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Macht, alte Feindschaften, Heldentum, Ränke und Kämpfe. Das Niemandsland steckt voller Gefahren, Fallen und Abgründe. Die tödlichsten und dunkelsten finden sich in den Herzen derer, die ihren Fuß hierhin setzen. Die Gefährten haben die gefürchteten Wächterstreifen überwunden. Doch zwischen ihnen und ihrem Ziel liegt nicht nur das sagenumwobene und gefürchtete Tor Moratraneums, sondern auch eine heftig umkämpfte Region. Freie Scharen, Marodeure und Rebellen durchstreifen das Land. Der Geheimbund der „Kutte“ verfolgt hier seine dunklen Ziele ebenso wie die Klans der elfischen Eroberer, deren Intrigen bis ins Niemandsland reichen. Die Gefährten ahnen nicht, dass sie bereits in deren Netz verstrickt sind. Und noch immer ist ihnen ihr Erzfeind auf den Fersen, der ihnen allen den Tod geschworen hat…
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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Eine Zusammenfassung von Band 1 findet sich hier.
Der Mann stand im frühen Morgenlicht auf der Wiese. Sein nackter Oberkörper und seine kräftigen, muskulösen Arme wurden von einem allerfeinsten goldenen Hauch überzogen. Die gestrickte Mütze hatte er abgelegt und seine lange Mähne fiel frei um seinen Kopf, wehte leicht im aufkommenden Wind und wurde eins mit seinem Bartgestrüpp. Wie er da so stand, einsam, hoch aufgerichtet auf der weiten, dämmerfeuchten Wiese, hatte er für Kira mit seinem gewaltigen, hünenhaften Körper etwas titanenhaft Urtümliches. Und durch seine üppig wuchernde Haar- und Bartpracht zugleich etwas von einem irren Propheten.
Was jedoch zu diesem Bild eines von innerem Feuer göttlicher Erleuchtung getriebenen Menschen nicht passen wollte, war der stille, in sich gekehrte, beinah träge Gesichtsausdruck. Und wenn er denn zum Propheten taugte, dann offenbar nicht zu jener Sorte heiliger Männer, die den Pfad des Friedens predigen, denn was dieser vor Muskeln starrende Mann in seinen Händen hielt, war ein Schwert. Ein mächtiges Schwert, das zu seiner Statur und seinem Körper passte.
Er hielt es zunächst mit beiden Händen und ging mit ihm unendlich langsam Bewegungen und Abläufe durch, dass es wie ein Tanz erschien. Formvollendet, gravitätisch, würdevoll.
Durch die letzten, dumpfen Schleier des Schlafes nahm sie es in sich auf und wiegte anerkennend den Kopf. Wenn man mit dem Schwert umgehen konnte und mit dem Schwert lebte, so wusste man, welche Beherrschung und welche Kraft es kostete, die Bewegungen in einer derartigen Langsamkeit und Bedächtigkeit so flüssig auszuführen.
Sie trat die paar Schritte näher zu der merkwürdig großen und unnatürlich schlanken Gestalt, die dort gerade aufgerichtet an einer Grasböschung saß, mit einem dicken Pelz um die Schultern und ihr den Rücken zugewandt in die gleiche Richtung blickte. Neben ihr stehend wartete sie, bis diese sich zu ihr umsah, nickte und und setzte sich dann daneben.
„Wie lange ist er schon dabei?“, fragte sie den Vastachi.
„Hm“, meinte der und ließ, während sein Brummen verklang, die kugelig schwarzen Augen nicht von dem einsamen Mann auf der Wiese. „Eine ganze Weile, denke ich. Als ich mich aus meiner Decke geschält habe, stand er schon da, als hätte er den Nachtfrost in sich aufnehmen und die Sonne begrüßen wollen.“ Es schien Kira, während sie die auberginedunklen Züge des Vastachi von der Seite musterte, als hätte dessen zu dem Mann schweifender Blick etwas ungerichtet Träumerisches, so als versetzte ihn der Anblick in eine Art meditativer Gestimmtheit. Sie folgte seinem Blick zurück zu dem Mann auf der Wiese.
„Es hat wohl etwas in ihm geweckt, dass er sein Schwert dann schließlich doch ausgepackt hat.“
„So scheint es“, meinte der Vastachi leicht abwesend.
So saßen sie nebeneinander und folgten dem gemessenen, feierlichen Schwerttanz des Riesen. Dabei strengte Kira ihre Augen an und betrachtete seinen Körper genauer. Neben den mächtigen Muskelsträngen, die bei den Bewegungen mit der gemächlichen Raubtiersicherheit von Schlangen unter seiner Haut umherkrochen, fielen ihr bei näherem Hinblicken immer mehr die Narben auf, die den Honigton seiner Haut zeichneten und die wandernden Taue und Knoten kreuzten. Darunter waren Narben, wie sie ein Schmied davontrug, dunkle oder gebleichte Male vom Feuer oder Funkenflug, aber eben nicht nur. Streifen und Schnüre überzogen seinen Körper, als seien sie Teile eines Flechtwerks, das an die Oberfläche treten und sie zu einem arkanen Muster sich durchkreuzender Schraffuren zusammenfügen wollte, einem archaischen, tief verwurzelten Runenkode.
Steckte also doch mehr hinter der Fassade dieses verschlossenen Mannes, der sich zuerst um seine Kinder und sonst ganz wenig zu kümmern schien. Sonst hätte er ihnen, die im Auftrag der Rebellen unterwegs waren, gar nicht erst geholfen, durch den Sperrring aus dem von den Elfen besetzten Rhun herauszukommen. Hätte ihnen nicht seine Schmiedehalle zur Verfügung gestellt, um den gestohlenen Homunkulus, diese Kampfmaschine in Menschengestalt, zu verstecken, und hätte sich nicht, um ihre Flucht zu decken, gegen seine Frau, die Milizionärin der Stadtgarde, gestellt, die ihn mit gespannter Armbrust bedroht hatte.
So was tat man nicht so einfach als schlichter Mann und Hasenfuß, für den ihn zunächst der Rest der Truppe gehalten hatte.
Außerdem schien es, dass er aus ihrem letzten Kampf bemerkenswert wenig frische Narben davongetragen hatte. Die schwerste davon wurde durch seine Mähne verdeckt – das Fehlen eines Ohrs, das ihm der racheirre Duerga abgebissen hatte.
Bei dem Gedanken an den Kampf und dabei davongetragene Verletzungen keuchte Kira auf und betastete den straffen Verband, den der Vastachi um ihren Leib gespannt hatte, damit die gebrochenen Rippen heilen konnten. Statt des dicken Verbandes um die Stirn, wo der zustoßende Helmrand des Duerga ihr eine lange Wunde zugefügt hatte, trug sie inzwischen nur noch ihr ausgeblichenes rotes Stirnband, gerade so hochgezogen, dass Luft an die Wunde kam.
Sie merkte auf, als der Mann plötzlich zum Halten kam und in seiner Pose, das Schwert mit beiden Händen neben dem Kopf erhoben, einfror. Doch nur ein paar Atemzüge, in denen das Uhrwerk des frühen Sonnenlaufs innezuhalten schien.
„Whooooah!“ Das Erstaunen warf sie beinah hintenüber.
Blitzschnell, kaum für das Auge verfolgbar, ging der Schmied durch einen Wiederholungslauf seines Tanzes. Mit unglaublich geschmeidigem Fluss und Geschwindigkeit. Fast schien es ihr, als müsste ein Luftzug von diesem irren Wirbel von Schwüngen und Bögen ausgehen.
„Was war denn das?“, kam es von dem Vastachi neben ihr, ein paar Sekunden, nachdem die Bewegungsfolge an ihr Ende gekommen war.
„Der stille Riese birgt Überraschungen“, hörte sie eine Stimme hinter sich.
