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Ein toter Musterschüler, eine Clique mit krimineller Vergangenheit und eine Schulleiterin mit eigener Agenda
Arthur Otto Falkenberg ist tot. Tot liegt er auf dem Schulhof unter einer Decke, damit man das Blut nicht sieht.
Während die Polizei von einem Selbstmord ausgeht, werden Cassidy und ihre Clique von der Schulleiterin gebeten, sich um die anderen Schüler zu kümmern und die Ohren offen zu halten, um einen Skandal an ihrer Schule zu vermeiden. Doch bald häufen sich die Hinweise, dass mehr hinter Arthurs Tod steckt. Wie passen Drogenkäufe in das Image des Musterschülers? Wie viele Tränen der Schüler sind eigentlich Freudentränen? Während Cassidy selbst die Ermittlungen aufnimmt, geraten sie und ihre Clique ins Visier der Polizei. Denn eine von ihnen kannte den Toten besser, als sie zugibt.
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Seitenzahl: 332
Veröffentlichungsjahr: 2025
Titelei
Tag 1
Morgens
Vormittags
Nachmittags
Abends
Spätabends
Tag 2
Frühmorgens
Vormittags
Mittags
Nachmittags
Abends
Spätabends
Tag 3
Nachts
Vormittags
Nachmittags
Abends
Tag 4
Morgens
Mittags
Nachmittags
Abends
Nachts
Tag 5
Vormittags
Mittags
Nachmittags
Spätabends
Tag 6
Vormittags
Nachmittags
Abends
Spätabends
Tag 7
Morgens
Elf Tage später
Abends
Vita
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Inhaltsverzeichnis
Titelseite
Impressum
Inhaltsbeginn
Alexandra Kui
Was hast du nur getan?
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1. Auflage 2025
Erstmals als cbt Taschenbuch März 2025
© 2025 cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag in der
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich
Pflichtinformationen nach GPSR)
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Suse Kopp, Hamburg
Umschlagmotive: Istockphoto (RaZZeRs), Arcangel (Donatella Loi), Stocksy (María Soledad Kubat Argentina)
FK · Herstellung: DiMo
Satz: 3w+p GmbH, Rimpar
ISBN 978-3-641-30969-5
www.cbj-verlag.de
Auf dem Schulhof liegt Arthur Otto Falkenberg, Sportidol, Mathegenie, Liebling der Massen, weil schönster Abiturient aller Zeiten – und ist tot.
Der Hausmeister hat eine Decke über ihn geworfen, damit wir das Blut nicht sehen. Aber wir wissen, dass es da ist.
Die Kleinen gehen zuerst in die Pause, die haben ihn gefunden und zeigen mit den Armen das Ausmaß der Sauerei auf dem Pflaster, sie malen riesige Kreise in die Luft und der Rotzigste von ihnen, er kommt aus unserem Block, kreischt immer wieder »der Kopf ist Matsch«, bis ich, Cassidy König, genannt Queen, die Erste und Einzige, rübergehe und ihm die Hand auf die Schulter lege, das bringt ihn zum Schweigen.
»Klappe halten und atmen«, flüstere ich in sein Ohr. »Nicht hinsehen.«
»Ich hab keine Angst«, sagt er trotzig und schnappt nach Luft.
»Gut«, sage ich. »Dann hör auf rumzukreischen. Okay?«
Pause.
»Okay.«
Meine Mädels kommen dazu, wir sind geschockt, aber stark, weil wir zusammenstehen, und zwar immer.
Wir sind die Kobra, einst härteste Gang der Stadt, neuerdings Engel der Unterdrückten und Geschundenen, wobei das eine das andere ja nicht ausschließt. Wir haben schon viel gesehen.
Ganz still harren wir aus.
Laut sind die anderen.
Alle glauben: Arthur ist vom Dach gefallen, denn jeder weiß doch, dass sich die Oberstufenschickeria da oben hinter den Bienenstöcken der Honig-AG ein kleines verbotenes Kifferparadies geschaffen hat. Zutritt nur für die Reichen und Schönen.
Viele weinen, ihr Schluchzen schreit im Chor zum Himmel, es ist herzzerreißend. Die Sonne kommt durch, sie lacht zurück, als wenn nichts wär.
Dann endlich übernimmt die Polizei. Sie treiben die Scharen auseinander und sperren alles mit Flatterband ab. Vier Streifenwagen für einen Toten. Ein Rettungswagen, wo nichts mehr zu retten ist. Die Sanitäter sehen ratlos aus, sie lungern rum und rauchen Kette. Ich wünschte, sie würden das Blaulicht abstellen. Zu viele Erinnerungen, alle mies.
Heute fällt die Schule aus.
Ich bin froh, dass kein Blut an meinen Händen klebt. Dass das Drama, das gespielt wird, nicht auf meiner Bühne für Furore sorgt.
Es kann immer noch ein guter Tag werden, wenn wir uns raushalten, und genau das werden wir tun.
Als die Menge sich auflöst, spüre ich Blicke, die sich hinterrücks in meinen Nacken bohren, für so was habe ich Antennen. Ich gucke, wer guckt.
Ganz in der Nähe steht das Kollegium tuschelnd beisammen. Ein Referendar, den Namen habe ich vergessen, starrt mich an, mich oder Mona, die neben mir geht. Sein Blick ist eindringlich und beunruhigend. Nicht, dass die uns was anhängen.
Die können uns nichts, keiner von denen.
Wir klatschen ab und gehen auseinander.
Ich will noch nicht nach Hause.
Der Schlag ist so stark, dass der Wikinger taumelt. Damit hat er nicht gerechnet. Der Ausdruck völliger Verblüffung in seinen blassblauen Augen ist witzig, aber mir ist gerade nicht zum Lachen zumute.
»Warst du das eben?«
»Ne, das war mein Schatten. Der ist manchmal etwas unberechenbar, sorry.«
Als er auf mich losgehen will, habe ich schon mein Messer im Anschlag, daraufhin zückt er seins und ich trete es ihm aus der Hand. Treffer. Den Trick habe ich lange vorm Spiegel geübt. Toll, dass er auch in der freien Wildbahn funktioniert.
Ich gehe auf Abstand.
Ab sofort tickt die Uhr zu meinen Gunsten. Das muss ich jetzt aushalten. Bloß nicht die Körperspannung verlieren, Augen geradeaus.
