Der Pakt mit Luzifer - Manfred Haertel - E-Book

Der Pakt mit Luzifer E-Book

Manfred Haertel

0,0

Beschreibung

Der zwölfjährige Wolf Polt geht mit seinem Bruder Tim im See baden. Beim Ringkampf rutschen beide von der Luftmatratze. Tim ertrinkt - trotz Hilfe seines Bruders. Wolf wird als Brudermörder geächtet. Darunter leidet er sehr. Über Ankas Vater gerät er in eine Satanssekte. Wolf schließt einen Pakt mit Luzifer, der ihm ein unbeschwertes Leben verspricht. Dafür verlangt Luzifer Gehorsam und seine Seele. Bei Schwarzen Messen erlebt er satanische Rituale. Nachts begibt er sich auf den Friedhof, um Kontakt zum Bruder aufzunehmen. Wolf liest begierig die Texte der "Satanischen Magie". Er studiert das "Sexualmagische Ritual". Als ihm Anka nicht willig ist, will er sie mit der "Zerstörungsmagie" vernichten. Luzifer erfüllt Wolfs Wünsche nicht. Er will aus der Sekte aussteigen. Wolf wird in ein Jugendheim eingewiesen. Er verliebt sich in Sylvia. Der Abtrünnige wird von den Satansbrüdern aufgespürt und bedroht. So begeht er einen Suizidversuch. Als seine Mutter an Krebs stirbt, betrachtete er das als Rache Luzifers. Die Angst plagt ihn, weil ihn Luzifer zu seinem siebzehnten Geburtstag in sein Reich holen will.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 307

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Autor:

Manfred Haertel wurde 1945 in Brandenburg an der Havel als Manfred Sauermilch geboren.

Er besuchte die Puschkin-Oberschule bis zur zehnten Klasse.

Von 1963 bis 1966 erlernte er im Stahl-und Walzwerk Brandenburg den Beruf Profilwalzer und erwarb gleichzeitig das Abitur.

Von 1966 bis 1970 absolvierte er das Diplomlehrerstudium in den Fächern Sport und Geschichte an der Pädagogischen Hochschule „Erich Weinert“ in Magdeburg.

1969 heiratete er die Lehrerin Karla Haertel und nahm ihren Namen an. Beide haben drei Kinder, fünf Enkel und zwei Urenkel.

Von 1970 bis 1985 war er Lehrer im Jugendwerkhof in Lehnin. In dieser Zeit verfasste er Romanmanuskripte über das Leben in einem Jugendwerkhof. Sie wurden von DDR-Verlagen abgelehnt, weil sie zu kritisch waren.

Danach war er ein Jahr Honorardozent für Sozio- und Milieutherapie an der Hoffbauerstiftung in Hermannswerder.

Von 1986 bis 1989 unterrichtete er an der Polytechnischen Oberschule in Damsdorf.

Wegen politischer Querelen (Auftrittsverbot beim Lehniner Karnevalsverein; Observierung durch zwölf IM´s des DDR-Staatssicherheitsdienstes) verließ er mit seiner Familie 1989 per Ausreiseantrag die DDR und siedelte in die BRD über.

1991 kehrte er mit seiner Frau und dem Sohn nach Lehnin zurück.

1991 übernahm er als Rektor der Realschule die damalige Polytechnische Oberschule in Damsdorf. 2007 ging er in den Vorruhestand.

Bisherige Veröffentlichungen:

Zwei Kurzgeschichten in Anthologien ( 1981 Evangelische Verlagsanstalt Berlin, 1990 St.-Benno-Verlag Leipzig).

1991 drehten die DEFA und das ZDF nach seiner Erzählung den Spielfilm „Jana und Jan“, der 1993 beim Filmfestival in San Remo mit dem Spezialpreis der Jugend ausgezeichnet wurde.

2002 erschien der erste Roman seiner Werkhof-Trilogie mit dem Titel „Verflucht, gehaßt und abgeschoben“.

2004 erschien der zweite Roman „Ich möcht´ mal in die Sonne spucken“.

(beide Bücher erschienen im Verlag edition & belletriste Berlin)

2008 veröffentlichte er mit seiner Frau ein Buch mit Weihnachtsgeschichten „Schräge Weihnachten“ beim Verlag „Books on Demand“ in Norderstedt.

2009 erschien der dritte Roman der Werkhof-Trilogie „Flucht ohne Wiederkehr“ bei „Books on Demand“

2013 erschien sein autobiografischer Roman „Ein Musterschüler wurde Fred nie“ beim Verlag „Books on Demand“.

Vorwort

Vor zwanzig Jahren hatte sich mir ein ehemaliger Schüler, der in eine Satanssekte geraten war, anvertraut. Seine Berichte und sein innerer, zerissener, seelischer Zustand hatten mich derart beeindruckt, dass ich mir damals, mit seiner Zustimmung, von seinen Schilderungen Notizen machte.

Ich habe das Notierte literarisch verarbeitet, weil ich der Meinung bin, dass man den Satanskult nicht bagatellisieren darf.

Namen und Orte sind mit dem Fall nicht identisch.

Manche Episoden des Geschehens sind vom Autor frei erfunden.

Der Autor hat die einschlägige Literatur über Satanismus studiert.

Mit Hinweis auf den Ritualmord 1993 in Thüringen an den Jugendlichen Sandro Beyer erachtet es der Autor als dringend notwendig, in den Schulen die Jugendlichen auf die Gefahren von Sekten hinzuweisen.

Die Sonne brannte vom Himmel. Der zwölfjährige Wolf und sein neunjähriger Bruder Tim knuffelten wild auf der Gartenwiese mit dem Fußball. Bald strömte ihnen der Schweiß aus allen Poren. Für einen Augenblick hielt Tim beim Bolzen schnaufend inne und blinzelte in die Sonne. Er stand kurz vor einem Hitzeschlag und träumte vor sich hin. Ihm war, als lockte ihn die Sonne zum nahegelegenen See. „Komm, wir gehen baden!“, rief er seinem Bruder Wolf zu. Da Wolf sich schon längst mit dieser Idee herumgetragen hatte, war er sofort bereit: „Na los! Wer zuerst am See ist.“

„Wir müssen aber die Luftmatratze mitnehmen!“, schlug Tim vor. Die lag auf dem Rasen. Sie griffen sie jeder an einem Ende. Vergnügt zogen sie zum See, wo sich im kühlen Nass schon etliche Kinder tummelten. Sie trafen auf ihren Cousin Frank, der mit einigen Jungen auf einer Decke lag. Sie spielten Karten. Ohne aufzublicken, erwiderte er das „Hallo!“ seiner Cousins. Frank war schon sechzehn und gab sich nicht mehr mit kleinen Bubis, wie er seine Cousins nannte, ab.

