Lügensommer - Alexandra Kui - E-Book
SONDERANGEBOT

Lügensommer E-Book

Alexandra Kui

0,0
8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Verdacht beginnt, wo Vertrauen endet

Mit der Sommeridylle in dem kleinen Ort unweit der Nordsee ist es schlagartig vorbei, als die 17-jährige Zoe erschlagen aufgefunden wird. Unter dringendem Tatverdacht steht ihr Freund Ansgar, Sohn einer angesehenen Unternehmerfamilie. Der halbe Ort war Zeuge ihres furchtbaren Streits am Elbstrand.

Für Ansgars Schwester Marit steht fest, dass die Polizei vorschnell urteilt. Sie stellt eigene Nachforschungen an und entdeckt dunkle Geheimnisse in Zoes Leben – Geheimnisse, an denen sie besser nicht gerührt hätte ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 374

Veröffentlichungsjahr: 2011

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Alexandra Kui

Lügensommer

Thriller

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2011 cbt Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: init.büro für gestaltung, Bielefeld

Umschlagfoto: Plainpicture / Christoph Eberle

MI · Herstellung: AnG

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-05516-5 V002

0000

www.cbt-jugendbuch.de

Für Anja

Prolog

Im Winter, bevor sie starb, hatte Zoé eine Vorahnung. Es war brutal kalt, zehn Grad minus, Eisgang auf der Elbe. Packeis wie am Nordpol. Alle wollten Erinnerungsfotos und knipsten sich gegenseitig, während der Ostwind einem entweder Tränen oder ein seliges Grinsen ins Gesicht trieb, in ihrem Fall beides. Als sie die Bilder später am Rechner betrachtete, amüsiert über das verlogene Glück, das sie ausstrahlten, spürte sie, jemand würde eines davon in den Händen halten und um sie trauern, und das nicht erst in achtzig Jahren, sondern viel zu bald. Die Erkenntnis durchflutete sie wie ein Stromschlag. Sie löschte die entscheidende Aufnahme sofort, obwohl sie wusste, dass es keinen Unterschied machte. Zumal es sich um eine Kopie handelte.

Wie gewöhnlich, wenn sie vor etwas Irrationalem Angst hatte – was selten vorkam, dann aber stets ziemlich heftig ausfiel –, versuchte sie, allein damit fertigzuwerden. Sie las ein Buch, das ihr gefiel, und hörte laut Musik, um das Donnergrollen des aufziehenden Schneesturms zu übertönen. Sie chattete mit einer Freundin in Hamburg. Nichts half.

Als das Zittern ihrer Hände nach einer geschlagenen Stunde immer noch nicht nachgelassen hatte, ging sie ins Atelier, hungrig nach einer Umarmung, einem heißen Kakao und der Stimme ihrer Mutter, die ihr sagen würde, wie lächerlich das alles war – und zwar so, dass sie es glaubte.

Doch der weitläufige Raum, einst ein Schafstall, war dunkel und kalt, das Holzfeuer im Kaminofen zu einer roten Glut zusammengesunken, die aussah, als würde sie atmen. Ihre Mutter war fortgegangen. Das ganze Haus verwaist. Also entschied sich Zoé für die zweitbeste Lösung: die Grasvorräte ihres Vaters, nachlässig versteckt in der Schublade mit seinen Socken. Zwar kifften ihre Eltern selbst schon lange nicht mehr, aber für Vernissage-Partys, wenn die ganze Künstlerclique aus der Stadt eintrudelte, hielten sie meistens einige Joints bereit. Ehrensache. Niemand sollte ihnen Bürgerlichkeit unterstellen. Dabei waren sie total spießig. Sie hatte Glück: Es war genug da, um sich bis zum nächsten Morgen aus dem Verkehr zu ziehen. Ein richtig guter Trip: Sie flog hinweg über ein Land, in dem Sommer war. Hitze. Krasse Farben. Als sie aufwachte, weil es erbärmlich zog, konnte sie sich an nichts erinnern. Weder daran, das Fenster so weit geöffnet zu haben, noch an den Grund, warum sie Marihuana geraucht hatte.

Ansonsten hätte sie sich ein halbes Jahr später möglicherweise an diese Begebenheit erinnert, geahnt, in welcher Gefahr sie schwebte, und eingelenkt, solange sie noch die Chance dazu hatte. Dann wäre alles anders gekommen.

So war sie einfach nur stinkwütend. Bereits als er neben ihr anhielt, sie überredete – nein, anbettelte – die Arbeit sausen zu lassen, um ihm Gesellschaft zu leisten, verspürte sie Lust, ihre Zigarette an seinem nackten Oberarm auszudrücken. Was sie natürlich nicht tat, da sie ihn viel zu sehr liebte. Jedenfalls redete sie sich das ein. Insgeheim fragte sich Zoé manchmal, ob sie überhaupt zur Liebe fähig war oder bloß ein egoistisches Miststück, dem es in erster Linie darum ging, den anderen zu besitzen. Leider gehören auch dazu immer zwei, das war ihr inzwischen klar. Sie hatte ihn falsch eingeschätzt, er ließ sich nicht kontrollieren, schon gar nicht von ihr. Das verbitterte sie. Hallo – wer war er denn? Ein Niemand. Das sagten alle. Für wen oder was hielt er sie? Offenbar für ein Mädchen, das sich von einem Niemand abservieren lässt. Denn darauf schien es hinauszulaufen. Irrtum, mein Lieber, dachte sie, wobei sie ungewollt in den Jargon ihrer Mutter verfiel. Nicht mit mir.

»Und«, fragte sie, nachdem sie eine Weile über die Landstraße gebraust waren, ohne dass er den Mund aufbekommen hätte. »Wohin fahren wir? Wenn du keinen verdammt guten Plan hast, geh ich lieber arbeiten. Das bringt mehr Spaß.« Das war nicht nur so dahingesagt. Sie mochte ihren Job als Pflegehelferin im Waldschloss-Seniorenheim. Nicht nur wegen der Trinkgelder, sondern auch weil die alten Leute schwer in Ordnung waren, jedenfalls die meisten.

»Unser Fluss?«, schlug er vor, womit er ihr gleich wieder Hoffnungen machte. Er meinte nicht die Elbe, sondern einen Nebenarm der Oste, wo sie für sich allein waren. Unter prächtigen Silberweiden konnte man ungestört nackt baden – und alles Mögliche andere tun. Ein verwunschener Sehnsuchtsort, Natur wie gemalt, zufällig waren sie an einem sommerlich warmen Tag im Mai darauf gestoßen. Zufall oder Fügung? Ausgeschlossen, dass sie dorthin fahren und nicht miteinander schlafen würden. Er war ihr regelrecht verfallen, kam einfach nicht von ihr los, davon war Zoé überzeugt. Ein gutes Gefühl, das sie in Sicherheit wiegte. Leider nur kurz.

Am Bach tanzten Schwärme von Mücken, und es war sogar im Baumschatten noch heiß, die Luft klebrig. Sonnenstrahlen fielen schräg durch das Blätterdach. Er sah ihr in die Augen, als wolle er sie küssen, aber dann machte er plötzlich dicht. Das kannte sie schon von ihm. Er weigerte sich, ins Wasser zu gehen, sagte, er wolle lieber reden. Ihr Optimismus verflog so schnell, wie er gekommen war.