Sie schrak herum und sah die dunkel gekleidete Gestalt, die unbemerkt hinter sie getreten war. Blanik von Gydern nestelte noch mit beiden Händen an dem Knoten auf seinem Hinterkopf, zu dem er seine schwarzen Haare hochgebunden hatte. Bartstoppeln bedeckten seine Wangen und schienen merkwürdigerweise dem haarscharfen und gerade getrimmten Schnitt, mit dem sein Bart den Mund rahmte, keinen Abbruch zu tun – ganz im Gegenteil. Der rötliche Glanz der Narbenstriemen, die auf der Wange das Schurfeld und am Kinn den dichten Bewuchs spalteten, gab ihm eher etwas Verwegenes als Versehrtes. So früh am Morgen trug er bereits beinah alle Teile seiner Kluft, die Rüstungsteile aus schwarzem, hartem Leder mit Nieten, Schnallen und metallenem, geschwärztem Ringgeflecht, sogar das offene, locker sitzende Hemd darüber. Nur die Handschuhe mit den Schlagnieten auf den Knöcheln hatte er noch in seinem Gürtel stecken.
„Du meinst solche Überraschungen, wie sich hinter einem anzuschleichen?“ Das Zucken eines herben Lächelns verbannte sie sofort, als er gleich darauf seinerseits breit die Zähne zeigte.
„Hat die nicht jeder? Ich meine die Überraschungen“, sagte er achselzuckend und fügte hinzu. „Außerdem wart ihr abgelenkt.“ Mit geradeaus gerichtetem Blick schürzte er anerkennend die Lippen und sein Kinn zuckte zu dem Schmied auf der Wiese hinüber. „Was ich verstehen kann.“
„Er ist gut.“
„Beeindruckend“, entgegnete Blanik mit leichtem Naserümpfen. „Elegant. Was man aber im Kampf zum Überleben tun muss, ist meistens plump, jäh und hässlich.“
Sie erhob sich, denn es war ihr unbehaglich zu sitzen, während er mit den Händen in der Hüfte dastand.
„Und wie geht es mit dir weiter?“, fragte sie. „Hast du Pläne?“
Sein Gesicht wandte sich aus der Betrachtung des Schmieds ihr zu. Er war nur wenig größer als sie, was hieß, dass er ziemlich hochgewachsen war.
Kleiner als der Schatten, den sie neben sich gewohnt war, aber schlanker als Djun. Der nie mehr neben ihr auftauchen würde. Die Tage waren noch immer taub, ihre Seele nach wie vor wie erfroren, auch nachdem beinah zwei Wochen vergangen waren, in denen sich die Erkenntnis bei ihr setzen konnte. Wirklich innerlich angenommen hatte sie das noch immer nicht. Würde sie das je? Doch die Möglichkeit zu handeln, als Anführerin zu agieren, hatte sie sich zurückerobert. Die erste Schockstarre war gewichen, der Not und dem Druck folgend, sich und ihre Truppe am Leben zu erhalten. Auch wenn sie sich die meiste Zeit wie ein umherwandelnder Schatten fühlte, der nicht richtig in Ort und Zeit verankert war und der sich jederzeit im Nichts von kalten, aufgesplitterten Eindrücken verlieren konnte.
„Pläne?“ Er wiederholte das Wort und ließ es ausklingen, als habe es für ihn keine Bedeutung, jedenfalls keine, die über Märchen und Fabeln hinausging, wie man sie abends Kindern vor dem Einschlafen erzählte.
Er schnaufte. „Es steht wohl ein Treffen mit Duvan und Jivern an. Ich habe mit meinen beiden Helfern abgesprochen, dass wir uns treffen, um Verbindlichkeiten zu begleichen.“
Sie hatte sich schon gewundert, warum er sich so lange bei ihnen hielt, wo es doch seine Kumpane gab, mit denen zusammen er die Flüchtlinge gegen nicht allzu wenig Geld durch die Wächterstreifen gebracht hatte. Gab es mit denen nicht noch andere profitable Unternehmungen abzuwickeln? Sie sagte aber kein Wort über unvermutete Anhänglichkeit oder ähnlich Bissiges, sondern wartete ab, was da sonst noch kommen mochte.
„Als Treffpunkt ist eine alte Gehöftanlage abgesprochen, die wir alle von Streifzügen und Unternehmungen kennen. Wo wir uns auch das letzte Mal getroffen haben, als wir Leute in anderer Richtung durch die Wächterstreifen gebracht haben.“
„Sachen gibt’s“, meinte sie trocken. „Manche wollen ins von den Elfen besetzte Land rein, manche wollen raus.“
„Und ihr seid sicher“, schaltete sich Pir von der Seite ein, „dass ihr unter ihnen nicht das eine oder andere Gesicht wiedererkannt habt? Leute, die ihr in die eine und später dann wieder in die andere Richtung geschafft habt? Hin und für Entgelt und wieder zurück für Entgelt?“
„Nein.“ Blanik sah ein wenig indigniert zu dem Vastachi hinüber. „Nein“, wiederholte er dann geziert, „das wäre mir aufgefallen. Ich habe ein gutes Gedächtnis für Gesichter.“
Er wandte sich wieder ihr zu. „Jedenfalls bleibe ich euch noch eine Weile erhalten. Das Gehöft liegt ganz auf eurem Weg, wenn ihr zum Tor Moratraneums wollt.“
„Hat keiner was davon gesagt, dass wir nach Sarkanth wollen“, sagte sie so beiläufig wie möglich und wusste es besser.
„Hat das kleine, gegerbte Wiesel da nicht was anklingen lassen?“
Doch hatte er, aber sie hatte gehofft, er hätte es überhört, als sie Lenk nicht rechtzeitig dazu hatte bringen können, seinem losen Maul Zügel anzulegen.
„Jedenfalls würde ich euch gern bis dorthin begleiten. Gefährten in der Wildnis und so.“
„Spricht nichts dagegen“, meinte sie schulterzuckend.
„Wir haben einiges gemeinsam durchgestanden“, sagte er und es klang so etwas wie Behagen in seinem Ton mit.
Ja, das hatten sie. Er hatte ihnen sogar das Leben gerettet. Ohne ihn wären sie in den Hinterhalt hineingerannt, den ihnen jener Mörderbastard gestellt hatte, der Djun und den Rest ihrer Schar auf dem Gewissen hatte. Und sie hatten gemeinsam den Kampf in der Feuerhölle durchgestanden, die Nivarns letzter Kobold aus dem Magazin der Kinphauren, entfesselt hatte. Wie sich herausstellte, war es auch der letzte Kobold, den ihr Kinphaurengefährte jemals benutzen würde. Ein Stich durchfuhr sie beim Gedanken an den schweigsamen Mann mit dem Raben. Wenn er tatsächlich durch irgendein Wunder die Feuerhölle und den Kampf gegen den Mann, auf den sich seine tödliche Rache gerichtet hatte, und dessen Truppe überlebt hätte, so hätte er in den letzten Tagen entweder zu ihnen aufschließen können oder er hätte seinen Raben ausgesandt, um ihnen ein Lebenszeichen von sich zu übermitteln oder etwas Ähnliches.
„Lebt dort jemand auf dem Gehöft?“, fragte sie, obwohl die Frage warten konnte, einfach nur, um irgendetwas zu sagen. „Was sind das für Leute?“
„Ach“, meinte Blanik mit wegwerfender Geste, „Leute eben, die vertrieben wurden und in dieser wilden Zeit des Krieges das Glück hatten, irgendwo eine Zuflucht zu finden. Treibgut des Krieges. Wie viele, seit die Kinphauren über dieses Land hergefallen sind und es erobert haben.“
Ein Gehöft und eine Gemeinschaft – das klang gut. Eine Gelegenheit, zu rasten und sich vielleicht zu versorgen.
„Niemandsleute“, sagte sie, klopfte sich die Beinkleider ab und ließ ihn stehen, ging mit beinah unmerklichem Nicken an Pir vorbei, der jetzt auch seinen langen Vastachikörper auffaltete und sich erhob.
Auf dem Feld hatte der Schmied offenbar seine Morgenübungen beendet. Auf ihn ging sie zu. Er starrte eine Weile über die Länge seines locker ausgestreckten Schwertes hinweg, ließ es dann sinken und blickte hangaufwärts zu den Wäldern und zu den Buckeln und Höhen dahinter, die sich in diesiger Ferne zu den Gipfeln des Gebirges auftürmten.
„Das sah gut aus“, sprach sie ihn aus ein paar Schritt Entfernung an. Er drehte langsam den Kopf zu ihr herüber, ohne dabei seinen Oberkörper zu regen. „Da kann man froh sein, dass du dein Schwert endlich doch aus dem Bündel auf deinem Rücken rausgezogen hast.“
Er antwortete ihr mit einem leisen, rauen Kehllaut und zuckte abschätzig die Schultern. Er bückte sich und hob eine Lederscheide aus dem Gras, schob die Klinge bedächtig und akkurat hinein.
