Der Pfad der Wolfsklingen - Horus W Odenthal - E-Book

Der Pfad der Wolfsklingen E-Book

Horus W. Odenthal

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Beschreibung

Der letzte Überlebende eines verlorenen Krieges. Der Träger eines legendären Schwertes. Ein Elf mit tödlichem Hass auf seine eigene Rasse. Wenn sie überleben wollen, müssen sie und ihre Gefährten zu einer festen Gemeinschaft zusammenwachsen. Denn es erwartet sie die größte Herausforderung ihres Lebens. Und ein gnadenloser Feind. Ein Auftrag führt die Truppe um Schlangenhand Djun in die von den Elfen besetzte Stadt Rhun, aus der sie eine Waffe in Menschengestalt herausschmuggeln müssen. Doch die wahre Herausforderung kommt erst danach. In einer erbarmungslosen Hatz müssen sie eine vom Krieg verwüstete Region durchqueren, die vor ungeahnten Gefahren und zurückgelassener Magie strotzt. Erst im Niemandsland zeigt sich, wer wirklich das Zeug zum Helden hat…

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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NIEMANDSLAND-SAGA 1

DER PFAD DER WOLFSKLINGEN

HORUS W. ODENTHAL

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Er spürte, dass er mit dem Gesicht im Dreck lag. Im nassen Dreck. Als er dann die Augen öffnete, sah er, dass der Dreck nicht braun oder grau, sondern rot gefärbt war.

Schlangenhand Djun hob ein Stück weit den Kopf aus dem blutigen Matsch. Sein Schädel brummte.

Gebrüll und Waffenklirren wüteten rings um ihn, noch immer. Der Lärm einer Schlacht.

Was war geschehen?

Da war der Schnitt in seiner Seite, der sich ihm durch Brennen in Erinnerung brachte. Neben vielen anderen kleinen Wunden. Und er hatte einen Treffer am Kopf abbekommen. Daher auch das Brummen. Einen Schlag mit einer Streitkeule. Zum Glück nur gestreift, sonst würde er jetzt gar nichts mehr brummen spüren. Außerdem hatte seine Lederkappe das Schlimmste verhindert. Gute, alte Lederkappe – Schicht für Schicht gehärteten Leders, inzwischen zu einer panzerartigen Hülle miteinander verbacken, die sich um seinen Schädel schmiegte –, darüber das Tuch um den Kopf gebunden, das sie verdeckte. Er hasste Helme; nichts war schlimmer, als im Kampf in so einem Topf zu stecken. Nichts für einen Wildlander.

Er stemmte sich mit den Armen ein wenig höher und sah den Valgaren neben sich im Dreck liegen. Die Augen leer und tot zum Himmel gerichtet.

Der Valgare war im Schlachtgetümmel mit seiner Streitkeule auf ihn zugestürzt, als er noch mit einem anderen Feind beschäftigt gewesen war. Er hatte ihn zu Fall gebracht, sie waren im Dreck herumgerollt und es war ihm gelungen, dem Valgaren eine Klinge ins Herz zu stoßen. Wobei er dann im letzten Moment noch den Schlag an den Kopf abbekommen hatte, der ihn für einen Moment hatte bewusstlos werden lassen.

Matsch spritzte in sein Gesicht. Um ihn herum Beine, Stiefel. Für den Moment nichts davon gefährlich nah. Für den Moment. Er musste hoch! Wo waren seine Waffen? Er tastete nach den Scheiden an seinem Gürtel und den Leib- und Beinschlaufen. Genügend da, auch das Kurzschwert. Auf das Messer im Leib des Valgaren konnte er verzichten, aber wo war seine lange Klinge? Er drehte den Kopf, fand ein Glitzern im rötlich gefärbten Dreck, die ihm bekannte Form, und seine Hand kroch darauf zu, ertastete es und schloss sich um das vertraute lederumwickelte Heft.

Mit dem Schwert in Händen stemmte er sich hoch auf die Knie. Ein heiseres Knurren entrang sich ihm beim scharfen Schmerz in seiner Seite und der tauben Pein in all seinen Gliedern. Auf das Schwert gestützt hing er kniend da und sah sich um. Ringsumher tobte noch die Schlacht. Ein verheertes Feld voller Kämpfender, Verwundeter und Toter. Er war in einer momentanen Insel im Getöse hingestürzt. Die Gestalten und Umrisse der Kämpfenden wankten vor seinem Blick, schossen aufeinander zu, trafen mit blitzenden Klingen aufeinander und brüllten laut.

Er sah Wildlander wie sich selbst, Kinvarda, die von einer Übermacht bedrängt wurden, dazu idirische Soldaten, die ihnen zu Hilfe eilten und ihre Reihen stützten, doch der Feind war zu stark. Ein riesiger, ungefüger Koloss, größer, breiter, ungeschlachter als ein Mensch es je sein könnte, wütete röhrend mit einem Schlachthammer in den Reihen seiner Brüder und Schwestern. Mit mächtigen Hieben trieb er einen Pulk aus Kinvarda und idirischen Soldaten auseinander, dass Blut und Schlamm spritzte und Körper flogen.

Mit einem Ruck und einem Grunzen stemmte Djun sich endgültig auf die Füße. Und taumelte gleich wieder, sein Kopf dröhnte, da Hornstöße gellend die Luft zerpflügten und über ihn hinwegrasten. Die Elfen bliesen zu einer neuen Angriffswelle.

Das Schlachtgewirr um ihn zerstob, als sei er inmitten schmutziger Wolkenwirbel, richtete sich neu aus. Ihre Feinde, die Valgaren, zogen sich aus den Kämpfen zurück und für einen Moment schien es, als bekämen sie selbst ein wenig Luft zum Atmen. Wo nicht mehr gekämpft wurde, richteten sich taumelnd Gestalten auf und blickten gen Norden, was wohl der Feind als Nächstes gegen sie ausschicken würde. Die Elfen selbst hatten sich bisher zurückgehalten und ihre Vasallen vorgeschickt. Die Valgaren – die Elfenverbündeten aus den Nordländern –, Surnyaken und die Duergakolosse.

Die Hörner gellten weiter, schriller und schriller, bis es schien, als wollten sie den Himmel spalten.

Dann kam die neue Angriffswelle. Schwarzgepanzert und knochenbleich. Die Elfen selbst griffen an.

Djun sah ihre Reihen anbranden, sah, wie sie auf die versprengten Gruppen der eigenen Leute auftrafen und überall Kämpfe ausbrachen. Wie eine Flutwelle fraßen sich die Spitzohren zwischen ihnen hindurch. Einen davon sah er geradewegs auf sich zustürmen.

Er spuckte knapp zur Seite weg. Die kurze Klinge fand jetzt ebenfalls in seine Hand, knapp schätzte er die Attacke seines Elfenfeindes ab. Dann trafen sie aufeinander.

Sie umtanzten sich, er und die schwarz gepanzerte Bleichhaut. Klingen sausten und wirbelten, scharrten aneinander vorbei. Die Schwünge waren unverhofft, der Kampfstil fremdartig; er hatte Mühe, sich der Hiebe zu erwehren. Sein Gegner war frisch und ausgeruht und voller Kraft. Grimmige Erbitterung zeichnete sein bleiches Raubtiergesicht.

Djuns kurze Klinge traf, glitt aber an der fremdartig schwarzen Panzerung ab. Verwirrung streifte die scharf geschnittenen, knochenweißen Züge seines Feindes. Djun ließ seine beiden Klingen spielen und alles versank in einem Taumel aus Stößen, Wirbeln, Keuchen und Zustechen. An unerwarteter Stelle tauchte die fremde Klinge auf und unterlief seine Manöver, kam aus einem Abtausch hoch. Sein Fuß glitt im Matsch aus und die Welt verlor ihren Halt und kreiste gefährlich um ihn weg. Er stürzte, knallte zu Boden.

Stahl durchschnitt die Luft und ein helles Blitzen, silbern bleiches Licht entlang einer Elfenklinge, spaltete den Himmel. Zuckte herab, auf seinen ungeschützten Hals zu. Seine lange Klinge schoss hoch, konnte den Stoß nicht aufhalten. Er glitt seitlich weg, um Haaresbreite sauste die scharfe Klinge an ihm vorbei – er spürte ihren Luftzug. Der Schwung trug seinen Feind nahe an ihn heran. Wo ihn seine kurze Klinge erwartete.

Stahl bohrte sich knirschend durch eine Panzerungslücke in weiches Fleisch.

Djun keuchte schwer auf, als er den Leib des Toten von sich wegstemmte und seine kurze Klinge wieder freizog. Der Körper stürzte weg in den Schlamm und Djuns rascher Blick ging darüber hinweg, um die Umgebung zu erfassen, nach neuen Feinden, neuen Gefahren Ausschau zu halten. Seine Augen streiften ein Aufflackern wie von Feuer und sein Blick sog sich daran fest, verschwamm in einem Flattern und Aufwallen von Rot, das geradewegs auf ihn zuhielt.

Ein Turm von einer Gestalt, aufrecht und hoch. Wehendes Rot, wie Blut, wie Flammen. Klingen überall, blitzendes, tödliches Silber. Schnell kam sie auf ihn zu, ragte schon vor ihm auf, eroberte den Himmel und brachte das dazu gehörende Gesicht in seinen Blick.

Nein, kein Gesicht – eine Fratze. Nachtschwarz auf knochenbleichem Weiß, boshaft verzerrt. Die hassverzerrte Grimasse eines Dämons.

Flammen, Blut brandeten hoch, zorniges Rot fraß die Welt, und die Dämonenfratze kam schnell näher, gärte und wuchs, bis sie alles war, was er sah, als käme der Tod selbst und wollte ihn holen.

