Der Pfad - Megan Miranda - E-Book

Der Pfad E-Book

Megan Miranda

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Beschreibung

Ein gefährlicher Pfad in den Bergen. Sieben verschwundene Menschen. Ein Dorf, das sich in Schweigen hüllt.

Ein abgeschiedenes Dorf im Schatten mächtiger Berggipfel: Seit zehn Jahren lebt Abby in Cutter’s Pass, North Carolina. Längst fühlt sie sich heimisch, obwohl der eigentlich so idyllische Ort ein düsteres Geheimnis hütet – seit Jahren verschwinden hier Wanderer spurlos im Gebirge. Als wäre der Ort verflucht. Dann taucht in einer stürmischen Gewitternacht plötzlich ein Fremder in Cutter’s Pass auf: Trey West ist gekommen, um herauszufinden, was damals mit seinem Bruder geschah. Denn auch er kehrte von jenem berüchtigten Pfad in die Wildnis niemals zurück. Je tiefer sich Abby in Treys Recherchen hineinziehen lässt, desto deutlicher merkt sie, wie die Dorfbewohner zusammenrücken und eine Mauer des Schweigens um sich errichten. Und bald muss sich Abby fragen, wie gut sie ihre Nachbarn tatsächlich kennt – und ob die Gefahr wirklich in den Bergen lauert. Oder nicht vielleicht dort, wo man sich eigentlich in Sicherheit wähnt …

»Eine Geschichte so verschlungen und düster wie der titelgebende Pfad selbst. Mit dem tiefsten Unbehagen als Wegbegleiter … Ich verpasse kein Buch von Megan Miranda, und Sie sollten das auch nicht tun. Das ist richtig hohe Thriller-Kunst.« Romy Hausmann

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Seitenzahl: 470

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MEGAN MIRANDA zählt in ihrem Heimatland USA zu den erfolgreichsten Thriller-Autorinnen. Auch in Deutschland ist sie regelmäßig auf den Bestsellerlisten zu finden. Ihr Markenzeichen sind clevere Plottwists, die selbst ihre größten Fans nicht kommen sehen – bis zur letzten Seite. So garantiert auch ihr neuer großer Thriller atemlose Spannung mit Gänsehautfaktor. Megan Miranda lebt mit ihrer Familie in North Carolina – genau dort, wo Der Pfad spielt.

Der Pfad in der Presse:

»Megan Miranda steht für atemberaubende Twists und überraschende Wendungen.«

New York Times

»Ein cleverer Thriller über ein Dorf voller Geheimnisse, die Miranda meisterhaft ans Licht bringt.«

Washington Post

»Miranda überrascht die Leser*in immer wieder. Ein vielschichtiges und doch absolut stimmiges Puzzle.«

Wall Street Journal

»Hochspannend und voller unerwarteter Wendungen!«

People Magazine

Außerdem von Megan Miranda lieferbar:

Tick Tack. Wie lange kannst Du lügen?

Little Lies. Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht

Perfect Secret. Hier ist Dein Geheimnis sicher

Bad Dreams. Deine Träume lügen nicht

Megan Miranda

DER PFAD

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Melike Karamustafa

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2022

unter dem Titel The Last to Vanish

bei Marysue Rucci Books/Scribner, New York.

Copyright © 2022 der Originalausgabe by Megan Miranda

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Annika Krummacher

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagabbildung: © Trevillion

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-30846-9V002

www.penguin-verlag.de

Für meine Familie

EINE BERÜHMT-BERÜCHTIGTE GESCHICHTE

Die wichtigsten Informationen zu Cutter’s Pass, North Carolina: Die Stadt umfasst etwa vier Quadratmeilen eines Tals, das sich an einen Bergrücken schmiegt. Aufgrund ihrer Nähe zu einem Einstiegspunkt des beliebten Appalachian Trails ist die Haupteinnahmequelle der Stadt der Tourismus. Nach jüngsten Erhebungen hat Cutter’s Pass gut tausend Einwohner mit festem Wohnsitz. In den letzten fünfundzwanzig Jahren wurden sechs Touristen als vermisst gemeldet. Infolgedessen wurde die Stadt auch als die gefährlichste der Vereinigten Staaten bezeichnet.

Was die Bewohner von Cutter’s Pass Ihnen mitteilen möchten: Es handelt sich um ein malerisches Tal, das seinen Namen schon seit knapp hundert Jahren trägt und nach einem schmalen Pfad durch die nahe gelegenen Berge benannt ist, der im Winter als extrem schwierig gilt. Ja, es gab einmal eine Pechsträhne mit sechs vermissten Touristen, aber die Gegend gilt inzwischen nicht mehr als besonders gefährlich. Das Verschwinden dieser Personen ist reiner Zufall. Und mittlerweile reine Statistik. Nur ein paar Zwischenfälle im Laufe eines Vierteljahrhunderts.

Das kann man glauben, wenn man will, aber man kann es natürlich auch bezweifeln. Was auch immer Sie glauben – Cutter’s Pass heißt Sie in jedem Fall herzlich willkommen.

Die Wahrheit ist …

Teil 1

LANDON WEST

Vermisst seit: 2. April 2022

Letzter bekannter Aufenthaltsort: Cutter’s Pass, North Carolina

Passage Inn

3. August 2022

Kapitel 1

Er kam nachts an, während eines Platzregens, also unter Umständen, die für das Verschwinden einer Person durchaus geeignet sind.

Ich war allein in der Lobby des Passage Inn und wollte gerade die handgeschnitzten Wanderstöcke aus dem Ständer neben der Anmeldung nehmen, um sie durch unseren Vorrat an marineblauen Regenschirmen zu ersetzen, als jemand durch die Doppeltür am Eingang hereinkam. Das Rauschen des Regens in den Dachrinnen, das Rascheln einer Wanderhose, das Quietschen von nassen Stiefeln auf poliertem Boden.

Der Mann war eben erst eingetreten, als die Tür hinter ihm zufiel. Er trug einen schwarzen Regenmantel und erzählte mir eine traurige Geschichte über seine ursprünglichen Campingpläne.

Eigentlich nichts, wovor man sich fürchten müsste: ein Wanderer bei schlechtem Wetter.

Zuerst hörte ich nur mit halbem Ohr zu, denn seine eigentliche Frage war unter einer ganzen Reihe von Entschuldigungen begraben. Es tut mir leid, normalerweise bin ich besser vorbereitet. Mir ist klar, dass meine kurzfristige Anfrage Ihnen vermutlich Unannehmlichkeiten verursacht, aber …

»Wir können Sie schon unterbringen«, sagte ich und trat hinter die Rezeption, wo ich auf dem Computerbildschirm bereits die Liste der verfügbaren Zimmer geöffnet hatte. Diese Art von Regen trieb die Wanderer vom Berg – so plötzlich und heftig, dass er ihre Entschlossenheit erschütterte, nachdem sie einen zweiten Gedanken an ihre Ausrüstung, ihre Ausdauer und ihre Willenskraft verschwendet hatten. Im Gegensatz zu ihm war ich darauf vorbereitet gewesen.

