Der Outlaw - Georges Simenon - E-Book

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Georges Simenon

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Beschreibung

ZEIT FÜR MICH – ZEIT FÜR SIMENON Stan hat viele Ideen, aber einfach kein Glück. Nach einem kleinen, aber folgenreichen Spaß in seiner Heimat Litauen muss er diese verlassen und geht nach Amerika. Nachdem er auch hier wieder scheitert und sich in Lebensgefahr bringt, strandet er mit seiner Freundin in Paris. Während Nouchi hier Fuß fasst, bleibt Stan rastlos. Als Illegaler hat er wenige Aussichten auf einen guten Job, und erneut gerät er in das Visier einer gefährlichen Bande. Stan wird zunehmend zum Gesetzlosen, einem Outlaw. Bandnummer: 41

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Seitenzahl: 220

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Georges Simenon

Der Outlaw

Roman

Aus dem Französischen von Liselotte Julius

Atlantik

Erster Teil

1

Die Vorstellung im Kino Saint-Paul ging gerade zu Ende, als sie die Rue Saint-Antoine erreichten. Von der Bastille bis zum Hôtel de Ville lag die Straße wie ausgestorben da – eine einzige weite Schneise, die sogar noch weiter, bis zur Place de la Concorde, reichte –, winzig wirkten die wenigen vorbeieilenden Passanten, die sich bisweilen sogar diagonal über die Fahrbahn trauten.

Die beiden kamen praktisch vom anderen Ende der Stadt, aus dem Grenelle-Viertel, aus einer Straße, die noch nicht fertiggebaut und daher im Stadtplan von Paris nicht verzeichnet war. Wie lange gingen sie nun schon so im Gleichschritt, wobei Nouchi ihren Begleiter untergehakt hatte?

Zuerst hatten sie jedoch ins Grenelle-Viertel gehen müssen. Da hatten die Straßen noch etwas belebter gewirkt, denn obwohl es wegen der Kälte kaum Passanten gab, ahnte man doch, dass hinter den beschlagenen Fenstern der Cafés Menschen saßen.

»Was ist, wenn Lartik nicht da ist?«, hatte Nouchi zu fragen gewagt, als sie die Straße, die noch länger und noch eintöniger war als die Rue Saint-Antoine, bereits zur Hälfte passiert hatten.

Sie hätte besser nicht gefragt. Stan hatte sie streng, geradezu wütend angeblickt und war dann auf eine Bank losgestürzt, um das Holz zu berühren.

»Da ist kein Licht, Stan!«

»Er hat sich eben schon hingelegt!«

Lartik, der Bildhauer gewesen war, bevor er bei Renault arbeitete, wohnte in einer Art Pavillon, einem Maleratelier oder eher einer Baracke im Hinterhof eines halbfertigen Mietshauses. Der Zugang führte über eine Außentreppe ohne Geländer. Und an diesem Abend sah man so gut wie nichts.

»Stéphan!«, rief Stan, während er versuchte, durch die Fensterscheiben zu spähen. »Stéphan! … Ich bin’s, Stan … Du musst mir unbedingt aufmachen … Glaub mir, diesmal ist’s wirklich ernst … Nouchi ist auch hier … Wir sind die ganze Strecke von der Rue Saint-Antoine hierher zu Fuß gekommen …«

Nouchi flüsterte:

»Da hat sich was bewegt!«

Beiden schien es, als hätten sie ein Geräusch gehört. Sie sahen den rötlichen Lichtschein, der aus einem brennenden Ofen kam, und sie meinten auf dem Bett eine Silhouette, einen Schatten zu erkennen.

»Stéphan!«

Und Nouchi, fast unhörbar:

»Vielleicht ist er nicht allein.«

Hätte Lartik nicht wenigstens einen Abend mal auf ein Mädchen verzichten können? War er durch seine Arbeit bei Renault nicht schon erschöpft genug?

Nouchi hatte recht. Stan war ganz sicher: Sein Freund war zu Hause, auf dem Sofa, oder besser, auf der Matratze, die als Sofa diente, und zwar mit einer Frau! Die beiden hielten wohl gerade den Atem an und hatten dabei nicht einmal ihr Liebesspiel unterbrochen.