»Reden macht bloß durstig.« Zoé zog sich das altbackene, marineblaue Leinenkleid über den Kopf, das sie nur zur Arbeit trug, weil es den Alten und der Chefin gefiel und zudem die Farbe ihrer Augen zur Geltung brachte. Anschließend entledigte sie sich ihrer Unterwäsche und zuletzt der Sandalen und ließ ihn stehen, wild entschlossen, ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen. Reden, reden, reden – wozu? Sie waren längst so zerstritten, dass es keinen Zweck mehr hatte.

Obgleich eine starke Unterströmung an ihr zerrte, roch das Wasser leicht faulig wie ein stehender Tümpel, was sie im Mai nicht bemerkt hatte. Wasserflöhe huschten vorbei. In Ufernähe stiegen Bläschen vom Grund auf. In der Ferne das Brummen eines Traktors. Von wegen verwunschen. Wo waren die Libellen hin, die Wiesenblumen? Zoé hatte alles ganz anders im Gedächtnis. Stur wie sie war, hielt sie an ihrer Vorstellung fest und versuchte, die Wirklichkeit umzudeuten. Sie schwamm ein paar Züge mit aufeinandergepressten Lippen, um ja nichts zu schlucken, ließ sich treiben und planschte wie ein Kind, eifrig bemüht, den Anschein zu erwecken, sie genieße jede Sekunde, während er auf einem Stein kauerte und nicht mal zu ihr rübersah.

Es war sinnlos. Schließlich tapste sie an Land, baute sich triefnass vor ihm auf und wartete darauf, dass ihr nackter Körper seine Wirkung tat. Sie wusste, wie schön sie war. Schlank, aber mit weichen Rundungen, die samtweiche Haut makellos, ein Erbe ihrer Mutter. Längst verfluchte sie den Tag, an dem sie in einem Anfall von Experimentierfreude und Trotz ihr hüftlanges, schwarzbraunes Haar hatte abschneiden lassen, denn es hatte bei ihrer ersten Begegnung ungeheuren Eindruck auf ihn gemacht. Sie brauchte das Gefühl, für ihre Schönheit bewundert zu werden. Jedes Mal genoss sie das Lächeln in seinem Gesicht, wenn er sie betrachtete, diese Mischung aus Staunen und Begierde. Sie hatte es schon oft gesehen, bei ihm genauso wie bei anderen Jungs, bei Männern, doch seins gefiel ihr am allerbesten.

Sie wartete.

Nichts. Keine Regung seinerseits. Als hätte er irgendetwas eingenommen, das einen Schalter umgelegt hatte.

»Kleine Erfrischung gefällig?« Sie schüttelte ihr nasses, zu kurzes Haar, dass die Tropfen spritzten.

»Zieh dich an«, sagte er und stand auf. »Zoé, ich meine es ernst, wir müssen reden.«

Das war der Zeitpunkt, an dem sie abhauen wollte und das Gegenteil tat: Sie küsste ihn. Er sie nicht. Mit hängenden Armen stand er da und ließ es reglos über sich ergehen, während der Blick in seinen Augen eine naheliegende Frage stellte: Warum tust du dir das an?

Ja, warum? Als ob sie nicht längst wüsste, dass sich Liebe nicht erzwingen lässt. Die Antwort lautete: Sie konnte nicht anders.

Natürlich behielt sie recht, er wollte Schluss machen, was an sich nichts Neues war, sie hatten schon oft Schluss gemacht, doch normalerweise ging die Initiative von ihr aus. Waren ihre Trennungsversuche wenig konsequent gewesen, ließ er keinen Zweifel an der Endgültigkeit seines Entschlusses aufkommen. Schluss. Aus. Vorbei. Ihr Herz flatterte wie ein Vogel in einem Kescher. Er wollte wirklich nicht mehr. Weil es so nicht weitergehen könne. Welch eine hohle Begründung.

Sie verlor die Nerven, wurde laut: »Wenn hier jemand Schluss macht, dann ich.«

»Dann tue es doch«, flehte er.

»Darauf kannst du lange warten.«

Was sie nicht begriff: Weshalb musste er mit ihr ausgerechnet hierher fahren, um ihr den Laufpass zu geben? Warum musste er alles kaputt machen, was ihnen beiden so viel bedeutet hatte? Hatte es doch – oder? Womöglich hätten sie sogar glücklich werden können.

Mit ihren siebzehn Jahren hatte Zoé bereits eine genaue Vorstellung davon, wie viel Mut dazu gehörte, sich auf das Glück einzulassen, wenn es einem begegnete. Meistens stand man sich selbst im Weg. Wie ihre Eltern. Die fühlten sich unerklärlicherweise vom Leben so übervorteilt, dass nichts sie erfreuen konnte. Nicht mal die eigene Tochter.

Zoé hätte den Streit jetzt gern beendet, ihm vorgeschlagen, alles zu vergessen und einfach noch ein paar Stunden miteinander zu genießen, ohne an morgen zu denken. Oder auch nur ein paar Minuten. Aber sie fand nicht die richtigen Worte. Je länger sie stritten, desto weniger hatten sie sich in der Gewalt. Am Ende war alles Geschrei. Sie solle sich gefälligst anziehen. Er solle doch woanders hinglotzen. Prüder, verlogener Dreckskerl. Irgendetwas an der Situation brachte sie schließlich zum Lachen, und da sie sah, wie rasend ihn das machte, steigerte sie sich hinein, worauf er ihr das blaue Kleid zuwarf und sich zum Gehen wandte.

Zoé hätte ihm nicht drohen sollen. Jeder fürchtet sich vor irgendetwas so abgrundtief, dass ihn der Gedanke, es könnte geschehen, um den Verstand bringt. Sie hatten sich all ihre Geheimnisse erzählt, kannten einander in- und auswendig. Zoé wusste genau, was sie sagen musste – und niemals hätte sagen dürfen.

Dennoch ging er weiter. Erst nachdem sie ihre Drohung wiederholt hatte, machte er kehrt.

Dann der Schmerz. Als hätte sie ihren Schädel in einen Flammenwerfer gehalten, ein Gleißen, das sich von ihrer Schläfe über den ganzen Körper ausbreitete und sie spaltete wie ein Blitzschlag einen Baum. Im Fallen sah sie das Grün der Bäume, die Sonnenstrahlen, den Tanz der Mücken und wunderte sich, dass ihr trotz der Hitze kalt wurde. Bis die Farben des Sommers vergingen und sie wusste, der Winter war zurückgekommen, um sie zu holen.

Supersommer

Kontrolle. Darum geht es doch, oder? Wer die Kontrolle verliert, kann einpacken. Ich hasse dich, weil du mich in der Hand hast. Ich liebe dich aus dem gleichen Grund. Für dich ist alles ein Spiel oder irgendeine Art von Kunst. Aber da irrst du dich. Das hier ist die Wirklichkeit, und die Dinge entwickeln sich in die falsche Richtung. Wir müssen einen Ausweg finden, mit dem wir beide leben können. Bevor etwas Schlimmes geschieht.