Schlangenhand Djun schoss hoch, die Augen im Schreck weit aufgerissen, und starrte ins Dunkel.

Sein eigenes, rhythmisches Keuchen hallte ihm in seinen Ohren, als wäre er in einem schwarzen Nirgendwo, in dem sonst nichts existierte als ein gigantisches Echo, das seine eigenen Laute verflatternd auf ihn zurückwarf.

Etwas packte seine Schulter und er zuckte herum.

Ein Umriss zeichnete sich vor ihm ab, ein Gesicht schälte sich aus der Düsternis heraus.

„Du hast geträumt“, sagte eine Stimme, rau, aber sanft. Kira. Beschwichtigend drückte sie zärtlich seine Schulter. „Du hast nur geträumt.“

Tief durchatmend ließ er sich wieder auf das Lager sinken – die anderen mussten hiervon nichts merken – und starrte hoch in die Leere des bretterumschlossenen Raums, weiter um ruhigen, gleichmäßigen Atem bemüht. Ihr Umriss senkte sich ebenfalls wieder in eine liegende Position und er spürte, wie sie sich an ihn schmiegte, und dann ihre Hand, die nach der seinen tastete. Fast konnte er ihre forschenden, besorgten Blicke auf sich spüren. „Es ist schon gut“, flüsterte er leise, fast nur wie ein Hauch.

Das war es aber nicht. Nichts daran war gut. Die Zeit änderte daran wenig. Nicht die fünf Jahre, die seither vergangen waren. Er starrte auf dem Rücken liegend weiter hoch an die Decke des großen Bootsschuppens, die in der Dunkelheit nur erahnbar war. Er hörte um sich die Atemzüge der Schlafenden, von irgendwo ein Schnarchen, das Schlappen des Wassers am Fischerboot und gegen die Planken und Pfähle der Anlegestelle. Kiras Atmung zeigte ihm, dass sie weiterhin wach war, genauso wie der sanfte Druck ihrer Hand.

Was er aber vor sich sah, war eine stumme Parade von Toten. Ihre Gesichter wechselten sich ab mit den Bildern ihres Sterbens, der Schlacht, des Gemetzels, in dem sie alle miteinander untergegangen waren. Er sah ihre Züge, ging ihre Namen durch. Der Silberne Daenn, Nagel, Kürninvar, Machelda-Zwei-Flammen, Bruak der Siebente, Swivald die Stille … und all die anderen, die sich der Armee General Morantes angeschlossen hatten und gefallen waren. Und das waren nur die Waldläufer, die Kinvarda. Seine Leute. Hinzu kamen die ungezählten Soldaten der regulären Armee, die er nie wirklich kennengelernt hatte.

Alle hatten sie in diesen Tagen ihr Ende gefunden. Niemanden hatte er retten können.

Nie mehr!

Nie mehr wollte er so etwas erleben. Nie mehr würde er so hilflos dem Tod von Freunden zusehen. Nie mehr würde er einfach so zulassen, dass seine ganze Welt unterging.

Er lauschte erneut in die Stille, auf die Atemzüge im Dunkel. Seine Truppe. Der Nordmann war es, der schnarchte. Gesegnet sei seine sichere Seelenruhe. Jemand räusperte sich, wahrscheinlich der Neue, der Deserteur aus der von den Elfeneroberern gegründeten Schutztruppe. Einer aus der Rasse der neuen, bleichen Herren hielt draußen Wache über sie, doch der war auch einer der ihren. Ein Überläufer, dem er blind vertraut hätte wie nur irgendeinem seiner eigenen Art.

Ich werde sie schützen, dachte er. Sie werden nicht einem solchen Schicksal anheimfallen. Ich werde sie alle lebend aus dieser Stadt und aus diesem Schlamassel rausbringen.

Morgen war der Tag der Entscheidung. Morgen konnten sie ihr Schicksal wenden. Wenn der morgige Tag gelang, dann hatten sie es geschafft.

Er schloss die Augen, ballte seine freie Hand und spürte eine erneuerte Entschlusskraft mit aller Macht in sein Herz strömen. Er würde die Albträume seiner Vergangenheit beiseitedrängen. Für sie, die da in der Dunkelheit rings um ihn schliefen. Die seine Kameraden waren, manche davon so etwas wie seine Familie, Kira, die tatsächlich zu Familie geworden war. Er würde ihnen ein guter Anführer sein.

Sie brauchten ihn. Daraus, dass er unerschütterlich an seinem Platz stand, zogen sie ihre Kraft. Und die Kraft, seinen Dämonen zu trotzen, zog er aus der Herausforderung, für sie stark zu sein.

Er würde sie schützen. Er würde nicht zulassen, dass so etwas wie beim Untergang der Sechzehnten und der Kinvarda noch einmal geschah.

TEILI

KRANKE, DUNKLE STADT

1

KLINGEN IM NEBEL

Ein steter, dünner Nieselregen ging über der Stadt Rhun nieder. Er legte seinen feinen, grauen Dunsthauch über die Klippen des Engelsbergs, der sich in der Biegung des Flusses über dem weiten Häusermeer erhob, und ließ die erkerbewehrte Festung darauf zu einem bloßen dunkel sich kauernden Umriss werden. Von dort aus herrschten jetzt die bleichhäutigen Eroberer über die Stadt und das Land. Die Kastelle, die Stadtburgen der reichen Familien, die so typisch für diese Stadt waren, hatten deren Klans ebenfalls in Besitz genommen. Der feine Regen hüllte sie mit seinem klammen Atem ein und ihre spitzen, hohen Türme bohrten sich wie Dolche, dunkel und feucht glänzend, über den niedrigeren, zusammengedrängten Dächern ins Himmelsgrau.

Auch die Häfen der Stadt Rhun, ein Gewirr aus Kanälen, Lagerhäusern und unzähligen anderen Gebäuden, wurden von den trüben, wehenden Schleiern nicht verschont.

Schlangenhand Djun versuchte, sie mit seinem Blick zu durchdringen, während er am Rand des Fischerbootes stand und es mit gleichmäßigen, steten Stößen der langen Stange in seinen Händen langsam vorwärts stakte. Die Ränder des Kanals in unmittelbarer Nähe waren noch klar erkennbar, doch von den Lagerhallen und baufälligen Schuppen, die ihn umgaben, waren kaum mehr als Umrisse zu sehen. Geräusche wurden im Sprühdunst seltsam verschluckt und hallten wie aus unbestimmbarer Richtung und Entfernung wie in Watte gepackt zu ihm herüber.

Die Überreste des Traums der vergangenen Nacht trieben noch wie Spinnwebfäden durch seinen Geist. Er versuchte, sie zu verbannen, so gut er konnte, und sich ganz auf die Aufgabe zu besinnen, die vor ihm lag. Schließlich hatte er die Verpflichtung, seine Truppe sicher aus dieser Sache rauszubringen – ein Schwur, den er in der letzten Nacht erneuert hatte.

Djun verabscheute den Nebel. In ihm konnten all die alten Bilder wieder Gestalt annehmen. Wie in seinen Träumen, die ihn nicht in Frieden ließen. Den Nebel in dieser engen Stadt hasste er ganz besonders. Er verfing sich zwischen den Gebäuden, narrte ihn mit dem Spiel einer undurchdringlichen Weite, wo in Wirklichkeit nur Mauern waren.

„Gleich sind wir da“, murmelte er, um mit dem Klang seiner Worte die Bilder zu verscheuchen, und nickte dabei hinüber zu seinem Gegenpart auf der anderen Seite des Fischerboots, einer schlanken, auffallend hochgewachsenen Gestalt, die wie auch er einen grauen Kapuzenmantel trug, der die Gestalt und ihre Züge beinah gänzlich verhüllte. Sie nickte ihm kurz als Antwort zu, wandte dabei nur leicht den Kopf in seine Richtung und bewegte jetzt die Stange in seinen Händen ein wenig langsamer, stellte sich auf Djuns veränderten Rhythmus ein.

„Das da vorn muss die Schleuse sein“, sagte Djun mit einem Rucken seines Kopfes in Fahrtrichtung voraus. „Was sagst du, Pir?“

Die säulengleiche Gestalt im Umhang blickte dorthin, wo Djun im Dunst die kantigen Ausbuchtungen beiderseits der Kanalrinne ausgemacht hatte, und nickte. „Ja, ich sehe sie. Dort ist der Treffpunkt.“

„Deine Augen sind besser als meine.“ Djun nickte anerkennend. „Was sagen sie dir sonst noch?“

„Alles gut, sagen sie“, kam es von der vermummten, schlanken Gestalt. „So weit ich erkennen kann.“

Erleichtert atmete Djun durch und zog bedächtig die Stange aus dem Wasser, legte sie dann auf den Boden, parallel zur Bordwand. „Geh du nach vorn und halte weiterhin Ausschau. Ich geh kurz nach unten und sag den anderen Bescheid.“

Er ging die paar Schritte Richtung Heck, duckte sich unter das gewölbte Dach, das den hinteren Teil des Fischerboots abdeckte, und schritt die drei Stufen der Stiege hinab. Fünf Augenpaare wandte sich ihm im Halbdunkel zu.

Seine Truppe. Sie waren unruhig, das war ihnen anzumerken, dazu musste er erst gar nicht ihre erwartungsvollen Blicke sehen.

„Wir sind da“, warf er ihnen zu und hörte das Aufatmen und Fußscharren in dem klammen, tonnenartigen Raum, der nach Muff und altem Fisch stank. Der Nordmann schob mit einem scharfen Klicken sein Schwert wieder vollständig zurück in die Scheide und sein Grinsen blitzte selbst in der Düsternis des Kabuffs auf. „Die alte Schleuse liegt vor uns. Jetzt warten wir nur noch auf die Firnwölfe.“

Der Rabe auf der Schulter des bleichhäutigen Mannes hinter ihm schüttelte mit lautem Rascheln seine Federn aus und in dem umgrenzten, engen Raum hört es sich beinah wie Peitschenschlagen an.