Die Rückseite unseres Grundstücks endete dort, wo der Zubringer zum Appalachian Trail begann: Er war mit einem kleinen Holzschild markiert, das den Tageswanderern den Weg zu den Wasserfällen zeigte. Von dort verlief der Pfad steil ansteigend, bis er schließlich auf den großen Appalachian Trail traf. Unsere Hotelgäste liebten die Kombination von Bequemlichkeit und diesem Hauch von Wildnis – mit einem Berg, der direkt hinter ihren bodentiefen Fenstern aufragte.

Ich wusste, dass man vom Kamm dieses Berges, wo sich die beiden Pfade kreuzten, auch uns sehen konnte: das Kuppeldach des Passage Inn und die Stadt gleich dahinter, mit dem Kirchturm, der sich durch die Baumwipfel reckte, mit einem Versprechen von Zivilisation. Manchmal stürzten sie an Abenden wie diesem den Berg herab wie Ameisen auf der Flucht aus einem vergifteten Hügel. Unsere Lichter zogen sie an, die ersten Vorboten einer Ruhepause abseits des Trails. Manchmal, wenn nur noch ein einziges Zimmer frei war, vereinten sich vollkommen Fremde zu Gruppen und rückten zusammen.

Zurzeit war Hochsaison und das Hauptgebäude bis auf das letzte Zimmer ausgebucht, aber drei der insgesamt vier Hütten waren noch frei. Die Unterkünfte dort draußen waren viel rustikaler und wurden deshalb vor allem für längere Aufenthalte gebucht – oder in Notfällen wie diesem.

Der Mann stand noch immer am anderen Ende der Lobby, die Hände vor dem Mund, um warme Luft hineinzupusten, als hätte das Unwetter die Temperaturen fallen lassen. Ich bemerkte, wie sein Blick zu dem frei stehenden Kamin in der Mitte des Raums wanderte.

»Zum Einchecken müssen Sie schon ein wenig näher kommen«, sagte ich.

Er stieß ein Lachen aus und schob die Kapuze seines Regenmantels zurück, während er die Lobby durchquerte, bevor er mit einer allzu vertrauten Geste zuerst die Haare und dann die Ärmel ausschüttelte.

Ich spürte, wie mein Lächeln in sich zusammenfiel, und versuchte, es mit einem Blick auf den Bildschirm zu überspielen, während ich im Geiste die Möglichkeiten durchging. War es ein Tourist, der sich entschieden hatte, wiederzukommen? Oder jemand, den ich Anfang der Woche in der Stadt gesehen hatte? Doch da war nichts. Zufall.

»Dann schauen wir mal, was wir Ihnen anbieten können«, sagte ich und sah ihn wieder an in der Hoffnung, dass sein Anblick eine Erinnerung in mir wachrufen würde, um ihn einordnen zu können: braune Haare in einem Frisurstadium irgendwo zwischen ungepflegt und angesagt, tiefblaue Augen, in den Dreißigern, kein Ehering, die scharfe Linie einer weißen Narbe unten am Kiefer, die ich nur deshalb erkennen konnte, weil er einen ganzen Kopf größer war als ich. Ich stellte mir vor, wie er während einer Wanderung abgestürzt war und mit dem Kinn den Felsen gestreift hatte. Ich stellte mir einen Hockeyschläger vor, der ihn im Gesicht traf, einen abgerissenen Helm, Blut auf Eis.

Ich stellte mir manchmal die Geschichten hinter den Menschen vor. Es war eine Angewohnheit, die ich mir abzugewöhnen versuchte.

Ich war mir sicher, ihn von irgendwoher zu kennen, doch ich konnte ihn einfach nicht einordnen. Normalerweise war ich gut darin – ich erinnerte mich an wiederkehrende Gäste, konnte mir einen Namen von vor drei Jahren ins Gedächtnis rufen, wusste noch, wer verheiratet oder geschieden war, selbst wenn jemand seinen Namen geändert oder einen neuen Partner hatte. Ich war aufmerksam, machte mir Notizen, merkte mir Details. Manchmal halfen mir dabei die Geschichten, die ich mir über die Leute vorstellte.

Er warf einen Blick über die Schulter in die leere Lobby, bevor er einen Arm auf den abgenutzten Holztresen zwischen uns legte. »Es tut mir so leid«, wiederholte er, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob seine Entschuldigung diesmal seiner nicht vorhandenen Reservierung oder den Wasserpfützen galt, die er auf den Holzdielen hinterlassen hatte. »Es ist nur so, dass ich mein Portemonnaie verloren habe. Irgendwo dort draußen.« Sein Regenmantel raschelte, als er zur Tür deutete. Dabei zeigte er allerdings nicht in die Richtung des Berges, aber ich verkniff es mir, ihn darauf hinzuweisen – wegen der Dunkelheit und des Regens und weil ich wusste, wie orientierungslos man dort draußen bei schlechtem Wetter werden konnte. »Aber ich hatte noch ein bisschen Bargeld im Auto«, sagte er und zog aus der Tasche seines Regenmantels eine feuchte Rolle Zwanzigdollarscheine hervor. »Für Notfälle.«

Er reichte mir das Geld mit spitzen Fingern.

Immer wieder kamen Wanderer wie er unangekündigt hierher, das war keine Seltenheit. Ich musterte ihn genauer. Die sauberen Fingernägel. Das gerade noch sichtbare Bündchen seines blauen T-Shirts, nach wie vor trocken. Das vertraute Quietschen von zu neuen Stiefeln mit Gummisohlen, die kaum Kilometer gesammelt hatten.

Celeste würde das nicht gutheißen – ein Mann ohne Ausweis und ohne Kreditkarte, der kurz vor Feierabend auftauchte. Sie würde sagen, ich müsse in erster Linie auf mich selbst achtgeben, die Gäste kämen an zweiter Stelle und dann das Hotel. Sie würde mich daran erinnern, dass wir hier oben allein waren und dass man das Ganze nur im Griff hatte, wenn man andere nicht in dem Glauben ließ, sie selbst hielten die Zügel in der Hand. Celeste würde lieber einen Kunden verlieren als die Kontrolle. An meiner Stelle würde sie sagen: Tut mir leid, wir sind ausgebucht, und den Campingplatz unten am Fluss, die Gästezimmer in der Stadt, das Motel im nächsten Ort erwähnen. Aber ich war dafür bekannt, Ausnahmen zu machen. Mir gefiel die Vorstellung nicht, jemanden da draußen sich selbst zu überlassen. Insbesondere nicht an einem Abend wie diesem. Außerdem war ich mir sicher, dass er schon einmal hier gewesen war.