Endlich Juli. Der erste strahlende Sommertag seit Wochen und am Fluss ist die Hölle los. Marits Bauchgefühl sagt ihr, dass es noch Ärger geben wird. Spätestens in der Mittagshitze, wenn die Jansen-Brüder und ihre Freunde von Bier auf Wodka umsteigen, werden sie das Bedürfnis verspüren, dem Rest der Welt endlich mal wieder zu demonstrieren, was für brutale Schwachköpfe sie sind. Die Kerle haben sich in der Nähe niedergelassen, viel zu nah für Marits Geschmack, und sie würde gern vorsorglich das Feld räumen, aber ihre Freundinnen machen nicht den Eindruck, als wären sie bereit, auf dem überfüllten Elbstrand nach einem neuen Liegeplatz zu suchen. Helene hört mit geschlossenen Augen iPod, ab und zu wippen die rot lackierten Zehen im Takt, Franka liest. Als sie Marits Blick bemerkt, schaut sie auf und lächelt ihr mit einer Mischung aus Spott und Verständnis zu. »Hey, entspann dich. Die Typen da sind doch harmlos. Die meisten von denen kennen wir seit dem Kindergarten.«

Und sie waren damals schon alles andere als harmlos, denkt Marit, sagt aber nichts. Sie kann sich noch gut daran erinnern, wie Hark Jansen versucht hat, dem Weihnachtsmann den angeklebten Rauschebart abzufackeln. Die Streichhölzer dazu hatte er unter seinem Nickipullover eingeschmuggelt. Heute trägt er ein quietschgelbes T-Shirt mit der Aufschrift »volle Drehzahl« und hat seinem Freundeskreis den Namen Koma-Klub verpasst.

»Sag bloß, du hast Schiss vor denen?«

»Quatsch. Ich will einfach keinen Ärger, das ist alles.«

»Dann entspann dich endlich. Na los«, verlangt Franka, als wäre es einzig und allein eine Frage des Willens, und knufft ihr in die Seite. »Entspannen. Das ist unser letzter Sommer, da lassen wir uns von niemandem in die Suppe spucken. Das ist unser Strand. Und unser Sommer. Unser Supersommer. Schon vergessen?«

»Wie könnte ich? Du redest ja von nichts anderem mehr.« Marit knufft zurück, etwas heftiger als beabsichtigt, worauf Franka loskreischt und ihrerseits einen neuen Angriff startet. Sie balgen, bis ihre Strandlaken zerwühlt und voller Sand sind, der ihnen auf der Haut kleben bleibt. Sie haben sich gerade eingecremt. Helene fummelt einen Kopfhörerstöpsel aus dem Ohr. »Spinnt ihr?«

»Das sind Lockerungsübungen«, keucht Franka, »na los, mach mit.«

»Nein danke, ich bin schon so was von locker. Ihr seid echt Kinder, wisst ihr das?« Helene nestelt den Kopfhörer zurück an seinen Platz, ohne eine Antwort abzuwarten, und taucht wieder ab in ihre Welt.

Marit und Franka liegen auf dem Rücken und verschnaufen. Am Himmel keine Wolke. Die Sonne hat Kraft, und es dauert nicht lange, bis Marit sich schwitzig fühlt. Auf eine sandig-kitzelige Art schwitzig. Wenn es irgendwann zu heiß wird, kann sie jederzeit ins Wasser springen. Sie wird den Moment so lange wie möglich hinauszögern, um ihn dann umso mehr zu genießen. So war es immer, so muss Sommer sein. Wenn Franka nur nicht ständig betonen würde, dass es ihr letzter gemeinsamer Sommer ist, was ihn nach Marits Ansicht keineswegs zum Supersommer macht, sondern eher einen Schatten auf die schöne freie Zeit wirft. Sicher ist es super, das Abi geschafft zu haben und achtzehn zu sein und damit zumindest von Gesetz wegen tun und lassen zu können, was man will. Doch was ist so toll daran auseinanderzugehen?

Der Wind weht von den Imbissbuden herüber, und es riecht nach Pommes und Bratwurst. Marit versucht, sich Helene als Journalistikstudentin in Berlin vorzustellen, es gelingt ihr ganz gut, aber Franka in Australien, das ist zu unwirklich, wortwörtlich zu weit weg. Franka ist Marits beste Freundin. Und jetzt will sie für ein ganzes Jahr ans andere Ende der Welt verduften, mit fünfhundert Dollar Startkapital und einem Work-&-Travel-Visum in der Tasche – das ganz große Abenteuer. Wäre es nach Franka gegangen, hätten sie die Reise zusammen angetreten, im Winter gab es deshalb oft Streit. Denn Marit hat andere Pläne: in Hamburg Betriebswirtschaft studieren, und zwar so gut und so schnell wie möglich, um dann hier im Dorf in die Eisfabrik ihres Vaters einzusteigen. Ein Austauschsemester in England oder in den Vereinigten Staaten könnte sich als nützlich erweisen. Damit wäre ihr Bedarf an Abenteuern dann auch schon gedeckt. Fester Bestandteil dieses Zukunftsszenarios ist ihr Freund Jan. Sie werden das Studium zusammen durchziehen. Und wenn alles gut geht, auch den ganzen Rest, Hausbau und Familiengründung inklusive. Drei Kinder Minimum. Sie sind so gut wie verlobt. Sie selbst hält sich für bodenständig und betrachtet das als gute Eigenschaft, während Franka der Meinung ist, mit ihren spießbürgerlichen Vorstellungen könne Marit sich auch gleich lebendig begraben lassen. Ziemlich fies von ihr.

Inzwischen steht die Sonne fast senkrecht am Himmel, und flussabwärts in der Ferne flimmert die heiße Juliluft, als würden dort der Strand und die Badegäste zerfließen und eins werden mit dem Wasser. Zeit für eine Abkühlung. Marit steht auf. »Ich gehe jetzt schwimmen. Kommt jemand mit?«

Zuerst winken beide Freundinnen ab, aber nach kurzem Zögern folgt Franka ihr doch und beschwert sich wortreich über die Hitze. Kaum hat die Elbe allerdings ihre Füße befeuchtet, zuckt sie zusammen und weicht zurück. »Mist, ist das kalt. Ich glaube, ich hebe mir das Baden für Sydney auf. Der Pazifik ist wenigstens warm und bestimmt nicht so eine Plörre wie das hier.«

»Der Pazifik ist überhaupt nicht warm. Außerdem ist in Sydney jetzt Winter. Hast du dich überhaupt mal mit dem Land befasst, in dem du ein Jahr verbringen willst?«

Marit wendet sich ab. Von wegen Plörre. Sie liebt den Fluss, der so nah an der Mündung bereits nach Meer riecht und mit den Gezeiten ständig sein Gesicht verändert. Im Augenblick steht die Elbe tief, und die Strömung weit draußen in der Fahrrinne fließt träge landeinwärts. Blausilbern glitzerndes Wasser, keine Frachter zu sehen, daher auch keine Wellen. Kleinkinder mit Eimern und Schaufeln buddeln im Matsch, gleich daneben werfen sich ein Mann und eine Frau eine Frisbeescheibe zu, wobei sie sich viel geschickter anstellt als er, auf dem Anleger wartet eine Gruppe Rentner auf ihren Ausflugsdampfer. Alle genießen den Tag, sind laut, lachen. Nur Franka schert sich einen Teufel um ihr eigenes Gerede und findet auf einen Schlag gar nichts mehr super, raunzt sogar noch den Frisbeespieler an, da sie sich von ihm bedrängt fühlt.