„Ich habe gehört, es liegt ein Gehöft auf unserem Weg“, sagte sie. „Wäre vielleicht eine gute Gelegenheit, dort ein Reittier zu kaufen. Ich hatte an einen Maulesel oder so was gedacht.“ Sie wandte sich Richtung Lager hin, wo allmählich Bewegung aufkam. Ungewöhnlich spät nach Sonnenaufgang. Aber sie hatten sich den langen Schlaf redlich verdient und bei den Märschen der letzten Tage war es nur allzu verständlich, dass ihr Körper sich die Ruhe auch holte. Von ihren Verfolgern hatten sie schon seit Tagen nichts mehr gesehen – auch von diesem Mörderbastard nicht, der sie vorher so beharrlich verfolgt hatte – und so hatte sie am Abend zuvor mit Pir beschlossen, es würde nicht schaden, sie alle ein wenig länger ausschlafen zu lassen.
„Wir Erwachsenen tun uns schon schwer mit den Märschen, aber für die Kinder muss es eine Tortur sein.“ Sie sah, wie er etwas sagen wollte, kam ihm aber zuvor. „Und es ist auch keine Lösung, wenn du sie die ganze Zeit auf dem Rücken trägst.“
„Ich trage sie –“
„Abwechselnd. Ja ich weiß, Klann. Und manchmal auch beide. Aber es wäre auch für dich gut, wenn du nicht ständig den Packesel spielen würdest …, sondern statt deiner vielleicht ein echter Packesel.“ Sie lächelte ihn an. War das um seine Augen etwa die Erwiderung eines Lächelns?
„Das … wäre gut“, kam es stockend über seine Lippen. Mit stoischem Blick griff er in seine Haare, packte sich den von der Bewegung verwehten und aufgeplusterten Schopf zwischen seine Pranken und strich ihn sich so gebündelt zurück. Enger gefasst blieb er allerdings nur eine Sekunde, dann suchte das dunkelblond-graue Gewucher schnell wieder die Fülle.
„Das eben …“ Sie schielte von der Seite an ihm hoch. „Es sah nicht besonders eingerostet aus.“
Der Blick richtete sich auf sie herab und ein paar Herzschläge fixierte er sie unter diesen träge hängenden Augenlidern hervor. „War es aber“, wurde gefolgt von einseitigem Achselzucken. „Der Körper erinnert sich.“
„Du hast Schwerter nicht immer nur geschmiedet. Du hast es gesagt. Du hast gesagt, du warst nicht immer Schmied. Was warst du dann vorher?“
Der Blick lag noch ein paar Herzschläge auf ihr, unbeirrt, ohne Regung, dann zuckte er unmerklich, nur in einem Flackern an ihr herab. „Kein Schmied“, sagte er.
Klann, der Schmied, warf das Schwert in der Scheide hoch, fing es in seiner Mitte auf und ging an ihr vorbei mit ausgreifenden Schritten Richtung Lager. Sie heftete sich an ihn. Was für eine verdammte Auster!
„Ich hab da so einen Verdacht“, sagte sie, als sie wieder an seiner Seite ankam. „Als wir zusammen mit dem anderen Trupp vor der Kinphaurenpatrouille geflohen sind, als uns im Nebel von Nivarns Kobold diese Wolfsbestie angegriffen hat …“
Sein Seitwärtsblick streifte sie im Weitergehen.
„Ich bin mit Honigmund einen Abhang hinuntergerollt. War einen Moment hilflos. Die Wolfsbestie stand oben und war genau vor dem Absprung auf uns herab.“ Sie hielt inne, sann nach. „Ich hatte schon beinah mit dem Leben abgeschlossen, da hat sich jemand auf dieses Vieh geworfen und es kurzzeitig herumgerungen.“ Sie ließ das Gesagte in der Luft hängen. „Er hat mir das Leben gerettet.“
Klann starrte weiterhin auf den Weg vor seinen Füßen. „Hm.“
„Und als wir dich später gefunden haben, hattest du Kratzer und Wunden, die nicht von einer Waffe stammten. Lenk hat gedacht, du hast sie dir an den Ästen und dem Gestrüpp zugezogen, als du den Abhang hinabgesprungen bist. Aber das war nicht so. Das waren Wunden wie von den Krallen eines Tieres.“
Wieder hörte sie ein Brummen von Klann, diesmal langgezogener. „Gern geschehen“, grollte er dann.
Pir und Blanik hatten sich inzwischen zu den anderen gesellt, in die jetzt inzwischen Leben kam. Klann steuerte auf seine Kinder zu. Das Mädchen, Liova, rieb sich heftig schlaftrunken die Nase, als wollte sie sie aus dem Gesicht rubbeln, während ihr kleinerer Bruder noch immer wie hingeschlachtet in der Deckenwüste lag.
Honigmund stand da, zog eine mürrische Fratze und streckte ihre breiten Schultern, bog ihre Glieder.
Lenk saß mit angezogenen Knien auf seiner Decke und beäugte verstohlen ihre langen schlanken Beine, die ausnahmsweise so kurz nach der Auferstehung aus ihrer Decke noch ohne die sackartige Leinenhose und die schlaffen, schenkelhohen Stiefel aus ihrem langen Hemd herausschauten. Sie schien es nicht zu bemerken oder sich nicht darum zu scheren.
Turek rieb sich verschlafen die Augen und machte sich sofort ansatzlos daran, seine Decke zusammenzulegen, sie zu rollen und seine Ausrüstung zu packen. Da griff wohl die Disziplin seiner Ausbildung bei der Provinzgarde. Mitten in der Bewegung zuckte er zusammen, hielt kurz schmerzhaft das Gesicht verziehend inne.
„Was machen die Rippen?“, warf sie ihm zu.
„E-e-es geht“, antwortete er mit vagem Blick zu ihr herüber. „W-wird immer besser. Dank d-d-dem Ba-bandagenkorsett, das Pir mir verp-p-passt hat. E-e-es …“
„Es zwickt halt manchmal noch hier und da“, führte sie seinen Satz zu Ende.
Er nickte. „U-u-und st-t-ticht beim Atmen.“
Sie nickte ebenfalls wissend.
„Sieht aus als wäre unser nächster Halt ein Gehöft“, meinte sie mit Blick zu Blanik hinüber.
„Wohnt da wer?“, fragte Honigmund, die sich die Hose über die Schenkel hochzog.
„Laut Blanik schon.“
„Großartig“, raunzte Lenk. „Klingt nach was Anständigem zu essen. Hartbrot und Dörrfleisch hängen mir verdammt zum Hals raus.“
„Und du meinst“, entgegnete Honigmund ruppig, „die schlachten gerade ihre Schweine, weil sie wissen, dass du kommst und hau’n dazu für dich alle Eier, die sie haben, in die Pfanne?“
„Träumen kann man immerhin“, knurrte Lenk vor sich hin.
„Träumst mir ’ne ganze Menge zu viel für meinen Geschmack“, gab Honigmund mit höhnisch hochgezogenem Mundwinkel zurück.
„Dieses Gehöft“, wandte Kira sich an Blanik, der sich niedergehockt hatte, um sein Bündel zu schnüren. „Ist das sicher?“
Blanik drehte sich zu ihr hin und zuckte mit den Achseln. „Wir waren vor ein paar Monaten da, vor dem Sommer. Schien alles in Ordnung. Ein paar Familien, Bauern, eine lockere Gemeinschaft. Alles Leute, die froh waren, am Leben zu sein.“ Er stutzte kurz, als hinter ihnen die schlanken, dunkel gekleideten Gestalten von Sherwa und Nirja aus dem Waldrand traten, als wären sie vorher ein paar der Baumstämme gewesen, die plötzlich zum Leben erwachten. „Aber“ – er wandte sich wieder zu ihr hin und kniff ein Auge zusammen – „ich könnte es auskundschaften.“ Er sah zu den Töchtern Nanrids von den Messern hinüber, die aus dem Waldschatten gelassen auf sie zukamen. „Und die Schwestern machen ja ohnehin ihr Ding.“
Sherwa und Nirja bedachten ihn im Vorbeigehen mit einem Blick, als wollten sie sagen, Was weißt denn du?