Djun wandte sich der zuvorderst sitzenden Gestalt zu, einer Frau mit langem, dickem Haar, das sie mit einem Stirnband im Zaum hielt, und ging neben ihr in die Hocke.

„Alles gut bei dir, Kira?“, fragte er halblaut murmelnd, indem er sich nah zu ihr hinbeugte, und streifte ihr Gesicht mit seinem Blick. Sie zu sehen, gab ihm Kraft, wie schon in der Nacht der sanfte Druck ihrer Hand. Sie kannte ihn. Sie kannte seine Albträume. Sie war bei ihm und sie glaubte an ihn.

„Alles gut.“ Sie nickte. „Wir sind da. Bald ist es vorbei.“

Ein knappes Lächeln huschte über seine Züge, das jedoch sofort wieder verschwand. Der Tag der Entscheidung. „Mir geht’s genauso.“

Sie sah ihn an, hielt seinen Blick und er spürte eine Wärme um sein klammes, verkarstetes Herz. Nur für einen Moment glaubte er, einen Hauch von Müdigkeit bei ihr zu erkennen. Dann kehrte die alte Entschlossenheit wieder in ihre Züge zurück.

„Wir sind schon viel zu lange hier in dieser kranken, dunklen Stadt“, raunte sie mit ihrer warmen, tiefen Stimme. „Umgeben von Feinden. Ich will nach Hause. Ich will zurück nach Freistatt. Ich will zurück zu meiner Tochter.“

„Zu unserer Tochter“, sagte er leise und ein Lächeln von ihr belohnte seine Worte. Für ihn war es keine Frage. Sie hatten einander noch nicht gekannt, als sie ihre Tochter zur Welt gebracht hatte, doch er fühlte für sie die gleiche Wärme, als wäre sie Fleisch von seinem Fleisch. Wer man für die Menschen war, das war wichtig, und was man für sie tat; nicht, unter welchen Umständen das Leben einen in diese Welt geworfen hatte. Er hatte immer wieder erlebt, dass nur die zu Familie wurden, die man sich selbst aussuchte, und nur diejenigen auch zu einem standen, wenn es hart wurde. Und dass nur der ein Vater war, der sich wie ein Vater verhielt.

„Ja, Kira“, fügte er hinzu, „für uns beide wird es Zeit wieder nach Hause zu kommen.“ Und war dabei verwundert, wie natürlich ihm das über die Zunge ging. Zuhause. Bis vor Kurzem noch hatte er nicht geglaubt, dass es so etwas wieder für ihn geben konnte. Für einen Kinvarda, einen Wildlander, der hoch in der Wildnis des Nordens zu Hause war und nicht hier, im ehemaligen Kernland des Idirischen Reiches, weit weg von dort. Zudem noch für jemanden, der beinah alle, die er Freunde genannt hatte, in einer grausigen und aussichtslosen Schlacht verloren hatte.

„Nur noch die Übergabe und dann ist es bald so weit“, sagte er, diesmal lauter, ebenfalls für die anderen bestimmt. Auch er war froh, dann endlich wieder aus dieser engen, labyrinthisch und endlos weit sich erstreckenden Stadt raus zu sein. Wieder im freien Land. Wo man atmen konnte. Wo man seine Feinde kommen sah. „Wir übernehmen von den Firnwölfen die Waffe für die Rebellen und dann schauen wir, dass wir so schnell wie möglich wieder aus Rhun fortkommen.“

Er sah in ihre Gesichter – das des Nordmanns Sigvar; das hagere, abgezehrte Gesicht des ehemaligen Firnwolfs Lenk; die unrasierte Erscheinung des früheren Gardisten Turek; die bleichen, nichtmenschlichen Züge des Elfenrenegaten Nivarn, die von rauchschwarzem Haar umrahmt waren, mit dem Perlenglitzern der Rabenaugen auf seiner Schulter. Ihnen allen war die Anspannung anzusehen und die Erleichterung, endlich diese düstere, labyrinthhafte Stadt verlassen zu können. Eigentlich hatte es nur ein knapper Auftrag werden sollen, ein Austausch, eine Übergabe von Waffen. Erbeutete Sturmarmbrüste und Armbrustbatterien für die Rebellen, und eine Kampfkreatur, um sie im Niemandsland in den Schlachten gegen die Eroberer einzusetzen. Eine klare Sache. Doch dann war alles schiefgegangen. Die Miliz hatte ihren Treffpunkt mit den Firnwölfen in den Gewölben unter einer alten, verfallenen Kirche herausbekommen, sie angegriffen und die erste Übergabe gestört. Seitdem stolperten sie von einer Schwierigkeit zur nächsten, von einer nur durch Glück und Improvisation gemeisterten Bredouille in die andere. Doch das alles sollte jetzt bald ein Ende nehmen.

„Bereit?“, fragte er mit einem Blick ringsum.

Stummes Nicken antwortete ihm.

Er stieg zurück die Stiegen hoch, wieder ins trübe Licht eines verhangenen Tages voller Regendunst, und hörte hinter sich das Poltern, mit dem die anderen ihm folgten.

Wie eine Statue zeichnete sich vor ihm der Vastachi am Bug ab. Der von der Kapuze verdeckte Kopf wirkte merkwürdig klein über Schultern, die durch den dicken Pelz, den er unter seinem Umhang trug, breit und wuchtig aussahen.

Er ging zu ihm hinüber, trat neben seine hochgewachsene Gestalt, die ihn, den die meisten als einen Hünen bezeichneten, um weit mehr als einen Kopf überragte.

„Da kommen sie“, sagte der Vastachi. „Da kommen die Firnwölfe.“

Angestrengt spähte er hinaus in den Nebeldunst, konnte aber nichts erkennen. Nur die Umrisse der Schleusenbacken, die offenen Flügel des alten Schleusentores, die Böschung und die vereinzelten Schuppen und Gebäude zu beiden Seiten. Dann schließlich nahm ein grauer Umriss Gestalt an, kam zwischen den Kanalufern allmählich näher und zeichnete sich jetzt deutlicher ab. Es sah nach einem flachen Lastkahn aus. Mehrere Personen standen stakend zu beiden Seiten.

„Das sind sie. Die Firnwölfe mit der Fracht“, sagte der Vastachi mit einer Sicherheit, die anzeigte, dass er mit den scharfen Augen seiner Rasse mehr als Djun erkannte. An der vagen Bewegung der Kapuze des Vastachi las Djun ab, dass dessen Blick umherkreiste und er die Umgebung absuchte. Dann plötzlich erstarrte er.

Djun hielt den Atem an. Wartete, fragte schließlich. „Was ist?“

„Da liegen welche auf der Lauer“, kam tonlos und wie mechanisch die leicht raspelnde Stimme. „Entlang des Kanalrands und hinter dem Schuppen dort.“

Djun strengte seine Augen an, aber die seinen waren einfach nicht scharf genug. „Könnten das Firnwölfe sein, die die Übergabe überwachen?“

An der Bewegung der wuchtigen Schulterform des Umhangs sah er, dass der Vastachi mit den Schultern zuckte.

„He, Lenk, komm mal rüber.“ Er wandte sich um und winkte den ehemaligen Firnwolf herbei.

„Weißt du was davon, dass die Firnwölfe die Übergabe durch Leute am Ufer schützen wollten?“

Lenk verzog sein ausgemergeltes Frettchengesicht und seine dunklen Augen wurden zu schmalen, argwöhnischen Schlitzen, die Falten wie mit einem Messer geschnitten.

„Davon war nie die Rede“, meinte Lenk und schabte sich durch seine Stoppeln. „War eigentlich ziemlich eindeutig – warten, bis sie kommen, in der stillgelegten Schleuse längsseits gehen und dann das Ding auf unser Boot umladen.“ Er überlegte einen Moment. „Leute am Ufer passt nicht. Der Hafen ist so gar nicht das Terrain der Firnwölfe.“

Lenk musste es wissen. Er trug noch immer das Zeichen der Firnwölfe, ihre Meutentinte, auf seiner Haut. Er hatte den Handel vermittelt und er kannte die Routinen seiner ehemaligen Bande.

„Das kann ich bestätigen“, sagte der Vastachi noch immer starr in die Ferne spähend. „Firnwölfe sind das nicht.“

„Wer dann? Stadtmiliz? Protektoratsgarde?“

„Kann ich nicht genau erkennen.“

„Jede Wette“, meldete Lenk sich mit seiner krächzenden Stimme zu Wort, „das ist Miliz. Das ist dieses verdammte Rabenaas, das uns schon von Anfang an in die Suppe spuckt. Zwei unserer Leute hat uns ihr Zugriff gekostet.“ Er schnaufte. „Was gäb ich drum, dieses Miststück in die Finger zu kriegen …“

„Hilft nichts“, meinte Djun, der versuchte, sich seine gespannte Unruhe und seine gärende Frustration nicht anmerken zu lassen. Beinah hatten sie es geschafft. Das Ende war schon in Sicht gekommen. Er ließ den Vastachi am Bug zurück, ging Lenk voran zu den anderen, die sich um ihn zusammendrängten.

„Das ist eine Falle. Ein Hinterhalt“, fasste Djun die Situation in Worte. „Da vorn wartet Miliz auf uns.“

Er sah, wie alle um ihn erstarrten, fing Kiras Blick auf und sah, wie bei ihr die Enttäuschung sofort in gespannte Wachsamkeit umschlug. „Was tun?“, fragte sie.