»Hör zu, Stéphan … Das ist das letzte Mal, dass ich komme … Du musst aufmachen … Unbedingt, verstehst du?«

Nouchi begann die Treppe hinunterzusteigen. Nach ein paar Minuten sagte sie von unten:

»Komm!«

Hier nun, vor dem Kino Saint-Paul, war es, als ob man eine Tube Zahnpasta ausdrückte – eine dicke Masse quoll heraus, die sich erst allmählich ausdünnte: Männer, Frauen, ganze Familien, deren laute Stimmen durch die Straßenschlucht hallten.

Stan schniefte. Sein Tick hatte ihn schon seit ein paar Minuten wieder gepackt. Er sog plötzlich die Luft heftig durch die Nase ein, die Nasenflügel legten sich an die Nasenwand, und sein Gesicht wirkte dadurch noch hagerer, eingefallener und die Augen noch fiebriger. Für Nouchi war es dann ratsam, ihn nicht anzusehen, so zu tun, als hätte sie nichts bemerkt.

Sie gingen an dem Kino vorbei. Ein paar Häuser weiter blieb Stan stehen. Über endlose Kilometer hatten sie kein einziges geöffnetes Geschäft entdeckt, und nun war da eines, direkt vor ihnen. Ein Süßwarenladen. Es war Mitternacht vorbei. Die Temperatur war unter null gefallen. Die wenigen Passanten eilten im Laufschritt vorbei. Aber dort, hinter dem beschlagenen Schaufenster, war ein Laden, gemütlich wie der Salon einer alten Jungfer – in der Mitte ein Kachelofen, überall säuberlich angeordnete Bonbonberge, rosafarbene, blassgrüne Pistaziendragees, zarter Karamell, der sicher auf der Zunge zerging, buntes, lustiges Zuckerwerk für Kinder, und hinter der Theke saß eine Frau. Sie strickte und zählte dabei die Maschen; um die Schultern trug sie einen mausgrauen gestrickten Schal.

Nouchi wartete, ohne ein Wort zu sagen. Sie wusste nicht genau, warum Stan stehen geblieben war, warum er hörbar die Luft durch die Nase einzog, warum er ausgerechnet dieses Schaufenster betrachtete und sich seine farblosen Lippen verzogen und die ungepflegten Zähne entblößten.

Schon auf dem Hinweg ins Grenelle-Viertel hatte Nouchi also die Unvorsichtigkeit begangen, von Lartik zu sprechen und vorauszusagen, dass er nicht daheim sein würde.

Wider besseres Wissen, wenn auch bestimmt nicht aus Bosheit, fing sie jetzt wieder damit an.

»Dann hat wenigstens er ein Bett zum Schlafen! – Wie spät ist es, Stan?«

Hatte er etwa eine Uhr? Er besaß doch schon lange keine mehr und auch sonst nichts von Wert, noch nicht einmal einen anständigen Mantel, sondern nur diesen dünnen. Also, was sollte das?

Wütend ging er weiter. Beinahe hätte er vergessen, Holz zu berühren, tat es dann aber doch, verstohlen, zog heftig die Luft ein, während er das Hôtel de Birague betrachtete, eine schäbige, zwielichtige Absteige in der Rue de Birague, die zur Place des Vosges führt.

In manchen Zimmern schliefen sie sogar zu viert oder fünft. Durch die Betätigung eines Summers ging automatisch die Haustür auf. Drinnen im Flur war ein Schiebefenster, und Stan und Nouchi fürchteten nichts so sehr, wie dass es aufgehen könnte.

Am besten witschte man leise daran vorbei, murmelte undeutlich einen Namen und schlich zur Treppe, damit der Besitzer nicht aus seinem Halbschlaf erwachte.

Sie waren bereits am Schiebefenster vorbei, und es hatte sich nicht bewegt. Dafür ging eine Tür auf, und der Besitzer erschien, eine massige Gestalt, so breit wie der Korridor, mit heruntergerutschter Hose und über der behaarten Brust geöffnetem Hemd.

»Wo wollt ihr hin?«

»Aber … Ich …«

»Jetzt reicht’s! Verduftet!«

»Wir haben doch noch Sachen oben«, wandte Nouchi zaghaft ein.

»Na, wenn schon!«

»Sie können uns doch nicht daran hindern zu holen, was …«

»Und wie steht’s mit der Rechnung? Habt ihr die etwa bezahlt? Na also! Haut ab, aber schleunigst! Ich hab euch lange genug gewarnt. Vielleicht findet sich noch ein Platz bei der Heilsarmee, wenn man euch nicht gleich freie Unterkunft im Kittchen anbietet …«

Sie hatten sich nur kurz in der Wärme des Korridors aufgehalten, die wie schlechter Atem roch, und waren dann weitergezogen. Die Bürgersteige waren trocken und hart. Nouchi konnte es nicht lassen, Stan von Zeit zu Zeit prüfend zu mustern, was er merkte. Er wusste genau, was sie dachte, doch er konnte nicht anders. Anstatt sie zu beruhigen, zog er nur geräuschvoll die Luft durch die Nase ein.