»Vollidiot. Hast du das eben gesehen? Der Typ hätte mich fast umgerannt.«

»Hat er aber nicht.«

»Aber fast. Viel zu voll heute. Das macht echt keinen Spaß. Sollen wir abhauen?«

»Gegenfrage: Kannst du mir mal sagen, was das soll?«

»Was soll was?«

»Warum musst du plötzlich alles schlechtreden?«, fragt Marit und weicht einem Hund aus, der sich mit großen Sprüngen in die Fluten stürzt. Irgendwo pfeift sein Besitzer. »Das ist unser Strand und unser Sommer. Dein Mantra. Keine zwei Stunden alt.«

Sie stehen sich jetzt gegenüber und blicken einander direkt in die Augen. Franka wirkt seltsam verzagt. Dabei sieht sie eigentlich schon wegen ihrer vielen Sommersprossen fast immer fröhlich aus.

»Wenn ich es schlechtrede, fällt mir der Abschied nicht so schwer.«

Marit hebt überrascht die Brauen. »Der fällt dir schwer? Ich dachte, du kannst die Zeit kaum abwarten, bis es so weit ist. Du warst doch ganz wild auf Australien.«

»Bin ich ja auch immer noch. Aber trotzdem habe ich manchmal Schiss, all das hier zu verlieren. Nicht dass es so toll wäre. Aber ich bin eben daran gewöhnt.«

»Warum solltest du etwas verlieren? Wenn du Heimweh hast, kommst du eben zurück nach Hause. Du kannst ja jederzeit zurückkommen. Deine Eltern würden sich freuen.«

»Und wenn sich alles verändert hat, wenn ich zurückkomme?«

Du wirst dich dann verändert haben, denkt Marit, aber das spricht sie nicht aus. Wozu auch?

»Ich kann dich beruhigen: Das hier ist der Arsch der Welt. Hier verändert sich nie irgendwas. Niemals. Auch nicht in zehn Jahren. Deshalb willst du ja auch unbedingt weg. Und du wirst mir echt fehlen.« Sie sagt es leichthin, als Aufmunterung gedacht, spürt jedoch, wie der Gedanke an den bevorstehenden Abschied ihr gleich wieder einen Stich versetzt, wohingegen Franka ihre gute Laune zurückgewinnt und kurz Marits Schulter drückt.

»Ich werde dich auch schrecklich vermissen«, verspricht sie, und bei ihr hört es sich an, als ginge es dabei um eine eher erfrischende Beschäftigung.

Immerhin: Die Harmonie zwischen ihnen ist wiederhergestellt. Beim Schwimmen sind Australien und die Zukunft vergessen, und es zählen nur der Fluss und das Jetzt. Sie sind beide gute Schwimmerinnen, wetteifern aus alter Gewohnheit, wer zuerst die grüne Tonne, eine Boje an der Grenze zum Fahrwasser, erreicht. Ein gewagtes Unterfangen, die Elbe birgt viele Gefahren, die Strömung, die Kälte, vor allem in der Nähe des Anlegers entstehen oft Strudel, doch sie kennen sich aus und neigen im Gegensatz zu den meisten Jungs keineswegs dazu, sich zu überschätzen. Der Strom gibt sich anschmiegsamer als sonst an diesem Tag: ein verschlafenes Kätzchen. Schwerelos gleitet Marit dahin. Nur dreimal atmen bis zum Ziel, das gelingt ihr nur selten. Franka ist chancenlos und eine faire Verliererin – das muss man ihr lassen.

Inzwischen hat Helene Gesellschaft von ihrem Freund und einem weiteren Pärchen aus der Clique bekommen. Fehlen noch Jan und Hendrik, dann wäre der innere Zirkel komplett. Hendrik gehört eigentlich zu Franka, ob er aufkreuzen wird, ist allerdings unklar, nachdem er und seine Freundin sich letzte Woche zerstritten haben. Wäre es nach Franka gegangen, hätten sie den Sommer bis zu ihrer Abreise noch als Paar verbracht, unmittelbar davor wollte sie ihm dann den Laufpass geben. Marit wundert es nicht, dass Hendrik ihre Absichten durchschaut und ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Er mag ein netter Kerl sein, aber gewiss kein Volltrottel. Im Gegensatz zu Marits Bruder Ansgar. Letztes Jahr im Frühling waren Franka und er für drei Wochen zusammen, und nach Marits Einschätzung hat sie ihn in erster Linie dazu benutzt, sich in ihrem Informatik-Leistungskurs Wettbewerbsvorteile zu verschaffen, denn Ansgar ist ein ziemliches Ass am Computer. Andere Qualitäten hat er kaum. Zu unsportlich, zu introvertiert und im Allgemeinen zu desinteressiert, um sich in der Schülerschaft des Theodor-Sturm-Gymnasiums Respekt zu verschaffen, fristet er ein stilles Außenseiterdasein. Dass er im Großen und Ganzen von seinen Mitschülern in Ruhe gelassen wird, verdankt er vermutlich dem Einfluss ihres Vaters. Immerhin ist Winfried Pauli einer der wichtigsten Arbeitgeber in der Region.

Als hätten Marits Gedanken ihn angelockt, taucht Ansgar wenig später am Strand auf, seine Freundin Zoé im Schlepptau, auch sie ein Computerfreak.

»Was will der denn hier?«, fragt Franka genervt. Über die kurze gemeinsame Zeit hat sie nie ein Wort verloren.

»Was wohl? Was alle wollen. Rumhängen.«

Da zwischen Marits Clique und dem erstaunlich friedlichen Koma-Klub noch ein Fleckchen Sand frei geblieben ist, breiten die zwei ihre Strandlaken in unmittelbarer Nachbarschaft aus.

»Na toll«, sagt Franka.

»Eifersüchtig?«

»Auf die auch gerade.«

Ansgar hat seine Schwester entdeckt und winkt ihr zu, worauf Marit ebenfalls die Hand hebt, wenn auch widerwillig. Mehr eine abweisende Geste als ein Winken. Wie blass und hager er ist, Arme und Beine spindeldürr. Mit seinen halblangen Spaghettihaaren sieht er fast wie ein Junkie aus, mindestens wie ein Kiffer. Wahrscheinlich trifft Letzteres zu. Marit weiß, dass sie ebenfalls ein wenig zu dünn ist, das liegt in der Familie, etwas seltsam vielleicht für Speiseeis-Fabrikanten – aber Ansgar in seinen Bade-Boxershorts wirkt auf sie regelrecht untergewichtig. Wie unzählige Male zuvor schämt sie sich seinetwegen vor ihren Freunden. Eine Empfindung, auf die sie nicht gerade stolz ist und die sie dennoch nicht unterdrücken kann. Es hat andere Zeiten gegeben: Als sie klein waren, sind Ansgar und sie bestens miteinander ausgekommen. Er ist nur ein Jahr jünger als Marit, und vor ihrer Einschulung waren sie unzertrennlich. Lange her. Die Erinnerungen daran sind schon ziemlich verblichen, was eigentlich schade ist.