Tick, tack.
Der Wikinger starrt mich an.
Ich weiß genau, was er sieht: schwarze Mähne, rote Lippen, kurzer Rock – eine Tussi. Sogar die Nägel frisch gemacht: heute Koralle.
Ich kenne solche Typen, in ihrer Welt sind Frauen alles Mögliche, Freiwild, Statussymbole, Schlampen oder Heilige, aber sie stellen keine Bedrohung dar. Ziemlich gestrig, schon klar, irgendwie muss man sich den Spitznamen Wikinger ja auch verdienen. Bei meinem Gegenüber sind es die Mittelalter-Attitüde und die sehr roten Haare. Na ja, und die Tatsache, dass er ein ziemlich kräftig gebauter Hüne ist.
Die Sekunden verstreichen, türmen sich auf zu Minuten, die mich beschützen, eine Mauer aus Zeit. Irgendwann ist sie hoch genug und ich kann mich halbwegs entspannen, denn ich weiß, dass wir heute nicht kämpfen werden. Die Gefahr ist zwar nicht vorüber, aber gebannt.
Alle Zeichen stehen auf Reden.
Wer anfängt, hat schon verloren.
»Was willst du? Bist du lebensmüde?«, fragt der Wikinger schließlich.
Er wirkt ratlos.
»Ich nicht, aber du anscheinend.«
»Häh?«
Ich gebe zu, das ist aus seiner Sicht schwer zu verstehen. Schließlich bin ich diejenige, die ihm gerade aus dem Hinterhalt eine gezimmert hat – und das am helllichten Tag in seinem Revier, genauer gesagt im Stadtpark am Ententeich, da, wo die schicken neuen Bänke stehen.
Was für ein Trottel, denke ich. Eigentlich hätte er mich kommen sehen müssen, aber so was passiert Leuten, die permanent auf ihr Smartphone starren. Vor allem, wenn sie Feinde haben.
Ich komme zur Sache: »Das Kind, dem du vorgestern hinterm Schulhof Gras verkauft hast, war meine kleine Schwester. Sie geht in die dritte Klasse, du Arsch.«
Der Wikinger verzieht keine Miene. »Tatsächlich? Süß, die Kleine«, sagt er mit einem Schulterzucken. »Sieht ganz anders aus als du. Irgendwie hübscher.«
»Mach das nie wieder, klar? Finger weg von meiner Familie.«
»Sag das nicht mir, sondern deiner Mutter. Die hat sie doch geschickt.«
»Quatsch.«
»Nadja, stimmt’s? Drachen-Tattoo, fiese Narbe auf der Stirn, fettige Haare, Zungenpiercing. Das ist doch eure Mutter?«
Mir wird heiß vor Scham.
Der Wikinger wertet mein Schweigen zu Recht als Ja.
»Vielleicht solltet ihr besser mal reden, bevor du dich mit Leuten anlegst, die dir jederzeit das Hirn wegblasen könnten, wenn du nicht damit rechnest«, sagt er.
»Weißt du, das ist genau der Unterschied zwischen uns beiden. Ich rechne immer mit allem.«
Wie durch ein Wunder klingt meine Stimme tausendmal cooler, als ich mich fühle, während meine Gedanken Achterbahn fahren:
Was zur Hölle ist in meine Mutter gefahren?
Wieso eigentlich finden alle meine Schwester hübscher als mich? Nur weil sie blond ist?
Und hat der Kerl eben wirklich »Hirn wegblasen« gesagt?
Hat er! Definitiv.
Kann er das?
Nein, kann er nicht! Natürlich nicht.
Queen, bleib sachlich, denke ich. Also gut: Realistisch betrachtet ist der Wikinger keine große Nummer unter den dealenden Teenagern, die die Kleinstadt mit Dope versorgen – und ich möchte wetten, dass er nicht mal eine Schreckschusspistole besitzt. Er blufft, er ist bloß ein Schulabbrecher, der Pizza ausfährt und sich manchmal auf die eine oder andere krumme Art was dazuverdient. Apropos Kleinstadt: Die Betonung liegt auf der ersten Silbe. Wir befinden uns im Speckgürtel von Hamburg, also nah dran am Weltgeschehen, aber immer noch Provinz, hier werden abends die Gehsteige hochgeklappt. Kein heißes Pflaster weit und breit!
Trotzdem: Um auf Nummer sicher zu gehen, sollte ich jetzt dringend irgendetwas tun, das den Wikinger besser vor sich selbst dastehen lässt, als es gerade der Fall ist, sonst könnte er dauerhaft auf Rache sinnen und so was kann dir den ganzen Sommer verderben.
Soll der Blödmann doch sein Gesicht wahren, meinetwegen, das ist ja irgendwie auch so eine Art Menschenrecht.
Also stecke ich mein Messer wieder ein, hebe seins auf und gebe es ihm zurück.
»Das ist dir runtergefallen.«
Ich lächele.
Tick, tack.
Der Wikinger lächelt zurück.
»Guter Sidekick«, sagt er und hisst damit endgültig die weiße Fahne.
»Drei Jahre Kickboxen. Schwarzer Gürtel.«
Kickboxen stimmt, allerdings fehlt mir derzeit die Kohle fürs Training, die drei Jahre sind großzügig aufgerundet, schwarzer Gürtel ist gelogen.
»Respekt. Du bist die von der Kobra, oder? Ich wusste nicht, dass du zu Nadja gehörst. Frage: Hast du zufällig Lust, für mich zu arbeiten?«
»Antwort: Keine Chance. Ich habe höhere Ziele im Leben.«
Der Wikinger lacht schallend.
Es klingt erstaunlich nett und ist ein bisschen ansteckend wie eigentlich jedes ehrliche Lachen. Also lachen wir zusammen und das hebt die Dinge zwischen uns auf eine andere Ebene.
Er ist ein Außenseiter, nicht mehr, nicht weniger.
Ich weiß zufällig genau, wie sich das anfühlt.
»Wie heißt du eigentlich, Little Miss Schwarzer Gürtel?«, fragt er.