»Kein Problem«, sagte ich. »Mr. …«

Wieder ließ er den Blick durch die Lobby wandern, musterte alles, als würde er diesen Ort zum ersten Mal sehen: den Kamin aus Stein und Glas, der aus jedem Winkel zu bewundern war, die Holzscheite, die rechts und links davon zu perfekten Pyramiden aufgeschichtet waren, der zweigeschossige Bogen der Kuppel mit den frei liegenden Holzbalken, die großen Panoramafenster für die beste Aussicht, die Schlüssel an der Stecktafel hinter mir, die sich in einem abschließbaren Glaskasten befand.

»Sir?«

Endlich sah er wieder zu mir. »Clarke.« Er räusperte sich. »Mit einem E am Ende.« Er lächelte entschuldigend, ein wenig schief, mit einem Grübchen in der linken Wange – ein weiterer Anflug von Vertrautheit.

Der Name kam mir nicht bekannt vor.

»Natürlich, Mr. Clarke. Dann sehen wir mal, was ich für Sie tun kann.«

Cutter’s Pass war ein saisonales Kleinstadtparadies mit Flussführungen und Flying Fox, einem gut ausgestatteten Campingplatz eine halbe Meile von der Innenstadt entfernt, geführten Ausritten und unzähligen Wandermöglichkeiten in den umliegenden Bergen. Die Gäste, die in unser Hotel kamen, ließen sich in der Regel in eine von drei Kategorien einsortieren. Die anspruchsvollen High-End-Urlauber, die sich nur einen Hauch rustikalen Charme wünschten, aber nicht bereit waren, auf Bequemlichkeit zu verzichten. Die Wanderer, die glaubten, auf Bequemlichkeit verzichten zu können, um dann feststellen zu müssen, dass sie es doch nicht konnten, und – bitte – in einer Hütte oder irgendwo anders unterkommen wollten. Und schließlich die Touristen, die wegen unserer unheimlichen Geschichte zu uns kamen, für die wir berühmt-berüchtigt waren. Dabei handelte es sich meistens um Gruppen von Freunden, die viele Fragen stellten und viel Bier in der Gaststätte am Ende der Straße tranken und spätabends lachend ins Hotel stolperten und sich aneinanderklammerten, als wären sie gerade auf der Flucht vor irgendetwas. Man hatte den Eindruck, als seien sie überrascht vom realen Ort Cutter’s Pass, der eher für Outdoorläden und Craft Beer, überteuerte Bauernmärkte und gehobene Unterkünfte stand als für das Klischee der Appalachenregion, das sich in ihren Köpfen festgesetzt hatte.

Anhand des Verhaltens und seiner seltsamen Geschichte hätte ich bei diesem Mann auf Kategorie drei gesetzt. Wäre da nicht diese vertraute Gestik gewesen und sein Grübchen, wenn er lachte.

Ich schob ein Blatt Papier über den Tresen. »Schreiben Sie Ihr Autokennzeichen auf, damit wir Sie nicht abschleppen.«

Er blinzelte zweimal, mit leicht geöffnetem Mund. Ein einzelner Regentropfen lief an seinem Kiefer entlang auf die Narbe zu. »Abschleppen?«

»Viele Leute parken hier, um den Berg zu besteigen«, erläuterte ich. »Die Stellplätze sind aber für unsere Gäste reserviert.«

»Ehrlich gesagt weiß ich das Kennzeichen gar nicht auswendig …«

»Dann notieren Sie bitte die Automarke und die Farbe. Und den Staat, falls Sie sich an den erinnern.« Ich lächelte ihn an, und er lachte.

»Das tue ich.«

Ich sah zu, wie er Audi, schwarz, Maryland aufs Blatt kritzelte, und mir stockte der Atem. Plötzlich war mir eingefallen, wo ich ihn schon mal gesehen hatte, warum er mir so bekannt vorkam. Auf dem Familienfoto mit der gemeinsamen Erklärung und der ausgesetzten Belohnung, begleitet von einem ausführlichen Hilferuf.

Ich versuchte, weiterhin freundlich und umsichtig zu lächeln. »Maryland? Ganz schön weite Fahrt bis hierher.«

»Ja. Beim nächsten Urlaub fahre ich wieder ans Meer. Lektion gelernt.«

Er war charmant, was seine fehlende Planung beinahe wettmachte, ihm hier aber nicht weiterhelfen würde.

Er tat mir leid. Ich selbst war jahrelang eine Außenseiterin gewesen, und für diejenigen, die hier aufgewachsen waren, war ich es vermutlich immer noch.

»Irgendeinen besonderen Wunsch, was das Zimmer angeht?«, fragte ich.

»Oh«, sagte er, kniff leicht die Augen zusammen und sah verstohlen zur umlaufenden Empore, die auf der Höhe des ersten Stocks am Kuppeldach entlangführte. »Ich … ich weiß nicht so genau.«

Mein Herz war wieder mal zu weich. Ich schloss den Kasten hinter mir auf und nahm den Schlüssel zu Hütte vier vom Haken. Ich wusste, was er wollte und weshalb er hier war.

»Sie sehen ihm sehr ähnlich«, sagte ich.

Sein ganzer Körper sackte in sich zusammen, und er legte die Stirn auf die Holztheke zwischen uns, bevor er sich erneut aufrichtete, als wäre er jetzt jemand ganz anderes.

»Es tut mir leid«, sagte er und verzog das Gesicht. Es war das erste Mal, dass ich ihm glaubte.

»Schon gut. Ich verstehe Sie. Wirklich. Ich würde dasselbe tun.«

Er zog ein Portemonnaie aus seiner hinteren Hosentasche, holte einmal tief Luft und ließ den Atem entweichen, begann noch einmal von Neuem. »Trey West.« Er legte eine Pause ein, damit ich sie füllen konnte. Eine Frage, ein Angebot.

»Abby.«

»Abby«, wiederholte er und reichte mir eine Kreditkarte, mit der er sich auswies. »Ich bin nicht besonders gut im Theaterspielen.«

Sein Bruder Landon hingegen war gut darin gewesen. Bei seiner Ankunft hatten wir nicht gewusst, dass er Journalist war. Wir waren davon ausgegangen, dass er gerade an einem Buch schrieb, dass er sich zurückziehen wollte und Ruhe brauchte, ohne irgendwelche Ablenkungen, eine besondere Atmosphäre – das hatte er uns nämlich erzählt. Wir dachten, er sei hergekommen, um vor etwas zu flüchten. Nicht, um nach etwas zu suchen. Aber diese Dinge waren an der Oberfläche schwer zu unterscheiden. Erst als er verschwand, erfuhren wir die Wahrheit.

Ich wusste nicht, wonach Trey West so viele Monate später noch suchen wollte. Ob er glaubte, dass er irgendetwas finden könnte, einen wertvollen Hinweis, den die Polizei und die vielen Helfer übersehen hatten, oder ob er hier war, um seinem Bruder Respekt zu zollen oder mit der ganzen Sache irgendwie abzuschließen.

An diesem Ort einen befriedigenden Abschluss zu finden, war nicht leicht.