Sie gerieten in den Lieferverkehr um die Markthallen, doch sie gingen immer weiter, und Nouchi fragte nicht, wohin.

Es war ein beeindruckendes Bild. Zwischen den einzelnen schwarzen Pavillons hingen bauchige Lampen über den Wegen, wie Sterne, von einem grellweißen Strahlenkranz umgeben, der in die Augen stach, aber kein Licht spendete. Von den alten schmalen Häusern ringsum blätterte der Putz ab, sie waren mit Kritzeleien beschmiert und so windschief wie eine bemalte Theaterkulisse, die sich im Luftzug bauscht.

Lastwagen kamen vorbei, hielten, fuhren weiter. Ein Güterzug, der in Richtung Rue Montmartre unterwegs war, schob sich mitten durch das Bild. Menschen bewegten sich im Zeitlupentempo hin und her, mal im Schatten, mal in dem kalten künstlichen Licht.

Stan blieb erneut stehen. Nouchi ließ seinen Arm nicht los. Beide betrachteten einen riesigen Lastwagen, einen gelb lackierten Zehntonner, auf dessen Seitenwand ein Name, die Ortsbezeichnung Nantes und eine Telefonnummer zu lesen waren.

Der Fahrer machte sich im Schein einer Taschenlampe am Motor zu schaffen, den er mehrmals aufheulen ließ, um irgendetwas einzustellen, wobei das ganze Chassis erzitterte. Unterdessen ging das Entladen weiter. Ein Kohlkopf nach dem anderen kam aus dem Laster geflogen, und ein Clochard, in abenteuerliche Kleidungsstücke eingemummt, unter die er alte Zeitungen gestopft hatte, um sich warm zu halten, fing sie auf.

Man spürte förmlich, wie jeder Kohlkopf, den der Alte auffing, ihn ins Wanken brachte, und konnte sich ausrechnen, dass er früher oder später umfallen würde. Jedes Mal, wenn er einen Kohlkopf gefangen hatte, hielt er kurz inne, ehe er ihn einem hochgewachsenen jungen Mann zuwarf und dieser einem weiteren, der die Köpfe dann fachmännisch auf dem Bürgersteig zu einem ordentlichen Berg aufschichtete.

Keiner beachtete den anderen. Die Kohlköpfe waren fast weiß und mit Eissplittern übersät, an denen man sich die Hände wund reißen konnte.

Es nahm auch keiner Notiz von Stan, der bereits eine gute Viertelstunde unbeweglich danebenstand. Schließlich stieß er wortlos Nouchis Hand, die immer noch auf seinem Arm lag, weg, machte einen Schritt, danach einen zweiten und dritten, bis er zwischen dem Clochard und dem Studenten stand. Dann fing er schüchtern einen Kohlkopf auf, warf ihn weiter und reihte sich so in die Kette ein.

Der Clochard musterte ihn misstrauisch und murrte. Würde nicht jeder weniger Geld bekommen, wenn noch einer dazukam? Der Student runzelte die Stirn, allerdings nicht aus demselben Grund, sondern weil er den nervösen Tick von Stan bemerkt hatte und ihn in einer fremden Sprache, Russisch oder Polnisch, zählen hörte.

»Zweitausenddreihundert … dreihunderteins … zwei … zweitausenddreihundertunddrei …«

Denn Stan hatte die Anzahl Kohlköpfe errechnet, die bereits aus dem inzwischen halbleeren Wagen entladen worden waren.

»Zweitausendvierhundertzweiundzwanzig …«

Sie waren dick und schwer, diese Weiß- und Wirsingkohlköpfe. Man hörte den Zug rangieren und seine Waggons an verschiedenen Stellen abkoppeln. Gegenüber wurden in einer engen Bude Tausende von Orangen aufgestapelt, sodass es aussah, als müssten gleich die Wände bersten; überall in der Nähe duftete es nach Orangen.

»Zweitausendfünfhunderteinunddreißig …«

Hatte er sich da nicht geirrt und einhundert übersprungen?