„Erst mal ruhig bleiben, damit die Stadtgarde nichts merkt.“

„Wir müssen die Firnwölfe warnen“, meinte Lenk.

„W-w-wir s-s-si…“ Alle Augen wandten sich Turek zu. Der ehemalige Provinzgardist schloss die Augen, atmete tief durch und versuchte, sein Stottern unter Kontrolle zu bringen, öffnete dann erneut den Mund. „W-wir s-s-sind im Arsch“, sagte er.

Danke, Turek. Das war jetzt sehr hilfreich. Djun warf ihm einen scharfen, strengen Blick zu. Aber eigentlich fasste es ihre Situation treffend zusammen. Mit dem Hinterhalt gab es keine Übergabe. Sie konnten froh sein, wenn sie ungeschoren davonkamen und fliehen konnten. Mit der Stadtgarde im Nacken und noch immer, ohne irgendetwas erreicht zu haben. Wenn sie hier rauskamen.

Aber das so offen auszusprechen, war nicht gut für die Moral.

Was blieb ihnen in dieser Situation zu tun?

Er blickte zu dem Vastachi am Bug hinüber, ließ dann den Blick weiter über den Kanal schweifen. Das leise, aufgeregte Gemurmel hinter sich ignorierte er. Sigvar, der Nordmann, war drauf und dran, sich mit Lenk anzulegen. Er besah sich die Gebäude, die Uferböschung und Halden, den Kahn der Firnwölfe, der sich hinter der stillgelegten Schleuse im Regendunst abzeichnete.

Sein Blick verschwamm, die Umgebung wurde von äußeren Wahrnehmungen zu einem inneren Bild. Sein Geist zog sich an einen stilleren Ort zurück. Er sah die Umgebung, er sah die Gegebenheiten, er sah die Konstellation ihrer Truppe. Der Elfenrenegat, der seine eigene Rasse und deren Geheimnisse kannte. Der Vastachi mit seinen scharfen Augen und seiner kühlen Sicherheit. Der Deserteur aus den Reihen der Miliz, der mit der Vorgehensweise ihrer Gegner vertraut war. Der ehemalige Firnwolf, Ex-Angehöriger der Straßenbande, welche die andere Seite dieses Handels bildete. Der Nordmann, der fähige und unerschrockene Kämpfer. Und Kira, die eine ebenfalls erprobte Kämpferin war, aber auch seine Vertraute, seine Frau. Er stellte die Bedingungen, denen sie sich gegenübersahen, ihre Anordnung vor seinen Geist und plötzlich sah er eine Verbindung, eine Möglichkeit – vage und ein wenig verrückt. Sie würden sich aufteilen müssen, auf jeden Fall.

Nivarn, den Elfen, wollte er unter allen Umständen an Kiras Seite haben. Dazu den Vastachi und Lenk, der wusste, wie jemand aus der Miliz dachte. Das bot ihr, zusammen mit ihren Kampfkünsten, größtmögliche Sicherheit.

Wen er dann bei sich haben wollte, war ebenfalls klar. Aber selbst dann noch hing das alles zu einem großen Teil von Schnelligkeit und Glück ab. Unverschämtem Glück. Und mehr.

Er würde, er musste sie alle hier lebend rausbringen.

Er wandte sich um. „Ich hab da was“, sagte er. Augenblicklich trat Schweigen ein. „Ist ein bisschen wahnsinnig, aber vielleicht klappt es.“ Er nickte Lenk zu. „Und ich brauch dich. Als ehemaligen Firnwolf.“

Sein Blick glitt hinüber zum Elfenrenegaten, zu seinen knochenbleichen Zügen, die nicht ganz denen eines Menschen entsprachen, die schärfer waren, härter, in denen sich das schlank Raubtierhafte seiner Rasse durchsetzte.

„Nivarn, was hast du noch von deinem Spitzohrenzauber, den die Firnwölfe aus dem Magazin haben mitgehen lassen?“

Nivarn sah ihn an. Dann breitete sich ein Grinsen auf seinen bleichen Zügen aus. Es hatte etwas von einer jagenden Wildkatze auf der Pirsch, die sich die Zähne leckte. Der Rabe auf seiner Schulter krächzte kurz und trocken auf.

* * *

Nun gut. Dann also los.

Djun stand am Bug, schaute hinüber zum Kahn der Firnwölfe, der träge wartend im brackigen Wasser lag. Er konnte die Gestalten an Bord erkennen, die sich wahrscheinlich fragten, warum sie nicht näher kamen und längsseits legten. Daek, der Leutnant der Firnwölfe würde sich seine Gedanken machen. Er betrachtete die Umfassungsmauer des Ufers auf ihrer Höhe, von der er vermutete, dass dort auch mindestens eine Zwölfschaft der Stadtgarde mit ihren Armbrüsten auf der Lauer lag.

Er wusste, dass er mit dem, was er als Nächstes tat, eine Fackel an einen großen, mit Öl übergossenen Scheiterhaufen legen würde.

Ein letztes Mal ließ er seinen Blick das Ufer hinabgleiten, zu dem Schuppen und den Baracken hin, wo der Vastachi eindeutig Soldaten der Stadtgarde ausgemacht hatte, hob dann langsam und bedächtig beide Arme.

„Zurück!“, brüllte er laut in den Regendunst hinein und schwenkte dabei die Arme über dem Kopf. „Umkehren! Das ist eine Falle!“ Und noch einmal, lauter noch. „Zurück! Sofort zurück!“

Er brüllte noch ein wenig weiter, während er aus den Augenwinkeln wahrnahm, wie der Vastachi, Kira, und damit wahrscheinlich auch die anderen, zu den Stangen griffen, und er spürte die leichte Bewegung des Bootes, mit dem sie es an Land stakten, zur Kanalmauer hinüber.

„Da! Da kommen sie aus ihren Verstecken“, hörte er den Nordmann rufen. „Einer ist aufgesprungen.“

„Jetzt kommen auch die anderen raus.“

Er wandte den Blick zur Seite und sah jetzt auch hinter den Böschungen und Ufermauern auf ihrer Höhe Köpfe auftauchen, Gestalten hochkommen. Die Armbrüste im Anschlag.

Ein Ruf hallte von kanalaufwärts zu ihnen herüber. Nicht von den Firnwölfen. In die war jetzt auch Bewegung gekommen. Doch nicht nur in die.

„Die schließen die Schleuse“, rief Sigvar, der Nordmann, und legte sich in seine Stakstange. „Durch den Kanal kommen wir jetzt nicht mehr zu den Firnwölfen durch.“

Ja, die ganze Gardistentruppe sprang jetzt aus ihren Verstecken, einige rannten am Ufer entlang auf sie zu. Und vor allem die Schleusenbacken bewegten sich jetzt. Langsam und unerbittlich schwenkten die Tore in die Kanalmitte, um den weiteren Zugang zu versperren, die Falle zu schließen.

Jetzt waren die Brücken abgebrochen, alle Entscheidungen getroffen. Jetzt gab es nur noch einen Weg.

Er hoffte, dass die Firnwölfe jetzt keinen Fehler machten. Sonst waren sie wirklich, wie Turek es formuliert hatte, unrettbar im Arsch.

„Die Waffen weg! Stadtgarde Rhun!“, scholl es vom Ufer herüber.

Keiner machte Anstalten irgendwas anderes zu tun, als sie ohnehin schon taten und was abgesprochen war.

Djun eilte rüber zur Bordwand, trat neben Kira, die eifrig die letzten Meter stakte. „Bist du bereit? Du nimmst die linke Flanke.“ Sie nickte, ohne von ihrer Tätigkeit aufzusehen.

Bis zum Kanalrand war es nur noch ein Spalt. „Heiz ihnen ein“, setzte er hinterher und gab ihr einen zärtlichen Klaps auf die Schulter.

„Die Waffen weg! Vom Bootsrand weg und keine Bewegung! Letzte Warnung!“

Schnell gingen die Stangen hoch, damit sie nicht zwischen Kanalwand und Bootsrumpf zerbrachen. War ohnehin egal; den Kahn würden sie in diesem Leben nicht mehr wiedersehen.

Djun duckte sich, als eine Salve von Armbrustpfeilen über sie hinwegzog und klappernd vom Bootsrand und den Aufbauten abprallte. Nur Warnschüsse – Miliz eben. Aber die nächsten würden todsicher auf sie zielen.

„Fertig?“ Er blickte ringsum. Die anderen kamen aus der Hocke hoch.

Er wartete nicht auf ihre Antwort, sondern sprang, bevor die nächste Salve kommen konnte, aufs Dollbord und über den Spalt dunkel schaukelnden Wassers. Er spürte die anderen neben sich am Ufer aufkommen.

„Nivarn!“, rief er. „Jetzt!“

Der Elfenrenegat war neben ihm, er sah dessen Hand aus dem Mantel vorschießen und erhaschte einen kurzen Blick auf das Ding darin, eine Metallkugel, so groß wie ein Apfel. Aus ihrer stumpfgrau spiegelnden Rundung grinste ihn boshaft eine eingeprägte Dämonenfratze an.

Elfenmagie.

Er sah das Huschen, mit dem Nivarn das Kinphauren-Artefakt warf. Ein Pfeil sauste knapp an seinem Kopf vorbei. Er hörte das Pfeifen weiterer Schäfte.

Ein weißgreller, aufblühender Blitz erfüllte die Welt und durchsetzte den Regendunst mit weiß blendendem Glanz, als blickte man durch eine dünne Wolkenschicht direkt in den gleißend verhangenen Sonnenball.

Punkte tanzten Djun vor den Augen.