Wolf und Tim stürzten sich ins erfrischende Wasser und zogen die Luftmatratze hinter sich her. Als sie bis zur Brust im See standen, krabbelten beide auf die Luftmatratze. Sofort begann zwischen beiden ein fröhliches Gerangel. Dabei bemerkten sie nicht, wie sie allmählich ins tiefere Wasser trieben. Sie verknoteten sich in einem zähen Ringkampf. Wer schubst den anderen zuerst von der Luftmatratze? Keiner wollte Verlierer sein. Jeder kämpfte verbissen um seinen Platz. Plötzlich rutschten beide unvorbereitet von der Luftmatratze, die durch die entstandenen Wellen noch weiter raustrieb. Tim, der nicht schwimmen konnte, der nur wie ein Hund paddelte, dabei nach Luft japste, vor Todesangst keinen Ton herausbekam und Wasser schluckte, erreichte die Matratze nicht mehr, während sich Wolf noch mit allerletzter Kraft auf die Matratze hinaufziehen konnte. Verwirrt ließ er seinen Blick über den See schweifen. Tim war nicht mehr zu sehen. Plötzlich tauchte sein Kopf auf. Wolf ruderte wie wild mit den Händen zu ihm. Mit weit aufgerissenen, flehenden Augen sah Tim seinen Bruder an. Aus seinem Mund gurgelten die Worte: „Wolf! Wolf! Ich ertrinke! Hilf mir! Rette mich!“ Wolf griff nach Tims Haarschopf. Aber das nasse Haarbüschel rutschte ihm aus der Hand. Und Tim verschwand im trüben Wasser. Wolfs Stimme war wie gelähmt. Das „Hilfe!“ blieb ihm in der Kehle stecken. Er paddelte wie ein Wilder mit den Händen zum Ufer, rannte zu seinem Cousin und stotterte wie ein Irrsinniger: „Der T…Tim, der…er…tri…nkt!“ Frank fühlte sich von diesem Spinner beim Kartenspiel gestört, lachte und fuhr Wolf an: „Bubi, spinn dich aus! Aber nicht bei mir! Los, zieh ab!“ Plötzlich hörte er um sich herum ein Gekreische: „Der Tim säuft ab!“ Da sprang Frank sofort hoch, schaute auf den See, sah weit ab vom Ufer jemanden auftauchen, mit den Armen um sich schlagen, dann wieder untergehen, auftauchen, wieder untergehen. Blitzschnell sprintete Frank ins Wasser, kraulte mit kräftigen Schlägen zum Ertrinkenden, tauchte einmal, zweimal, dreimal, packte zu und zog Tim endlich an die Wasseroberfläche. Mit dem rechten Arm umschlang er Tims Brustkorb. In der Rückenlage schwamm er keuchend und vor Erregung zitternd zum Ufer. Als er im flachen Wasser stand, nahm er Tim auf die Arme und trug den leblosen Körper an Land. Dort legte er ihn in den warmen Sand. Sofort umringten ihn alle und redeten hektisch durcheinander:

„Ist er tot?“

„Hat er viel Wasser geschluckt?“

„Kannst du ihn wiederbeleben?“

„Stabile Seitenlage, los!“

„Wasser rauspumpen!“

„Herzmassage hilft!“

Alle waren bestürzt. Mädchen bekamen einen Weinkrampf. Frank versuchte laienhaft vergeblich, das Wasser aus Tim herauszupressen. Noch einmal hustete Tim und spuckte Wasser aus. Dann lag er da mit groß aufgerissenen Augen und mit starrem Blick.

Inzwischen war schon ein Junge zum Gasthof des Dorfes gelaufen. Der Wirt hatte sofort den Krankenwagen gerufen. Mit Blaulicht raste der Sanka an den Strand. Der Notarzt unternahm Wiederbelebungsversuche. An der ernsten Miene und dem leichten Kopfschütteln des Rettungsarztes glaubte Wolf zu erkennen, dass Tim wohl nicht mehr zu retten war. Man legte Tims leblosen Körper auf eine Trage, schloss ihn an mehrere Geräte an und schob ihn in den Krankenwagen. Dann fuhr der Rettungswagen mit Blaulicht und Martinshorn davon. Die Umstehenden schwiegen betroffen. Wolf stand da wie eine Marmorsäule. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Sein Herz drohte vor Schmerz zu zerspringen. Die schwere Last, am Tod seines Bruders schuld zu sein, ihn nicht vor dem Ertrinken gerettet zu haben, verstärkte zudem seine Qual. Am liebsten würde er sich jetzt von einer hohen Brücke ins tiefe Wasser stürzen. Langsam und niedergeschlagen ging Wolf nach Hause.