Der Mann mit den schwarzen Gamaschen, dem kurzen Überzieher mit dem Biberkragen und dem Notizbuch in der Hand, der von Zeit zu Zeit herankam, war das nicht der Chef? Hatte er Stan bemerkt? Wenn er ihn gesehen hatte und weiterarbeiten ließ, dann würde er ihn auch wie die anderen bezahlen.

»Zweitausendsechshundertdreiundachtzig … vier … fünf …«

Eine leise Stimme, ganz nah:

»Stan …«

Er konnte sich nicht umdrehen, ohne zu riskieren, einen Kohlkopf fallen zu lassen. Er hob kaum den Kopf, aber er begriff. Zwei Männer kamen auf der Straßenmitte heran. Sie unterhielten sich laut und rauchten – bestimmt waren es Polizisten, vielleicht von der Sittenpolizei. Nouchi bedeutete Stan durch ein Zeichen, dass sie kurz weggehen würde.

Wie viel hatte er bis jetzt gezählt? Die Nase des Clochards tropfte, er dachte gar nicht daran, sie abzuwischen. Der Student hatte Wollhandschuhe an. Wahrscheinlich kam er aus einem kleinen Provinznest; Stan wäre jede Wette eingegangen, dass er eine Schwester hatte. Warum? Weil ein solcher Mann eine Schwester haben musste, weiter nichts.

Er ließ die Polizisten nicht aus den Augen, aber das durfte man ihm nicht anmerken. Sie näherten sich, musterten einen nach dem anderen und entfernten sich achselzuckend.

»Dreitausendundeinundfünfzig … zwei … drei …«

Nouchi kam nicht zurück. Sie war nirgends zu sehen. Trotzdem wusste er, dass sie im richtigen Moment wieder auftauchen würde. Die Arbeit wärmte ihn innerlich auf, äußerlich aber fror er immer noch, vor allem an den Händen, die wie abgestorben waren.

Viertausend Kohlköpfe! Der Lastwagen hatte viertausend Kohlköpfe geladen gehabt und würde nun gleich abfahren. Der Fahrer vergewisserte sich, ob alles abgeladen war, knöpfte seine Lederjacke zu, zog die Mütze über die Ohren und schwang sich dann auf den Fahrersitz. Würde er in der nächsten Nacht wieder mit viertausend Kohlköpfen kommen?

Der Chef erschien und gab zuerst dem Clochard zwanzig Franc; offenbar gehörte er zum Stammpersonal.

»Danke, Monsieur Émile.«

Dann musterte er Stan misstrauisch.

»Du hast doch nicht von Anfang an mitgemacht, oder?«

»Ich bin mittendrin dazugekommen …«

»Russe?«

»Pole …«

»Da hast du zehn Franc …«

Stan wartete noch einen Moment auf Nouchi. Sein Fuß stieß auf dem Pflaster an einen Gegenstand, den er aufhob. Ein dicker Schraubenschlüssel. Der Fahrer hatte ihn vergessen, als er sein Werkzeug zusammenpackte. Stan gab ihn nicht zurück, sondern steckte ihn in die Tasche. Es wunderte ihn nicht, als er zehn Meter vom Lastwagen entfernt wieder Nouchis Hand auf seinem Arm spürte.

Wortlos gingen sie die Rue Montmartre entlang, als Nouchi plötzlich fragte:

»Wie viel?«

Er antwortete nicht. Wozu auch? Was konnten sie schon mit zehn Franc anfangen, ohne Dach über dem Kopf, nur mit dem Nötigsten bekleidet und nicht einmal einem Taschentuch?

Lartik hatte nicht reagiert, und Stan war immer mehr davon überzeugt, dass er zu Hause gewesen war und sich vor dem knisternden Ofen mit einem Mädchen vergnügt hatte. Und es lohnte auch nicht den Versuch, Gregor Ignatieff im George V anzurufen. Die Telefonistin hatte ihre Anweisungen und erklärte jedes Mal, er sei ausgegangen. Als Stan ihm einmal drei Stunden lang vor dem Hotel aufgelauert hatte, bis er ihn endlich herauskommen sah, was hatte Ignatieff da gemacht? Er war zu einem Taxi geeilt, wo ihm ein Page bereits den Schlag aufhielt. Stan war ihm vergeblich nachgejagt.

»Entschuldigen Sie, mein Lieber … Eine dringende Verabredung … Kommen Sie doch ein andermal vorbei …«

Wo denn? Und wann? Der Portier hatte ebenfalls seine Anweisungen!

Und nun?