»Es ist ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte«, sagte Trey West, während ich seine Kreditkarte mit dem Betrag für eine Übernachtung belastete.

Ich war mir nicht sicher, ob er das Hotel oder die ganze Stadt meinte. Die Straße dorthin führte erst mehrere Meilen lang bergauf, bevor sie sich wieder abwärtsschlängelte. Während sie von den Bergen ins Tal führte, wurde sie immer schmaler, bis die Vegetation näher rückte und über die Leitplanken kroch. Diese Strecke wollte man auf keinen Fall nachts fahren, mit dem Fuß ständig auf der Bremse, wenn die Kurven enger wurden und sich die Äste über den Asphalt bogen. Aber dann öffneten sich die Bäume, und Cutter’s Pass präsentierte sich. Eine verlorene Stadt. Eine gefundene Oase.

»Das geht allen so«, sagte ich. Bei der Ankunft herrschte meist eine leichte Orientierungslosigkeit, da nichts so war wie erwartet. Mit den verwitterten Hütten, die ein Stück vom dreistöckigen Hauptgebäude entfernt standen, und dem Wald, der sich immer weiter über die gerodeten Flächen ausbreitete – so schnell arbeitete die Natur nun mal –, wirkte das Hotel von außen älter, als es tatsächlich war. Im Inneren dagegen wurde der Kamin mit Gas betrieben, und die Holzscheite waren nur Fake. Die alten Schlösser an den Hotelzimmertüren ließen sich mit einer elektronischen Chipkarte öffnen.

Mir war schon jetzt klar, dass Trey West anders war als sein verschlossener und zurückhaltender Bruder, dessen Anwesenheit ich in den ersten vier Tagen seines Aufenthalts gar nicht bemerkt hatte. Georgia hatte ihn eingecheckt und konnte sich nur noch daran erinnern, dass er nach dem WLAN-Passwort gefragt hatte. Sie hatte ihn darauf hingewiesen, dass man in den Hütten keinen Empfang habe und dass die Internetverbindung sogar im Hauptgebäude langsam und instabil sei, weshalb wir einen alten Kreditkartenleser zum Durchziehen unter der Kasse hatten, der altmodische Durchschläge produzierte, was die Leute ziemlich kurios fanden – ein Umstand also, der eher zu unseren Gunsten ausfiel.

Weitere Dinge, die bei unseren Gästen gut ankamen und dabei weder authentisch waren noch einen besonderen praktischen Nutzen hatten, waren die hölzernen Schlüsselringe mit den von Hand eingravierten Zimmernamen und der Schürhaken, der wie zufällig neben dem Kamin lehnte.

Die Einrichtungsgegenstände waren so gestaltet, dass sie etwas zerbrechlicher wirkten, als sie es tatsächlich waren, und zugleich besonders robust, weil das so sein musste. Wir lebten schließlich in den Bergen, am Rande des Waldes, den Launen des Wetters und den Kräften der Natur ausgesetzt. Die großen Fenster in den Hotelzimmern waren praktisch schalldicht. Durch die Oberlichter aus Milchglas in den Fluren der oberen Stockwerke waren Regen oder Graupel zu erahnen, dabei hätten die Scheiben bei einem Sturm jedem abgebrochenen Ast standgehalten. In die dicken Holztüren am Eingang waren gehärtete Glasscheiben eingelassen, die theoretisch sogar eine Pistolenkugel aufgehalten hätten, was glücklicherweise nie hatte erprobt werden müssen.

Ich zog einen der Regenschirme aus der Tonne, die in einem einheitlichen Marineblau mit einem geschmackvollen kleinen Logo gehalten waren. Es zeigte einen einzelnen kahlen Baum mit weißen Ästen, die in den Abendhimmel ragten.

»Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen, wo Sie hinmüssen«, sagte ich.

Das war zwar nicht Teil meines Jobs, aber ich konnte nicht anders. Das konnte ich noch nie.

Es regnete noch immer in Strömen, Pfützen bildeten sich auf dem Kiesplatz, Wasser sickerte in meine Schuhe. Trey West musste sich ducken, um mit unter den Regenschirm zu passen, und sein Arm streifte meinen, als wir nebeneinanderher gingen.

»Die Hütten liegen da hinten.« Ich deutete auf den beleuchteten Backsteinweg jenseits des Parkplatzes.

Auf dem Weg dorthin kamen wir an seinem Auto vorbei, dem schwarzen Audi mit dem Maryland-Kennzeichen, und er sah mich verlegen an.

»Ist es hier immer so dunkel?«, fragte er.

»Ja«, sagte ich, obwohl es nach vorne raus eigentlich nicht besonders dunkel war, aber er war sicherlich anderes gewohnt. Der beleuchtete Weg leistete zusammen mit den Lampen des Hauptgebäudes gute Arbeit, denn beide Lichtquellen waren vom Morgengrauen bis zur Dämmerung eingeschaltet. Vom Rand des Grundstücks konnte man sogar die Straße sehen, die hinunter ins Stadtzentrum führte – ein geometrisches Gitter aus Antiquitätenläden, Brauereien, Cafés und Geschäften, die sich auf professionelle Wanderbekleidung oder kitschige Souvenirs spezialisiert hatten. Sie alle waren nach dem Ereignis benannt, das unseren Untergang hätte bedeuten können, uns stattdessen jedoch einen Eintrag auf sämtlichen Karten beschert hatte.

Dort unten befanden sich die Last Stop Tavern, der Souvenirladen Trace of the Mountain und das Edge, das Campingausrüstung verkaufte und Schließfächer vermietete, aber je nach Tageszeit auch Kaffee, heiße Schokolade und Bier im Angebot hatte. Das CJ’s Hideaway war eines der besten Restaurants im Westen Carolinas, hatte passend zum Namen seinen Eingang in einer Seitengasse und war an den meisten Abenden in der Hochsaison ausgebucht. Jede Schaufensterfront spielte subtil auf das an, was die Gerüchte andeuteten: dass hier etwas unter der Oberfläche verborgen lag. Ein Geheimnis, das nur wir kannten und auch nicht preisgaben.

Die Stadt war berühmt-berüchtigt, weil hier vor mehr als zwei Jahrzehnten vier Wanderer verschwunden waren. Der Vermisstenfall war bis heute ungelöst. Man nannte sie die Vier Burschenschaftler, obwohl sie nie Mitglieder derselben Studentenverbindung gewesen waren. Aber sie waren in ihren Zwanzigern gewesen, jugendlich und sorglos, und sie waren zuletzt hier in der Stadt gesehen worden, hatten sich auf den Weg zum Appalachian Trail gemacht und waren seitdem spurlos verschwunden. Eben noch in Cutter’s Pass unterwegs und im nächsten Moment wie vom Erdboden verschluckt. Keine Hinweise, keine Spuren. Im Laufe der Jahre hatte sich ihre Geschichte in eine Art urbane Legende verwandelt, mit jeder Nacherzählung wurden neue Details hinzugefügt, und es verbreiteten sich jede Menge Gerüchte.