Vor der Haustür rieb er sich die Tränen aus dem Gesicht. Schreckliche Angst hatte ihn ergriffen, denn in wenigen Augenblicken musste er seinen Eltern von der schlimmen Katastrophe berichten, vom Unheil, das mit seiner ganzen Härte die Familie traf. Ein junges Leben war in wenigen Minuten ausgelöscht. Wolf erahnte schon die Vorwürfe, ehe er die Tür zum Wohnzimmer öffnete, in welchem sich sein Stiefvater und seine Mutter angeregt unterhielten. Wolf atmete mehrmals tief durch, betrat das Zimmer und sagte wie in geistiger Abwesenheit: „Tim ist tot! Ertrunken!“ Der Stiefvater bemerkte, ohne von seiner Zeitung aufzublicken: „Willst uns wohl verarschen? Und uns einen Schreck einjagen?“ Seine Mutter drohte mit dem Zeigefinger: „Mit sowas spaßt man nicht, du Dummkopf!“ Als sie aber ihren Blick vom Bügelbrett hob, ihn auf Wolf richtete und in sein verzerrtes, versteinertes, verheultes Gesicht sah, schrie sie auf: „Du ulkst nicht! Wo ist Tim? Was ist passiert? Hast du denn nicht auf ihn aufgepasst?“ Noch bevor Wolf das Geschehene schildern konnte, stürmte sie wie eine Furie auf ihn zu und schlug mit den flachen Händen auf ihn ein. Nun hatte auch der Stiefvater begriffen, dass es ernst war. Er setzte seine Bierflasche von den Lippen ab, stellte sie auf den Couchtisch und stemmte seinen massigen Körper aus dem Sessel hoch. Tim war sein leiblicher Sohn. Und so stampfte er wutentbrannt, mit vorgestreckten Händen, auf Wolf zu, packte ihn, wobei sich seine Finger im Vorderteil des Pullovers festkrallten und schüttelte ihn fast bis zur Besinnungslosigkeit. Dabei wiederholte er mehrmals: „Wenn meinem Sohn etwas Schlimmes passiert ist, dann gehst du auch hops!“ Währendessen lief die Mutter haareraufend durch den Raum und jammerte vor sich hin: „Mein kleiner Junge! Mein Timi! Und du Bengel bist schuld!“ Wieder klatschten ihre Hände auf Wolfs Körper. Wie vom Wahnsinn gepackt kreischte sie: „Wärst du doch lieber abgesoffen! Du hast ihn mutwillig ertrinken lassen! Du warst immer schon neidisch auf deinen kleinen Bruder! Du Hundsfott!“ Sein Wimmern, Flehen und Beschwören, er hätte alles getan, den Bruder zu retten, halfen ihm nichts.

„Wo ist Tim jetzt?“ fragte die Mutter. Wolf wimmerte: „Die Männer haben ihn im Krankenwagen weggefahren.“

„Warum muss Tim tot sein, wenn sie ihn ins Krankenhaus bringen?“, fuhr ihn sein Stiefvater an und boxte ihm die rechte Faust gegen die Brust, dass Wolf der Atem stockte.

Die Eltern fuhren eilig ins Krankenhaus. Dort sprach der Chefarzt persönlich mit ihnen: „Es tut uns sehr leid, aber jeglicher Wiederbelebungsversuch bei Tim blieb erfolglos. Wir haben alles getan, glauben sie mir. Mein herzlichstes Beileid.“ Der Vater entlud seinen Gram und seine Wut: „Hätte sein großer Bruder ihn nicht retten können, wenn er ihn frühzeitig aus dem Wasser gezogen hätte?“ Seine Reaktion war so heftig, dass der Chefarzt entsetzt war und gereizt antwortete: „Ich habe gehört, dass beide baden waren, und der Bruder erst zwölf Jahre alt ist. Der hätte gar nicht die Kraft dazu gehabt, Tim auf die Luftmatratze zu ziehen! Mein Rat, hüten sie sich davor, Wolf, ihrem Sohn die Schuld am Tod seines Bruders zu geben. Das kann ihm großen, seelischen Schaden zufügen!“

Der Vater reagierte wütend: „Das ist nicht mein richtiger Sohn! Er ist nur der Stiefsohn! Und der hat meinen Tim auf dem Gewissen!“

Die Mutter stand stumm daneben und schluchzte laut vor sich hin: „Mein armer Timilein! Er kommt nie wieder nach Haus! Nur weil der Grosse nicht auf ihn aufgepasst hat!“ Dabei befingerte sie nervös eine Zigarettenschachtel. Mit einem tiefen Seufzer sagte sie: „Ich muss jetzt eine rauchen!“ Sie verschwand über den langen Flur hinaus ins Freie, während der Vater noch weiter über das angebliche Versagen der Ärzte lamentierte: „Vielleicht haben ihre Ärzte eben nicht genug getan, um unseren Sohn zu retten? Man hört doch immer wieder was vom Ärztepfusch!“ Seine zornige Anschuldigung brachte den Chefarzt aus der Fassung: „Also, solche infame Unterstellung gegen mein Personal lasse ich als Chefarzt nicht zu! Beruhigen sie sich erst einmal und überlegen sie, was sie da behaupten!“ Er drehte sich zum Gehen um. Etwas barsch fragte der Vater: „Können wir unseren Sohn noch einmal sehen?“ Der Chefarzt hielt im Gehen inne, wandte sich zum Vater um und meinte im milderen Tonfall: „Natürlich. Ich rufe eine Schwester. Die wird sie begleiten. Warten sie bitte hier!“

Gleichzeitig mit der besagten Schwester kehrte auch die Mutter vom Rauchen zurück. Ihre verquollenen Augen, die zerknitterte, graue Haut und die Nikotindunstwolke, die sie vor sich herschob, machten sie abstoßend. Beide folgten der Krankenschwester, die sich freundlich und mitfühlsam mit ihrem Namen vorgestellt hatte.

Als die Eltern mit verzweifelter Wut aus dem Krankenhaus nach Hause kamen, zog es Wolf vor, ihnen aus dem Weg zu gehen und sich ins Kinderzimmer zurückzuziehen. Er konnte nicht ahnen, dass sie ihn mit Verachtung strafen würden. Denn von nun ab herrschte eisiges Schweigen in der Wohnung. Kein Wort zu ihm, kein Blickkontakt, kein gemeinsames Abendessen. Die Mutter stellte ihm wortlos einen Teller mit belegten Stullen ins Zimmer. Beim Hinausgehen stöhnte sie laut auf: „Ach ja, bald kratze ich ja auch ab!“

Ihre Worte taten Wolf weh. Und er rief ihr hinterher: „Mutti, sag doch nicht sowas! Ich hab´ dich doch lieb!“ Aber die Mutter warf nur ihren Kopf in den Nacken, drehte ihm die kalte Schulter zu und höhnte: „Auf die Liebe eines feigen Brudermörders verzichte ich!“ Dann knallte sie hinter sich die Tür zu.