»Cassidy. Aber meine Freunde nennen mich Queen. Und du?«
»Elvis. Ich hab keine Freunde, nur Kunden.«
»Wie traurig.«
»Vor allem, wenn sie vom Dach fallen. Oder springen. Wie der Typ heute bei euch an der Schule. Ganz üble Sache. Hast du’s gesehen? Ist der wirklich tot?«
»Todsicher. Was sagst du da? Arthur war dein Kunde?«
»Ein sehr guter sogar. Dope, Tilidin und Koks.«
»Arthur Otto Falkenberg? Nicht dein Ernst! Der sollte doch nach Harvard.«
Elvis zuckt mit den Schultern.
»War er süchtig?«
»Was weiß ich? Bin ich Arzt? Jedenfalls hat er so viel konsumiert, dass er bei mir die goldene Bonuskarte bekommen hätte, wenn ich denn Bonuskarten vergeben würde. Ach, was rede ich da: Platin.«
Ich muss lachen. Klar, der Kerl ist ein Wichtigtuer, aber irgendetwas verrät mir, dass er die Wahrheit sagt. Arthur, ein Junkie? Noch eine Information, die ich erst mal verarbeiten muss – und eine mögliche Erklärung für seinen frühen Tod. Vielleicht doch kein Sturz, sondern Selbstmord? Könnte schon sein. Zu viel Konsum macht kirre. Und nein, das weiß ich nicht aus eigener Erfahrung. Was das betrifft, ist meine Weste weiß. Keine harten Sachen. Niemals. Armer Arthur.
Ich habe das Gefühl, mein Kopf platzt, während die Enten im Teich völlig ungerührt ihre Kreise ziehen wie immer. Sie quaken wie immer. Auf den Bänken sitzen alte Leute und junge Eltern wie immer, denn es ist Frühling und die Sonne hat bei uns im Norden endlich wieder was zu lachen, egal ob auf dem Schulhof Blut klebt oder Nadja mal wieder Mist baut. Die Welt ist eine Bitch, schrill angezogen und laut dreht sie sich einfach immer weiter, so ist es eben, so war es auch, als meine Oma starb.
Sie fehlt mir, sie wohnte gleich nebenan.
Kein Wunder, dass ich nie nach Hause will.
Ich schlendere durch die Gegend, bis mir langweilig wird. In praktisch jeder Straße treffe ich ein paar alte Bekannte und wir sagen uns kurz Hallo. Alle haben nur ein Thema: Arthur Otto Falkenberg.
Hast du ihn gesehen?
Wie sah er aus? Die Frage bekomme ich mehr als einmal zu hören, die Leute, die das wissen wollen, haben einen fiebrigen Glanz in den Augen wie Katzen auf Mäusejagd.
Tot sah er aus.
Wie sonst?
Die Sache mit Arthur, was auch immer dahintersteckt, ist nicht nur tragisch, sondern auch eine Nachricht mit Glamourfaktor. Das unterscheidet sein Sterben von anderen Todesstürzen, wie sie regelmäßig in unserem Viertel zu vermelden sind, wo so viele frustrierte Leute in schäbigen Hochhäusern versauern, dass es auf ein paar mehr oder weniger nicht ankommt. Arme Leute, versteht sich.
Arthurs Familie dagegen ist steinreich, Kapitäne zur See seit Generationen, sein Vater soll eine ganze Flotte von Tank- und Containerschiffen besitzen. Außerdem gehört den Falkenbergs das Hotel Deichgraf, der einzige 4-Sterne-Schuppen der Stadt, wenn ich richtig informiert bin. Und das bin ich eigentlich immer.
Da fällt mir ein: Mona, meine beste Freundin, hat in den letzten Sommerferien im Deichgraf an der Rezeption gejobbt, zu der Zeit war sie ziemlich in Arthur verknallt. Auch deshalb will ich unbedingt mit ihr reden, ich muss wissen, wie schwer das Ganze sie getroffen hat. Okay, er ist auch nur ein Typ und wir Mädels pochen auf unsere Unabhängigkeit. Aber Mo ist sensibel.
Ich zücke mein Handy und trommele die Kobra zusammen. »Queen, Süße, was geht?«, sagt eine nach der anderen, keine von uns ist schon heimgegangen, alle nutzen den schulfreien Tag, um sich irgendwo rumzutreiben. War ja klar. Wir können eben nicht aus unserer Haut. Wahrscheinlich sollte ich ein schlechtes Gewissen haben, weil mich das so freut.
Bei schönem Wetter treffen wir uns gern im Militärwald am Weißen Sand. So heißt unser Stadtstrand, er liegt versteckt in einer Lichtung am Fluss. Hier habe ich Schwimmen gelernt. Mit fünf. Und mit dreizehn zum ersten Mal am Lagerfeuer rumgeknutscht, ohne verliebt zu sein, weil ich wissen wollte, wie es sich anfühlt. Okay, aber auch nicht mehr.
Wir haben keine Decken dabei, also breiten wir unsere Hoodies und Mäntel aus. Im Hochsommer muss man hier genau wie im Freibad um die besten Plätze kämpfen, aber heute ist nichts los und wir können die Musik voll aufdrehen, unsere Lieblingssongs in Dauerschleife. Wir alle lieben »Girls like us«.
Ich ziehe meine Sneaker aus und vergrabe die Füße im Sand, der noch kühl ist – und sauber wie lange nicht, Regen und Schnee sei Dank.
Schon krass, wie sich die Natur freut, wenn sie mal ein paar Monate ihre Ruhe vor uns Menschen hat. Sorry, ihr Frösche, ihr Rehe, ihr Hasen und alle: Hier sind wir wieder. Unsere müden blassen Gesichter müssen auch mal an die frische Luft.
Es ist der erste richtig warme Tag im Jahr. Gestern Morgen habe ich auf dem Rad noch Schal und Mütze gebraucht. So ist es bei uns im Norden eigentlich immer: Der Winter geht erst, wenn der Frühling die Tür eintritt.
Wir fläzen uns hin und picknicken. Paddy hat einen Abstecher in den Supermarkt gemacht, um uns mit Proviant zu versorgen, nur Süßkram und Soda Pops – der reinste Kindergeburtstag. Hoffentlich sieht uns keiner, schließlich haben wir immer noch einen jämmerlichen Rest unseres schlechten Rufs zu verlieren.