Eine riesige, bleiche Blume blähte sich vor ihm auf. Er hörte die erstaunt erschreckten Schreie der Milizgarden. „Scheiße, was ist das?“ – „Zur Hölle …“ Sie wurden übertönt von einem Zischen und Fauchen.

Djun beschattete die Augen mit seiner Hand und zog mit der anderen sein Schwert. Aus dem bleichen Glühen wuchsen Wolken hervor wie aufquellender Teig, wie Blütenblätter trieben sie gleichmäßig in alle Richtungen aus, senkten sich dann zu Boden ab und krochen weiter, breiteten sich aus wie rasender Sporenwuchs. Die Welt wurde rasch in graue, mit Blicken schwer durchdringbare Wehen gehüllt.

Djun richtete sich auf, überschlug, bevor es zu spät war, schnell die Zahl der Gegner. Ja, das war mindestens eine Zwölfschaft und das nur hier unten. Gerade rechtzeitig, denn schon sah er ihre umherhuschenden Gestalten im sich ausbreitenden Nebel verschwinden.

„So“, sagte er, „jetzt können wir durchbrechen.“

Leise flüsterte er Nivarn noch ein „Pass auf sie auf“ zu, sah aber statt des erwarteten Elfengesichts irritiert direkt vor sich den schwarzen Vogel auf dessen Schulter, sah ihn mit dem Kopf auf und ab rucken, als hacke er nach Beute oder als würde er seine Bitte mit einem Nicken beantworten wollen. Ein kurzes Krächzen, dann flatterte er auf und der Nichtmensch sprang hoch, in Kiras Richtung, die jetzt ebenfalls geduckt losspurtete.

„Lenk, Sigvar!“ Und schon sprang er ebenfalls hoch, in den sich ausbreitenden Nebel hinein. Schwefelgeflacker zickzackte darin umher, als wären Blitze zur Erde herabgefahren, die nun nicht mehr ihren Weg heimfanden.

Er schwang das Schwert, als eine Gestalt in Gardistenuniform vor ihm auftauchte, mehr als Abschreckung, als um ihn zu töten. Der Kerl zuckte zurück, konnte den Streich nur halbherzig ablenken, und Djun setzte an ihm vorbei und war durch. Neben sich hörte er den Nordmann brüllen, als stürmte der gerade die Wälle von Karpanaík. Ihn brauchte er an seiner Seite. Seine Gestalt wurde von den Schwaden halb verschluckt, doch dessen ausholende Schwertstreiche trieben den Nebel auseinander wie kreiselnde Tentakel. Er sah menschliche Umrisse vor ihm zurückweichen, als ginge der Nordmann mit umhersausendem Dreschflegel durch ein Feld reifen Korns. Auf jeden Fall aber mussten sie zusammenbleiben, vor allem Lenk. Das Schwierigste lag noch vor ihnen.

Er sah Lenk mit Schild und gesenktem Kurzschwert statt der üblichen Axt an seiner Seite auftauchen, klopfte ihm auf die Schulter und deutete stumm mit einem Schwenk seines Arms in die Richtung, wo sie nach seiner Einschätzung durchbrechen mussten. Ohne weiter behelligt zu werden, rannten sie nebeneinander her, bis der Nebel ausdünnte und dessen kriechende Tentakel sich allmählich verloren.

Er sah die Umrisse des Schuppens und der Baracken vor sich auftauchen, das Nadelöhr, das sie überwinden mussten. Er schnaubte und spuckte zur Seite weg, als er sah, dass dahinter und dazwischen eine ganze Reihe von Gestalten eifrig umherhuschten, dunkel gekleidet, mit messingfarbenen Blitzern, wo Nähte oder Knöpfe sitzen mussten. Die Uniformen der Stadtgarde. Das war schon eine kleine Armee, die da schrie und ihre Armbrüste abschoss. Gott sei Dank nicht auf sie. Aber das konnte noch kommen. Sie waren zu rasch durchgebrochen. Das konnte ihnen jetzt zum Verhängnis werden. Aber Lenk musste auf jeden Fall durch und das schnell, sonst lief der ganze Plan aneinander vorbei und war zum Scheitern verurteilt. Einer am Rand der Baracken wandte sich zu ihnen um und schrie dann etwas.

Ein explosionsartiges Fauchen fuhr ihm in die Ohren und wie eine rostige Stilettklinge in den Schädel. Wo eben noch zum Kanal hin Nebelwehen vorwärtskrochen, blähte sich jetzt ein neuer hochstiebender Wolkenball. Einen Moment später fiel er in sich zusammen und wälzte sich dann wie eine kollabierte Lawine über den Boden weg. Er sah sich kurz noch zu Sigvar und Lenk um, bevor auch sie eingehüllt wurden.

Schreie und Schwerterklirren ertönten vom Kanal herüber. Kampflärm. Kira und die anderen waren jetzt ebenfalls durchgebrochen und auf den eigentlichen Feind gestoßen. Die kleine Armee. Sie waren auf sich selbst gestellt. Kira kannte sich aus und konnte sich ihrer Haut erwehren und der Vastachi und Nivarn waren bei ihr; das war das Beste, was er für sie hatte tun können. Irgendwo hörte er den Raben krächzen.

„Hier durch“, rief er blind den anderen zu und hielt dorthin, wo er wie eine finstere Schlucht die Lücke zwischen den Gebäuden ausgemacht hatte. Wie eine Woge wälzte sich der Nebel zwischen dem Lauf der windschiefen Wände hindurch, wallte und wehte hoch.

Im engen Pass zwischen den Schuppen kamen ihnen aus dem Dunst Gardisten entgegen. Sie sahen sie eindeutig und hatten ihre Waffen draußen. Erneut hörte Djun schnappende Geräusche, dann ein Pfeifen, gefolgt von dumpfen Einschlaglauten und dem Klappern von an Holzlatten wegprallenden Bolzen. Djun fetzte ein Geschoss an der Schulter vorbei und riss am Stoff seines Kapuzenmantels. Auf sie! Bevor sie eine Chance bekamen, erneut zu schießen.

Die zweite, kürzere Klinge flog in Djuns Hand. Er schlug eine Waffe zur Seite, einen Fechtspeer. Eine Klinge kam von links und er fing sie mit dem Kurzschwert auf. Der Mann fintete zurück und gleichzeitig sah Djun das Huschen einer Attacke von der anderen Seite. Er duckte sich unter dem schwirrenden, metallbesetzten Keulenende eines Fechtspeers weg, stieß blindlings mit der kurzen Klinge zu, um seinen ersten Gegner zurückzutreiben. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Lenk geduckt an ihm vorbeizog. Er hatte eine Lücke erkannt und seine Chance genutzt. Weg war er, aus seinem Blick verschwunden.

Schwerterklirren und Kampflärm waren rings um ihn; er blickte auf und sah sich plötzlich von Feinden umringt. Nicht nur seine beiden früheren Gegner attackierten ihn jetzt von links und rechts – der mit der Klinge und der mit dem Fechtspeer –, zwei, drei weitere, so sah er schemenhaft, stürzten näher und kreisten ihn ein. Stahl blitzte durch den Nebel auf. Er hörte Sigvar brüllen – der war beschäftigt.

Er wollte niemanden unnötig töten, aber viele Feinde sind der Schlange Tod.

Also stürzte er vor, zog seine Masche durch, die ihm seinen Namen eingetragen hatte. Er wechselte blitzschnell zwischen den Klingen. Wo der Kerl mit dem Fechtspeer ein Langschwert erwartet hatte, war plötzlich die kurze Klinge und unterlief glatt dessen Angriffskalkül. Seine Klinge scharrte am Kürass des Gardisten entlang und fand dünnes Leder und weiches Fleisch: den Oberarm – der Gardist schrie auf. Das Kurzschwert kam herab und wurde von seiner langen Klinge aufgefangen – keine Chance für den Gegner. Er wirbelte um die Achse, wollte den Feind aus der Drehung mit der kurzen Klinge erwischen … da traf ihn ein Schlag am Kopf und ließ die Welt in dumpfem Schmerz und Funkenschillern aufplatzen. Benommen taumelte er zurück. Knapp sauste das Keulenende eines Fechtspeers an ihm vorbei. Er spürte den Luftzug an seiner Nase und auf den Wangen. Sein noch schwimmender Blick umher zeigte ihm zu viele Körper. Gardisten hingen im Durchgang wie eine Wand, ließen kein Durchkommen zu und stürzten aus den Nebelschwaden vor, um ihn niederzumachen. Einer Klinge wich er aus, aus angeübter Reaktion heraus, eine zweite, längere stach auf ihn ein und er ließ sie zwischen Arm und Rumpf durchgleiten, drosch dem mit dem Schwung des Stoßes Mitgehenden den Knauf des Langmessers an den Kopf. Etwas schlitzte durch den Mantelstoff und verfing sich zwischen Leder und Kettenringen. Doch spürte er den Biss des Stahls.

Lenk ist durch, Kira hat eine reelle Chance, hier lebend rauszukommen, schoss es ihm durch den Kopf.

Er sah sie heranstürzen, als ginge es darum, einen umstellten Hund niederzuknüppeln. Die Fechtstangen flogen und die Klingen blitzten. Er hob die eigenen Waffen, sie so gut wie möglich abzuwehren.

Das Brüllen spaltete ihm beinah den dumpf schmerzenden Schädel.

Es kam von hinten heran, brach über ihn herein und zog vorbei.

Seine Gegner wankten vor einem Angreifer auseinander. Einem drosch ein Schwert über den Helm, den anderen traf ein Tritt vor die Brust. Die Mauer der Gestalten brach auf, war keine Mauer mehr, nur noch ein von einem Wirbelsturm auseinandergefegter Lattenzaun. Markerschütternd brüllend wütete es unter ihnen und trieb sie auseinander. Allein schon durch die Macht des Schreis.