Am Abend klingelte das Telefon. Wolf öffnete seine Tür einen Spalt und lauschte. Seine Klassenlehrerein war am Telefon und schlug vor, Wolf ein paar Tage zu Hause zu lassen. Das empörte seine Mutter, die schon etwas angetrunken war: „Der Bengel soll sich zur Schule scheren! Nun soll er sich auch noch ein paar schöne Tage auf Kosten seines toten Bruders machen? Ich will ihn hier zu Hause nicht sehen!“ Sie knallte den Hörer auf, ging in die Küche zu ihrem Mann und keifte dort weiter: „Das fehlt noch, dass der Faulpelz Zusatzferien machen kann!“

Wolf schloss leise die Tür. Eigentlich war er froh, seine verbitterte Mutter nicht den ganzen Tag zu Hause ertragen zu müssen.

Wie im Lauffeuer hatte es sich im Dorf rumgesprochen: „Der Wolf Polt hat seinen kleinen Bruder im See ersaufen lassen!“

Am Morgen nach dem Unglück begab sich Wolf auf Geheiß seiner Mutter bedrückt auf den Weg zur Schule. Er konnte es nicht verstehen, dass ihn seine Mutter zum Schulbesuch zwang, obwohl ihn seine Klassenlehrerin am Vorabend vom Unterricht befreit hatte. Im schleppenden Gang näherte er sich der Bushaltestelle, wo sich schon etliche seiner Schulkameraden eingefunden hatten. Von weitem vernahm er, dass sie aufgeregt diskutierten. Die Stimmung unter ihnen war aufgeheizt. Wortfetzen drangen an seine Ohren:

„Der Polt war ja zu feige!“

„Der hätte seinen Bruder auch auf die Matratze ziehen können!“

„Nee, der hat den Tim einfach absaufen lassen!“

„Ein feiner Bruder!“

„Der kann aus unserm Dorf wegziehen!“

„Der wird hier im Dorf nicht mehr froh!“

„Na, der hat sich schnell auf die Luftmatratze gerettet!“

„Der ist eben ein Brudermörder!“

Als einer laut und betont rief: „He, da kommt ja der feige Brudermörder!“, verstummten alle. Und Wolf setzte keinen Schritt mehr in Richtung Bushaltestelle. Ratlos verharrte er in angespannter Haltung. Sein Blick war zu der Meute gewandt, die ihn gern an den Pranger stellen, die ihn allzu gern als Sündenbock durch das Dorf hetzen würde. Nun bekamen sie mit, dass sich Wolf nicht zu ihnen traute. Da fielen sie mit Beschimpfungen über ihn her. Scham und Angst machten ihn kopflos. Als der Bus um die Ecke bog, löste er sich aus der Starre, bog nach rechts in einen Weg ab und rannte in den Wald hinein, wo er sich mit seinem Klassenkameraden Steven eine kleine Hütte gebaut hatte. Äste und Bretter schützten die etwa zwei mal zwei Meter große Hütte vor Wind und Regen. Am Eingang hing ein alter Sack. An der Decke baumelte eine Taschenlampe, deren Birne ein wenig Licht spendete.

Während in der Schule eine Gedenkminute in Erinnerung an den Mitschüler Tim Polt abgehalten wurde und in allen Klassen die Lehrer ihre Schüler über den tragischen Vorfall am See informierten, hockte Wolf in der Hütte auf einem Holzklotz und grübelte über sein künftiges Handeln nach. Sein erster Entschluss: Nach Hause gehe ich nicht mehr! Ich haue ab! Weit weg! Am liebsten würden die mich lynchen! Ich werde nie mehr einen Freund im Dorf haben!

Sein zweiter Entschluss: Ich kampiere hier in der Hütte und lebe wie ein Einsiedel!

Sein dritter Entschluss: Am allerbesten, ich bringe mich um!

Über das WIE nachzudenken, gelang ihm nicht mehr, denn nach der schlaflosen Nacht übermannte ihn die Müdigkeit. Er sank kraftlos auf das Strohlager nieder und schlief bald ein.

Ein Knacken im Unterholz weckte Wolf auf. Er lauschte und fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Jemand scheint sich ranzupirschen, dachte er. So kroch er zum Eingang, schob den Sack ein wenig beiseite und erschrak, als ganz dicht vor seinen Augen das Gesicht seines Freundes Steven auftauchte, der gerade seinen Kopf in die Hütte stecken wollte. Auch Steven erschreckte sich, als er so unverhofft Wolfs Gesicht erblickte. Wolf fand zuerst seine Stimme wieder: „Du hier?“

Steven entgegnete: „Ich habe geahnt, dass du in unserem Versteck sein würdest. Alle sind deinetwegen in heller Aufregung, nachdem die Lehrerin deine Mutter angerufen und erfahren hatte, dass du zu Hause nicht angekommen bist. Die machen sich Sorgen.“

„Pah! Sollen die sich doch Sorgen machen! Für die bin ich doch ein Brudermörder!“

Steven zwängte sich durch den Eingang, schaute Wolf mitleidsvoll an und meinte kameradschaftlich: „Lass die doch quatschen! Ich denke nicht so. Ich steh´ zu dir.“

„Aber an der Bushaltestelle warst du in der Clique, die mich beschimpft hat. Ich habe deine Stimme nicht gehört, um mich zu verteidigen. Hättest doch mal dein Maul für mich aufmachen können. Nee, du hast gekniffen. Hattest Schiss! Ha! Du willst ein Freund sein?“

Beschämt druckste Steven vor sich hin. Kleinlaut gab er zu: „Na ja, die war´n in der Überzahl, die gegen dich waren. Da hielt ich lieber meine Klappe.“

Wolf brüskierte sich: „Also solchen Feigling, solche Memme brauche ich nicht als Freund! Kannst dich bei den anderen anbiedern! Und lass mich in Zukunft bloß in Ruhe!“ Er nahm seine Schulmappe, krabbelte aus der Hütte und lief ins Dickicht. Er reagierte nicht auf Stevens Beteuerungen: „Mensch Wolf, renn doch nicht weg! Wir sind doch Freunde. Wir haben uns doch immer gut verstanden, haben Fußball gespielt und geangelt.“ Vergeblich versuchte Steven, Wolf doch noch zum Umkehren zu überreden: „He, ich habe bald Geburtstag. Und du bist doch eingeladen!“

Wolf drehte sich noch einmal um und rief zornig zurück: „Feier mal schön mit den anderen! Du hältst ja mehr zu denen, als zu mir!“ Unbeirrt und verärgert zog er weiter.