In dem Zusammenhang sollte ich vielleicht kurz erklären, warum Paddy (eigentlich Patrick) als einziges männliches Wesen bei uns mitmacht. Ganz einfach: Am Anfang war Patrick noch Paula, zumindest tat er so, was ihm allerdings immer schlechter gelang, je mehr er aufhörte, ein Kind zu sein. Verständlich, dass er das ganze Theater irgendwann satthatte. Nur als Paddy ist Paula voll und ganz bei sich.
Wir anderen haben uns damals heimlich getroffen und das Problem lang und breit diskutiert. Ergebnis: Wir können ihn schlecht rausschmeißen, bloß weil er ein paar grundlegende Erkenntnisse über seine Identität gesammelt hat.
Zumal wir ja, wie gesagt, auch gerade einen Seitenwechsel hinter uns haben, von der Finsternis ins Licht, also was soll’s.
Die Zeiten ändern sich.
Reden wir über das, was heute passiert ist. Mona macht sich bereit.
»Wisst ihr noch, letztes Jahr, als ich den Job im Deichgraf hatte?«, fragt sie und schaut in die Runde.
Alle nicken. Betroffen. Vorsichtig. Und ein bisschen sensationsgeil.
»Da habe ich Arthur jeden Tag gesehen.«
Ihr Püppchengesicht glänzt, als sie beginnt, von Arthur zu schwärmen. Wie klug er war, wie lustig und überhaupt nicht eingebildet und wie toll sie miteinander reden konnten. Wie unfassbar es ist, dass er nicht mehr lebt.
Franka und Emilia, unsere nerdigen Zwillinge, komplett in Schwarz wie Ninjas, hängen an ihren Lippen, auch Imani und Paddy gehen voll mit. Nur Kaja ist mit den Gedanken schon wieder woanders, aber die hat ADHS und hört nachmittags, wenn die Wirkung ihrer Tabletten nachlässt, sowieso niemandem lange zu.
Ich trinke Cola und versuche, Mo ihren Auftritt zu gönnen, da es offenbar das ist, was sie jetzt braucht. Auf mich wirkt sie so, als müsse sie sich selbst von irgendetwas überzeugen. Das Problem bei der Sache: Ich finde es schräg, dass sie so tut, als hätte sie in den letzten großen Ferien tagein, tagaus mit Arthur abgehangen. Mir hat sie es damals nämlich ganz anders erzählt. Mein Stand der Dinge: Es war mehr so eine Schwärmerei auf Distanz, wobei er kaum Notiz von ihr nahm, ein typischer Upperclass-Snob, privilegiert und ichbezogen. Ich dachte, sie hätte spätestens im Herbst kapiert, dass es dumm war zu glauben, sie könnten je zusammen sein.
Vielleicht trägt sie deswegen so dick auf. Irgendwann bin ich durch Mo so genervt, dass ich am liebsten direkt weitertratschen würde, was ich von Elvis weiß, nur um Arthurs unmittelbar bevorstehender Heiligsprechung entgegenzuwirken. Doch Informationen dieser Art sind Gold, und das geben nur Idioten mit vollen Händen aus wie Pennys.
Gerade als mein Geduldsfaden ganz kurz vorm Reißen ist, genauer gesagt, ist es nicht mal mehr ein Faden, sondern nur noch eine mikroskopisch kleine Faser, klingelt mein Telefon: Frau Sturm, Schuldirektorin, Nervensäge, Geheimnisträgerin.
Perfektes Timing – wie immer, das muss man ihr lassen. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft sie schon verhindert hat, dass ich mich von meiner schlechtesten Seite zeige. Wie durch ein Wunder taucht sie jedes Mal im entscheidenden Moment auf oder ruft an oder schickt eine Nachricht. Es ist ein Phänomen.
»Hallo, Frau Sturm.«
»Hallo, Cassidy, wie geht es dir?«
Das fragt sie üblicherweise, obwohl sie ständig in Eile ist, und anders als andere Erwachsene, die nur vorgeben, höflich zu sein, bevor sie dich abkanzeln, ist Frau Sturm versessen auf ehrliche Antworten. Die sie aber von mir nicht bekommt, weil es ein absolutes No-Go ist, ausgerechnet einer Schuldirektorin das Herz auszuschütten – und das weiß sie auch. Sie versucht es trotzdem immer wieder.
»Danke gut«, sage ich. »Und selbst?«
Frau Sturm schnieft.
Weint sie?
Ich lausche. Ja, ich fürchte, sie weint, wahrscheinlich wegen Arthur. Warum auch sonst? Heute weinen alle wegen dem, bloß ich nicht. Im Gegenteil, mein Herz wird kalt, wenn ich an ihn denke.
»Moment, es geht gleich wieder«, schluchzt Frau Sturm. Eindeutig: Die Frau heult wie ein Schlosshund.
Wer sie jetzt für zart besaitet hält, irrt gewaltig. Sie ist knallhart und zwar auf die Art, dass sie es sich erlauben kann, Gefühle zu zeigen, wann immer es ihr passt, niemand würde es wagen, ihr einen Strick daraus zu drehen.
Ich bin peinlich berührt und ziehe mich ans Flussufer zurück, damit die anderen nichts mitbekommen, und zermartere mir das Hirn, was ich Tröstendes sagen könnte, aber mir fällt nur taktloses Zeug ein, so was wie: Machen Sie sich nichts draus, wir sind so viele Leute an der Schule, irgendwann schafft es bestimmt mal jemand von uns nach Harvard.
Ich bin heilfroh, als sie sich schließlich ohne meine Hilfe wieder fängt.
»Es geht um Arthur«, sagt sie knapp.
»Wir sind auch alle krass traurig«, beeile ich mich zu versichern, weil ich denke, es gehört sich so.
»Du wirkst ziemlich gefasst.«
»Sie kennen mich, Frau Sturm. Ich bin hart im Nehmen.«
»Mochtest du ihn nicht?«
Das trifft es nicht ganz, ich würde eher sagen: Ich bin gegenüber Leuten, die jeder toll findet, grundsätzlich misstrauisch. Nicht mehr und nicht weniger. Außerdem hat es mich letzten Sommer genervt, dass Mo so heftig auf ihn abfuhr.
»Gegenfrage: Ist das wichtig? Er hatte doch genug Fans«, erwidere ich.
»Es könnte nur wichtig werden, wenn die Polizei anfängt, an unserer Schule rumzuschnüffeln.«
Ach ja, die Polizei ist ja auch noch da. Die vier Streifenwagen waren wahrscheinlich nur die Vorhut. Als Nächstes kommt die Kripo. Die sollen mal schön den Ball flach halten.