Der Tag schleppt sich. Der Wind hat nachgelassen und die Luft wird mit jeder Stunde schwerer. Juliglut. Wegen der Hitze müssen sie zu guter Letzt doch die mitgebrachten Sonnenschirme aufspannen, obgleich Julia und Helene protestieren. Bloß keinen Sonnenstrahl verpassen, Bikinis sehen auf sonnengebräunter Haut nun mal am besten aus. Marit und Franka probieren ohne große Hingabe eine Partie auf Marits Steckschach und lästern, weil die beiden Pärchen unentwegt knutschen und sonst niemandem Beachtung schenken, aber Marit weiß, wäre Jan da, würde sie dasselbe tun. Es ist verrückt: Sie haben sich am Morgen zuletzt gesehen und doch vermisst sie ihn bereits. In seiner Gegenwart fühlt sie sich immer ein wenig aufgeräumter als allein. Vor lauter Sehnsucht übersieht sie ihn glatt, als er endlich im Anmarsch ist.

»Na, schau mal, wer da kommt«, sagt Franka. »Die arbeitende Bevölkerung macht heute aber spät Mittag.«

Marits Stimmung verbessert sich schlagartig. »Jan!«

Er trägt eine große Portion Pommes rot-weiß in der einen und zwei Flaschen Cola in der anderen Hand, eine davon für sie. Zur Begrüßung ein Kuss, der nach mehr verlangt.

»Mahlzeit.«

»Was macht die Eisproduktion?«

»Brummt. Wenn es so weitergeht, muss dein Vater bald Aushilfen einstellen. Du hast nicht zufällig Lust, heute die Spätschicht zu unterstützen?«

»Kein bisschen«, sagt Marit. Nicht dass sie sich dafür zu fein wäre, sie hat schon oft in der Fabrik gejobbt, aber in diesem Sommer will sie einfach nur ausspannen. »Und du? Musst du heute noch zur Tankstelle?«

»Wie immer. In einer Stunde.«

»Schade. Das nervt.«

Jan hat drei Jobs: wochentags Frühschicht in der Eisfabrik, Spätschicht in der Tankstelle, Callcenter am Wochenende. Er würde noch mehr arbeiten, wenn der Tag mehr Stunden hätte. Seine Mutter hat ihn allein großgezogen, und das Geld war immer knapp, das hat Spuren hinterlassen. Wie ein Besessener ackert und spart er fürs Studium. Seine Zielstrebigkeit imponiert Marit, manchmal wünschte sie trotzdem, er würde sich etwas mehr Zeit für sie nehmen.

»Kannst du nicht ein einziges Mal schwänzen? Es ist so heiß. Da tankt doch keiner. Du stehst dir bloß die Beine in den Bauch und langweilst dich zu Tode.«

Er lacht sie aus. »Von wegen. Von der Meute hier am Strand wird mindestens ein Drittel nachher auf dem Heimweg Benzin brauchen. Außerdem Bier, Würste und Grillkohle. Und Zigaretten. Das kriegen sie alles bei mir.«

Solange sie denken kann, hat Jan nie eine Schicht versäumt, ein Grund dafür, dass ihre Eltern so begeistert von ihm sind, was Marit natürlich freut. Das macht vieles einfacher. Wenn ihr Vater einen Jungen nicht leiden kann, kennt er keine Hemmungen, spielt sich als stockkonservativer Patriarch auf und ekelt jeden in die Flucht. Bei Jan hat er das nie gemacht, der gehört beinahe schon zur Familie.

Da es zwecklos ist, ihn wegen heute Nachmittag umstimmen zu wollen, beeilen sie sich mit den Pommes und gehen dann noch kurz zusammen ins Wasser. Es macht ihn jedes Mal wehrlos, sie im Bikini zu sehen, das hat er ihr neulich gestanden. Marit, mangels weiblicher Rundungen in Badebekleidung bislang eher unsicher, hat daraufhin ein völlig neues Selbstbewusstsein im Hinblick auf ihren eigenen Körper entwickelt. Für schlau hielt sie sich schon immer, sich nun obendrein schön zu finden, hebt das Lebensgefühl ungemein. Die Haare wachsen zu lassen, war ebenfalls ein Schritt in die richtige Richtung. Wenn die Sonne so weiterscheint, ist sie bald fast so strohblond wie als kleines Mädchen.

Sie küssen sich heftig. Wie die Sonne den Fluss zum Funkeln bringt, dazu seine Umarmung. Supersommer. Sobald sie tief genug im Wasser sind, hat Marit nichts mehr dagegen, wenn Jans Hände sich unter ihr Oberteil schummeln.

Als sie später bäuchlings auf den Handtüchern liegen und langsam trocknen, zeigt sich Jan überrascht, Ansgar und seine Freundin zu sehen.

»Ich dachte, die beiden wären getrennt.«

»Echt? Da weißt du mehr als ich. Wer sagt das?«

»Tankstellenklatsch. Die Leute stehen in der Schlange und reden über andere Leute.«

»Tun sie das?«, fragt Marit spöttisch und lässt Sand in die Mulde zwischen seinen braun gebrannten Schulterblättern rieseln. Er ist ein dunkler Typ: Ein halber Tag am Strand und schon sieht er aus, als hätte er drei Wochen Urlaub im Süden hinter sich. »Und reden die auch über uns?«

»Wohl kaum, wenn ich an der Kasse stehe. Warum sollten sie auch, da gibt’s ja nichts zu reden. Keine Skandale in Sicht. Wir sind total uninteressant.«

»Und so soll es auch bleiben.«

Er schreibt mit dem Finger erst ihren, dann seinen Namen in den Sand. »Klar bleibt das so.«

Jans Mittagspause dauert nur noch zehn Minuten und er will sich noch kurz ausruhen. Kaum hat er den Kopf auf seinen angewinkelten Arm gebettet und die Augen geschlossen, verraten ruhige, gleichmäßige Atemzüge, dass er eingeschlafen ist. Typisch Jan.

Von den Gerüchten irritiert, beobachtet Marit ihren Bruder und Zóe verstohlen. Wären die zwei tatsächlich getrennt, würden sie wohl kaum zusammen an den Strand gehen. Glücklich sehen sie allerdings nicht aus, wie sie da nebeneinander im Schneidersitz auf ihren Strandlaken kauern, den Blick auf den Fluss gerichtet, scheinbar in ein ernstes Gespräch vertieft. Es täte Marit leid, wenn die Beziehung in die Brüche ginge. Ansgar hat schließlich nicht viele Freunde. Oder überhaupt keine? Zumindest keine, die Marit kennt. Zoés Zuneigung hat ihn in gewisser Weise aufgewertet. Nicht nur wegen ihrer Schönheit, unübersehbar trotz asymmetrischer Punkfrisur und Secondhand-Schmuddelklamotten: ihre seidigen schwarzbraunen Locken, dazu diese großen Kulleraugen in einem irritierend hellen Blau. Was noch mehr zählt: Zóe ist cool. Unabhängig. Geheimnisvoll. Das ist Konsens. Allein schon, weil ihre Eltern bekannte Künstler sind und auf einem Resthof sowohl ein Atelier betreiben als auch eine Schnapsbrennerei. Auch Zoé ist künstlerisch ambitioniert, wie Marit von Ansgar weiß. Die Familie ist erst vor zwei Jahren aus Hamburg hergezogen, und Zoé lässt bei jeder Gelegenheit durchblicken, wie provinziell sie jeden hier findet. Nicht nur deshalb ist sie Marit eher unsympathisch. Dennoch: Für Ansgar ist Zoé zweifellos so etwas wie ein Sechser im Lotto.