Vielleicht wäre das Rätsel um ihr Verschwinden mit der Zeit verblasst und von der Geschichte begraben worden, wären da nicht die Vermisstenfälle gewesen, die in erschreckender Regelmäßigkeit folgten.

Der neueste Fall betraf Landon West, Gast in Hütte vier. Er war vor vier Monaten verschwunden, Anfang April, als das Hotel sich noch für die Hochsaison warm lief.

Zuerst hatten wir es gar nicht bemerkt.

Bei seinem Verschwinden kochte alles wieder hoch: die Geschichten, die Presse, die Headlines, die uns den Beinamen »gefährlichste Stadt North Carolinas« verliehen hatten. Es spielte keine Rolle, dass die Touristen, wenn sie am Ortseingangsschild von Cutter’s Pass vorbeigefahren waren und die breite Brücke über den Fluss nahmen, als Erstes das Besucherzentrum sahen und dann auf der anderen Straßenseite das Büro des Sheriffs. Es spielte keine Rolle, dass auf dem Stadtplatz, wo jeden Morgen reges Treiben herrschte und Verkäufer ihre Stände aufbauten, bunte Plakate aufgestellt waren, die für Rafting, Reitausflüge und Abenteuertouren warben. Oder dass Tausende Touristen in unsere kleine Stadt kamen, um das zu erleben, was wir zu bieten hatten. Die schlichte Wahrheit lautete, dass Landon West vor unseren Augen verschwunden war, genau wie alle anderen.

»Hier ist es«, sagte ich und zeigte auf die Hütten, die etwas zurückgesetzt zwischen den Bäumen standen.

Von Anfang an waren es nur zwei Gebäude im Blockhausstil gewesen, aber wir hatten sie jeweils mit einer schlecht isolierten Wand unterteilt und zwei separate Eingänge gebaut. Das einzige Licht, das aus den Hütten nach außen drang, war das sanfte Leuchten der Stehlampe in Hütte eins, das durch die Lücke zwischen den Vorhängen des vorderen Fensters fiel. Wenn Trey West echte Dunkelheit erleben wollte, konnte er die zwanzig Meter zu den Bäumen hinter seiner Hütte gehen und sich in Richtung Berg drehen.

Ich reichte ihm den Regenschirm, steckte den Schlüssel ins Schloss von Hütte vier, spürte die Kälte, als ich die Tür öffnete und meine Hand nach dem Schalter an der Innenwand ausstreckte. Hier und an der rückwärtigen Wand war die Holzvertäfelung durch kleine Fenster ersetzt worden, um die frische Bergluft hereinzulassen, und unter dem hinteren Fenster befand sich eine Heizung, falls jemand in der Nebensaison kam.

Die Möblierung war schlicht: eine Holzkommode, ein Nachttisch, ein Bett mit Steppdecke, ein Schreibtisch und ein Stuhl mit fester Rückenlehne. Alles war in Brauntönen gehalten, mit Ausnahme der Gästemappe, die perfekt zentriert auf dem Schreibtisch lag.

Trey West blieb vor der Tür stehen und hielt sich immer noch den Regenschirm über den Kopf. Er betrachtete den Ort, an dem Landon geschlafen, den Stuhl, auf dem er gesessen hatte, die Stelle am Fußende des Bettes, wo Georgia seinen Koffer gefunden hatte, der größtenteils gepackt war, aber aufgeklappt dalag. Nur seine Wanderschuhe hatten gefehlt.

»Na, gut, dann lasse ich Sie mal allein, damit Sie sich einrichten können«, sagte ich und nahm ihm den Regenschirm aus der Hand, was ihn dazu veranlasste, endlich hereinzukommen und den Platz mit mir zu tauschen. Er wirkte erschüttert und verunsichert. »Wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie einfach die Rezeption an.«

»Danke, Abby«, sagte er.

Meine Hand verweilte für einen Moment in seiner, als ich ihm den Schlüssel in die offene Handfläche legte, die kalt und nass war. Es dauerte seine Zeit, sich hier zurechtzufinden. »Herzlich willkommen im Passage Inn.«

Kapitel 2

Als ich zurückkam, stand Georgia an der Rezeption, mit dem Hörer unseres Festnetztelefons am Ohr.

»Die Verbindung ist tot«, sagte sie, während ich den Regenschirm ausschüttelte und in den Ständer neben dem Eingang stellte. Selbst als irgendwo vom ersten Stock das Quietschen einer Tür zu hören war, deren Angeln ich dringend mal reparieren musste, verharrte Georgia in ihrer Pose mit demselben entsetzten Gesichtsausdruck.

»Wahrscheinlich wegen des Regens«, sagte ich, als ich die Lobby durchquerte. Es war normalerweise eher der Wind als der Regen, der unsere Telefonverbindung kappte, allerdings waren wir nicht die Einzigen mit diesem Problem. Das gesamte städtische Stromnetz war schon einmal durch einen abgebrochenen Ast zusammengebrochen und ein anderes Mal durch ein Auto, das mit einem Telefonmast kollidiert war. Jetzt war auch so eine Nacht.

»Ich hab es klingeln hören«, sagte sie, diesmal ruhiger. »Es hat einfach nicht aufgehört, deswegen bin ich hergekommen, um dranzugehen, aber …«

Ich nahm den Hörer, den sie mir entgegenstreckte. Nichts.

Wobei das nicht ganz stimmte. Aus der Leitung ertönte ein leises Klicken, irgendetwas zwischen luftleerem Raum und Rauschen. Es war nicht das erste Mal.

»Die Leitung ist sicher bald wieder frei«, sagte ich und legte den Hörer zurück auf die Gabel.

Georgias Blick ging zu den dunklen Fenstern, als wäre dort draußen etwas, das zurückstarrte. Obwohl sie bereits seit einem Jahr hier arbeitete, hatte sie sich noch immer nicht an die Launen des Wetters gewöhnt. Die Zufälle, die sie als Zeichen verstand. Die Geräusche der Tiere, die nachts um die Gebäude strichen. Hinter einem unterbrochenen Anruf oder einer toten Leitung witterte sie eine lauernde Gefahr.

Bei unserer ersten Begegnung waren mir sofort die Parallelen zwischen uns aufgefallen: Wir waren beide in diese Gegend gezogen, kurz nachdem wir einen Elternteil verloren hatten, und waren geblieben. Genauso schnell waren aber auch die Unterschiede zwischen ihr und mir deutlich geworden: Georgia schien sich mit allem auseinanderzusetzen, indem sie sich mit jemandem darüber austauschte, und erwartete dasselbe von mir. Sie sprach aus, was sie dachte, machte ihrer Unsicherheit und ihren Ängsten Luft. Man hatte den Eindruck, als wäre sie ständig in höchster Alarmbereitschaft, einfach aufgrund ihrer Gesichtsform – schmal und zart, mit großen braunen Augen und einem blonden Pixie-Schnitt. Man hätte sie sich fast als mystisches Wesen vorstellen können, das sich zwischen Bäumen versteckt und auf das man nur selten einen Blick erhaschte – wäre da nicht die Tatsache gewesen, dass sie fast eins achtzig groß war, knochig, mit langen Gliedmaßen und kaum zu übersehen.