»War es also kein Unfall? Was dann: Selbstmord?«, frage ich.
»Es sieht wohl alles danach aus. Jedenfalls werden sie kommen und Fragen stellen – und ich möchte nicht, dass ihr euch dann gleich wieder in Schwierigkeiten bringt. Du und deine Mitstreiterinnen. Ich brauche euch noch. Die Schule braucht euch. Also lasst euch nicht provozieren. Haltet euch bedeckt.«
Ich verspreche es ihr, während ich meinen Blick über unser improvisiertes Strandlager schweifen lasse. Kaja reißt gerade eine Tüte saure Pommes auf und stopft sich den Mund voll. Emilia flüstert ihr etwas ins Ohr, das sie zum Lachen bringt, woraufhin sie sich verschluckt. Die beiden albern rum, reißen die anderen mit, sogar Mona. War es das also schon mit ihrer Traurigkeit? Kleine Show am weißen Sand und fertig. Hoffentlich. Ich will nicht, dass Arthurs Fall uns mit in den Abgrund reißt. Wir haben genug eigene Probleme.
Egal, wie harmlos, wie kindisch, wie püppchenhaft wir in Momenten wie diesen rüberkommen: Alle Kobra-Mädels sind schon mit dem Gesetz aneinandergeraten, und ich verstehe Frau Sturms Sorge, dass wir angesichts von Uniformen und lästigen Fragen in alte Muster verfallen könnten.
Deswegen redet sie weiter auf mich ein. »Ich habe mit den Beamtinnen, die mit dem Fall betraut sind, gesprochen. Sie sind wirklich umgänglich und wohlwollend.«
»Freund und Helfer, ich weiß schon.«
Frau Sturm seufzt. »Na ja, es gibt jedenfalls keinen Grund, sich mit ihnen anzulegen.«
»Haben wir nicht vor.«
»Und wenn ihr etwas über Arthur wisst, das für die Polizei von Interesse sein könnte, sagt es denen einfach. Denkt an seine Familie. Seine Eltern haben ein Recht, zu verstehen, was passiert ist.«
Tilidin und Koks, denke ich.
Im Hintergrund dreht Kaja gerade den Deutschrap leiser. Die Mädels schauen jetzt fragend in meine Richtung.
Ich wende mich demonstrativ ab und tauche meinen großen Zeh in die eiskalten Fluten des Flusses, die in Ufernähe kleine Strudel bilden und genauso schlammbraun sind wie mein nackter Fuß. Ich muss mir dringend die Nägel lackieren.
»Ist da etwas, das du der Polizei erzählen könntest, Cassidy?«, hakt Frau Sturm nach.
Sie hört wirklich das Gras wachsen.
»Nö. Nix.«
»Sicher?«
Ich entdecke eine verrottete Patronenhülse im Sand und hebe sie auf. Solche Überbleibsel aus der Zeit, als die Bundeswehr hier im Wald noch Krieg gespielt hat, finden wir oft.
Am Telefon hakt Frau Sturm jetzt schon zum vierten Mal nach. Langsam nervt es.
Ich wiegele weiter ab: »Ich bitte Sie, Frau Sturm. Ein Typ wie Arthur Otto Falkenberg ist doch überhaupt nicht meine Kragenweite.«
»Lächerlich. Wir wissen doch beide, dass du deine Ohren überall hast.«
»Überall und nirgends«, sage ich ausweichend und gehe zum Gegenangriff über. »Wenn Sie wirklich jemanden suchen, der Lust hat, mit den Bullen zu plaudern, müssen Sie eine andere Nummer wählen, okay?«
Ich bin darauf gefasst, mich verteidigen zu müssen, aber Frau Sturm sagt bloß: »Okay, okay. Kann ich nachvollziehen. Aber nenn diese Leute nicht Bullen. Gewöhn dir das ab, das bringt dich nicht weiter. Nicken und lächeln und lächeln und nicken.«
»Ich merk’s mir.«
Ich stehe jetzt mit beiden Füßen im Wasser. Die Strömung zerrt an mir. Meine Haut kribbelt angenehm und ich warte, dass Frau Sturm das Gespräch beendet, doch sie hat noch mehr auf dem Herzen.
»Ich hätte noch eine Bitte.«
»Okay.«
»Was heißt das?«
»Sie sehen mich nicht, aber ich lächle und nicke.«
Frau Sturm lacht. »Also hör zu: Die Kobra soll sich bereithalten. Du hast ja gesehen, wie mitgenommen heute alle waren. Man hat mir gesagt, die Behörden würden psychologische Betreuung schicken, und wir vom Kollegium sind ja auch noch da, aber ich habe das Gefühl, dass ein paar Leute in den nächsten Tagen lieber mit euch reden würden als mit uns. Kriegt ihr das hin?«
»Klar. Kein Problem. Dazu sind wir da. Wir sind ja jetzt die Guten.«
Ich glaube, ich muss das jetzt doch mal erläutern: Fakt ist, dieser Seitenwechsel, von dem ich ständig rede, war keineswegs unsere Idee, Frau Sturm hat uns in der Hand. Sie ist nicht nur seit einem Jahr unsere Schuldirektorin, sondern auch der Mensch, der die Kobra gezähmt hat. Kein Witz. Nach einer ziemlich üblen Entgleisung unsererseits, nennen wir sie »die Sache im Freibad«, über die ich hier kein weiteres Wort verlieren werde, hat sie uns vor die Wahl gestellt: Knast oder Kooperation. Da mussten wir nicht lange überlegen. Was hätten wir denn sonst machen sollen?
Die Sturm hat uns also rausgehauen und so wurden wir eine Art Taskforce gegen Mobbing und Gewalt. Anders gesagt, wir sorgen in der Schule für Ruhe und Ordnung – und für gute Presse.
Praktisch für die Sturm.
Überlebenswichtig für uns.
Mittlerweile fühle ich mich eigentlich ganz wohl in meiner neuen Rolle. Das muss ich zugeben.
»Dann zähle ich auf euch«, sagt Frau Sturm noch, bevor sie auflegt, und als ich das eins zu eins an meine Mädels weitergebe, bin ich fast ein bisschen ergriffen vom Ausmaß unserer Wichtigkeit, und die anderen veralbern mich deswegen.