Das Gehöft lag in einem weiten Tal hinter einem sich durch die Landschaft schlängelnden Bachlauf. Offenbar wurde er von einer Brücke gequert, die für sie jetzt von einem kleinen Hain verdeckt wurde, denn ein Trampelpfad führte auf die Bäume zu und kam dahinter auf der anderen Seite der Bachrinne wieder zum Vorschein.
Blanik kam die Böschung des Baches hochgekrabbelt und trabte dann gebückt über das Feld auf sie zu.
Sherwa und Nirja von den Messern waren kurz vor ihm von ihrer Aufklärungstour wieder eingetroffen.
„Merkwürdig“, meinte er, als er bei ihnen ankam. „Sieht so aus, als wohnten da jetzt ganz andere Leute.“
„Was sagt dir dein Gefühl?“, fragte Kira ihn.
„Das ist mein Treffpunkt mit Duvan und Jivern“, erwiderte er trocken. „Ich habe die beiden zwar nicht gesehen, aber sie dürften uns ein ganzes Stück voraus gewesen und müssten schon hier angekommen sein. Wenn etwas hier nicht sauber wäre, dann hätten sie mir bestimmt irgendeine Warnung zukommen lassen.“
„Und du traust ihnen?“
Blaniks Blick ging hoch zu ihren Augen; er sah sie an, als suchte er ihr Gesicht nach irgendetwas ab. „Ich arbeite mit ihnen zusammen. Denkst du, ich suche mir irgendwelche Halunken als Partner aus?“
„Es ging ums Geld, oder?“, entgegnete sie ihm. Sie hatte den beiden Kerlen vom ersten Augenblick an, als sie bei ihm aufgetaucht waren, nicht getraut. „Du hast gesagt, du hast schon viele Truppen geführt. Kennst du sie daher? Was waren das für Truppen?“
„Die Hämmer des Ostens, das war eine Freie Schar. Eine mit guter Reputation.“ Überraschenderweise kam die Antwort nicht von ihm, sondern von Honigmund. „Die waren bei den idirischen Truppen, als sie bei Erlenfurt angegriffen haben.“ Sie blickte stoisch drein, wie üblich. Das war aber nicht gerade eine Ausdrucksweise, wie Honigmund sie sonst gebraucht hätte. Es hörte sich vielmehr an wie die Formulierung aus etwas Aufgeschnapptem, irgendeiner Geschichte, die man wiedergibt. Auch glaubte Kira, in ihren Augen einen kleinen Anflug von Bewunderung zu erblicken.
Blaniks Blick streifte sie kurz von unten nach oben. „Nein, lass nur“, sagte er dann. „Ich sehe schon, je mehr man in seinem Leben gemacht hat, umso dubioser wird man in den Augen gewisser Leute. Dabei haben oft die, die am meisten über die Vogelplage zetern, die Schalenreste selbst noch hinter den Ohren. Na, wie lange ziehst denn du schon in wechselnden Verbindungen durchs Land, Kira?“ Er bedachte sie mit diesem pfiffigen Blick, der sie augenblicklich in Harnisch bringen konnte. Doch blieb sie ruhig und ließ sich nichts anmerken, auch als er weitersprach. „Die Leute, die du da führst, das sieht mir auch nicht gerade nach einer jahrzehntelang eingeschworenen Truppe aus.“
„Ihnen trau ich“, entgegnete sie unbewegt. „Deine Kumpane kenn ich nicht. Und bis dahin lass ich kein Ei allein neben ihrer Pfanne liegen.“
Blaniks Lippen zogen seinen Schnauzbart in breitem Grinsen auseinander. „Hm. Gute Einstellung für eine Anführerin, die Verantwortung für ihre Truppe trägt.“ Er atmete tief ein und aus und ließ kurz den Kopf auf die Brust sinken, bevor er wieder den Blick zu ihr hob. „Nun gut“, sagte er, „die beiden stellen vielleicht nicht die glorreichste Truppe dar, die ich jemals geführt habe, aber sie haben mir niemals Anlass gegeben, ihnen nicht zu trauen. Manchmal hat es seinen Vorteil in kleiner Gesellschaft unterwegs zu sein.“ Er zuckte die Achseln. „Nun, ja, Zeiten ändern sich.“
Sein Blick schweifte an ihr vorbei zu den dunkel gekleideten Gestalten der Zwillinge zwischen den Baumschatten. „Und was sagt ihr? Kann man sich auf dieses Gehöft trauen?“
Der Blick derjenigen der Zwillinge, die zuerst sprach, war auf merkwürdige Weise eine Spur seitwärts gerichtet, als wollte sie niemanden Bestimmten direkt ansehen. „Es hält sich niemand dort versteckt.“ – „Weder direkt bei dem Hof noch bei den angrenzenden Gebäuden“, ergänzte ihre Schwester. „Und Waffen sind auch nicht zu entdecken.“ – „Jedenfalls nicht in auffälliger Weise.“
Das musste bei ihnen wenig heißen. Im Norden, im Grenzland zwischen Norgond und den Gebieten der valgarischen Stämme, wo sie aufgewachsen waren, waren jeder verdammte Hof, jede Bauernkate und Hütte bewaffnet, als könnte sie jeden Augenblick ein kriegerischer Vormarsch treffen. Was tatsächlich auch so war. Doch die Töchter Nanrids von den Messern konnten Gefahren abschätzen und hätten sie niemals in eine brenzlige Situation hineinlaufen lassen. Auf sie war Verlass.
„Nun gut“, sagte sie und zog den Riemen ihrer langen Klinge straff. „Dann wollen wir mal.“
* * *
Anders als Blanik hielten sie sich bei ihrer Annäherung an den kahl getrampelten Pfad mit den schmaleren Karrenradspuren zu beiden Seiten hin, der geradewegs auf den kleinen Hain zuführte. Er bestand hauptsächlich aus einer Gruppe von Ulmen, deren Laub sich mit dem Herbst gelb und rötlich färbte. Die Öffnung im Gehölz, durch die der Weg verschwand, erwartete sie wie ein schattiger Tunnel. Als sie in seinen Dämmer eintraten, war es Kira einen Moment, als wäre sie in eine andere Welt getreten. Kräftige Stämme und nach oben laufendes Astgewucher flochten sich zu einer stillen Kuppel, in der das Laubwerk, durch das nur gedämpftes, rötlich gesprenkeltes Glimmen strömte, sich wie die schmalen Buntglasfenster eines Doms ausmachten. Es roch befremdlich süßlich hier drinnen, obwohl doch Frühling und Sommer längst vorbei waren.
Augenblicklich wurde es stiller, die Laute der Außenwelt, der Wiese und der Umgebung dahinter traten wie gedämpft zurück; die Luft war schwerer. Wie eine stumme Prozession schritten sie durch die stammgetragene Höhlung, während um sie die Schatten sacht schwankten und wogten. Umso mehr schreckte sie das jähe Geräusch von oben her auf. Ein scharfes Krächzen, das durch baumumschlossene Luft sägte.
Ihr Kopf schwenkte hoch und sie sah schwarzes Vogelflattern vor Blattwerk, das wie Feuer glomm. Eine Krähe, dachte sie. Eine Sekunde, bevor ihr die dunkel herabpendelnde Last auffiel. Im nächsten Moment war die Luft in der Höhlung von Krächzen und Geflatter erfüllt, als ein ganzer Schwarm ihrem verfrühten Gefährten hoch ins wirre Blätterglimmen folgte. Ein schwarzes Gewimmel und Gestiebe prasselte durch die zuvor feierliche Kuppel. Ihr schwarzes Zerfasern gab den Blick auf menschengroße Pendel frei, die von den starken Ästen herabbaumelten.
Erhängte, erkannte sie. Die Umrisse plump schlenkernder Leiber. Unter gedämpften Schreckrufen ihrer Gefährten ringsum fiel ihr Blick auf Kleiderfetzen und Knochenbögen mit schwärzlich faulenden Fleischresten daran. Die Macht des vielfachen Flügelschlags wehte jetzt auch den Gestank in einer Wolke zu ihnen herab. Sie hörte angewidertes Schnaufen ringsum.