Nouchi stolperte. Sie bemühte sich nach Kräften, mit Stan Schritt zu halten, trottete aber schließlich nur noch schlapp wie in Trance dahin. Sie erreichten die Grands Boulevards, kamen an einer Apotheke vorbei, die Nachtdienst hatte, und dann zu dem großen Café an der Ecke, das rund um die Uhr geöffnet war.

Stan ging hinein, immer noch mit Nouchi im Schlepptau. Die ganze Theke war von Leuten besetzt, die sich über heiße Getränke beugten. Die beiden zögerten. Nouchi wagte nichts zu sagen. Da sie nicht mehr zum Friseur ging, reichten ihr die Haare bis in den Nacken; sie wirkte dadurch schlanker und ihr Gesicht länger. Sie hatte ihren Regenmantel mit dem Gürtel an, den sie am Broadway in einem Geschäft für Restposten erstanden hatten.

Stan zog heftig die Luft durch die Nase ein und betrachtete alles genau, ehe er seine Wahl traf: die auf einem Drahtuntersatz pyramidenförmig aufgetürmten harten Eier, eine andere Pyramide aus Butterbroten, eine weitere aus Schinkensandwiches.

Er sprach, als sei sein Mund völlig ausgetrocknet.

»Wie viel?«, erkundigte er sich mit einem Blick auf die Eier.

»Zweiunddreißig Sou …«

Er schob seinen Arm zwischen der Schulter einer alten Bettlerin und einem Taxifahrer hindurch. Warum zuckte er zusammen, als er den khakifarbenen Umhang des Fahrers sah? Er nahm zwei Eier.

»Zwei Kaffee …«

»Mit Schnaps?«

Er winkte ab. Die Eier waren genauso kalt wie der Kohl in den Hallen. Ihm war klar, warum Nouchi sich beim Essen zum Fenster wandte: Er sollte nicht sehen, dass sie den Tränen nahe war. Draußen drängten sich schattenhafte Gestalten um ein Kohlenbecken. Neben der Normaluhr, die zehn nach vier zeigte, stand eine lange Reihe von Taxis. Schnee lag in der Luft. Der Kellner machte die Kaffeemaschine sauber und ließ dabei einen Dampfstrahl zischen, wodurch die Fensterscheiben noch mehr beschlugen.

»Was …«

Nein! Was sollte das? Nouchi wollte sagen:

›Was werden wir jetzt tun?‹

Er hatte sehr wohl kapiert. An ihrem Kinn hing ein Bröckchen Eidotter. Sie blies auf ihren Kaffee, um Haltung bemüht.

Na schön! Zehn nach vier. Januar. Im Süden gab es jetzt, lange nach der Weinlese, nichts zu tun; und im Norden ebenso wenig, wo die Rüben längst abgeerntet waren. Es gab nicht einmal Schnee, den man hätte schippen können, und außerdem brauchte man einen gültigen Pass, um von der Stadtverwaltung eingestellt zu werden.

Der Kellner hatte zwei neue Eier in die kleinen Vertiefungen des Drahtuntersetzers gelegt, und die Alte, die vielleicht vor dem Eingang der Nachlokale Zeitungen verkaufte, war mittlerweile beim dritten Schinkenbrot angelangt.

»Hör zu …«

Untereinander sprachen sie Deutsch und mitunter Englisch, denn Stan war Pole – allerdings kein richtiger Pole, es war viel komplizierter – und Nouchi Ungarin.

»Wart hier auf mich …«

Warum schaute sie ihn so an? Was dachte sie? Nouchis verschrecktes Gesicht machte ihn wütend.

»Ich versuch noch mal, Ignatieff zu erwischen.«

Er durfte ihr keine Zeit lassen, Fragen zu stellen. Dann überlegte er es sich anders.

»Falls … sollte ich in zwei Stunden nicht zurück sein … na ja, wenn es hell ist …«

Sie konnte hier nicht ewig bleiben, ohne etwas zu bestellen. Er sah nach draußen. Auf dem Faubourg Montmartre entdeckte er ein Leuchtschild: Hôtel des Étrangers.

»Nimm dir dort ein Zimmer … Ich muss unbedingt Geld auftreiben …«

»Stan!«

Nein! Er wollte jetzt nicht reden, ging, ohne ein Wort und ohne sich noch einmal umzudrehen, weg. Er vergaß auch, ihr die Hälfte des restlichen Geldes dazulassen: vier Franc achtzig.