»Queen, gib’s zu, du liebst die Alte«, sagt Mona, »weil sie dir sagt, wo es langgeht.«
Alle lachen.
»Die hat dich am Haken«, witzelt Imani.
»Die bläst dir den Marsch«, fügt Kaja hinzu.
Jetzt reicht es mir. »Euch nicht, oder was?«
Wir streiten und raufen, die Stimmung eskaliert prächtig. Mindestens einmal am Tag sehen wir rot, so ticken wir eben, das schweißt uns zusammen.
Am liebsten raufe ich mit Mona, das haben wir schon im Kindergarten getan, wo wir uns kennengelernt haben, wir rauften um alles Mögliche, um Legosteine, um Süßigkeiten, ums Rechthaben, aber wir taten uns nie wirklich weh, jede war mal oben, jede im Schwitzkasten und das ist heute immer noch so.
Wir wälzen uns im Sand. Ich sehe Monas Gesicht unter mir, sehe es plötzlich wieder mit fünf, mit sieben, mit elf, ich werde ganz rührselig von meinen Erinnerungen, bis sie mich in die Seite kneift. Da bin ich kitzelig. Mein Lachen steckt Mona an, wie immer.
Irgendwann haben wir genug.
Eine Weile liegen wir schnaufend nebeneinander auf dem Rücken, dann legt Mona kurz ihre kühle Hand auf meine warme und sagt: »Na du.«
»Na du«, wiederhole ich und aus irgendeinem Grund macht mich das traurig.
»Hi, Oma.«
Ich stehe auf dem Waldfriedhof, genauer gesagt vor der Stele, die sich meine Großmutter Natascha Ofelia König, Witwe, Mutter meiner Mutter, einstige Dancingqueen, als letzte Ruhestätte ausgesucht hat.
Oma war mein Ein und Alles. Sie war noch nicht alt und liebte das Leben. Leider bekam sie Krebs. Sie wurde operiert und musste zur Chemo. Davon fielen ihr die Haare aus, woraufhin sie beschloss, sich einäschern zu lassen, denn anders als ihre Tochter Nadja war Oma ziemlich eitel. Noch im Krankenhaus wollte sie, dass ich ihr die Nägel mache, aber das Ergebnis überzeugte sie null.
So landete sie schließlich kurz vor ihrem fünfzigsten Geburtstag in einer Urne statt im Sarg – zum Ärger meiner Mutter, also ihrer Tochter, die einen grünen Daumen hat und viel lieber ein richtiges Grab gepflegt hätte, weil wir uns keinen Schrebergarten leisten können und unser Balkon winzig ist.
Die letzte Unterhaltung der beiden war ein Streit und drehte sich um genau dieses Thema:
Nadja: »Nie denkst du mal an mich.«
Natascha: »Dafür denkst du ja an nichts anderes.«
Nadja: »Von wem hab ich das wohl?«
Es war ungewöhnlich, dass meine Mutter das letzte Wort behielt. Die Erklärung ist einfach: Oma war an dem Abend schon sehr schwach.
Obwohl ich wie üblich auf ihrer Seite stand, finde ich die Idee mit der Stele im Nachhinein auch ätzend, damals wusste ich allerdings noch nicht, dass es sich dabei um Betonsäulen handelt, die aussehen wie Miniaturausgaben unserer Wohnblocks.
Jetzt denke ich jedes Mal, wenn ich Oma auf dem Friedhof besuche, an unseren Plattenbau, und wenn ich nach Hause komme, an die verfluchte Urnenstele. Zumal sogar die Gedenktafeln, auf denen die Namen der Verstorbenen stehen, an die vielen Briefkästen bei uns im Treppenhaus erinnern, außer dass es keinen Schlitz gibt, in den man was einwerfen könnte. Man darf überhaupt nichts dalassen, keine Blume, keinen Glücksbringer, keine Kerze, nichts, das steht so in der Friedhofsordnung, weshalb ich aus purem Trotz die ganze düstere Anlage plus Backsteinkapelle im ersten Winter beidhändig getaggt habe, zum Glück, ohne erwischt zu werden. An manchen Stellen sind die Rückstände der Farben immer noch zu sehen.
In meinem neuen Leben als brave Bürgerin sind solche Aktionen leider tabu, daran halte ich mich so gut es geht. Keine Graffiti, kein Vandalismus. Allerhöchstens kratze ich mit meinem Messer winzige Kerben in Omas Gedenktafel, direkt unter ihren Namen und den beiden Zahlen mit Geburts- und Sterbejahr, als geheime Botschaft, wie sehr sie mir fehlt.
Genau das tue ich auch heute, als ich ihr von Arthurs Tod und meinem Aufeinandertreffen mit Elvis erzähle. Wegen der Sache mit meiner Schwester rege ich mich fürchterlich auf.
»Die tickt doch nicht mehr richtig. Wie kann sie Ivy losschicken, um Gras zu kaufen? Eine Achtjährige. Man muss ihr doch irgendwie klarmachen können, dass das nicht geht, und zwar so, dass sie es ein für alle Mal kapiert, stimmt’s, Oma?«
Ich male mir aus, wie meine schöne starke Großmutter meine schwache schlampige Mutter zur Schnecke gemacht hätte. Jetzt bleibt auch das wieder an mir hängen, wie so vieles, als wäre nicht schon von vornherein klar, worauf das Ganze hinauslaufen wird: hier rein, da raus. Bla, bla, misch dich nicht ein, kümmere dich um deinen eigenen Kram.
»Vielleicht sollte ich mir einfach ihr ganzes Geld schnappen. Plus Kontokarte. Ich kenne die Geheimnummer, sie hat sie mir verraten, weil sie sie immer vergisst. Das ist doch eine sinnvolle Maßnahme: Ich verwalte ab sofort die Finanzen, Nadja kriegt bestenfalls ein Taschengeld. Was denkst du? Soll ich das so machen?«
Die Stele schweigt. Nur das hässliche Kratzen meines Messers auf Metall ist zu hören.
»Ich bin einfach stinkwütend auf sie.«
Schweigen.