Drei dunkle, schlaffe Menschenschatten hingen über ihren Köpfen aus dem Geäst herab. Unter dem Geräusch der Krähenschwingen hörte man jetzt das Knarren der Stricke.
Kira stand wie erstarrt, auf unerfindliche Weise bis ins Mark berührt, wo sie doch schon einiges an Leichen gesehen hatte. Es war ein Augenblick wie erfroren, herausgelöst aus dem normalen Ablauf der Zeit. Ein Schwindel traf sie, als werde die Welt bleich, mit ihr als der flirrenden Achse darin.
Ein kleinerer, verspäteter Pulk von Vögeln flatterte hoch und vorbei an der mittleren Gestalt. Wie ein dunkler, fasernder Schleier wischte schwarzes Flügelzappeln vor ihrem Blick dahin. Als würde ihr jäh ein über den Kopf geworfener Fetzen, eine zerlumpte Binde von den Augen weggerissen. Hinter dem schattenhaften Gewimmel trat die baumelnde Gestalt erneut klar hervor. Scharf umrissen.
Stand da, breit an den Schultern, hoch an Gestalt in einem grauen Reisemantel und streckte ihr die Hand entgegen. „Man kann sich nicht aussuchen“, sagte er, „in welche Umstände man hineingeboren wird. Und in welche Zeit.“ Der Blick aus seinen ernsten Augen suchte den ihren. „Aber man kann sich aussuchen, ob man das sein will, was in einem steckt.“
Der Boden schwand ihr, Schleier stiegen rings um sie empor.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. „Kira, ist alles in Ordnung?“
Sie blickte hoch. Da pendelten nur wieder drei Leichen an knarrenden Stricken im Geäst.
Djun hatte zu ihr gesprochen. Er war vor sie getreten und hatte dieselben Worte gesagt, die er auf ihrer Fahrt auf dem Ochsenkarren zur Schmiedehalle benutzt hatte.
Sie drehte sich um, blickte in Blaniks besorgtes Gesicht, dahinter die anderen. Blaniks Hand war es auch, die auf ihrer Schulter lag. Sie durfte sich vor ihnen keine Blöße geben. Eine Anführerin, die vor ein paar Leichen zurückschreckte, war untragbar.
„Alles gut.“ Sie presste fest die Augen zusammen. „Einen Moment habe ich gedacht, ich hätte einen von denen da oben erkannt.“
„Ich hätte euch vorwarnen sollen.“ Blaniks Stirn war noch immer gefurcht. „Sie haben sie da als Abschreckung aufgehängt. Schon diejenigen, die vorher hier gewohnt haben. In diesen wilden Zeiten hält man besser die falschen Leute fern.“
„Und eine Menge Menschen sterben in solchen Zeiten“, erwiderte sie. „So viele, dass die Gesichter irgendwann wohl wiederkehren.“ Mit einem knappen Blick nach oben zwang sie sich ein herbes Grinsen ab. „Das sollte uns aber nicht davon abhalten, unseren Weg zu gehen. Also, los! Weiter geht’s.“
Ohne noch einmal den Blick nach oben zu wenden, schritt sie aus, auf den Ausgang des Ast- und Blätterdoms zu. Mit einem seltsamen Frost, der sich in ihre Glieder gestohlen und seine kalten Finger um ihr Herz gelegt hatte. Es war das erste Mal, dass eine Erinnerung derart aus dem tauben Nebel aufgetaucht war, so scharf und hart. Und dann auch gleich so jäh und unvermutet.
Aus der Kuppel dunkler Stämme und feuergleichem Laubgewoge trat sie vor den anderen heraus ins Freie und blickte zum Gehöft hinüber.
Hinter einer halb zerfallenen Steinbrücke, die über den Bachlauf führte, standen magere Kühe auf einer überall von Rankgewächs belagerten Wiese, die in einen Hain mit ein paar Obstbäumen auslief. An einem Apfelbaum lehnte eine Leiter. Ein Karren lag umgekippt und zugewuchert im Gras.
Das eigentliche Gehöft dahinter bestand aus mehreren miteinander verbundenen, flachen Gebäuden. Es sah nach einer Anlage aus, die eigentlich einmal für eine ziemlich große Gemeinschaft bestimmt gewesen war. Der Charakter dieser ursprünglichen Gemeinschaft blieb für sie allerdings unklar. Der Grund dafür waren die inzwischen teilweise verfallenen, festungsähnlichen Anbauten, die entweder direkt an die Haupthäuser angrenzten oder etwas abseits davon standen. Dadurch bildeten sich teils umschlossene Hofflächen, in denen man durch die Gebäudelücken hindurch verschiedene Pferche erkennen konnte. Soweit man das sagen konnte, nachdem sie die Brücke überquert hatten und näher herankamen, wirkten die meisten dieser Umzäunungen verlassen. Dies mochte einst ein Kloster gewesen sein, wie man sie zuweilen im Bergland fand, vielleicht auch das Landgut eines Adligen, der die Städte geflohen war. Vieles war denkbar.
„Keine Reittiere“, meinte Sherwa oder Nirja, als sie ihren forschenden Blick zwischen den Gebäuden hindurch bemerkten. „Jedenfalls keine Pferde, die man für eine Reitertruppe benutzen könnte“, ergänzte ihre Schwester. „Wir können froh sein, wenn wir ein anständiges Packtier finden.“ – „Das Liova und Bernim auch zum Reiten nutzen können.“
Jemand, der vor dem Haus herumstrich, sah sie schließlich, streckte sich zu voller Größe, schien in den Ohren zu bohren, als könnte er dadurch besser sehen, und eilte dann auf den Haupteingang des Hauses zu. Jemand anderer kam mit einem ledernen Futtereimer aus einem windschiefen Verschlag, der an einer vereinzelten Lehmmauer lehnte und ihr nach einem Schweinekoben aussah.
Während sie im Weitergehen hinübersah, stahl sich die klirrende Präsenz jener Erscheinung dort im Dunkel des Hains erneut in ihren Geist, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Etwas beirrend Neues war daran gewesen. Diese Vision war so anders gewesen als ihre bisherigen Erinnerungen an ihren toten Mann, denen bisher immer diese staubige Bleischwere angehangen hatte, die seit ihrem Verlust ihre ganze Seele erfüllte. Das ermattet Tote. Oder aber die Erinnerung war wie ein Phantom gewesen, ein hartnäckiger Schatten, der sich beständig gegen die eindringliche Beharrlichkeit der Realität hielt. Ein Phantomschatten, der einfach nicht weichen wollte. Das hier aber war anders gewesen. Schärfer. Präsenter.
Weg damit! Gewaltsam schüttelte sie die Gedankenfetzen ab. Das Haupthaus lag jetzt vor ihnen und sie musste jetzt ganz in der Gegenwart sein.
Kinder spielten im Dreck. Als sie sich näherten, froren sie wie vom Schlag getroffen ein. Sie bedachten Liova und Bernim, und sonst niemanden, mit Blicken, die man normalerweise nicht bei jemandem ihres Alters fand. Als seien sie ein weiterer Spuk, der sich zu den Erhängten gesellen wollte. Die beiden Kinder des Schmieds kuschelten sich daraufhin an ihren hünenhaften Vater, der rasch den Jungen auf die Schulter nahm und begann etwas vor sich hin zu summen. Wenn es ein Lied war, so hatte es die Schlichtheit von Karrenrädern, die über eine Straße holpern.
Ein kleiner, recht gemischter Pulk tröpfelte jetzt aus der Tür heraus und erwartete sie ringsum lungernd. Das Nicken und die Blicke, die sie ihnen zuwarfen, sahen nach irgendeiner Art von Willkommen aus. Sie sah sie an und die Szenerie behielt für sie etwas gedämpft Geisterhaftes, das sie einfach nicht abschütteln konnte. Als gehörte es einer anderen Welt an. Plötzlich hatte sie ein ganz mulmiges Gefühl bei dieser Sache.
„Na, alles luftig im Schritt“, warf Lenk unbeeindruckt den Umherstehenden zu, als er durch die breite Tür ohne Türblatt und den Vorhang dahinter schritt, erhielt jedoch keine Antwort. Dicke Holzplatten und Balken lehnten draußen daneben, als könnte damit der Eingang nach Bedarf verrammelt werden.