»War der Typ, den du eben eingecheckt hast, ein Wanderer?«, fragte sie.

Ich schüttelte den Kopf und legte ein paar Unterlagen im Ordner hinter der Rezeption ab, um meine Hände zu beschäftigen. »Er ist Landon Wests Bruder«, sagte ich, ohne den Kopf zu heben. Ich konnte mir ihre Miene auch so lebhaft vorstellen.

Sie rührte sich nicht, wartete darauf, dass ich sie ansah. Als ich es schließlich tat, hob ich eine Schulter wie zu einem stummen Ich weiß.

»Wirst du Celeste davon erzählen?«, fragte sie.

»Hatte ich eigentlich nicht vor.« Ich arbeitete schon seit fast zehn Jahre für sie, und Celeste bezahlte mich inzwischen dafür, dass sie nicht mit Details belästigt wurde und ihre Freizeit im Vorruhestand genießen konnte. Und bisher war ich mir gar nicht sicher, ob es bereits ein Problem gab.

Ich begann, alles für den Feierabend vorzubereiten, fuhr den Computer herunter und verstaute Wertsachen im Büro hinter der Rezeption, das bis zum Morgen abgeschlossen bleiben würde.

»Wann hört endlich dieser Regen auf?«, fragte Georgia, zog ihr Handy aus der Tasche und ging damit ins Büro, wo man in der Regel den besten Empfang hatte – je näher zum Stadtzentrum, desto besser. »Nicht mal ein Balken«, fügte sie gepresst hinzu. Seit Landon Wests Verschwinden im April war sie deutlich angespannt, und es brauchte wohl nicht mehr viel, bevor sie endgültig die Nerven verlor.

»Bestimmt bald«, sagte ich, um sie zu beruhigen, denn ihre Nervosität übertrug sich auf mich. Das Wetter, die Telefonleitung, die Ankunft von Trey West – als wäre all das der Beginn von etwas, das immer stärker wurde. Ich schüttelte das Gefühl ab, während ich mir die Kasse mit Belegen und Bargeld unter den Arm klemmte. Dies war der Grund, aus dem Georgia nur selten die Spätschicht übernahm.

»Abby«, rief Georgia aus dem Büro, ihre Stimme klang jetzt noch höher und gepresster.

Ich ging zu ihr. Sie stand da und starrte in die dunklen Fenster hinter dem Tisch, den wir als Arbeitsplatz und als Esstisch nutzten. Ich stand oft an genau derselben Stelle, um eine SMS zu verschicken oder auf einer der Social-Media-Plattformen des Hotels ein Foto hochzuladen. Der Regen hörte sich an, als würde er tatsächlich nachlassen, doch die Wetter-App auf Georgias Handydisplay schien noch immer nicht zu laden.

Sie drückte einen einzelnen Finger gegen die Fensterscheibe und drehte sich zu mir um. »Cory ist mit einer Gruppe auf dem Weg nach oben.«

Sein Motto lautete: Regen oder Sonnenschein. Und das war so ziemlich die einzige Regel, die mir für seine Touren einfiel.

»Ich dachte, er unternimmt nur tagsüber Touren in den Wald«, sagte ich. Es war viel zu dunkel und daher völlig sinnlos, Besucher abends dort herumzuführen. Ganz abgesehen von den derzeitigen Wetterbedingungen.

Ich spürte Georgias Blick auf mir, als ich die Kasse in den Safe im Schrank einschloss. »Vor ein paar Wochen hat er Landon West in seinen Rundgang aufgenommen.«

»Nicht dein Ernst.« Ich stellte mich neben sie ans Fenster, presste das Gesicht gegen die kalte Scheibe. Sein Verschwinden lag gerade mal vier Monate zurück – und der Fall war definitiv noch nicht abgeschlossen.

Ich konnte gerade noch die tanzenden Strahlen der Taschenlampen sehen, die im Dunkeln den steilen Abhang hinaufstiegen.

»Jemand sollte es ihm sagen«, meinte Georgia.

Ich starrte sie von der Seite an. Die Bitte war schon in ihrem Gesicht zu lesen. Ich hatte sie vor Cory gewarnt, aber manche Menschen mussten eben ihre eigenen Erfahrungen machen.

Ende letzten Sommers hatte ich Georgia die Stadt gezeigt und mit ihr das Nachtleben erkundet. Ich stellte ihr ein paar Saisonarbeiter vor, die zu dem Zeitpunkt gerade ihre letzten Wochen in Cutter’s Pass verbrachten und von denen wir die Hälfte trotz anderslautender Versprechungen nie wiedersehen würden. Ich spürte, wie Georgia sich in diese besondere Stimmung hineinziehen ließ, diese wilde Energie und unsere Entscheidungen, die vielleicht morgen längst vergessen waren. Diese Menschen würden sich so wenig an uns erinnern wie wir uns an sie. In ein, zwei Jahren würden sie nicht mehr sein als die Rothaarige, die sich beim Flying Fox das Handgelenk gebrochen hat, oder der junge Typ aus Texas, der am Fluss einen Cowboyhut anhatte.

Die einzig verlässliche Größe dieser Welt war Sloane, die das Flusszentrum fünf Jahre lang von Frühling bis Herbst geleitet hatte. Sie war inzwischen meine engste Freundin und wie ich eine Übergangsbewohnerin – keine Aushilfskraft, aber auch nicht fest an diesem Ort verwurzelt.

An jenem Abend, den wir in der Last Stop Tavern ausklingen ließen, trafen wir auf Cory, der sagte: Willst du mich nicht deiner Freundin vorstellen, Abby? Ich hatte Georgia mit einem nicht gerade subtilen Kopfschütteln ein Zeichen gegeben, das sie demonstrativ ignorierte. Georgia hatte selbst geantwortet, indem sie einen langen feingliedrigen Arm in seine Richtung streckte. Sie hatte mich damals kaum besser gekannt als die Saisonarbeiter, die bald darauf wieder abreisten, und daher keinen Grund gehabt, mir zu vertrauen, als ich sagte: Wenn du vorhast zu bleiben, kannst du Cory nicht meiden, ihm nicht aus dem Weg gehen. Die Entscheidung, die du jetzt triffst, kannst du später nicht einfach vergessen.

Zumindest hatten wir dadurch noch etwas, über das wir reden konnten. Obwohl ich sämtliche Selbstbeherrschung hatte aufbringen müssen, um mir auf die Zunge zu beißen, als sie später sagte: Ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben.

»Abby?«, flehte sie, als die in dunkle Schatten gehüllte Wandergruppe näher kam.

»Scheiße.« Ich rannte zum Eingang, griff nach dem Regenschirm und trat ein weiteres Mal in das Unwetter hinaus.