Gut. Djun fasste sich, sah seine Chance und sprang dem Kerl bei, ging hart ins Gewirr der Klingen und Körper, erwischte einen irgendwo am weichen Fleisch, schlug einem anderen die flache Klinge ins Gesicht, dass Blut spritzte.

Nein, so nicht! Er hatte nicht den Untergang der Sechzehnten überlebt, um hier von ein paar Milizgarden niedergemacht zu werden.

Die Gestalt vor ihm wirbelte herum, die Strähnen einer blonden Mähne flogen wild um den Schädel, zwei Zahnreihen blitzten im Umriss des Gesichts auf. „Sah aus, als könntest du was vom Feuer Tyrin Drachenvaters brauchen, Hauptmann!“ Sigvar grinste noch einmal bis hoch zu den silbernen Ohrringen, wirbelte dann herum und schickte den Flüchtenden sein Gebrüll und einen Tritt seines vorschnellenden Stiefels hinterher.

„Dank dir, Bruder“, sagte Djun und schloss zu ihm auf.

Sigvar warf ihm von der Seite ein Grinsen zu. „Hättest du auch allein geschafft. Bist aus der Schlacht am Schinnachbruch lebend rausgekommen.“

Djun spürte den Stich bei der Erwähnung des Namens, schlug dem Nordmann aber kameradschaftlich auf die Schulter, als wäre nichts. Er war ihr Anführer, sie zählten auf ihn. „Alte Geschichten. Lass uns das hier durchziehen. Lenk ist durch.“

„Dann zwischen diesen verdammten Dreckshütten raus, wo man wie ein Karnickel in der Falle sitzt. Und dann gib das Zeichen, Hauptmann.“

Recht hatte Sigvar. Ihm brummte noch immer der Schädel von dem Schlag, den er eingesteckt hatte, aber sie mussten alle hier schnellstens weg. Jede Sekunde brachte Kira und die anderen in weitere Gefahr.

Sie stolperten durch Nebelwehen aus dem Durchgang und Djun machte das Zeichen der Falbkrähe. An den wild durcheinander hallenden Stimmen und den Kampfgeräuschen in den dichten Schwaden konnte er die Richtung zum Kanal erkennen. Sie liefen schräg davon weg, eine Halde hoch auf höheres Terrain. Nasser Kies knirschte unter ihren Sohlen.

Sie mussten nicht lange warten, da sahen sie aus dem Dunst Gestalten auf sich zurennen, eine davon auffallend groß und breit an den Schultern. Sie überragte die anderen wie ein Belagerungsturm.

„Alles klar bei euch?“

Kira grinste zu ihm hoch. „Alles klar. Keine Verletzten. Aber dieser Gardist war ein harter Brocken. Wenn das überhaupt ein Gardist war und nicht was anderes.“

„Was ist mit dem Kahn?“

„Die Stadtgarde wollte ihn an Land ziehen, aber die Firnwölfe haben die Taue gekappt und sich losgemacht.“ Kira blickte zwischen ihnen hin und her. „Lenk seh ich nicht, ich denke also, er ist durch.“

Sigvar spuckte aus. „Wär noch schöner, wenn die Schlauberger von Firnwölfen uns jetzt so einfach davonziehen und sich verdrücken.“

„Dann mal los“, meinte Djun. Sie hatten keine Zeit zu verlieren. Jeden Moment konnte irgendein helles Licht von der Miliz ihnen auf die Schliche kommen.

Sie rannten los, die Böschung hinab, schräg zum Kanal hin und weg von der Stadtgarde. Sie mussten inzwischen ein gutes Stück hinter ihnen sein, wahrscheinlich auch ein ganzes Stück hinter dem anderen Ende des Schleusenbeckens.

Die letzten Ausläufer des Nebels ließen sie rasch hinter sich und der Rand des Kanals kam in Sicht. Die Reste der Wolken, die Nivarn mit seinem Nebelkobold erzeugt hatte, trieben wie Watte über dem dunklen Wasser der Kanalrinne.

„Dorthin“, rief der Vastachi.

Da lag der Kahn der Firnwölfe, die Besatzung in Meutenkluft tief hingeduckt auf dem Deck. Es war ein langes, flaches Boot mit stumpfem Bug und in der Mitte ein von einem Umgang gesäumter Teil, der mit Planen abgedeckt war. Dadrunter war der Stauraum und dort musste die Fracht liegen. Ein kleiner Deckaufbau nach hinten raus. Vom Rumpf hingen noch die Seile ins Wasser, mit denen die Stadtgarde versucht hatte, den Kahn an Land zu ziehen. Aber die Firnwölfe hatten schließlich ihre von den Spitzohren gestohlenen Sturmarmbrüste.

Sie kamen zur Uferkante und Djun winkte rüber, sah, wie einer von den Leuten dort sich erhob. Das war Daek, der zum Bootsrand kam. Er winkte und die anderen sprangen ebenfalls auf und stakten den Kahn ganz zum Ufer hin. Turek hielt seinen Fechtspeer in der Hand und sah unruhig in die Richtung, wo die Gardisten sein mussten.

„Die hängen noch im Nebel“, warf er Turek zu und Nivarn nickte dazu bestätigend. „Aber allzu sehr sollten wir nicht trödeln.“

Daek lächelte trocken und streckte ihm demonstrativ eine Hand entgegen. Djun sprang zu ihm runter aufs Deck, die anderen folgten. Hinter dem Leutnant der Firnwölfe bauten sich dessen Leibwächter auf, zwei echte Brecher, so groß wie er, aber breiter, der eine mit wildem, langem Haar, der andere mit kahl rasiertem Stierschädel. Alle trugen sie die Meutenkluft der Firnwölfe, Leder und Wolfsfell am Rock. Auf ihren Armen sah er Meutentinte, die Tätowierung eines stilisierten Wolfskopfs mit quer kreuzendem Dolch.

„Eber lässt grüßen“, meinte Daek.

„Grüß deinen Hauptmann zurück.“ Djun maß die Plane in der Mitte des Kahns mit seinem Blick, „Ist das Ding dadrunter?“ Er wies mit dem Kinn hinüber.

Daek nickte.

Kira kam seinem Wink an Sigvar zuvor, ging zum Rundgang, hob die Plane, blickte darunter, wandte sich ihnen wieder zu und nickte.

„Gute Idee mit dem fliegenden Wechsel“, sagte Daek. „Lenk hat uns gerade rechtzeitig erreicht, bevor wir uns davongemacht hätten.“

Er sah, wie der Nordmann beide Augenbrauen hochzog.

„Die Fracht rüberladen ging nicht, also wechseln wir die Boote. Einfache Sache“, sagte Djun und schaute dem Leutnant der Firnwölfe ins abgebrüht blickende Gesicht. „Ihr solltet machen, dass ihr runter vom Boot kommt. Bevor die Stadtgarde zu Sinnen kommt und euch noch abfängt.“

„Ich bin sicher, für das verlorene Boot legen die Rebellen eine Entgütung hinzu“, sagte Pir, der unauffällig neben ihn getreten war.

Der Leutnant der Firnwölfe blickte zu dem vermummten Vastachi hoch. „Geschenkt“, meinte er und trieb dann seine Leute mit knappen, heftig winkenden Armbewegungen an, sich beim Verlassen des Kahns zu beeilen. „Beeilt ihr euch, durchs Sturztor zu kommen. Wenn ihr da durch seid, können sie euch nicht mehr so leicht aufhalten und ihr könnt ins Gewirr der Kanäle verschwinden.“

Der Wechsel ging schnell. Während Djuns ganze Truppe an die Stangen ging, um den Kahn vorwärtszustaken, wurde der Regen stärker. Ein echter Sturzbach ging jetzt runter, und die Tropfen platzten in einem Teppich dicker Blasen auf dem dunklen Wasser. Es sah aus, als wäre der ganze Kanal in brodelnden Aufruhr geraten.

Djun hörte das Rauschen, mit dem der kalte Guss rings um sie niederging und dachte, Gut, dann haben die es noch schwerer, zu sehen, was hier vorgeht.

In kurzer Zeit waren ihre Mäntel regenschwer, aber bald erblickten sie auch schon die Umrisse der Aufbauten des Sturztors zu beiden Seiten. Als sie die offenen Schleusentore passierten, schaute er daran hinauf, zu dem Konstrukt der Balken, Räder und der Gewichte darunter. Gut, dachte er, indem er die Konstruktion betrachtete. Gut, dass wir durch sind. Hier hätten sie uns leicht kriegen können. Einmal den Mechanismus betätigt, und die Gewichte hätten dafür gesorgt, dass sich die Tore blitzschnell schließen. Dann hätten wir in der Falle gesessen.

Er ließ seinen Blick die Länge des Kahns entlang zum Heck hingleiten, sah, dass Lenk nicht stakte, sondern stattdessen mit gesenkter Kapuze wie erstarrt in die Regenschleier blickte.

„He, Lenk! Was ist los?“, rief er, etwas lauter, um über dem Rauschen des Regens gehört zu werden.

Der ehemalige Firnwolf drehte sich um und blinzelte sich die herabrinnenden Regentropfen aus den Augen.

„Brat mir einer ’nen Storch, aber einen Moment habe ich gedacht, ich hätte da drüben das Rabenaas gesehen, das bei der ersten Übergabe den Angriff auf uns angeführt hat.“

„Was? Da drüben? Warum sollte die, wenn sie überhaupt hier ist, auf der anderen Kanalseite sein?“

„Die kannst du doch im Regen gar nicht erkennen“, rief Kira zu ihm hinüber. „Kann es sein, dass du von ihr ein wenig besessen bist?“

Sigvar lachte dröhnend. „Er würde sie gerne in die Finger kriegen, hat er gesagt. Wer weiß, wofür.“

„Leute, stakt weiter“, mahnte Djun seine Truppe. „Wir sind noch nicht in Sicherheit. Sehen wir zu, dass wir Abstand zwischen uns und die Kerle bringen, die uns da aufgelauert haben.“

Das schafften sie nach einer Weile schweigsamer Arbeit an den Stangen auch und der Regen hatte ebenfalls nachgelassen.