Wahrscheinlich würde sie ihm durchs Fenster nachschauen. Darum tat er so, als würde er sich entfernen, überquerte den Boulevard, kam dann aber auf der gegenüberliegenden Seite zurück und musterte prüfend die Taxis. Beim Ausatmen bildete sich jedes Mal eine kleine Wolke vor seinem Mund, und er fror nach dem Aufenthalt im Café noch mehr.

Er war auch ruhiger geworden, fast zu ruhig. Als wäre er noch nie so klar gewesen, so vorausschauend. Er dachte über vieles nach, ohne die Übersicht zu verlieren. Er erwog das Für und Wider, bedachte die Schwierigkeiten, die Risiken.

Was soll’s! Die Würfel waren gefallen! Es hätte keinen Sinn zu zögern, nach etwas anderem zu suchen, denn er wusste genau, dass er unausweichlich zum selben Punkt zurückgelangen würde.

Das hinderte ihn nicht, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Die ersten drei Taxis waren leer, die Fahrer vertraten sich im Gänsemarsch die Füße, schlugen sich, die Arme über Kreuz, in die Seiten und unterhielten sich dabei lautstark.

Der Vierte saß hinter dem Lenkrad und las im Schein der Innenbeleuchtung Zeitung. Es war ein Russe, Stan wusste, dass es ein Russe war, und zuckte die Achseln. Nein! Außerdem stand er zu dicht bei den drei anderen.

Der Fünfte wiederum mit seiner zerbeulten Mütze sah wie einer dieser Strolche aus, die sich in der Umgebung der Nachtlokale herumtrieben und ihre Kunden in obskure Gegenden fuhren.

Stan hatte Zeit. Von weitem konnte er Nouchis Silhouette noch im Café erkennen. An der Ecke stand ein Polizist mit Pelerine, der ihn jedoch nicht beachtete. Das nächste Taxi …

Plötzlich erübrigte sich jede Entscheidung. Vom Boulevard Poissonnière kam ein Taxi, ein Uraltmodell mit einem ebenfalls betagten Fahrer. Er war dick, ganz in seinen Schal eingemummt und hatte einen Schnurrbart, der vermutlich nach Schnaps oder Calvados roch. Er suchte Fahrgäste und fuhr langsamer, als er Stan sah. Der öffnete den Schlag und stieß hervor:

»Nach Versailles! …«

Er war einmal dort gewesen, um bei einer patriotischen Feier Programme zu verkaufen. Über Land bildete der Wald eine Art Blättertunnel. Und die Entfernung war nicht so groß, dass sie einen Taxifahrer abschrecken könnte. Er war nicht der Einzige, der mitten in der Nacht nach Versailles wollte.

Trotzdem schob er die Trennscheibe zur Seite und erklärte:

»Zum Krankenhaus … Ich hab gerade einen Anruf bekommen, dass meine Frau krank ist …«

Der Mann reagierte nicht, schien gar nicht zuzuhören, sondern hielt die Pfeife weiter fest zwischen die Zähne geklemmt, sodass sich sein Seehundschnurrbart hob, und schob die Trennscheibe mit einer automatischen Bewegung wieder zu.

Warum? Stan war schon oft mit dem Taxi gefahren, vor allem in New York. Fast immer hatte er dann die Trennscheibe zur Seite geschoben und sich mit dem Fahrer unterhalten.

Er war verärgert und irgendwie beunruhigt. Er hatte nicht auf den Weg geachtet und wusste nicht, wo sie sich befanden. Er beugte sich vor, schob abermals die Trennscheibe zurück.

»Fahren Sie nicht so schnell … Ich glaube, wir haben Glatteis … Vorhin hab ich Ihnen gesagt, dass meine Frau krank ist … Tatsächlich wurde sie von einem Lastwagen angefahren …«

Er merkte, dass es zwecklos war, dass seine Worte auf taube Ohren stießen, aber er wollte unbedingt reden.

»Wo ist denn Ihr Krankenhaus?«

»Keine Ahnung … Man hat mir nur gesagt, im Krankenhaus von Versailles … Gibt’s denn mehrere?«

Der Chauffeur zuckte die Achseln und schob die Trennscheibe wieder zu. Er war mindestens fünfundfünfzig. Vermutlich gehörte ihm der Wagen. Auf dem Beifahrersitz schlief ein kleiner weißer Pinscher mit schwarzen Flecken und einer spitzen Schnauze.