Vom Parkplatz aus sah ich zu, wie die Gruppe den Gipfel der steilen Auffahrt erreichte. Sie trugen dunkle Kapuzen und gingen eng aneinandergedrängt, mit gesenkten Gesichtern, als handele es sich um eine Art Sekte. Sogar aus der Ferne konnte ich Cory Shiles ausmachen, das Leuchten seiner unteren Gesichtshälfte, sein eckiges Kinn, ein vertrautes Bedauern. Das Efeu-Tattoo kroch an der Seite seines Halses hinauf, während das Licht in seiner Hand hin und her schwang. Er hatte sogar eine verdammte Laterne dabei.

Cory hatte etwas ins Leben gerufen, was zwischen Geistertour und einer Exkursion für Schaulustige rangierte. Dreißig Dollar für einen bei jedem Wetter geführten Ausflug in die Geschichte von Cutter’s Pass, der in der Last Stop Tavern im Stadtzentrum begann und endete. So konnten sich die Leute davor und danach betrinken. Er brachte zahlende Kunden zu den Orten, wo die Vermissten verschwunden waren, und zeigte ihnen, wo jeder einzelne zuletzt im Ort gesehen worden war. Dabei erzählte er ihnen alles, was wir über die Vermissten wussten, was die Polizei herausgefunden hatte und an welchem Punkt die Ermittlungen schließlich ins Stocken geraten waren.

Cory berichtete seinen Kunden von Theorien, an die keiner von uns wirklich glaubte: über ein unterirdisches Höhlennetz, in dem ein Kult sein Unwesen trieb, über einen Mann in den Bergen, der angeblich jahrzehntelang ohne Zugang zu Strom und fließendem Wasser gelebt hatte und das Land beschützte, das er als seines erachtete. Und er erzählte von Theorien, an die wir schon eher glaubten – von Tieren und Extremwetter und davon, wie einfach es war, an einem Ort wie diesem zu verschwinden, und von Menschen, die vielleicht gar nicht gefunden werden wollten. All das vermischte er mit Gerüchten über Breitengrade und Magnetfelder, als wäre dies das Bermudadreieck und nicht vier Quadratmeilen fester Boden mit genau definierten Grenzen.

Cory hatte mich noch nicht bemerkt, während er mit großen Gesten eine Geschichte erzählte, die im Regen und in der Menge unterging.

»Was ist mit den Menschen hier?«, hörte ich eine Frau aus dem hinteren Teil der Gruppe rufen. »Immerhin waren alle Personen, die verschwunden sind, Gäste von außerhalb. Gab es auch irgendwelche Verdächtige unter den Einwohnern?«

»Die Polizei hat diese Stadt mehr als einmal komplett durchkämmt. Öfter, als ich mich erinnern kann«, antwortete er mit honigweicher Stimme. »Habt ihr jemals von einem Ort gehört, der über zwei Jahrzehnte ein Geheimnis bewahrt? Habt ihr mich kennengelernt?«

Ein paar Lacher, hier und da ein Lächeln, erleuchtet von den tanzenden Lampen. So verdiente er sich sein Trinkgeld. Diese verdammte Haltung – für ein Bier verrate ich dir meine Geheimnisse, mein Freund. Er log. Cory Shiles würde seine Geheimnisse mit ins Grab nehmen.

»Cory!«, rief ich scharf.

Er drehte sich in meine Richtung, das Licht der Laterne ließ das Weiß seiner Zähne aufleuchten. »Hey, Abby!«, rief er zu freundlich, als hätte er meinen Tonfall überhört. Oder als hätte er, was wahrscheinlicher war, sich entschieden, ihn zu ignorieren. »Wir haben Glück. Das hier ist Abby Lovett, Managerin des …«

Ich schüttelte kurz den Kopf, woraufhin er die Laterne einer Frau in die Hand drückte. Sie sah ihn begierig und mit weit aufgerissenen Augen an. »Entschuldigt mich eine Sekunde, Leute«, sagte er.

Ich wartete, bis er sich außer Hörweite der Gruppe befand, die unserer kurzen Unterhaltung aufmerksam gelauscht hatte, dann senkte ich die Stimme und sagte mit zusammengebissenen Zähnen: »Ich hoffe, du hast uns nicht zu einem Teil deiner verdammten Geistertour gemacht.«

Er grinste, Regen prasselte auf seinen Regenmantel, auf seine Stiefel. »Das ist keine Geistertour, Abby, sondern ein historischer Stadtspaziergang mit …«

»Er ist vor gerade mal vier Monaten verschwunden, Cory. Man sucht nach wie vor nach ihm.«

Cory trat einen Schritt zurück, hob die Schultern, ließ sie wieder sinken. »Ich biete den Leuten nur, was sie wollen.«

Ich machte einen Schritt auf ihn zu, um niemanden an unserer Unterhaltung teilhaben zu lassen. »Sein Bruder hat eben bei uns eingecheckt.«

Sein Grinsen verblasste, und er reckte den Hals, um über meine Schulter die Fenster im ersten Stock des Hotels zu betrachten. »Wo habt ihr ihn untergebracht?«

»In derselben Hütte. Nummer vier.« Die momentan außer Sichtweite war. Zumindest solange Corys Gruppe keine Szene veranstaltete.

Er fing mit seinen dunklen Augen meinen Blick auf. »Das hättest du gleich sagen sollen.« Mit der linken Hand wischte er einen Regentropfen weg, der vielleicht mein Gesicht heruntergelaufen war, vielleicht auch nicht, sein Daumen fühlte sich rau und vertraut an. »Pass auf dich auf, Abby.«

Danke, formte ich stumm mit den Lippen, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob er es sehen konnte.

»Leute!«, rief er, als er zurück zu seiner Gruppe ging. »Es gibt Unwetterwarnungen vor Sturzfluten. Am besten beenden wir die Tour für heute mit dem ein oder anderen Drink.« Er sah noch einmal zu mir zurück, tippte sich mit einem Finger an die Kapuze seines Regenmantels, als käme er aus einer anderen Zeit.

Ich hatte Cory vor zehn Jahren im Last Stop kennengelernt, bevor ich erfahren hatte, dass er der Sohn des Gaststättenbesitzers war. Ein dauerhaftes, verlässliches Inventarstück der Stadt, ob man ihn dort haben wollte oder nicht. Auch nach zehn Jahren strahlte er noch immer dieses Charisma aus, eine Furchtlosigkeit und eine Verheißung von Geheimnissen.

Cory hatte bestimmte Eigenschaften, die nach wie vor ansprechend wirkten, genauso wie das Passage Inn Eigenschaften hatte, die alles andere als ansprechend waren. Es hing alles davon ab, worauf man seine Energie konzentrierte, was man sehen wollte. Ein schmeichelhafter Blickwinkel. Das Spiel der Schatten. Worauf man Leute aufmerksam machen könnte. Wovon man die Mehrheit von ihnen überzeugen könnte.