»Bist du eigentlich auch immer noch wütend oder hört das auf, wenn man tot ist?«
Kratzen und Stille. Der Tod wirft nichts als Fragen auf, und das macht mich fertig. Ich spüre, wie mein Gesicht glüht. Meine Kerben werden tiefer und tiefer, das hilft ein wenig, aber diese Art Trost ist gefährlich, in die Falle bin ich oft genug getappt.
Ich lasse das Messer sinken, weil ich weiß, dass das Gefühl von Lebendigkeit, das mich erfasst, wenn ich etwas Verbotenes tue, nie lange anhält. Hinterher fühle ich mich immer wie betäubt und muss noch einen drauflegen und so weiter und so fort. Bis die Dinge aus dem Ruder laufen und du in Handschellen bei den Bullen, ähm, bei der Polizei, sitzt und denkst, dein eben noch so berauschendes Leben wäre vorbei, und dann muss jemand kommen und dich retten und du stehst ewig in der Schuld. Voilà, das ist mein Leben auf den Punkt gebracht.
»Frau Sturm hätte dir gefallen, Oma. Sie ist eine richtige Bitch. Läuft wie ein Model auf Hackenschuhen. Gute Nägel. Für eine Lehrerin jedenfalls, du weißt ja, wie die immer rumlaufen. Tschüss, bis bald.«
Auf meinem Weg über den Friedhof komme ich oft an einem altmodischen Familiengrab vorbei. Es wird von einer steinernen Engelsstatue überragt, eine junge Frau in einer Art Nachthemd, die kniend ein Kreuz umarmt, das genauso gut ein Schwert sein könnte. Sie wirkt stark und freundlich zugleich, ihr Blick ist in den Himmel gerichtet, als wüsste sie mehr. Sie ist mutig, eine Heldin, ganz sicher, sie könnte bei der Kobra mitmachen. Ich mag sie sehr. Komischerweise lese ich heute zum ersten Mal den Familiennamen der Toten, über die sie wacht: Er lautet Falkenberg. Mir läuft es eiskalt den Rücken runter.
Hierher werden sie Arthur also bringen, zu seinen Großeltern und anderen Verwandten, Ahnen, die Reeder waren und Kapitäne, Leute mit teuer klingenden Namen auf prächtigen Grabsteinen. Seine Leute hatten ihn hier ganz bestimmt nicht so früh erwartet. Sein Leben hatte ja noch nicht mal richtig angefangen. Da hatte meine Oma mehr Glück. Ihrs war auch zu kurz, aber es war wenigstens eins.
Der kitschige Gedanke treibt mir jetzt doch noch ein paar Tränen in die Augen, aber es sind nicht viele und ich blinzele sie eilig weg. Ach, Arthur, du Idiot, was hast du nur getan?
Niemand sollte vorm Schulabschluss sterben müssen, egal ob reicher Snob oder armes Würstchen.
Plötzlich überfällt mich ohne jede Vorwarnung eine schreckliche Angst. Ich bleibe stocksteif stehen, gelähmt von dem Gefühl, in ein großes schwarzes Loch gesogen zu werden, das sich dreht wie ein Strudel oder ein Tornado. Mit aller Macht stemme ich mich dagegen an.
Ich bin ganz schön durch, denke ich mir, denn normalerweise fürchte ich mich nicht auf Friedhöfen. Wovor auch?
Zeit, nach Hause zu gehen.
Fast.
*
Ich nehme den Umweg über das Industriegebiet und was soll ich sagen? Die Kobra ist überall. Schon von Weitem sehe ich die Engelslöckchen meiner Freundin im Wind wippen und mir wird ganz warm, weil ich sie so sehr mag.
»Hey, Mo, was geht?«
Keine Reaktion.
»Moooona!«
Immer noch nicht.
»Hallo Püppi, bist du taub, oder was!?«
Sie hört mich nicht.
Die Situation ist ein bisschen grotesk: Meine beste Freundin balanciert auf den alten Fabrikgleisen im Industriegebiet, ich laufe unten am Fuß des Bahndamms neben ihr her und versuche, Kontakt aufzunehmen, aber es ist zwecklos. Mona hat Kopfhörer im Ohr, die Augen starr geradeaus.
Wenn ich an dieser Stelle den Bahndamm hochrenne, trete ich garantiert in Hundescheiße und da habe ich keinen Bock drauf, also wedele ich bloß mit den Armen wie ein totaler Freak und halte Schritt, bis sie irgendwann schlagartig stehen bleibt und sich zu mir umdreht, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Was ist?«, motzt sie mich an und fummelt einen Kopfhörerstöpsel aus dem Ohr. »Kann man nicht mal fünf Minuten seine Ruhe haben? Hast du kein Zuhause?«
Wie ist die denn drauf? Vorhin am Weißen Sand war doch noch alles gut zwischen uns.
»Das fragt die Richtige«, sage ich.
Es ist so: Ich finde meine Minifamilie ja schon stressig, aber Mos Leute sind die Hölle: drei kleine Brüder, zwei davon geborene Bombenleger, ein Vater, der sich krummarbeitet und an seiner Nettigkeit zugrunde geht, und eine Möchtegern-Filmdiva-Mutter, die sich ohne Abschied und Nachsendeadresse aus dem Staub gemacht hat und bestenfalls einmal pro Jahr für ein paar Stunden unangemeldet reinschneit, um überteuerte und komplett nutzlose Geschenke zu verteilen. Muttergefühle überlässt sie der Tochter: Mo ist die große Kümmerin, sie selbst kommt immer zu kurz, genau wie in ihrem Spitznamen, den sie sich übrigens selbst verpasst hat. Normalerweise bringt sie um die Zeit schon die Kleinsten ins Bett, statt durch die Gegend zu balancieren.
»Alles klar bei dir?«, frage ich.
»What? Fuck, no. Hast du mir vorhin eigentlich zugehört? Ich bin in Trauer.«
»Ja, is klar.«
»Danke für dein Verständnis. Hab’s schon kapiert. Wenn sich nicht alles um die Queen dreht, geht die Zugbrücke hoch.«
»Hör auf, mich anzumachen. Was ist denn jetzt plötzlich los? Komm mal runter und lass uns richtig reden.«
Mona wendet sich ab, steckt den Kopfhörerstöpsel zurück an seinen Platz und balanciert weiter. »Nerv mich nicht, Queeny.«
Also muss ich doch rauf auf den Damm, auf Zehenspitzen durch frisches Unkraut, Kacke und jede Menge Müll. Was tut man nicht alles für die Freundschaft?