Wenn schon! Stan hatte nicht das leiseste Mitleid. Er fragte sich nur, warum der Dicke mit solcher Beharrlichkeit immer wieder die Trennscheibe zuschob. Er empfand das als Misstrauensbekundung gegen sich und litt irgendwie darunter.

Eben hatten sie eine Brücke überquert, sicher die von Saint-Cloud. Jetzt kam eine Steigung, danach eine Reihe von Villen. Und wenn es nun zwei Strecken gab, die nach Versailles führten? Und wenn eine davon nicht durch den Wald ging? Wenn der Fahrer sich weigerte zu halten? Der wäre durchaus dazu imstande! Er gehörte zu den Menschen, die immer ihren eigenen Kopf durchsetzen. Es wäre klüger gewesen, sich bei der Wahl des Taxis mehr Zeit zu lassen.

»Sagen Sie mal …«

»Was ist?«

»Hätten Sie vielleicht Feuer?«

Das war idiotisch, denn er hatte ja gar keine Zigaretten.

»Nein!«

Und abermals das harte Geräusch der zugeschobenen Trennscheibe.

Villen! Rechts und links überall nur Villen! Die Straße war beleuchtet! Stan war damals bei Tag durchgefahren und hatte nicht bedacht, dass sie beleuchtet sein könnte. Wenn sie es nur nicht bis zum Ende war!

Wenn sie bis nach Versailles kämen, könnte er nicht bezahlen, und der Chauffeur würde ihn auf dem nächsten Revier abliefern. Dort würden sie seine Papiere verlangen und sofort feststellen, dass er drei Monate zuvor ausgewiesen worden war.

Er saß unbequem. Ihm wurde bewusst, dass er unablässig hin und her rutschte, als er den Blick des Fahrers im Rückspiegel bemerkte. War es möglich, dass man in so kurzer Zeit die ganze Straße entlang Villen gebaut hatte? Sollte er nicht besser sofort handeln? Zum einen waren die meisten Villen im Winter nicht bewohnt. Außerdem ließen sich die Besitzer kaum stören, selbst wenn sie Schreie hörten. Das einzige Risiko bestand darin, dass ein anderes Auto oder ein Lastwagen im falschen Moment vorbeikam.

Die Straße führte bergab. Er würde jetzt die Trennscheibe aufschieben, ein dringendes Bedürfnis vorschützen und den Wagen halten lassen. Er zog die Luft so heftig ein, dass ein pfeifendes Geräusch aus seiner Kehle drang.

Begann der Wagen nicht plötzlich zu schleudern? Der Hund richtete sich unruhig auf. Das Taxi streifte die Böschung und hielt ruckartig. Der Chauffeur stieg aus, trat vor den Wagen, blieb einen Augenblick im Scheinwerferlicht stehen.

»Was ist denn los?«, erkundigte sich Stan und öffnete den Schlag.

»Nichts weiter! Bleiben Sie ruhig sitzen. Reifenpanne. In fünf Minuten erledigt …«

Damit verschwand er aus dem Blickfeld, und Stan hörte ihn hinten im Werkzeugkasten herumkramen.

Ein Tankwagen fuhr vorbei, danach ein schnelles Auto, dann nichts mehr.

Stan stieg aus, näherte sich dem Mann, der sich über den Wagenheber beugte, und überlegte nicht mehr, zögerte nicht, sondern schlug sofort zu, um es hinter sich zu haben. Er hatte alle seine Kräfte zusammengenommen. Der Schraubenschlüssel war schwer. Trotz des Käppis hörte er ihn auf dem Schädel aufkrachen.

Er verharrte, die Waffe in der herabhängenden Hand, und sah, wie der Chauffeur sich umwandte, als sei nichts geschehen. Es war unfassbar. Da hatte er nun diesen Schlag abbekommen, und das machte ihm nicht mehr aus, als wenn es ein Luftballon gewesen wäre. Ganz ruhig richtete er sich auf. Aber würde er nicht gleich umkippen, wie es bei Verletzten passiert?

»Dreckiges Schwein!«

Er kniff die Augen zusammen, befahl seinem Hund:

»Ruhig, Tommy!«

Denn der Hund kläffte im Wagen, so laut er konnte.