Marit versucht, der Unterhaltung der beiden zu lauschen, doch sie reden zu leise und die Idioten vom Koma-Klub machen ihrem bescheuerten Namen mittlerweile alle Ehre und lallen lautstark vor sich hin, prahlen mit Abstürzen und Weibergeschichten. Als ob irgendeiner von diesen Verlierern jemals bei einer Frau landen könnte, ohne dafür zu bezahlen. Dazu Fetenhits aus einem Handylautsprecher: blechernes Geschepper.

Zehn Minuten sind um. Marit will gerade Jan wecken, als Zoé unvermittelt aufspringt, das Gesicht wutverzerrt, worauf Ansgar seine Freundin reflexartig am Handgelenk packt und sie festhält.

»Lass mich los, du Arsch.«

Jetzt ist sie klar und deutlich zu verstehen.

Ansgar reagiert nicht.

»Lass los.«

Er hält Zoé noch immer: »Bitte bleib hier.«

Laut wird Ansgar im Gegensatz zu seiner Freundin nicht, wird er selten, aber Marit kann die Worte von seinen Lippen ablesen. Sein Griff ist so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortreten.

Ein paar Sekunden geschieht überhaupt nichts, wie ein Countdown, dann viel zu schnell zu viel: Zoé verpasst ihrem Freund eine Ohrfeige, brüllendes Gelächter aus dem Lager des Koma-Klubs, Ansgar lässt los, sie haut ab, und als er ihr nachlaufen will, macht Hark Jansen den Arm lang und zieht ihm die Badehose runter. Ansgars Beine verheddern sich, er fällt lang hin, rappelt sich jedoch gleich wieder hoch. Standbild: Marits Bruder splitternackt, inmitten von Gaffern, die lachen und johlen, manche klatschen Beifall. Seine Hilflosigkeit, weil er viel zu lange braucht, um überhaupt zu kapieren, was vor sich geht. Sein Blick in ihre Richtung. Marit fühlt seinen Schmerz wie einen Tritt in den Magen.

Sie ist seine große Schwester. Sie ahnt, sie müsste jetzt aufstehen und zu ihm hingehen, sich ebenso anstarren lassen, damit er nicht mehr so allein ist mit dem Hohn und Spott der Leute. Das wäre das Mindeste. Aber sie bleibt sitzen wie gelähmt, während es Ansgar nach einer Ewigkeit endlich gelingt, die Badehose wieder anzuziehen.

Zoé ist auf und davon. Anstatt zu flüchten, begeht Ansgar gleich die nächste Dummheit, indem er sich auf Hark Jansen stürzt, eine Gelegenheit, auf die der Koma-Klub schon den ganzen Tag gewartet hat. Sofort ist Ansgar von den Kerlen umringt. Jetzt bekommt Marit wirklich Angst um ihren Bruder. Sie weiß nicht, ob sie die DLRG holen soll oder lieber per Handy gleich die Polizei. Die Vorliebe der Jansen-Brüder für Waffen aller Art ist ein offenes Geheimnis. Sie blickt sich um: Wie beschäftigt plötzlich alle sind.

Am Ende geht Marit, gefolgt von Jan und Helenes Freund Markus, selbst dazwischen. Eine kopflose Aktion: Die Jungs schirmen ihren Bruder ab, Marit quatscht auf die Angreifer ein, versucht, ruhig zu wirken, zu schlichten, während sie innerlich zittert. Als sie Hark Jansen am Oberarm berührt, macht er ein Gesicht, als wolle er zuschlagen, und sie versucht, sich gegen den Schmerz zu wappnen. Aber nichts passiert. Hark Jansen verharrt und glotzt sie an wie ein lästiges Insekt.

»Sag deinem bekloppten Bruder, er darf gehen.«

Das ist nicht nötig. Ohne ein Wort zu seiner Schwester und ihren Freunden macht sich Ansgar aus dem Staub. Von Dankbarkeit keine Spur.

Eine halbe Stunde später ist Marit noch immer so aufgewühlt, dass sie unwillkürlich mit geballten Fäusten dasitzt. Sie kommt einfach nicht wieder runter. Jan ist zur Arbeit aufgebrochen und sie hat für heute jegliche Lust aufs Strandleben verloren. Die anderen haben vorgeschlagen aufzubrechen, Markus und Helene sind schon weg, doch Marit ist unschlüssig. Da Ansgars Klamotten und sein Rucksack im Sand liegen geblieben sind und er seit der Prügelei verschwunden ist, mag sie das Feld nicht einfach so den Saufbrüdern überlassen. Vermutlich sind Portemonnaie und Handy in dem Rucksack, beides würde garantiert geklaut werden. Mitnehmen will sie die Sachen aber auch nicht.

Schließlich kehrt nicht Ansgar, sondern Zoé zurück an den Strand und gesellt sich ausgerechnet zu Hark Jansen und seinen Freunden, scherzt und schäkert, lässt sich ein Bier ausgeben.

»Das ertrag ich nicht«, sagt Marit.

»Dann hauen wir ab. Das bringt doch hier nichts mehr. Nimm einfach den Rucksack mit und lass die Klamotten liegen«, schlägt Franka vor.

Sie hat recht. Zwar ist Marit sich sicher, dass Jeans und T-Shirt ihres Bruders in der Elbe oder später im Lagerfeuer landen werden, letztlich kann das aber nicht auch noch ihr Problem sein. Mit seinem Talent, sich in großem Stil lächerlich zu machen, hat er ihr ohnehin den Tag versaut. Muss er eben in Badehose nach Hause kommen.

Sie packen zusammen und brechen auf. Als sie an Zoé vorbeigeht, kann Marit sich nicht beherrschen und nennt sie eine Schlampe. Sicher, es gibt weitaus schlimmere Beleidigungen, die man einem Mädchen wie ihr an den Kopf werfen kann, doch hätte Marit geahnt, dass sie Zoé niemals wiedersehen würde, wäre ihr das gewiss nicht passiert.

Vermisst

Sie werden dich nicht finden. Solange ich schweige. Wenn ich nur wüsste, wie ich das durchstehen soll. Alle werden nach dir suchen, vielleicht wirst du sogar berühmt, das wolltest du doch immer. Ich wünschte, es gäbe jemanden, mit dem ich reden könnte. Jemanden außer dir.

Omega-Wetterlage. Die Nachrichtensprecherin im Radio stellt eine lang anhaltende Hitzeperiode in Aussicht und Marits Vater verlässt das Haus beschwingt, nachdem er Frau und Tochter zum Abschied geküsst hat, was er in verregneten Sommern, wenn kaum jemand Eis essen mag, durchaus mal vergisst. Er ist selten zu Hause und selbst am Wochenende kreisen seine Gedanken meistens um das Geschäft.