Eine Weile balancieren wir stillschweigend nebeneinanderher. Mona läuft auf der rechten Schiene, ich auf der linken, während im Westen die rote Sonne hinter den Dächern der Stadt versinkt.
»Ich höre dich«, sagt sie irgendwann.
»Okay. Ich dich auch. Warum bist du plötzlich so sauer? Nur weil ich gefragt habe, ob alles okay ist?«
Sie zuckt mit den Schultern. »Ich hab einfach das Gefühl, dass dir das mit Arthur überhaupt nichts ausmacht. Läufst hier rum und strahlst.«
»Ich hab mich gefreut, dich zu sehen. Sorry, wusste nicht, dass das neuerdings verboten ist. Arthur kannte ich halt kaum. Anders als du, wenn ich das vorhin richtig verstanden habe. Deine Schwärmerei kam übrigens ziemlich überraschend. Ich dachte, das Thema Arthur wäre längst durch.«
Schweigen.
»Hattet ihr noch Kontakt? Gibt es da etwas, das ich wissen sollte?«
Keine Antwort, nur ein schwaches Nicken. Falls ich richtig gesehen habe. Mo kann so geheimnisvoll tun, da braucht man mindestens eine Brille, besser noch hellseherische Fähigkeiten.
Trotzdem habe ich ein komisches Gefühl im Bauch. Denn dieses zarte schwache Nichts von einem Nicken bedeutet etwas Großes. Es bedeutet, dass das, was heute in der Schule passiert ist, sehr wohl etwas mit uns zu tun hat, und das nicht nur, weil Frau Sturm uns als Seelentrösterinnen einsetzen will. Eine Kluft tut sich auf zwischen Mo und mir: Arthurs Abgrund. Und wenn wir nicht höllisch aufpassen, fällt noch eine von uns hinein ...
»Du hast mir also was verschwiegen?«
Wieder dieses Nicken.
»Was denn.«
Schweigen.
»Viel?«
Mona nickt. Ich schwöre, wenn sie so weitermacht, drehe ich durch.
»Wieso? Ich bin deine beste Freundin.«
»Und ich war seine«, entfährt es Mona. »Jedenfalls hätte ich es sein können, wenn er mich gelassen hätte. Ich war ... wir waren ... Wir waren füreinander gemacht. Und das wusste er auch ... Eigentlich.«
»Klingt, als hättest du ihn gestalked«, sage ich.
Es sollte nur ein Witz sein, aber Mo starrt mich wütend an, die Blicke aus ihren hellblauen Augen sind gemacht, um Herzen und Hirne in Stücke zu schneiden: rasierklingenscharf.
Sie ist eine echte Blondine wie ihre Mom, noch blonder als Ivy, manchmal trägt sie eine Beanie, weil sie keinen Bock hat, auf ihr Aussehen reduziert zu werden. An anderen Tagen läuft sie rum wie ein Model. Wie ihre Mutter ist sie unberechenbar, wahrscheinlich sogar für sich selbst.
Sie tut mir unendlich leid in ihrer Not, gleichzeitig fühle ich mich ungerecht behandelt. Warum ist sie sauer auf mich? Ich habe ihr nichts getan. Als ich sie genau das frage, bekomme ich wieder keine Antwort.
Mona glüht vor Wut – und schweigt.
»Wart ihr ein Paar?«
Schweigen.
Da klar ist, dass ich heute aus ihr nichts mehr herausbekommen werde, versuche ich mein Glück mit einem Themenwechsel. »Morgen Große Parade? Was hältst du davon?«
Mona atmet durch. »Klingt gut«, sagt sie. »Zeigen wir’s denen. Wird mal wieder Zeit.«
»Genau, wir machen von uns reden«, sage ich.
»Die sollen wissen, dass sie mit uns rechnen müssen«, sagt Mona.
Exakt dafür ist die Große Parade da. Die Routine geht so: Wir treffen uns am Tor und entern alle zusammen die Schule, Seite an Seite, wir donnern uns auf und machen uns groß, die ganze Gang, wir genießen unseren Auftritt: Hier kommt die Kobra, wer keinen Platz macht, wird gebissen und stirbt.
»Aber dann komm nicht wieder mit Mütze wie letztes Mal«, sage ich neckend.
Mo rollt die Augen.
Nach einer kurzen Schmollpause hake ich doch noch ein letztes Mal nach: »Du, Püppi, bist du wirklich nur wegen dem so durch den Wind? Was ist denn da bloß gelaufen zwischen euch? Und zwischen uns, weil ich nichts davon weiß?«
Ich suche Monas Blick. Sie schaut mich lange an, ich fühle, wie es in ihr rumort, sie macht den Mund auf, seufzt leise, als wäre sie kurz davor, zu reden, und bloß noch auf der Suche nach den richtigen Worten.
Doch dann beginnen die Gleise unter unseren Füßen zu singen, alles vibriert, und als ich mich umdrehe, ist die Lok schon ganz nah. Ganz schlechtes Timing.
Mist, und ich dachte, die Strecke wäre längst stillgelegt. Kindheitserinnerungen werden wach.
Wir halten die Luft an, tauschen altvertraute Blicke aus. Wir wissen beide, was zu tun ist, es ist eine uralte Mutprobe zwischen uns, die Spielregeln gelten noch immer: Wer zuerst springt, hat verloren. Wer den Absprung verpasst – na ja, was wohl?
Die Gleise zittern, die Lok hupt wie verrückt.
Mona schreitet still voran wie ein Geist. Balancieren ist ihr Ding. Meins nicht so, mir wird allmählich flau. Zum Glück verkehren hier nur Güterzüge, und die sind sehr langsam.
»Spring doch, wenn du Schiss hast«, schreit Mona mich an, und das mache ich auch und hoffe, dass sie auf ihrer Seite dasselbe tut.
Ich stolpere und strauchele den Bahndamm runter, zum Glück, ohne zu fallen, aber es ist verdammt knapp.
Der Zug stampft vorbei, aus dem Seitenfenster droht der Lokführer mit der Faust und schreit Beleidigungen gegen den lauen Wind. Entschuldigend winke ich ihm zu.
Dann sind alle verschwunden.
Mona auch.
Und ich habe natürlich Scheiße am Schuh.
*