Wolfs Groll auf die Leute, die ihn wie einen Aussätzigen mieden, verhärtete sich immer mehr. Er sank immer tiefer in eine Apathie. Er malte sich Selbstmordszenarien aus. Die Welt um ihn herum erschien ihm in tiefster Finsternis. Er hatte im Dorf keine Kontakte mehr. Völlig in sich gekehrt, nach außen gegen jeden und gegen alles abgeschirmt, geriet Wolf allmählich in den Sog absurder Fantasien. Nachts wurde er schweißgebadet wach, wenn er im Albtraum mit seinem Bruder Tim gesprochen hatte, den er immer wieder um Vergebung bat. Doch der Bruder wollte ihm nicht verzeihen. Wie all die anderen klagte er Wolf an, ihn nicht gerettet zu haben. Meist erschien ihm Tim mit einer grässlichen, bläulichen Fratze und mit einem gellenden Gelächter, das Wolf erzittern ließ. Bald war er dem Wahnsinn nahe. Und er scheute sich davor, das Grab des Bruders zu besuchen, aus Furcht, der könnte seine Hand aus dem Grab strecken und ihn hinabziehen in das Reich der Toten. Damals war er froh gewesen, dass er nicht zur Beerdigung gehen musste. Ihn hatte ganz plötzlich ein Nervenfieber ans Bett gefesselt.

So verging die Zeit in völliger Einsamkeit. Aber eines Tages begegnete Wolf, er war inzwischen vierzehn Jahre alt, hatte eine ausgereifte Burschenfigur und immer ein gepflegtes Äußeres, auf dem Schulhof Anka - ein nettes, fröhliches Mädchen aus der Nebenklasse, das immer schelmisch blickte. Sie gesellte sich zu ihm, betrachtete ihn mit offenem Blick und fragte: „Wollen wir uns heute nach dem Unterricht treffen?“ Auf diese Frage war Wolf nicht vorbereitet und schaute Anka verblüfft an. Da er sie in den Pausen öfter schon aus heimlichen Seitenblicken beäugelt hatte und für sie große Sympathie empfand, willigte Wolf gleich ein: „Ja, von mir aus. Wo treffen wir uns?“

„Am besten an der Eisbude“, erwiderte Anka eilig, aus Furcht, Wolf könnte einen Rückzieher machen.

Die letzten zwei Unterrichtsstunden zogen sich für Wolf zäh dahin. In seiner Hosentasche klimperte Kleingeld, das er mehrmals auf der Hand durchzählte. Er rechnete nach, ob es für zweimal zwei Eiskugeln reichen würde. Denn er hatte sich vorgenommen, als Gentleman der Anka ein Eis zu spendieren. Beim ersten Date gehört sich das so! Sagte er sich.

Als er nach Unterrichtsschluss aus dem Schulgebäude eilte und zur Eisbude lief, stand da schon Anka, leckte ein Eis und streckte ihm eine Eiswaffel mit Schoko-und Vanilleeis entgegen: „Komm, schnell, nimm, sonst zerläuft es noch!“ Wolf errötete und stammelte: „Das kann….ich doch nicht annehmen. Außerdem wollte ich dir ein Eis spendieren.“ Er griff in seine Hosentasche, nahm das Kleingeld heraus und hielt es ihr als Beweis seiner spendablen Absicht hin.

Anka forderte rigoros: „Nun nimm schon! Und ziere dich nicht! Wir leben doch im Zeitalter der Gleichberechtigung.“ Sie lächelte Wolf so gewinnend an, dass er seine Bedenken überwand, zum Eis griff und mit Genuss und Wonne das Schokoeis schleckte. Sie gingen in einen nahegelegenen Park, setzten sich auf eine Bank. Jeder suchte nach Worten, ein Gespräch zu beginnen.

Während beide schwiegen, verknüpften sich insgeheim die Gefühlsbande. Immer häufiger schauten sie sich in die Augen. Ankas Blicke zauberten hin und wieder ein Lächeln auf Wolfs verhärmtes Gesicht.

Schließlich brach Anka das Schweigen: „Warum schaust du immer so ernst? Du bist so still. Du hast kaum Kontakte in der Schule.“ Anka wohnte in der Stadt. Hier und da hatte sie einiges über Wolf munkeln gehört. So fragte sie direkt: „Du warst echt dabei, als dein Bruder im See ertrank?“ Diese Frage hatte Wolf gefürchtet. Wie oft war sie schon an ihn gestellt worden? Und nun tat es auch das Mädchen, das er schon seit längerer Zeit heimlich verehrte, in das er fast schon ein bisschen verliebt war. Diese Frage, die ihn immer wieder aufwühlte, die in ihm immer wieder die grauenvollen Erlebnisse hochspülte, scheute er wie der Teufel das Weihwasser. Das Schuldgefühl zerquetschte seine Seele. Doch diesmal schilderte Wolf haarklein das Geschehen am See, den er seit dem Tod seines Bruders nie mehr aufgesucht hatte. Anka hörte gebannt zu. Wolf schloss mit den Worten: „Und für alle bin ich schuld am Tod meines Bruders. Und das bin ich ja auch. Ich gebe es für immer, bis ans Ende meines Lebens, zu.“ Anka spürte, dass plötzlich in Wolfs Brust ein heftiger Gefühlssturm ausgebrochen war. Sie strich ihm mütterlich über das glatte, dunkelblonde Haar. Ihre braunen Augen sahen Wolf zärtlich an. Das tat ihm gut. Nach langer Zeit empfand er wieder von jemandem Zuneigung und Verständnis.