Sie lagen jetzt in einem Nebenarm der Kanäle, in einem Seitenbecken, in dem eine Reihe von Schuten und Kähnen festgemacht war. Djun ließ die Stange sinken und spähte zum Hauptkanal hinüber.

Aus den Augenwinkeln sah er Kira zu ihm herüberkommen. Er drehte sich zu ihr und sie lächelte ihn an. „Wir haben es geschafft“, sagte sie. „Wir haben den Homunkulus und wir haben die Miliz abgehängt.“

„Ja“, sagte Djun und sah, wie die anderen sich langsam um ihn sammelten. „Aber jetzt kommt das Schwierigste. Wir müssen ihn aus Rhun rausbringen.“

Sigvar warf ihm einen argwöhnischen Blick zu, als müsste er sich seines Geisteszustands versichern. „Mussten wir doch schon immer. Das war doch von Anfang an unser Job.“

„J-j-ja“, kam Turek seiner Antwort zuvor. Sein dunkles Haar klatschte dem desertierten Gardisten nass auf der Stirn. „A-a-aber jetzt s-sind sie gewarnt.“ Er blickte gehetzt vom einen zum anderen. Djun nickte stumm; als ehemaliger Provinzgardist musste er die Routine kennen. „N-n-nach dem hier, ka-kannst du davon a-a-ausgehen, dass die Stadtgarde alles d-d-dichtmacht. Den Hafen, den Fluss, die W-w-wächterstreifen vor der Stadt. Die r-r-riegeln alles ab.“

Alle sahen Turek stumm an, dann wanderten die Blicke zu Djun.

„Turek hat recht.“ Er bemühte sich, seine Sorge zumindest nicht in seiner Miene sichtbar werden zu lassen und ihnen stattdessen das sichere, abgebrühte Gesicht eines Anführers zu zeigen. „Die wissen, wir sitzen mit unserer Beute irgendwo hier in den Häfen. Die lassen uns nicht raus. Die machen die Häfen zum Fluss hin dicht. Dazu reicht das Großwassertor. Dann können wir aus den Häfen nicht mehr so einfach auf den Fluss raus. Und auf dem Landweg können wir das Ding nicht mal so einfach tragen.“ Er nickte zur Plane und dem Stauraum darunter hinüber. „Schaut mal drunter. Ihr wisst, was für ein Koloss so ein Homunkulus ist. Und ohne Bannschreiber ist er nur ein toter Körper. Wir können ihn nicht aufwecken.“ Er atmete tief durch, sah über die betretenen Gesichter hinweg hinauf zum Streifen Himmel, der sich hinter den Umrissen der Schuppen und Hallen allmählich aufklarte.

„Wir sind ihnen durch die Lappen gegangen – und jetzt machen die alles dicht. Die werden alles in Bewegung setzen, um uns zu kriegen.“ Er richtete seinen Blick wieder auf die Gesichter ringsumher. Kira, seine Frau, den Schimmer dunkler Haut unter der Kapuze des Vastachi, die bleichen Züge des Kinphauren-Elfen mit dem Raben auf der Schulter, Lenks ausgemergeltes Gesicht, der Nordmann, dem ausnahmsweise das Grinsen vergangen war, Turek, dessen dunkle Augen unstet umherwanderten.

„Auf den Wegen, die uns zugänglich sind, kommen wir jetzt nicht mehr aus der Stadt raus.“

2

VERBRANNTE HOFFNUNG

Sie saßen in dem Raum tief unter der Erde und die Stimmung war nicht die beste.

Sie warteten.

Sigvar hatte sein Schwert draußen, hielt es schräg abwärtsgerichtet und ließ langsam und gleichmäßig scharrend den Wetzstein daran entlanggleiten.

Eine einzelne Ölfackel auf einem Steinblock in der Mitte der Kammer spendete ihm dabei ein rötlich warmes Licht. Der in seine Pelze gehüllte Vastachi hatte ein ledergebundenes Brevier hervorgezogen. Ab und zu befeuchtete er seinen langen, schlanken Finger, um weiterzublättern, ansonsten bewegten sich in seinem auberginefarbenen, kahlen Schädel nur die Augen, die den Zeilen folgten. Der Rest der hier Zurückgebliebenen schwieg und starrte stumm vor sich hin.

Djun saß da, wartete genauso gespannt wie die anderen, konnte sich aber nicht dazu bringen, es dem Nordmann gleichzutun und sich um seine zahlreichen Klingen zu kümmern. Verdammt, ihm passte es ganz und gar nicht, dass sie nun schon wieder auf die Firnwölfe angewiesen waren, um einen Weg aus der Stadt rauszufinden. Es gab einen Grad, wo Hilfe in Abhängigkeit überging. Und so ganz wollte er Daek auch nicht trauen. Sie hatten ihren Job, den sie hier für die Rebellen durchziehen sollten, aber Daek war schließlich der Leutnant einer Meute, einer der zahlreichen Straßenbanden von Rhun. Stadtmeuten – die hatten ihre eigenen Pläne, Kämpfe und Ziele. Und egal ob diese Stadt nun von der Elfenrasse der Kinphauren besetzt war, sie also gegen eine von Besatzern bestimmte Obrigkeit standen und sie daher die gleichen Gegner hatten, so waren sie im Grunde noch immer eine kriminelle Bande. Daek und sein Hauptmann Eber hatten ihre eigenen Ziele im Auge und ihre eigene Agenda.

Seine Gedanken waren irgendwann in die Vergangenheit abgeirrt, zurück in die karge Wildnis des Nordens, das Grenzland zwischen den Ländern Mittelnaugariens und den weiter nördlichen Gebieten, wo sonst nur die valgarischen Stämme hausten. Zu einem Krieg, der nicht gewonnen werden konnte, zu Feuer, Blut und Wahnsinn, zu all dem, was sie nicht hatten aufhalten können und was jetzt auch über dieses einst so mächtige Land und seine Bewohner hereingebrochen war. Zurück zu den Bildern, die seine Albträume heimsuchten.

Er musste seine Leute hier herausbringen. Nie mehr!

Er riss sich aus seinen Gedanken, sah sich um und blickte hoch zu den Mauern, die sie umgaben. Die Vergangenheit holte einen überall ein. Selbst in den hintersten Winkeln stahl sie sich unerwartet hervor und drängte sich in die Gegenwart.

Der Raum, in dem sie sich befanden, wirkte wie ein zufällig entstandener Hohlraum. Eine Decke aus bräunlich rotem, natürlichem Stein verlief schräg über ihren Köpfen und schuf einen stumpf keilförmigen Raum. Doch der traf auf der Seite auf hochstrebende Mauerteile mit kantigen Halbpfeilern, die aussahen, als wären es lediglich Fragmente umfassenderer, titanischer Bauwerke, die nur eben derart durch diese Kammer hindurchwuchsen. Im Hintergrund sah man Teile von Gewölbebögen eindeutig jüngeren Ursprungs. Jünger? Nun ja, eben keine Hunderte oder vielleicht auch Tausende von Jahren alt. Sie schienen zu den Kellern oder Fundamenten später errichteter Bauwerke zu gehören. Räume wie diesen hier gab es viele unter dem Pflaster von Rhun. In der Tat gab es ein ganzes Labyrinthsystem solcher Räume, Gänge und Spalten. Die ehemalige Hauptstadt der nördlichen Provinz Vanarand, so sagte man, war auf den Ruinen der Stadt Tryskenon errichtet worden und noch immer gab es draußen am Rand der Stadt Überreste zyklopischer Türme jener uralten Metropole aus sagenhafter Zeit.

Auf solchen geheimen Wegen durch die Hohlräume und Kavernen unter der Stadt waren die Firnwölfe auch in das Magazin der Elfen gelangt und hatten daraus den Homunkulus, diese Kampfmaschine in Menschenform, und andere Waffen entwendet. In diesem Labyrinth hatten sie auch bisher, seit die Sache bei der ersten Übergabe schiefgelaufen war, Zuflucht gefunden. Doch sie konnten hier nicht ewig bleiben. Sie hatten einen Auftrag. Und – indem er zu Kira hinüberblickte, formte er den Gedanken, bei dem er sich schon einmal ertappt hatte und davon angenehm überrascht worden war – sie hatten eine Heimat. Er hatte mehr als jemals, für das es sich zu kämpfen lohnte.

Die kranke, dunkle Stadt, so hatte Kira Rhun genannt. Sie mussten hier fort, oder man würde sie unweigerlich irgendwann finden und jagen und sie würden in diesen labyrinthhaften Gassen und Kammern zugrunde gehen. Er musste sie hier rausschaffen, doch ihm gingen die Ideen aus. Kinvarda waren immer Einzelgänger gewesen. Was für eine Art von Anführer war er nur?

Kira bemerkte, dass er sie anblickte, schaute zu ihm herüber und lächelte. Er erwiderte es mit einem Zucken der Mundwinkel. Von Unruhe getrieben sprang er auf, was ihm die auffahrenden Blicke der anderen eintrug, und ging hinüber zu der Gestalt, der dieser ganze Auftrag galt.