Marit und ihre Mutter bleiben am Frühstückstisch zurück und machen sich über ihn lustig: immer das gleiche Spiel, Jahr für Jahr, sein Stolz auf jede gute Saison, in der das Wetter mitspielt, als hätte er persönlich darauf Einfluss genommen. Seit die Nachfrage nach Speiseeis auch im Winter gestiegen ist, steckt allerdings mehr sportlicher Ehrgeiz dahinter als existenzielle Sorge. Die Firma steht blendend da. An einem Tag wie diesem werden in drei Schichten mehr als eine Million Portionen Eis am Stiel über die Fließbänder laufen.

»Ob ich in zehn Jahren genauso bin wie er?«, fragt Marit.

»Ganz bestimmt.«

Sie sitzen auf der Terrasse und trinken in Ruhe ihren Milchkaffee aus. Marits Blick geht in den Garten, wo die Hortensien und Kletterrosen am Pavillon in voller Blüte stehen. Der Rasensprenger ist eingeschaltet und das feuchte Gras verströmt einen frischen Duft.

Früher war Hilke Pauli, eine studierte Chemikerin, in die Geschäftsführung der Eisfabrik involviert, doch in letzter Zeit widmet sie sich in erster Linie dem Garten oder ehrenamtlichen Projekten wie der Elbe-Tafel. Marit ist stolz auf ihre Mutter, obgleich sie denkt, dass ihr selbst ein solches Leben nicht reichen würde. Sie ist fasziniert von der Vorstellung, das Familienunternehmen, gegründet vom Urgroßvater noch vor dem Krieg, könnte später einmal unter ihrer Leitung ins Ausland expandieren. Der beste Coup wäre, wenn ihr Eis künftig in ganz Europa zu haben wäre. Wen interessiert dann noch das Wetter an der Niederelbe?

Als sie gemeinsam den Tisch abräumen, klingelt das Telefon und Marit nimmt das Gespräch bereitwillig an, froh, sich um die Hausarbeit drücken zu können. Am anderen Ende der Leitung holt jemand tief Luft, dann meldet sich eine Frauenstimme so erstickt, dass der Name nicht zu verstehen ist.

»Wer ist da bitte?«

»Rena Berger.«

Zoés Mutter. Marit sieht sie vor sich: eine zierliche Frau, die figurbetonte Kaschmirpullover trägt und nie ungeschminkt aus dem Haus geht. Kurze, braune Haare, dunkle Augen. Alle paar Wochen taucht ein Foto von ihr in der Lokalzeitung auf, im Hintergrund ein neues Aquarell oder Ölgemälde. Zoés Vater, ein kleiner, dickbäuchiger Bildhauer namens Hardy Jespersen, wird viel seltener abgelichtet als seine Lebensgefährtin, obgleich er im Gegensatz zu ihr einige bedeutende Kunstpreise gewonnen haben soll. Behauptet Helene in ihrer Eigenschaft als angehende Journalistin und freie Mitarbeiterin des heimischen Käseblatts.

»Guten Morgen, Frau Berger. Möchten Sie meinen Bruder sprechen?«

»Ist Zoé bei ihm?«

»Nicht dass ich wüsste.«

Gestern war Sonntag, da haben sie mittags zu sechst im Garten gegrillt: die ganze Familie, inklusive Großeltern väterlicherseits. Jan musste arbeiten und konnte nicht kommen. Von Zoé war nicht die Rede. Ansgar hat fast nichts gegessen und ist ziemlich früh in seinem Zimmer verschwunden. Allein. Es würde Marit wundern, wenn er später noch Besuch bekommen hätte.

»Ich kann gern in Ansgars Zimmer nachsehen«, schlägt sie vor, obschon Zoé ihres Wissens noch nie bei ihnen übernachtet hat, genauso wenig wie Jan. Ihre Eltern sind in dieser Hinsicht altmodisch. »Ich schätze, mein Bruder schläft noch.«

»Bitte schau nach.« Rena Berger klingt, als wäre sie den Tränen nah. »Zoé ist nämlich seit gestern nicht mehr nach Hause gekommen.«

»Okay. Augenblick.« Während Marit den Weg ins Obergeschoss zurücklegt, behält sie das Telefon am Ohr, weiß aber nicht, was sie sagen soll, und ist daher gezwungen, dem angestrengten Atmen von Frau Berger zu lauschen, die ebenfalls schweigt. Marit hätte sie für lässiger gehalten. Ist doch bestimmt nicht das erste Mal, dass Zoé über Nacht wegbleibt, ohne Bescheid zu sagen. Vielleicht haben sie ja gemeinsame Pläne für den Tag, irgendetwas Wichtiges. Würde Zoé ähnlich sehen, ihre Mutter sitzen zu lassen.

Ansgars Zimmertür ist geschlossen. Marit öffnet sie einen Spalt und steckt den Kopf in die verbrauchte Luft. Drinnen ist es stockfinster, die Rollläden sperren den Tag aus.

»Ansgar?«

Keine Antwort.

Marit schaltet das Deckenlicht ein. Das reinste Chaos wie gewöhnlich, obwohl Frau Buschke, ihre Haushaltshilfe, zweimal pro Woche auch diesen Raum sauber macht. Auf dem Bett dreht sich ihr Bruder murrend zur Wand, ohne richtig wach zu werden. Er ist allein.

»Frau Berger? Sind Sie noch dran?«

»Natürlich bin ich dran.«

»Zoé ist nicht hier.«

»Und dein Bruder?«

»Der schon. Aber er schläft.«

»Dann weck ihn.«

Von dem plötzlichen Befehlston provoziert, schaltet Marit automatisch auf stur: »Es sind Ferien, da schläft Ansgar mindestens bis mittags. Den krieg ich jetzt gar nicht wach. Er kann Sie ja nachher zurückrufen. Ich sag ihm Bescheid.«

»Nein, weck ihn auf. Sofort. Ich muss mit ihm reden. Hör zu, Marit, das ist kein Spaß. Zoé hat so etwas noch nie gemacht«, drängt Frau Berger und Marit fragt sich, wie wohl das Bild aussehen mag, das sie von ihrer Tochter hat. Ist Zoé zu Hause einfach nur die gute Tochter, genau wie Marit für ihre eigenen Eltern? Ein liebes, zuverlässiges Mädchen? Trotz ihrer abgewrackten Lederjacke und der Piercings?

»Haben Sie es schon auf ihrem Handy probiert?«, erkundigt sie sich und bereut es sofort. Als wäre Rena Berger zu bescheuert, um auf das Naheliegendste zu kommen.

»Das ist ausgeschaltet. Ich will jetzt mit deinem Bruder reden.«

»Okay.«

Wie vermutet, ist es nicht leicht, ihn zu wecken. Marit muss über das Durcheinander aus Klamotten, Computerzeitschriften und halb leeren 1,5-Liter-Mezzomix-Flaschen auf dem Boden hinwegsteigen, um zum Bett zu gelangen, weil er auf ihr Rufen hin keine Reaktion zeigt. Erst als sie kräftig seine Schulter rüttelt, schlägt er die Augen auf und blinzelt in ihre Richtung, einen verwirrten Ausdruck im Gesicht. Sobald er seine Schwester erkennt, faucht er sie an.

»Verpiss dich.«

Von Ansgars schlaftrunkenem Atem angewidert, weicht Marit einen Schritt zurück, hält ihm mit ausgestrecktem Arm das Telefon hin. »Frau Berger will dich unbedingt sprechen. Zoé ist gestern nicht nach Hause gekommen.«

»Was?«

»Frau Berger für dich.«

Auf einen Schlag ist Ansgar hellwach. Ohne ein weiteres Wort reißt er Marit das Telefon aus der Hand, stürzt aus dem Zimmer und knallt die Tür zu.