Nachdem sie sich einige Male getroffen hatten, nahm Anka Wolf mit zu sich nach Hause. Ihre Eltern waren ihm gleich sehr zugetan. Schon bald war er ihnen gegenüber zutraulich, so dass er über sich, den von vielen verfemten Brudermörder, sprach. Ankas Vater, ein mittelgroßer Mann, mit einer Stirnglatze und mit auffällig düster blickenden Augen, hörte ganz fasziniert zu, bis er fragte: „Und du warst noch nie am Grab deines Bruders?“ Wolf schüttelte nur den Kopf. Da rückte Ankas Vater dichter an Wolf heran, so dass ihn plötzlich ein unbehagliches Gefühl anschlich. Der Vater raunte ihm zu: „Mein Junge, ich kann dir helfen.“ In diesem Moment forderte die Mutter Anka auf, mit in die Küche zu kommen, Kaffee zu kochen und Kuchen aufzuschneiden. Jetzt saß Wolf einem Mann gegenüber, der ihn mit seinem durchdringenden scharfen Blick musterte. Sein Gesicht wirkte verkniffen und ähnelte mit diesem starren Blick einer verzerrten Maske. „Pass auf!“, begann er, „wir treffen uns nachts am Friedhof. Und dann gehen wir beide zum Grab deines Bruders. Ich kann ihn rufen. Und du bittest ihn, dir zu verzeihen!“ Bei seinen Worten wurde Wolf ganz wohl ums Herz. Er dachte bei sich: Wenn das nur so einfach ginge. Das wäre wunderbar.

„Wann?“, flüsterte Wolf aufgeregt.

„Wenn du willst, schon heute Nacht.“

„Gut“, hauchte Wolf und fühlte, wie eine Gänsehaut über seinen Rücken lief, wie ein Jauchzen sein geschundenes Herz erbeben ließ. Seine Gedanken drehten sich nur um eins: Endlich befreit sein von Schuld, Schimpf und Schande durch Vergebung meines Bruders. Obwohl ihm Ankas Vater durch dessen Gebaren wie ein vom diabolischen Geist Besessener vorkam, war er von dessen Vorschlag völlig begeistert.

Als sich Wolf verabschiedete, zischelte ihm Ankas Vater noch zu: „Also, kurz vor Mitternacht! Am Friedhof!“

Auf dem Nachhauseweg trudelten Wolf die obskursten Gedanken durch das arg strapazierte Gehirn. Freude und Spannung hatten ihn total ergriffen. Die immer wieder aufflammende Beklommenheit verdrängte er. Er konnte nicht wissen, auf was für ein gefährliches, gespenstisches Abenteuer er sich eingelassen hatte.

Eine viertel Stunde vor Mitternacht schlich sich Wolf aus dem Haus, lief durch die dunkle, holprige Dorfstraße und erreichte bald den Friedhof. Der Nachthimmel war leicht bewölkt. Durch die Wolkenlücken schien hin und wieder der Mond in seiner dreiviertel Größe. In den Bäumen spielte ein starker Wind mit dem Geäst, dass es hier und da unheimlich knackte. Ein heiseres Bellen schallte durch das Dorf. Wolf verschränkte seine Arme vor der Brust. Ihn fröstelte, obwohl es eine laue Nacht war. Eine unbändige Furcht hatte ihn gepackt und fest umklammert. Seine Ohren lauschten in die Dunkelheit. Auf der Chaussee näherte sich ein Auto. Mit bibbernder Stimme sagte sich Wolf: „Hoffentlich ist es Ankas Papa!“ Das Licht der Scheinwerfer kam näher. Das Auto bremste und hielt am Friedhofstor. Ankas Vater stieg aus. Wolf atmete erleichtert auf. Wortlos betraten beide den Friedhof. Nach ein paar Schritten fragte Ankas Vater: „Wie heißt dein Bruder?“ Fred hörte sein eigenes Herz klopfen. Aus Angst, er könnte mit einer zu lauten Stimme die Toten aufwecken, flüsterte er fast panisch: „Tim Polt heißt er.“ Sie gingen durch die Gräberreihen. Immer, wenn der Mond den Friedhof erhellte und Wolf ihre Schatten neben sich sah, stockte ihm der Atem. Ihm war, als verfolgte sie jemand. Er schob sich so dicht an den Mann neben sich, dass er sogar dessen Körperwärme spürte und dessen Atem, der ihm ins Gesicht wehte. Plötzlich schrillte der Ruf eines Käuzchens über die Gräber. Wolf fuhr erschrocken zusammen. Eine solche Atmosphäre kannte Wolf bisher nur aus Märchenfilmen und Gruselgeschichten. Nun steckte er selber mittendrin im Friedhofsgrusel. Er griff nach der Hand des Mannes neben sich. Der drückte Wolfs Hand verständnisvoll und meinte: „Wolf, du kannst du und Franz zu mir sagen! Wir haben doch jetzt ein gemeinsames Geheimnis! Hier, trink ein paar Schlucke! Das beruhigt.“ Er reichte Wolf eine Flasche, die wie ein Flachmann aussah. Wolf zögerte nicht lange und trank das süßbitterlich schmeckende Getränk.

Sie erreichten Tims Grab. Im schwachen Schein des Mondes lasen sie den Namen auf der Granitplatte. Da sagte Franz: „Ich werde jetzt Kontakt zu deinem Bruder aufnehmen und ihn darum bitten, dir zu verzeihen und zu schwören, dass du keine Schuld an seinem Tod hast.“ Mit einer furchtverzerrten Miene starrte Wolf gebannt auf Franz, der seine Hände gegen den Nachthimmel streckte und plötzlich etwas, das sich wie Beschwörungsformeln anhörte, vor sich hinbrabbelte. Nur das Wort Luzifer konnte Wolf mehrmals raushören. Dann sprach er mit einer Stimme, die nicht aus dieser Welt zu sein schien: „Satan! Allmächtiger Luzifer! Stelle eine überirdische Verbindung zu Wolfs Bruder Tim her! Ich, dein ewiger Diener erbitte Kontakt ins Reich der toten Seelen!“ Dann schwieg er. Seine Glieder führten zuckende Bewegungen aus, so, als würde sein Körper jeden Augenblick explodieren. Seine Augen blieben geschlossen. Über seine Lippen kam ein unverständliches Murmeln, so eine Art Zwiegespräch mit einer übersinnlichen Macht. Schließlich sprach er mit kindlicher Stimme: „Lieber Bruder Wolf. Ich verzeihe dir. Du wolltest mich retten. Hast es nicht geschafft. Du hast keine Schuld. Sage das allen. Lebe wohl! Dein kleiner Bruder Tim.“

