für sie ungewöhnlichen Maß an kalkulierter Gehässigkeit spielt sie ihren letzten Trumpf aus: »Das stimmt natürlich. Und wenn er wirklich ein Langweiler wäre, würde er sich sicher nicht daran ergötzen, wie andere Leute Gruppensex haben. In deinem Bett, nebenbei bemerkt.«

Audrey stellt die Plastiktasse auf das Tablett und macht ein Gesicht, als hätte gerade ein hochwichtiger Literaturkritiker eins ihrer Bücher in der Luft zerrissen. »Wie kommst du denn auf so was?«

»Ganz einfach. Ich hab ihn beobachtet.«

»Beim Gruppensex?«

»Nein. Er hat anderen dabei zugeschaut. Er ist ein Voyeur – oder wie das heißt.«

»Erzähl nicht so einen Mist. Wir waren den ganzen Abend zusammen. Und ich praktiziere keinen Gruppensex, versprochen. Abgesehen davon bist eindeutig du die Voyeurin, wenn du dir so was anschaust. Sagtest du nicht, du wolltest auf deinem Zimmer bleiben? Wirklich, Noa, das hätte ich nicht von dir erwartet. »

Dem Zucken ihrer Mundwinkel nach zu urteilen, ist Audrey nun aufrichtig erzürnt. Auch Noa gerät immer mehr in Rage, was nicht unbedingt typisch für sie ist.

Arne – Anzugheini, Glatzkopf, alter Sack –, etwas an diesem Kerl macht sie von vornherein nervös, und wenn es nur der Umstand ist, dass sie extra seinetwegen eine so weite Anreise auf sich genommen haben, noch dazu auf eine Insel!

Die Empörung saust und kribbelt in Noas Adern, dabei ist ihr die Irrationalität dieser Reaktion durchaus bewusst. Ihre Ablehnung ist mit Sicherheit übertrieben, wenn nicht sogar ungerecht. Sie weiß ja nicht mal, wie der Kerl bei Tageslicht aussieht. Noa mahnt sich zur Ruhe, isst ein pappiges Puten-Sandwich und schaut zu, wie unter ihnen der sonnenverwöhnte Teil Europas dahingleitet. Inzwischen haben sie das Festland erreicht, braune, trockene Felder, weiße Städte, Kirchtürme, spitz wie Eckzähne.

»Du hast doch sonst nicht solche Probleme damit, wenn ich mich mit Männern treffe«, nimmt schließlich Audrey den Faden wieder auf.

»Sonst ist es dir ja auch nicht so ernst.«

Schweigen. Noa kommt nicht umhin, das als Zustimmung zu werten.

»Was ist bei dem anders?«, fragt sie, um einen neutralen Tonfall bemüht.

»So ziemlich alles. Arne ist Architekt und ein Freund von Julian. Er hat mir seine Telefonnummer gegeben, weil ich im Rahmen der Recherche für eine Kurzgeschichte einige Fragen an ihn hatte. Fragen über Gebäude«, sagt sie, als würde das alles erklären.

»Und dann?«

»Dann haben wir angefangen, miteinander zu telefonieren. Erst wegen meiner Wissenslücken, dann wurde es immer privater. Er hat eine sensationelle Stimme, weißt du.«

»Dann hättet ihr vielleicht beim Telefonieren bleiben sollen.«

»Ach, Noa.«

»Aber das wolltet ihr natürlich nicht.«

»Ganz genau.«

»Seid ihr euch gestern zum ersten Mal richtig begegnet?«

Audrey nickt.

Die Frage, ob es gefunkt habe, spart sich Noa. Es ist offensichtlich. Audrey wirkt verändert, müde, aber auch auf eine neue Art glücklich. Sie hat ihre kurz geschnittenen Haare nicht wie sonst sorgfältig gestylt – was bei ihr bedeutet, dass das Glätteisen ausgiebig zum Einsatz kommt –, sondern trägt ihren schokobraunen Wuschelkopf so chaotisch, wie er von Natur aus wächst. Soll heißen: Sie sieht aus, als wäre sie so, wie sie ist, aus dem Bett gestiegen. Aus seinem Bett vermutlich, denn ihr Zimmer war ja anderweitig belegt.