„Lasst mich reden“, flüsterte Blanik Kira zu, als er ihr den Vorhang beiseitehielt, um sie ins Innere zu lassen. Nur zu. Gut mit Worten war er ja. Und ihr steckte einfach noch immer dieser Spuk in den Knochen. … aber man kann sich aussuchen, ob man das sein will, was in einem steckt.
Sie traten in einen einzigen großen Raum, der das gesamte zentrale Gebäude umfassen musste. Zwischen Holzsäulen, Tragebalken und dazwischen aufgespannten Tüchern zog er sich unübersichtlich in die Tiefe. Er wurde beherrscht von einer riesigen, runden Feuerstelle in der Mitte mit einem großen Rauchfang darüber, der nach den feinen Dunstschwaden, die sich von der Decke her in Schlieren abwärts senkten, nicht mehr unbedingt einwandfrei zog.
Ein Kind saß mitten im Durchgang mit gespreizten Beinen plärrend auf dem Boden, Hunde oder etwas, was dem nahekam, streunten um es herum. Einer schnüffelte mit geschlitzten Augen und gekrauster Schnauze an ihm. Weitere Kinder unterschiedlichen Alters waren über den Raum verstreut.
Etwas mehr als ein Dutzend erwachsener Gehöftbewohner sammelte sich auf zusammengezimmerten, mit Rückenlehnen versehenen Emporen, die ein wenig nach Sitzmöbel, ein wenig nach den Gemeinschaftsbetten aussahen, wie Kira sie von manchen Gemeinschaften kannte. Dies alles erinnerte sie an Geschichten über die großen Hallen der Valgarenklans. Auch wenn sie mit den hier versammelten Gestalten ganz bestimmt auf keinen Kriegszug gegangen wäre. Nicht, wenn sie den gewinnen wollte.
Männlein und Weiblein hingen wild durcheinander und waren in einem zum Teil bedenklichen Kleidungs- und Pflegezustand. Wobei sie selbst auch nicht großartig in der Lage wäre, den Richterhammer zu heben, so wie sie aus der Wildnis kamen und seit Ewigkeiten nirgends mehr gewesen waren, was man mit Zivilisation hätte bezeichnen können.
Ein dunkelhaariger Kerl, bei dem sie nicht wusste, sollte sie ihn als stämmig oder fett bezeichnen, bildete augenfällig das Zentrum der Gemeinschaft. Er fläzte sich breitbeinig mit einem klobigen Holzhumpen in der einen Hand, die andere auf dem großen, schlaffen Busen einer Frau mit ausgebleichtem blondem Haar und halb weggetretenem Blick. Daneben saß eine ausgemergelte, magere Frau, fahl wie eine Streigenbuhle, die schon seit langer Zeit kein Blut mehr getrunken hatte. Um sie und hinter ihnen scharte sich verstreut der Rest in kleinen Gruppen, durch alle Altersstufen bis hin zu einem zahnlosen Greis, der ununterbrochen leise vor sich hin wetterte. Eindeutige Verwandtschaftszuordnungen konnte sie keine vornehmen.
Jivern entdeckte sie in hinterer Reihe. Eine große Frau mit einer Frisur wie ein Storchennest hatte den Arm um ihn gelegt. Der hagere Kerl mit dem glatten, schlohweißen Haar kam ihr wie im Schwitzkasten vor; doch er grinste verhalten. Duvan fand sie dann zwei Plätze neben ihm. Er winkte Blanik zu.
„Lass ihn“, raunte sie Pir auf seinen Seitenblick hin zu, als Blanik vortrat und sich mit gespreizten Beinen, die Hände in den Hüften, vor die Versammlung stellte.
„Ich grüße euch“, begann Blanik in ausgreifendem, gewinnendem Ton, als spräche er vor einem Fürstenhof, dessen Huld es zu gewinnen galt, und vollführte mit einer Hand elegant einen gemessenen Schlenker. „Wir sind Reisende, die es in diesen unsicheren Zeiten durch diese Lande treibt und wir erbitten einen Ort für die Rast. Ob unter eurem Dach oder im Freien, ganz wie immer es euch gemäß erscheint.“ Er machte eine Geste zu seinen beiden Helfern hin. „Gewiss habt ihr von meinen Gefährten, die ich unter euch sehe …“
Kira hörte nicht weiter zu. Blanik machte das gut. Wahrscheinlich hätte sie angesichts dessen, was sich ihnen hier darbot und dann noch dessen, was sie da erwischt hatte und ihr so unerfindlich in den Knochen saß, nur Anstoß erregt oder es an einer Herzlichkeit fehlen lassen, die Blanik scheinbar mühelos verströmte. Sie besah sich den Haufen, der sich hier zusammengefunden hatte. Fast alle tranken sie Bier, vergorenen Getreidebrei oder Ähnliches. Eine Frau goss aus einem Kessel, der in der Feuerstelle stand, einen Krug voll, brachte ihn herüber und ließ ihn reihum gehen. Aus der Farbe des Gebräus beim Eingießen schloss sie, dass es sich um Bergtau-Absud handelte. Ihr gab es hier zu viele Gebisslücken, Zahnstümpfe und Flecken im Schritt. Lenk und Turek griffen munter die Einladung, sich hinzuzusetzen und sich etwas zu trinken zu nehmen, auf. Der Rest von ihnen ließ zwar das Gepäck von den Schultern gleiten, blieb aber lieber stehen und trat höchstens ein wenig auseinander, um sich stärker im Raum zu verteilen. Honigmund hatte eine besonders grimmige Miene aufgesetzt, offensichtlich aufgrund der ersten Blicke, die entdeckt hatten, dass es sich bei ihr, trotz dreckigem Gesicht und kurzem, struppigem Haar, um eine Frau handelte und jetzt anzüglich an ihr entlangstreiften.
Duvan kam herum, schnappte sich einen Krug vom Tisch, goss ihn voll und reichte ihn Blanik, wobei er ihm mit bärbeißigem Lächeln zunickte. Kira bemerkte, dass er immer noch leicht von der Verletzung hinkte, die er sich bei ihrer gemeinsamen Flucht zugezogen hatte. Blanik klopfte ihm blinzelnd auf die Schultern, nahm einen herzhaften Schluck aus dem Krug und wischte sich dann mit dem Handrücken zufrieden schnaufend über den Mund.
Ungewollt verlor ihr Blick sich im Leeren. Er hatte da gestanden, breit an den Schultern, hoch an Gestalt und hatte ihr die Hand entgegengestreckt. Unverkennbar er – Schlangenhand Djun.
Kira wurde erst wieder wirklich auf Blaniks Worte aufmerksam, als er nicht mehr die Allgemeinheit der Hofbewohner oder das scheinbare Sippenoberhaupt ansprach, sondern sich jemanden aus der Gruppe der hier Versammelten gezielt herauspickte. „… an dich erinnere ich mich. Auch wenn ich von den anderen hier kaum einen kenne. Wie heißt du noch …? Kalder, stimmt’s?“
„Kelver.“
„Ja, richtig, Kelver. Wir haben miteinander gezecht, als wir vor dem Sommer hier vorbeigekommen sind. Sag, was ist mit den anderen passiert, die vorher hier gewohnt haben?“
Kira sah, wie der Mann mit dunklen Ringen unter den Augen und einem unregelmäßigen Topfschnitt Blanik einen Moment anstierte, als hätte der ihm eine unsagbar dumme Frage gestellt. „Sind weitergezogen“, sagte er dann.
„Aber so einen schönen Hof, so eine schöne Anlage, die lässt man doch nicht so einfach im Stich?“
Es brauchte offenbar etwas, bis der Mann das als Frage auffasste. „Sind unruhige Zeiten.“ Pause. „Leute sind mal hier, mal da.“
„Und du bist geblieben?“
Der Mann schien die Bedeutung einer am Satzende gehobenen Stimme nicht zu kennen. „Stimmt“, sagte er schließlich. „Warum sollte ich gehen?“
Kira war froh, als sie aus der großen Stube wieder draußen war.