Wolf war inzwischen selbst in Trance geraten und vernahm freudig diese von Luzifer geweihten Worte. Er fühlte, wie die Fesseln gesprengt wurden, die so lange sein Herz umschnürt hatten. Für einen kurzen Augenblick schien der Friedhof in grellen Sonnenschein getaucht. Die silberne Schrift auf der Grabplatte blendete Wolfs Augen. Franz hatte ein ausgeprägtes Gespür für labile Typen, und er legte seine Hand auf Wolfs Schulter: „Na, bist du zufrieden? Hab ich dir zuviel versprochen? Auf meinen Gebieter ist immer Verlass. Willst du selbst einmal Kontakt zu deinem Bruder aufnehmen?“

„Na klar, will ich mit ihm sprechen. Wenn´s geht, bald“, erwiderte er voller Begeisterung.

„Na gut“, sagte Franz, „wenn du es wirklich willst und bereit bist, unserem Gebieter Luzifer zu dienen, dann führe ich dich zu ihm hin.“ Wolf hatte den Begriff irgendwo schon mal gehört, wusste aber nichts, mit ihm anzufangen. Und so fragte er neugierig: „Wer ist Luzifer?“

„Zu Luzifer kann man auch Satan oder Teufel sagen. Er ist der Gegner Gottes. Er besitzt übernatürliche Kräfte. Er hat schon ein großes Heer von Satanisten auf der Erde und wird eines Tages den Weichling Gott besiegen. Das wirst du alles kennenlernen, wenn du zu uns gehörst. Aber,“ er packte Wolf bei beiden Schultern, „er hasst Verrat und fordert unbedingten Gehorsam. Wenn du ihm Gehorsam schwörst und ihm deine Seele, dein Leben versprichst, dann erfüllt er dir alle Wünsche und auch einen Einblick ins Totenreich. Willst du Luzifer ganz gehören?“

Bedenkenlos antwortete Wolf: „Ja, wenn ich dadurch Kontakt zu meinem Bruder haben kann?“

„Einverstanden. Am nächsten Sonnabend hole ich dich am Abend ab. Ich nehme dich mit zu unserer Sitzung. Man nennt sie Schwarze Messe. Aber, kein Wort, auch nicht zu Anka! Sonst hast du schon vorher dein Leben verwirkt. Luzifer verfolgt und beobachtet dich schon jetzt.“

Sie verabschiedeten sich. Wolf ging mit einem Gefühl nach Hause, als gehörte er jetzt einer großen Verschwörung an. Vom Erlebten war er noch völlig benommen. In seinem Kopf brannte es wie Feuer. Sein Herz raste so sehr, dass es sich manchmal überschlug. Noch im Bett ahmte er die Gesten von Ankas Vater nach und brabbelte mehrmals ein Kauderwelsch vor sich hin. Die psychischen Belastungen der letzten Zeit, das ständige Schuldgefühl, hatten seinen Blick für die Realität getrübt. Der von Franz verabreichte Trunk tat sein Übriges. Ihm wurde schwindlig. Er warf sich auf sein Bett. Verzerrte Bilder kreisten durch seinen Kopf. Tausend Stimmen lallten einen unverständlichen Sing-Sang. Und Wolf freute sich auf seine erste Schwarze Messe, auf seine Aufnahme in den Kreis der Auserwählten – der Satanisten. Beim Einschlafen faselte er vor sich hin: „Um mit meinem kleinen Bruder zusammen sein zu können, tu ich alles, was Luzifer von mir verlangt, wenn er nur die Schuld an Tims Tod von mir nimmt!“

Die Eltern konnten den Tod ihres gemeinsamen Sohnes Tim, der für Wolf ein Halbbruder war, nicht verwinden. Beide ergaben sich ihrem Kummer, ohne Rücksicht auf Wolf, der von der Mutter, die ihren Schmerz im Alkohol ertränkte, kaum noch Beachtung fand. Die Ehe zerbrach. Der Stiefvater fand eine neue Frau, zog aus. Und die Mutter trank sich immer öfter mit noch mehr Schnaps ins Delirium. So verlotterte Wolf allmählich, ging seiner Wege, schwänzte oft den Unterricht. Seine schulischen Leistungen erreichten bald einen Tiefpunkt.

Da seine Mutter vollkommen trunken auf dem Sofa lag, konnte Wolf am späten Abend ungehindert die Wohnung verlassen, vor die Tür gehen und in Franz´ Auto steigen. Sein Herz pucherte vor lauter Erregung und in Erwartung auf das ihm bevorstehende Erlebnis. Er durfte mit zur Schwarzen Messe der Satanisten. Und bald würde er dazu gehören. Er saß stolz neben Franz und bewunderte den Satansbruder, der ohne Mühe seinen Bruder Tim aus dem Jenseits herbeiholen und mit ihm sprechen konnte, wenn er wollte. Und bald werde ich selber Kontakt zum Reich der Toten haben, sagte er sich. Bei diesem Gedanken stieg eine seltsame Hitze in ihm auf. Er spürte ein angenehmes Kribbeln im Bauch.

Die Nacht war schon weit fortgeschritten, als sie ein kleines Dorf erreichten. An der Chaussee standen in größeren Abständen nur wenige Häuser. Etwas außerhalb fuhren sie auf ein bereits arg zerfallenes, katenähnliches Haus zu. Das morsche Holztor stand offen. Die Fenster waren mit schwarzen Vorhängen verdunkelt. Bei diesem Anblick wurde Wolf nun doch etwas bange. Unwillkürlich rutschte er tiefer in den Sitz. Ein Gefühl der Angst beschlich ihn. Aus einem Seitenblick belächelte ihn Franz.