»Arschloch.«

Während Marit die Rollläden hochzieht und das Fenster weit aufreißt, überfällt sie ein Anflug von Übelkeit und sie redet sich ein, das käme bloß vom Sauerstoffmangel in dem miefigen Raum.

Punkt halb elf holt Marit in ihrem fabrikneuen blauen Mini wie geplant Franka ab. Es geht in die Kreisstadt, die Freundin will einen neuen Bikini oder Badeanzug für Australien kaufen, etwas Extravagantes, was auch immer damit gemeint sein soll. Da sie letzte Woche bereits im Hamburger Karoviertel nichts finden konnte, was ihren Vorstellungen entspricht, hält Marit die Erfolgsaussichten des Einkaufsbummels für verschwindend gering, die Kreisstadt ist nicht gerade ein Mode- und Design-Mekka. H & M, C & A, ein paar spießige Boutiquen mit Wollsachen und Filzkleidern für wohlhabende Ökotussis – das war’s. Dennoch kommt ihr die Verabredung gelegen. Shopping mit Franka macht Spaß: Abgesehen vom Geldausgeben geht es ihnen im Grunde ums Lästern. Marit hält sich nicht für bösartig, aber hin und wieder tut es einfach gut, die eigene Gehässigkeit auszutesten und sich über alles und jeden das Maul zu zerreißen. Am liebsten über schräge Mitschülerinnen, die ihnen zufällig über den Weg laufen. Über Mädchen wie Zoé.

Marit ertappt sich dabei, wie sie unwillkürlich langsam fährt und nach Ansgars Freundin Ausschau hält, indem sie das sattgrüne Gras links und rechts der Landstraße absucht oder innerhalb der Ortschaften jeden einzelnen Fußgänger anstarrt. Weder das eine noch das andere ergibt einen Sinn, dennoch kann sie nicht damit aufhören. Eine Radkappe. Plastikflaschen. Ein überfahrenes Tier, nach der Fellfarbe zu urteilen wahrscheinlich ein Kaninchen. Als Franka die Musik laut aufdreht – Delta-Radio, ihr gemeinsamer Lieblingssender –, fühlt Marit sich bei ihrer geistlosen Spurensuche gestört. Sie hat das Bedürfnis, sich zu konzentrieren. Aber worauf?

»Kannst du das leiser stellen? Das nervt.«

»Seit wann das denn?«

»Seit heute.«

Franka tut ihr den Gefallen, hakt aber nach. »Geht’s dir nicht gut?«

»Doch, wieso? Nur weil ich keine Lust auf Musik habe?«

»Du weißt genau warum.«

»Weiß ich nicht.«

»Du bist total komisch. Schleichst hier lang und glotzt stumpf auf die Straße, redest nicht mit mir. Du hast doch irgendwas. Streit mit Jan?«

»Quatsch.«

Seltsamerweise schreckt Marit davor zurück, der Freundin von der Sache mit Zoé zu berichten, dabei wäre es eigentlich nur logisch: Franka könnte Zoé zufällig begegnet sein. Frau Berger wäre sicher dankbar für jeden Hinweis. Doch Marit ist egoistisch, will sich lieber ablenken, in der Hoffnung, dass sich alles von allein aufklären wird. Gleichzeitig hat sie ein mulmiges Gefühl.

Davon kann wenig später in der Stadt allerdings keine Rede mehr sein, Marits Plan geht auf, wenn auch nur vorübergehend: Sie albern herum, machen sich über die Leute lustig und probieren alles Mögliche an. Franka schwatzt ihr ein Kleid auf, das sie garantiert nie tragen wird: zu schrill, zu kurz, insgesamt zu gewagt. Andererseits: Wer weiß, was an der Uni sein wird? Der Spiegel bei H & M zeigt eine angehende Studentin, die sich so etwas durchaus erlauben kann.

Im Schroeders, direkt am Fleet in der Altstadt gelegen, schmeckt Marit der Milchkaffee nicht, und auch den Blaubeermuffin lässt sie nach wenigen Bissen liegen. In ihrem Kopf flirrt Zoés Name umher wie ein beginnender Kopfschmerz, eine aufdringliche Botschaft von ihrem Unterbewusstsein, das sich nicht länger mit schnöden Ablenkungsmanövern ausbooten lässt. Die Übelkeit vom Vormittag meldet sich zurück.

»Jetzt sag schon, was los ist«, fordert Franka sie auf.

Marit erzählt es ihr.

»Wahrscheinlich hat Ansgar sie erwürgt. Oder ihr mit einer alten Festplatte den Schädel eingeschlagen«, witzelt Franka, nachdem sie seelenruhig zugehört hat, und obwohl ihr Tonfall keinerlei Zweifel daran aufkommen lässt, dass sie die Geschichte ins Lächerliche ziehen will, ist Marit schockiert.

»Wie kannst du so was sagen?«

»Du hast die beiden doch am Strand beobachtet. Wäre ja nicht verwunderlich, wenn Ansgar irgendwann ausrastet, so wie Zoé ihn behandelt. Als wir zusammen waren, hatte er auch so seine Aussetzer«, treibt Franka es auf die Spitze, inzwischen nicht mehr ganz so ironisch.

Die Dreistigkeit dieser Anschuldigung gegen ihren Bruder – ernst gemeint oder nicht – bringt Marit vollends aus der Fassung und sie antwortet mit einer Schärfe, die sie selbst überrascht: »Pass auf, was du sagst.«

Die ältere Dame am Nachbartisch blickt von ihrem Käsekuchen auf und mustert sie mit unverblümter Neugier.

»Hey, ich hab einen Scherz gemacht.« Franka hebt abwehrend die Hände.

»Nicht witzig.«

»Fand ich schon. Zumindest bis du darauf eingestiegen bist.«

»Bin ich ja gar nicht.«

»Doch.«

»Stimmt nicht.«

Diese haltlose Antwort bringt Marit ein Kopfschütteln von Franka ein. »Mann, du bist echt durch den Wind heute. Iss mal was.«

»Keinen Appetit.«

Franka seufzt. »Dann lass es bleiben.«

Ein unangenehmes Schweigen entsteht und dehnt sich zwischen ihnen aus. Eine Minute. Zwei. Fünf. Leute gehen vorbei: Mütter mit Kindern, Rentner, eine Gruppe Touristen, die backsteinroten Fachwerkhäuser im Visier. Keine Zoé. Niemand, den man nach ihr fragen könnte. Die alte Frau verliert das Interesse an ihnen und widmet sich wieder dem Kuchen. Marit und Franka trinken ihren Kaffee. Der angebissene Blaubeermuffin lockt Fliegen an, die Marit mit der Hand verscheucht. Da das auf Dauer lästig wird, isst sie das Gebäck schließlich doch noch auf, was Franka eindeutig als Versöhnungsangebot interpretiert.

»Lass uns wegen dieser kleinen Schlampe nicht länger streiten, okay? Die taucht schon wieder auf. Ich wette, sie treibt sich mit ganz üblen Typen in ihrem ach so grandiosen Hamburg rum.«