Aufgebahrt lag sie da, in ihrer ganzen rohen, ungeschlachten und düsteren Pracht. Halb bedeckt mit einer groben Leinenplane. Eine mächtige, dunkle Gestalt, größer, breiter als ein Mensch – ein wahrer Koloss. Am ganzen Leib bedeckt von dunklen, pechartigen, flexiblen Platten wie von einer Panzerhaut. Eine Kreatur, die ihre Rüstung schon als Teil ihres Leibes trug. Der Kopf lang wie der eines Tieres und fremdartiger als jedes Tier, das er je in der Wildnis gesehen hatte. Ein einziges großes, rundes Auge prangte unter den Brauen. Es starrte leer und hohl zur Decke, dunkel wie die Wasser eines Bracktümpels, in dem es kein Leben mehr gab. Beiderseits davon saßen zwei wesentlich kleinere Augen zur Seite des Schädels hin. Sie sollten diesem Geschöpf offensichtlich einen besseren Rundumblick ermöglichen.

Wahrhaftig, eine Kreatur für Schlacht und Kampf geschaffen. Er hatte gegen welche ihrer Art gekämpft – in einer Gruppe von vielen gegen eine von ihnen. Aber nicht gegen eine, die an diese hier herankam. Sie ruhte hier wie in einem Todesschlaf. Nur ein Bannschreiber würde sie aus ihrer Starre erwecken können.

Dieses Geschöpf der Vernichtung sollten sie zu den Rebellen schaffen, hinaus zu Einauges zerlumptem Heer. Jedenfalls nahm er an, dass es zerlumpt war. Weder hatte er Einauge je gesehen noch größere Verbände seiner Rebellentruppen.

Sie jedenfalls waren damals zerlumpt gewesen, als sie zerschlagen und besiegt vor den nichtmenschlichen Eroberern geflohen waren, sich in die Wildnis schlugen und dann den aussichtslosen Kampf dennoch weiterführten. Bis es nichts mehr weiterzuführen gab.

Genau wie jetzt Einauge. Deshalb fühlte er sich ihm verbunden. Er durfte das den anderen wahrscheinlich nicht sagen, aber genau deshalb hatte er diesen Auftrag angenommen und eine Truppe dafür zusammengestellt. Das Geld und die anderen Leistungen kamen für ihn nur als willkommene Nebenerscheinung hinzu.

Ein Geräusch im Hintergrund ließ ihn herumfahren.

Die anderen sprangen ebenfalls auf. Sigvar hatte sein Schwert ja bereits blankgezogen.

Hinten zwischen den Bögen kam jemand den engen Treppenlauf herunter; die Schritte hallten trocken und spröde im Hohlraum der Kammer.

Alle eilten sie hin. Das waren mehr als ein einziges Paar von Füßen. Oder zwei, wenn man Nivarn, der Wache gestanden hatte, mitzählte.

Hinter den ersten Bögen wurden Stiefelpaare sichtbar. Lenk kam um den Pfeiler herum. Lenk sah nicht gut aus. Drei Gestalten sammelten sich im Hintergrund in seinem Rücken. Nivarn war der Härteste: Trotz der brennenden Neugier, die auch ihn zweifellos erfasst haben musste, blieb er weiter auf seinem Wachtposten. Guter Mann. Kinphaure hin oder her, auf ihn war Verlass.

Lenk hob hastig die Hände zu Sigvar hin, der mit blanker Klinge an ihm vorbeiwollte. „Alles gut, alles gut. Das sind Freunde.“

„Was ist?“, drängte Sigvar und durchbohrte Lenk geradezu mit seinem ungeduldigen Blick. „Was sagen die Firnwölfe?“

Lenk zog eine Grimasse und wandte den Blick zu Boden. Als er dann aufsah, wollte er noch immer niemanden direkt anschauen. „Gar nichts sagen sie. Die Firnwölfe gibt es nicht mehr.“ Und ins aufkommende Gemurmel hinein, hastig stolpernd, als wollte er es einfach nur rausbringen, „Sie sind alle verbrannt. In einem Pferdestall. Es war ein Hinterhalt einer verfeindeten Bande zusammen mit der Stadtgarde.

Das hier …“ – er wandte sich nach hinten und wies auf die drei Gestalten – „das sind die Letzten.“

Alle drei sahen sie völlig zerstört und erschlagen aus. Keiner sah sie direkt an. Jetzt bemerkte Djun auch, dass sie alle das Wolfsfell am Rock trugen.

Abruptes Schweigen schlug in ihrer Mitte ein wie das Geschoss einer Balliste.

Dann, nach einiger Zeit eine Stimme.

„Wie, alle?“

„Man hat sie alle in eine Falle gelockt, eingesperrt und dann den Stall angezündet“, erwiderte Lenk. „Keiner ist entkommen. Alle verbrannt. Soweit wir wissen“ – er wandte sich wieder zu seinen Begleitern im Hintergrund um – „sind das die einzigen überlebenden Firnwölfe. Weil sie aus dem einen oder anderen Grund bei der Sache nicht dabei waren.“

Erneutes Schweigen.

„Und was machen wir jetzt?“

Es gab Schulterzucken und betretene Mienen. Bei einem der drei im Hintergrund sah Djun den Blick hochflackern, ein Glosen darin, verkniffen zuckende Lippen, als würde gleich der Ausruf „Rache!“ wie eine Mordflamme zwischen ihnen hervorbrechen.

Djun seufzte tief; sie waren jetzt ganz auf sich gestellt. Jetzt war es allein an ihnen, einen Weg aus dieser Stadt rauszufinden. Vielleicht zusammen mit Turek, der die Vorgehensweise der Miliz kannte. Er sah sich um.

„Wo ist Turek?“, fragte Lenk in diese Stimmung der Bestürzung hinein, als hätte er seine Gedanken gelesen, und schaute sich ebenfalls um.

„Wieso? War der nicht bei dir?“, fragte Sigvar.

„Nein, war er nicht.“

Wie von der Feuerspinne gestochen stürzte Sigvar mit seinem noch immer blanken Schwert zum Aufgang der engen Treppe. Kira zog ebenfalls ihr Schwert und folgte ihm mit langen, bestimmten Schritten. Djun blieb erst einmal ruhig. Erst mal wissen, was Sache war.

Lenk blickte sich erstaunt um. „Was ist los? Was habt ihr?“

„Wir sind hier nicht mehr sicher“, stieß Sigvar hervor und stand schon bereit, mit gezogenem Schwert die Stufen hinaufzustürmen.

„Bleib hier“, herrschte er ihn an und der Nordmann erstarrte auf der Stelle, wandte sich zu ihm um.

„Nivarn ist da oben“, schob er hinterher. „Und noch wissen wir nichts.“

„Wieso? Was ist denn?“, fragte Lenk, der noch immer zwischen ihnen umherblickte.

„Was weißt du über Turek?“, fragte Sigvar zurück.

Lenk zuckte die Achseln. „Nicht viel. Dass er vorher bei der Provinzgarde war. Dass er da weg ist, als die Elfen uns überrannt und alles übernommen haben.“

„Turek Bekardian“, erläuterte ihm Djun, „war Soldat bei der Provinzgarde. Als die Elfen die Reichsgarde und die Provinzgarde aufgelöst und durch die von ihnen bestimmte Protektoratsgarde ersetzt haben, sind viele da reingewechselt – aus Angst, weil sie sich mit der Fahne der Macht gedreht haben oder weil’s ihnen egal war –, andere sind gegangen. Turek hat sich davongemacht.“

„Ja“, schaltete Sigvar sich ein, „man sagt, dass ihm der ganze Aufruhr ziemlich recht gekommen ist. Dass er kurz davor war aufzufliegen, weil er die Finger in der Regimentskasse drin hatte. Rettung im letzten Moment, bevor sich die Schlinge um seinen Hals zuzog. Manche sagen auch, dass er unter der Hand einen einträglichen Drogenhandel organisiert hatte. Gunwaz und Rott.“

„Das weiß man nicht“, setzte Djun rasch hinterher. „Das ist nur, was man sagt.“

„Er hat sich schon einmal davongemacht, als der Boden zu heiß wurde“, erwiderte Sigvar. „Jetzt ist es wieder verdammt brenzlig. Jede Wette, er hat sich irgendwo davongeschlichen und versucht sein Glück anderswo. Ist irgendwo untergekrochen. Hatte vielleicht doch nicht das Zeug für das Leben im Niemandsland.“

Djun nickte mit Bedacht, überlegte, was er dazu sagen sollte. Damit rechnen mussten sie. Djun hatte Turek vor allem zur Truppe dazugenommen, weil er sich damit auskannte, wie die Miliz funktionierte. Und weil er aus dieser Zeit noch Verbindungen hatte.

„Seid ihr euch sicher“, fuhr Sigvar fort, „dass er uns nicht an die Gänsehüter verraten hat? Und sich so seinen Freischein raus erkauft hat? War ja früher selbst einer von ihnen.“ Gänsehüter, so nannte man hier in Rhun die Stadtgarde.

Lenk drehte sich langsam zu Sigvar um und seine Hand glitt herab zum Knauf seines Dolches. „Jetzt, wo du’s sagst …“

Erneut hörte man knirschende Schritte von oben die Treppe herabhallen. Sigvar warf einen Blick hoch. „Aha“, sagte er und trat zurück.

Da kam Turek, blickte in die Runde, als wollte er sagen, Was ist? Jemand Unbekanntes folgte ihm, dann kam Nivarn als Abschluss. Der fing sofort Djuns Blick auf, wusste, es ging um seinen Wachdienst, zeigte nur mit dem Finger nach oben und sagte schlicht, „Der Rabe“. Keine Spitze von Nivarns Waffe drückte sich in Tureks Rücken, also wartete man besser erst mal ab.

Sigvar hatte nicht seine Geduld; er hing sofort an Tureks Kehle.