„Wir sind da“, sagte Franz im harten Tonfall, so dass Wolf zusammenzuckte. Auf einmal dachte er nicht mehr ans Aussteigen. Viel lieber würde er jetzt im Auto bleiben und wieder zur Mutter fahren. Aber es gab für ihn kein Zurück mehr. Franz hatte ihm ja bereits klargemacht, dass er schon in den Fängen Luzifers wäre. Schließlich siegten die Neugier und sein Stolz, bald zu den Satansbrüdern zu gehören. Wolf stieg mit weichen Knien aus, wagte kaum zu atmen und folgte seinem neuen Idol, dem Satansbruder Franz, der sich eine schwarze Maske vor´s Gesicht setzte.

Franz ging vor, öffnete eine knarrende, quietschende Tür, die windschief in ihren Angeln hing. Sie gingen durch eine bekramte Küche und betraten dann einen halbdunklen, mit Kerzen beleuchteten Raum. Die Kerzen flackerten und warfen bizarre, gespenstische Schatten an die Wände. Wolf stockte der Atem, als er hoch zur niedrigen Decke schaute. Am dunklen Gebälk hingen Gegenständige, bei deren Anblick ihm das Blut in den Adern gefror. Er erkannte im Schummerlicht Äxte, Sensen, Peitschen, riesige Fleischermesser, Fleischerhaken und ein galgenähnliches Gebilde. Und ringsherum saßen still und stumm dunkle Gestalten in schwarzen Kutten mit Kapuzen. Ihre Gesichter waren hinter schwarzen Masken versteckt. Es herrschte Grabesstille, so dass Wolf aus dieser oder jener Ecke sogar ein heftiges Atmen vernehmen konnte. Aber am lautesten war sein rasendes Herzklopfen zu hören. Sein heißes Blut rauschte mit gewaltigem Druck durch seine Adern. Ihm wurde etwas taumelig. Er schob sich ganz dicht an Franz heran, dem hinter seiner Maske ein leichtes Grinsen im Gesicht stand. Mit einer Kopfbewegung deutete er an, dass Wolf ihm folgen solle. Sie gingen ein paar Schritte auf eine mit vielen Kerzen erleuchtete Wand zu. Dort prangte in schwarzer Farbe ein fünfzackiger Stern. Franz wisperte Wolf zu: „Siehst du den Stern da? Das ist das Pentagram, unser Erkennungszeichen. Hörst du? Präge es dir ein! Das ist das Erkennungszeichen der Satanisten.“ Als Wolf, noch völlig verwirrt, vor dieser Wand stand, öffnete sich eine Tür. Heraus trat eine seltsame Prozession. Vier Männer trugen ein großes Holzkreuz in den Raum. Mit Schaudern erblickte Wolf ein fast nacktes Mädchen, das wie eine Gekreuzigte auf das Kreuz festgebunden war. Das Mädchen schwieg und hatte die Augen verbunden. Jetzt wurde Wolf übel. Er wandte seinen Blick ab. Doch Franz stieß ihm in die Seite: „Sei keine Memme! Das gehört zum Aufnahmeritual!“ Wolf schüttelte sich, er würgte und sprach hastig: „Ich will hier raus!“ Er drehte sich um, wollte gehen, doch Franz hielt ihn am Arm zurück: „Hier gibt es kein Entkommen mehr! Du hast schon zu viel gesehen. Du gehörst schon zum Bund der Satanisten. Du wolltest das doch! Schau hin, damit dir nichts entgeht!“ Nun war Wolf klar, dass eine Flucht völlig aussichtslos war. Resigniert widmete er sich, wenn auch mit Abscheu, dem dämonischen Schauspiel. Das Kreuz wurde auf dem Kopf, leicht nach hinten geneigt, in der Mitte des Raumes aufgebaut. Auch das Mädchen hing kopfüber am Kreuz. Wolf dachte: Der steigt ja das Blut in den Kopf! Aber er wagte nicht, seine Gedanken auszusprechen. Alles kam ihm so unwirklich, so unheilvoll, so geheimnisvoll vor. Sein Mund war wie ausgedorrt, seine Zunge klebte am Gaumen. Die Furcht presste sein Herz zusammen. Auf einmal war ihm zum Heulen. Doch er biss fest die Zähne aufeinander. Er wollte sich keine Blöße geben.

Plötzlich wurde die Tür erneut geöffnet. Vier kräftige, breitschultrige Männer in roten Kutten betraten den Raum. Hinter ihnen folgte ein Mann mit einer Kutte, die mit vielen schwarzen Symbolen versehen war. Franz zischelte Wolf ins Ohr: „Das ist unser Oberpriester.“ Wolf hoffte inständig, der Oberpriester würde das Mädchen aus seiner hilflosen Lage befreien, und das dramatische Schauspiel wäre nun beendet. Aber er irrte sich. Das satanische Spiel begann jetzt erst richtig. Zwei Männer zerrten ein um sein Leben kämpfendes, blökendes Schaf in den Raum. Schon dieser Anblick grauste ihn. Als er seinen Blick abwenden wollte, packten ihn plötzlich zwei Männer in den roten Kutten und drückten ihn hinunter auf seine Knie. Zwei große, grobe Pranken klatschten auf seine Ohren, quetschten Wolfs Kopf derart, als sei der in einen Schraubstock gespannt. Sein Gesicht wurde in die Richtung gedreht, dass sein Blick auf das Geschehen vor ihm gerichtet war. Während zwei Männer das zappelnde Schaf noch immer festhielten, setzte ein dritter ein großes Fleischermesser an die Kehle des Tieres und ratschte die scharfe Klinge quer über den Hals. Warm und dampfend schoss das Blut heraus, was ein anderer Mann in einer Schüssel auffing. Wolf konnte nicht einmal seine Augen vor diesem brutalen Akt schließen, denn ein Mann hinter ihm bohrte sein Knie schmerzhaft in seinen Rücken und befahl: „He, guck dir das an!“ Und Wolf gehorchte. Von nun an war für ihn der erste Schritt zum unterwürfigen Gehorsam gegenüber Satan getan.