* * *
Mit der schlanken Gestalt Pirs neben ihr lehnte sie sich mit den Unterarmen auf den Zaun auf und sah zu Lenk rüber, der einem struppigen Maultier, bei dem man die Rippen zählen konnte, den Rücken tätschelte. Der Kerl, mit dem er dabei feilschte, sah eher nach einem Metzger als nach jemandem aus, der Interesse am Großziehen und Versorgen von Tieren hatte. Turek stand dabei und wirkte, als betrachte er das Ganze stumm, doch mit argwöhnischen Blicken, als wollte er sehen, dass alles mit rechten Dingen zuging. Ein paar der Hofbewohner, Kinder wie Erwachsene, standen starr im Hintergrund und gafften zu ihnen herüber.
Die Sache hatte sie gern Lenk überlassen. Sie traute dem kleinen Drecksack ohne Weiteres zu, dass er für sie den besten Preis herausschlug. Wahrscheinlich wäre sie bei dem mulmigen, geisterhaften Gefühl, das sie derzeit beherrschte, nicht unerbittlich genug fürs Feilschen gewesen. Außerdem hatte sie keine Lust, hier allzu sehr aufzufallen oder überhaupt in Erscheinung zu treten. Am besten, keiner hier nahm sie überhaupt wahr und sie blieb wie ein Geist im Hintergrund.
Klann lehnte mit den beiden Kindern ein paar Schritte weiter am Zaun. Die Aussicht, dass sie ein Maultier bekamen, schien die beiden ganz aufgeregt zu machen, besonders Bernim, das kurze Kraftpaketchen. Honigmund saß weiter hinten auf einem Holzklotz und wetzte ihr Schwert, wobei sie dabei immer wieder missmutige Blicke umherwandern ließ. Sherwa und Nirja lehnten lässig unter dem Dachüberstand eines Stalles in den Schatten und blickten wie abwesend vor sich hin. Wobei sich Kira sicher war, dass ihren scharfen Augen nichts entging, was im Hof und dessen Umgebung geschah. Ein paar Hühner jagten sich gackernd durch Lehmpfützen und ein räudiger Hund kratzte sich im Staub liegend selbstvergessen hinter den Ohren, während sein Körper dazu im Kreis rotierte.
Lenk und der Metzgerkerl machten ein großes Getue aus dem Handel, Worte flogen hin und her, jähe Wechsel, als würden sie sich heftig beschimpfen, dass man denken konnte, sie gingen sich gleich an den Kragen, dann wieder Phasen, in denen es schien, als seien sie alte Freunde, die hier ihre Verbrüderung auffrischen wollten. Ja, Lenk war eine gute Wahl fürs Schachern gewesen.
Kiras Aufmerksamkeit wurde von dem Geplänkel abgelenkt, als von einer Häuserecke her Stimmen über den Freiplatz hallten. Gestikulierend kam Blanik zusammen mit Duvan und Jivern herüber. Duvan führte er mit auf die Schulter gelegtem Arm.
Sie wählten sich einen Winkel zwischen einem Wohnanbau und einem abgestellten Karren, etwas mehr als ein Dutzend Schritte von ihr entfernt.
„Also, was hast du uns zu sagen?“, fragte Jivern, den Daumen in seine Gürtelschlaufe gehakt.
„Zunächst einmal“, begann Blanik, „wollte ich die Verbindlichkeiten zwischen uns begleichen. Und ich wollte das nicht unbedingt vor den Augen dieser illustren Versammlung tun.“
Die beiden brummten unbestimmt vor sich hin. Kira glaubte, ihnen nicht allzu sehr Unrecht zu tun, wenn sie ihnen unterstellte, dass sie an den Bewohnern dieses Gehöfts weniger Anstoß nahmen als die meisten ihrer Truppe.
„Ihr habt die Flüchtlinge gut und sicher aus dem Umfeld der Wächterstreifen herausgebracht, so wie es mit ihnen vereinbart war. Das habt ihr gut gemacht. Und somit wird euer voller Anteil an der Bezahlung fällig.“
Er kramte – zur Seite gedreht – an seinen Gürteltaschen herum und förderte zwei Säckchen zutage. „Das ist euer Anteil, wie abgesprochen. Ihr könnt ihn nachzählen.“
Die beiden begutachteten die Säckchen in ihren Händen, drehten sie und nestelten daran herum.
„Nur zu, zählt nach“, forderte er sie auf. Und dann, als die ersten Münzen in ihre Handfläche rieselten, „Ich möchte, dass ihr das tut, damit zwischen uns alles klar und im Reinen ist.“ Kira sah, wie bei den Worten die Blicke der beiden von den Münzen zu ihm hochgingen. „Denn unsere Wege trennen sich hier.“
Nicht nur ihre Blicke, auch ihre Stimmen flogen bei diesen Worten hoch. Empörungsrufe wurden laut.
„Was soll das heißen, unsere Wege trennen sich?“
„Du willst uns verscheißern, oder?“
„Ich sage es so, wie es ist.“ Blanik zuckte die Achseln.
„Warum?“ Der stämmige Duvan blickte ihn fassungslos an. In Jiverns Blick lag etwas Lauerndes.
„Warum? Weil sich die Dinge ändern. Weil …“
„Aber es läuft gut. Im Westen oder in den Bergen gibt es noch eine Menge Leute, die von hier nach da wechseln wollen, weil sie sich da, wo sie gerade nicht sind, ein besseres Leben versprechen. Warum sich das durch die Lappen gehen lassen?“
„Wir hatten noch eine Menge vor“, sagte Jivern in mahlend ruhigem Ton. „Du hast –“
„Ich habe es gesagt“, fiel Blanik ihm ins Wort. „… die Dinge ändern sich. Menschen ändern sich.“ Jivern schielte ihn an, als hätte Blanik im Kartenspiel gerade den Einsatz hochgetrieben und er frage sich, was er da wohl für ein Blatt auf der Hand hatte.
„Das haben wir gestern getan, weil es uns gut erschien. Weil die Menschen uns brauchten. Einen Weg heraus. Aber was wir gestern getan haben, ist nicht mehr das, was ich heute tun will.“
Nach einer Pause, in der sie ihn anstarrten, als sei er von allen guten Geistern verlassen, fuhr er fort: „Das ist nicht länger mehr mein Leben, versteht ihr? Ich möchte es hinter mir lassen. Das alles war gestern – heute gilt etwas anderes.“ Sie hörte ihn schnaufen, sah, wie seine Schultern sich senkten. „Ich bin heute jemand anderer.“
„Aha, einfach so?“
„Das kannst du nicht machen, du weißt, dass wir …“
„Lass ihn, Duvan“, sagte Jivern, während er seinen Blick nicht von Blanik ließ. „Lass gut sein. Blanik hat sich anders entschieden.“ Dann nach einer Weile, in der sein Kumpan versuchte, seinen Grimm zu bemeistern, „Die Karte?“
„Was ist damit?“
„Können wir sie haben? Wir könnten sie dir auch von unserem Anteil abkaufen.“ Sie bemerkte, wie er Blanik einen Blick aus verkniffenen Augen zuwarf. „Wenn du das schon nicht mehr tun willst, wir würden es schon. Und die Karte wäre die Grundlage, dass wir dieses Geschäft fortführen könnten.“
Kira nahm die Arme vom Zaun, richtete sich auf, bemüht, auch weiterhin möglichst unauffällig zu den dreien hinüberzuspähen. Jetzt war sie aber gespannt.
Blanik schien sich einen Moment Zeit zu nehmen, während die beiden ihn lauernd ansahen, streckte sich, lehnte die Schultern zurück und schien sie von oben herab zu mustern. Mehrere Atemzüge vergingen.
„Das kann ich nicht tun“, sagte er schließlich und Duvan fuhr schon empört auf. „Ich kann nicht dafür bürgen“, fiel ihm Blanik in die Parade, „dass ihr diese Karte richtig lest und sie auch richtig benutzt. Ich würde dann die Verantwortung für all die Leute übernehmen, die ihr mit dieser Karte durch die Wächterstreifen führt. Und all eure besten Absichten angenommen“ – er schien einen tiefen Atemzug zu tun – „das kann ich nicht auf mein Gewissen laden.“
„Gewissen?“, polterte jetzt Duvan und dann ging es los. Während Jivern ihn zu beschwichtigen versuchte und schnelle Blicke zwischen ihm und Blanik hin und her gehen ließ.