»Du Mistkerl …«

Stan ließ alles über sich ergehen. Er kam gar nicht auf den Gedanken, sich zu verteidigen. Seine Knie zitterten. Er hob den Arm wie ein Kind, das eine Tracht Prügel erwartet. Trotzdem traf ihn der erste Faustschlag mitten ins Gesicht, auf die Nase, dann noch einer und noch einer, und er hörte sich stammeln:

»Verzeihung …«

»Ich hab mir doch gleich gedacht, dass du ein mieser kleiner Ganove bist …«

Blut schoss hervor. Ein Auto fuhr vorbei, ohne die Geschwindigkeit zu drosseln. Der Chauffeur hatte jetzt genug und warf den Schraubenschlüssel, den er Stan aus der Hand gerissen hatte, in den Graben.

»Komm her! … Bück dich … Dreh den Wagenheber, damit du wenigstens zu etwas gut bist …«

Er gehorchte. Er hätte gern sein Gesicht betastet, traute sich aber nicht, die Kurbel des Wagenhebers loszulassen.

»Woher bist du? Tscheche? … Jugoslawe? …«

Stan merkte nicht einmal, dass er weinte, vor Demütigung und vor Wut. Und er antwortete folgsam:

»Aus Wilna …«

»Aha!«, machte der andere, als wisse er, wo das liegt. »Schraub jetzt das Rad ab … Und versuch ja keine Tricks … Ungeziefer wie dich sollte man …«

Er hatte sich kurz entfernt, um den Ersatzreifen zu holen, und Stan warf sich in den Graben, kletterte auf allen vieren an der anderen Seite die Böschung hoch. Er rannte durch einen Wald. Er hörte den Hund kläffen und hatte Angst, dass der Fahrer den Hund auf ihn gehetzt hatte.

Er keuchte, stolperte über Baumstümpfe und herumliegende Baumstämme. Er führte Selbstgespräche, stammelte unzusammenhängende Worte, abwechselnd auf Deutsch und Polnisch.

»Man sollte … Und wenn schon! … Ich … Autsch! …«

Er hatte sich in einem Stacheldraht verfangen und riss sich gewaltsam los, voller Panik, weil er glaubte, überall zu bluten. Wo war er bloß? In einem Park. Er tappte herum, fand nicht heraus, erschrak jedes Mal, wenn er die Mauern eines Hauses – immer desselben – sah.

Er war im Begriff, sich ein für alle Mal hinzulegen, gleichgültig wo, auf der Stelle.

Das ging stundenlang so. Eine Straße, aber nicht die, auf der er mit dem Taxi gekommen war, und nicht beleuchtet. Ein Dorf, das wie ein echtes Dorf aussah, ein Bahnhof und Dampflokomotiven.

Dann die Seine. Das konnte nur die Seine sein. Und schließlich, auf einem kleinen Platz, ein erleuchtetes Café und davor ein Autobus, in den Leute einstiegen.

Er stieg ebenfalls ein. Alle schauten ihn an. Er fragte sich, wie er wohl aussehen mochte. Dem Schaffner gegenüber fühlte er sich zu einer Erklärung genötigt:

»Ich bin von einem Auto angefahren worden …«

Die anderen Fahrgäste mit ihrem normalen, alltäglichen Leben musterten ihn misstrauisch. Eigentlich war es kein Misstrauen. Sie betrachteten ihn wie einen Fremden, nicht nur fremd in ihrem Land, sondern ihnen in seiner ganzen Wesensart fremd. Ein kleines Mädchen mit weißer Plüschmütze schmiegte sich enger an seine Mutter und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Eine Frau hatte einen Einkaufskorb auf den Knien, in dem ein Huhn gackerte.

Es war noch nicht Tag. Stan wusste nicht, wie spät es war. Sie kamen nach Paris. Er sah die Seine wieder, erkannte den Louvre, wo alle ausstiegen.

Er eilte in Richtung Rue Montmartre. Wie ein Verrückter stürzte er in das Café, in dem er Nouchi zurückgelassen hatte, und fand sie nicht.

Ohne weiter zu fragen, hastete er ebenso schnell wieder hinaus und überquerte den Boulevard.

Die Uhr zeigte sieben. Der Tag war nicht mehr fern. Der Himmel färbte sich aschgrau. Nur noch drei Taxis warteten am Taxistand.

Auf einem riesigen Fußabstreifer stand mit roten Buchstaben Hôtel des Étrangers.

»Mademoiselle Kersten? …«, fragte er.

»Wie bitte?«

»Sie muss heute Morgen ein Zimmer genommen haben …«

»Nicht dass ich wüsste! …«

Trotzdem machte sich der Mann die Mühe, das Gästebuch durchzublättern.

»Heute Morgen ist niemand angekommen. Hier ist sie nicht …«