»Mach dir keine Gedanken«, versichert Audrey. »Es kann schon sein, dass es ernst wird mit uns, aber nicht so bald. Wir wollen uns Zeit lassen. Ich habe ihm von dir erzählt, er weiß, wie ich lebe und dass meine Entscheidungen nicht nur mich allein betreffen. Abgesehen davon muss ich mich jetzt erst mal um mein neues Buch kümmern. Ich habe da so eine Idee im Kopf, die wird richtig Furore machen, das habe ich im Gespür. Und dann steht der Winter vor der Tür, das ist sowieso die falsche Zeit für Frühlingsgefühle.«

Noa würde ihrer Schwester gern glauben. Audrey ist ein Vernunftmensch. Jedenfalls behauptet sie das von sich, und bislang hatte Noa selten Grund, daran zu zweifeln. Aber in dieser Angelegenheit vertraut sie eher ihrem Bauchgefühl. Es flüstert ihr ein, dass alles ganz anders kommen wird.

Warum schreibt jemand ein Buch? Weil er es kann. Um das eigene Leben zu rechtfertigen. Um den Wahnsinn auf Distanz zu halten, ihn dorthin zu verbannen, wo er keinen Schaden anrichten kann. Papier ist geduldig. Menschen sind zerbrechlich. Es gibt noch andere Gründe, aber das sind die drei wichtigsten, und sie treffen absolut auf mich zu.

Na, wirst du schon kribbelig?

Willst du, dass es endlich richtig losgeht?

Nur mit der Ruhe.

Stell dir als Nächstes einen Laserstrahl vor, sein kaltes Leuchten zum Himmel gewandt. Ein grünes Florett, das die Nacht abtastet, von seinen Erfindern, emsigen Troposphärenforschern, Polly getauft. Polly ist auf der Suche nach Staub aus der Ferne, Wüstenstaub zum Beispiel, ihre Laserimpulse werden von den winzigen Schwebeteilchen reflektiert – daher die Fluoreszenz, das grüne Licht. Polly leuchtet wie wild in diesen Tagen. Denn die Sahara streckt ihre Fühler weit nach Norden aus. Das kann man, sobald es hell wird, auch mit bloßem Auge erkennen: eine dicke Schicht rötlicher Schmutz hat sich auf den Autodächern abgelagert, und der Himmel trägt ein milchiges Gewand, das die Sonne verhüllt, später am Tag sieht es dann plötzlich nach Gewitter aus. Wie ein Staubsauger hat ein Tiefdruckgebiet den ganzen Mist vom Mittelmeer her angesaugt, versprengte Überbleibsel des Wüstensturms Samum, den die Beduinen und Pollys Betreiber gleichermaßen für gefährlich halten.

Was die Forscher glauben: Die Staubpartikel beeinflussen die Strahlung der Sonne, den Wasserkreislauf und die Chemie der Atmosphäre, können Bakterien transportieren, die Atemluft verpesten.

Die Beduinen glauben im Grunde dasselbe, aber sie machen Dämonen dafür verantwortlich, böse Geister.

Meine Meinung lautet: Wer für solche Dinge nicht empfänglich ist, denkt sich nichts dabei und fährt seinen Wagen durch die Waschanlage. Jedoch all die anderen, die Sensiblen, die Wetterfühligen, diejenigen, die ahnen, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als die Wissenschaft mit ihren komplizierten Gerätschaften und all den klugen Köpfen rund um den Globus auszuspionieren und zu erklären vermag, spüren, dass das Gift in der Luft etwas in Gang bringt.

Etwas Böses.

Unaufhaltsam wie eine chemische Reaktion.

Die Furchtsamen dürfen sich jetzt noch tiefer in das Labyrinth ihrer Ängste hineinbegeben.

Und ihr Gehässigen: Lasst euren schlimmen Gedanken freien Lauf. Worte zu Taten. Zeit für die Lämmer, sich in die Werwölfe und Vampire zu verwandeln, die ihr insgeheim immer schon sein wolltet, denn das hier ist wüster als Vollmond.