„Sollen wir eingreifen?“, hörte sie Pir neben sich raunen.
Sachte schüttelte sie den Kopf. „Nein. Lass ihn nur. Das sollte er tun.“ Sie schnaubte leise. „Und damit sollte er auch fertig werden.“
Aber dennoch legte sie die Hand auf den Knauf ihrer kurzen Klinge am Gürtel. In diesem Gehöft konnte man nicht wissen. Obwohl sie wenig Befürchtungen hatte, dass die Sippe hier in der Lage war, ihnen ernsthaft etwas anzuhaben.
„Alles klar, Leute“, tönte es ihr aus dem Pferch entgegen. Sie wandte den Kopf und sah, wie Lenk grinsend zu ihnen herüberkam. Den Maulesel führte er an einem Strick hinter sich her, während Turek neben dem Tier herschlurfte. „Fünfzehn Pragta und sechs Sautinen hab ich für das Vieh rausgehandelt. Eigentlich vierzehn. Die Handvoll Sautinen hab ich draufgelegt, damit wir noch ’ne Decke und so ’n Zeug dazukriegen.“
„Gut gemacht“, sagte sie und betrachtete das Tier, dessen zuckende Ohren von Fliegen umschwirrt wurden. Sie sah, dass Klann sich vom Zaun löste und mit Liova an seiner Seite herüberkam. Bernim trampelte ihnen johlend voraus.
Sie konnte ihn gerade noch am Kragen erwischen, bevor er sich zwischen den Zaunlatten hindurch in den Lehmpferch und auf den Maulesel gestürzt hätte.
„Wahrscheinlich sollte man ihn erst einmal säubern und striegeln“, meinte sie mit Seitenblick auf das Tier.
Klann nickte bedächtig. „Ich find was dafür“, meinte er zu den Ställen hinüberschauend.
„Gut“, antwortete sie. „Nimm Honigmund mit.“ Sie schwenkte den Blick über den verlassenen Innenhof. „Man weiß ja nie.“
„Sie kann mitkommen“, meinte der Schmied. „Aber ich schaffe das.“
Ein knappes Lächeln zuckte bei ihr hoch, während sie den Blick an der Statur des Schmieds aufwärtsgleiten ließ. Daran hatte sie keinen Zweifel. Klann übernahm den Strick von Lenk und führte das Maultier auf der anderen Seite des Zauns entlang auf den Ausgang des Pferchs zu.
Zu ihrer anderen Seite ging es jetzt gerade hoch her. Hörte sich an, als würde Duvan jetzt tatsächlich Blanik tätlich angreifen. Doch sie widerstand der Versuchung, sich umzusehen.
Lenks Blick streifte kurz hinüber, dann lehnte er sich auf den Zaun und grinste sie ausnahmsweise einmal gutgelaunt an. Die Schacherei schien ihm gefallen zu haben. Das Grinsen blieb einige Zeit in seinem Gesicht kleben, während er sie stumm ansah.
„Ist ein kerniger Haufen hier“, meinte er schließlich.
„Kann man so sagen.“
„Hm, ist ’ne Gemeinschaft, die sich’s im Niemandsland eingerichtet hat.“ Er ließ eine Kunstpause. „Geht’s in Freistatt ähnlich zu?“
Einen Moment war sie perplex.
„Nicht dein Ernst?“ Kurz sah sie in Lenks ausgemergelte, unrasierte Züge, sah, dass sein Blick an ihrer Schulter vorbeiwanderte. Sie machte mit zwei Fingern eine rasche abschneidende Bewegung vor ihrer Brust und blitzte ihn an.
Langsam drehte sie sich um. Sie sah Blanik, der mit einem entspannten Lächeln einige Schritte hinter ihr stand.
„So, das wäre erledigt“, sagte er.
„Ich hab einiges mitgekriegt“, sagte sie. „Ging ja laut genug zu. Du hast also dein … profitables Geschäft in den Wind geschrieben.“
„Reinen Tisch gemacht, würde ich es nennen.“
Sie besah ihn sich, seine Haltung, seine Miene. Er sah tatsächlich wie jemand aus, der mit einem Mal freier durchatmen konnte. „Und was willst du jetzt stattdessen tun.“
„Nun …“ Er legte den Kopf schief, hob die Augenbrauen, während er den Blick sinnend ins Leere wandern ließ. „Wer weiß? Vielleicht etwas … Ruhigeres.“
„Etwas Ruhigeres?“ Sie sah ihn nachdenklich an. „Dieser Hof schafft es wohl, einige zu ganz neuen Gedanken zu ermuntern.“
Er lachte auf, indem er zischelnd die Luft zwischen den Zähnen hindurch ausstieß. „Wohl kaum.“ Dann, „Jedenfalls nichts Inspirierendes.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, das steht für mich schon seit einer Weile fest.“
Sein sinnend sich senkender Kopf kam wieder hoch, er suchte ihren Blick. „Darf ich euch wohl noch ein Stück begleiten?“
Sie musterte Blanik. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Lenks Blicke zwischen ihr und Blanik hin- und hergingen. „Wohin?“, fragte sie.
Blanik zuckte die Achseln. „Irgendwas ergibt sich immer“, antwortete er und schob das bärtige Kinn zu einem Grinsen vor.
„Nun gut“, sagte sie. „Das ist das Niemandsland. Hier reist man besser gemeinsam.“
„Ich finde, der Lange hier macht sich gut“, warf Lenk, den sie nicht um seine Meinung gefragt hatte, von der Seite ein und nickte Blanik feixend und zwinkernd zu.
Sie sagte nichts dazu. Sie war einfach nur froh, dass sich ihr mulmiges Gefühl nicht bestätigt hatte.
* * *
Nachdem der Maultierkauf so gut gelaufen war, hatte sie Pir, Lenk und Turek zusammen mit Nanrids Töchtern – für alle Fälle – ins Haupthaus geschickt, um auch noch um etwas Proviant zu feilschen. Es würde die Moral ihrer Truppe stärken, etwas anderes als Dörrfleisch und Hartbrot zwischen die Zähne zu bekommen.
Blanik hatte sich ihnen angeschlossen und so blieb sie beim Maultier und den Kindern zurück, während deren Vater in der Scheune noch etwas zum Striegeln und Herrichten suchte.
Sie hatte Bernim auf den Rücken gesetzt, während Liova die Zügel in der Hand hielt und das Tier mit Kira an ihrer Seite herumführte. Der Kleine grinste übers ganze Gesicht und stieß Anfeuerungsrufe aus.
Liovas struppiges Haar hatte einen Schimmer, den man gemeinhin als tomatenblond bezeichnete und ein Hauch von Sommersprossen sprenkelte leicht ihre Wangen, wobei das Haar ihres Bruders eher ins Goldene ging. Sie betrachtete die Art, wie das Mädchen die Zügel packte.
„Sieht aus, als kennst du dich mit Tieren aus“, meinte sie zu ihr. „Hattet ihr zu Hause auch welche?“
„Nein“, antwortete Liova, „aber Kestarn auf dem Hof nebenan hatte welche. Und Mama kam öfter mal auf dem Pferd nach Hause.“
Sie schien über das, was sie gesagt hatte, nachzusinnen, meinte dann schließlich, „Mama hat gesagt, sie müsste noch Arbeit erledigen, aber dann käme sie für lange Zeit nach Hause. Ist Mama tot?“ Sie sah Kira direkt ins Gesicht und sie fühlte sich ein wenig betreten, dass dieses kleine Kind dies so direkt aussprach. Aber das waren die Tatsachen dieser Zeit. Kinder wurden schnell an die grausamen Wahrheiten des Lebens herangeführt.
„Das kann ich dir nicht sagen“, erwiderte sie. „Was sagt dein Papa denn?“
Die Brauen der Kleinen zogen sich zusammen. „Er meint, wo Mama ist, da ist es gefährlich und deshalb …“
Sie verstummte, und als Kira ihrem herumschwenkenden Blick folgte, sah sie Klann vom Scheunentor her auf sie zustapfen, mit Honigmund im Schlepptau.
„Schau mal, Papa“, rief sie und hielt die Zügel hoch, während ihr Bruder auf dem Rücken laut aufjohlte. Das Tier trug es mit kreatürlichem Langmut.
Aber Kira dachte, Gefährlicher als im Niemandsland?