Als ich zurückkam, war Georgia nicht mehr da. Das Büro war abgeschlossen, die Rezeption ebenfalls. Sie übernahm am liebsten die Frühschicht – verteilte Frühstück statt Drinks zur Happy Hour und checkte die Gäste lieber aus als ein. Doch am Abend übernahm sie trotzdem meistens die letzten Handgriffe für mich. Als wollte sie einen Ausgleich dafür schaffen, dass ich mich mit Cory auseinandersetzte.

Von selbst hätte Celeste Georgia nicht eingestellt. Können wir uns bei ihr sicher sein?, hatte sie mich mehr als einmal gefragt. Celeste wollte keine Mitarbeiter, die nicht in der Lage waren, auch schwierige Aufgaben zu erledigen, und Georgia sah bei ihrer Ankunft eindeutig so aus, als könne sie das nicht. Sie war im zweiten Sommer der Pandemie in die Berge gekommen, um einen Abschnitt des Appalachian Trails zu wandern, hatte jedoch nach fünf Tagen die Gruppe verlassen, mit der sie losgegangen war. Dann hatte sie den Zugangsweg hinunter zum Passage Inn genommen und ihren Rucksack in der Lobby auf den Boden geworfen, in Schmutz und Müdigkeit gehüllt, als wäre ihr jeder Vorwand recht gewesen, um die Tour abzubrechen. Als ob sie sich falsch eingeschätzt hätte oder als ob sie ihr Leben hätte neu bewerten und etwas verändern wollen, um dann festzustellen, dass dies nicht die Veränderung war, nach der sie suchte. »Das ist nicht mein Ding. Ich bin raus«, hatte sie gesagt, bevor sie eine Kreditkarte auf die Theke an der Rezeption geklatscht hatte.

Ich dachte an zu harten Boden zum Schlafen und einen schlecht gepackten Rucksack oder aber an einen Mann, den sie beeindrucken wollte, der aber nicht von ihr beeindruckt gewesen war. Ich hatte mir vorgestellt, wie sie an diesem Morgen aufgewacht und auf die Spitze ihres Zeltes, die ausgebrannten Überreste eines Lagerfeuers oder das schwere Gepäck gestarrt hatte und auf den Pfad, der in der Ferne verschwand – und die Tour abgebrochen hatte.

Die Art, wie sie bei uns angekommen war, hatte den Anschein erweckt, dass sie tatsächlich nicht in der Lage war, schwierige Aufgaben zu erledigen. Aber Celeste hatte nach Unterstützung gesucht, damit sie ein wenig kürzer treten konnte. Und ich hatte etwas in Georgia gesehen, was ich wiederzuerkennen glaubte. Und als sie ihren Aufenthalt verlängerte und sich gleichzeitig nach Jobs erkundigte, war ich sofort darauf angesprungen.

Ein Jahr später war ich trotz unserer Differenzen froh, sie hier zu haben. Die Gäste mochten sie, und es fiel mir leicht, mit ihr zusammenzuarbeiten. Mag sein, dass sie nicht das Geld brauchte (eine Warnung von Celeste nach einem Blick auf das Auto, mit dem Georgia zurückgekehrt war), aber irgendetwas brauchte sie – und was auch immer es war, es hielt sie hier im Hotel und machte sie loyal uns gegenüber.

Ich nahm den Telefonhörer in die Hand, drückte den Startknopf und lauschte dem vertrauten leisen Summen des Freizeichens. Siehstdu?AllesistinOrdnung. Irgendein Kabel in der Stadt musste vom Unwetter heruntergerissen worden sein, und jetzt war die Verbindung wiederhergestellt. Trey West würde eine Nacht an dem Ort verbringen, wo sein Bruder zuletzt gesehen worden war, er würde irgendwie seinen Frieden machen und am Morgen weiterfahren. Der Sturm würde vorüberziehen, und morgen würde die Bergsonne über den Horizont kriechen und die Erde in gleichmäßigen Flecken trocknen.

Bis morgen Abend würden sämtliche Beweise für all das verschwunden sein, wie es hier so oft geschah.

Ich stellte das Telefon auf die Rezeption und platzierte das Schild mit der Telefonnummer meines Apartments daneben, unter der Gäste anrufen konnten, wenn sie etwas brauchten. Dann überprüfte ich ein letztes Mal, dass das Büro abgeschlossen war, und sah im Gemeinschaftsbereich nach, um sicherzustellen, dass alles so war, wie es sein sollte. Zuletzt betätigte ich den Schalter hinter der Anmeldung, um die Deckenbeleuchtung auszuschalten. Danach spendete nur das sanfte Leuchten der Gaslaternen hinter mir ein wenig Licht.

Ich durchquerte die Haupthalle, ging an den gerahmten Schwarz-Weiß-Fotografien vorbei, die den Bau des Passage Inn zeigten. Auf dem ersten waren Celeste und ihr mittlerweile verstorbener Ehemann Vincent zu sehen, beide mit windzerzaustem Haar. Vincent hatte ein markantes Kinn und kantige Gesichtszüge und wandte sich mit einem Lächeln zu ihr, die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt, als wäre er gerade aus dem Büro gekommen, während Celeste den Kopf zurückgeworfen hatte, mit einem breiten Lächeln, als würde sie gleich anfangen, über etwas zu lachen. Sie musste damals ungefähr in meinem Alter gewesen sein. Die beiden standen neben den Balken, die eines Tages die Kuppel der Lobby formen würden. Auf den nächsten Bildern waren die verschiedenen Baustadien festgehalten, die Grundstruktur im Rohbau, Holzbalken unter freiem Himmel, sodass ich in diesem Moment, in dem ich in genau jener Halle stand, fast glaubte, das rohe Holz unter der Trockenbauwand und der Farbe riechen zu können.

Am Ende der Halle drückte ich meinen Daumen auf ein Nagelloch, das noch zugespachtelt werden musste. Eine Kleinigkeit, die vermutlich keiner der Gäste jemals bemerken würde. Aber es war unsere Aufgabe, Unvollkommenheiten zu finden und zu korrigieren, trotz der rustikalen Ausstrahlung. Die einzigen Mängel an diesem Ort waren beabsichtigt und sorgfältig ausgewählt. Bis zur Nebensaison war jedoch nie genug Zeit, um sämtliche Reparaturarbeiten durchzuführen. Jedes Mal wenn ich an einer Wand Ausbesserungen vornahm, fielen mir die Ränder auf, wo der Farbverlauf nicht stimmte, ältere Abschnitte, die im Laufe der Zeit durch Sonneneinstrahlung verblasst oder matt geworden waren. Eine vollständige Renovierung musste bis zu den Tagen im Januar warten, an denen wir das Hotel für all die Arbeiten schlossen, die wir das ganze Jahr über aufgeschoben hatten.

Ich benutzte meine Schlüsselmarke, um die unscheinbare Tür kurz vor dem Hinterausgang zu öffnen. Im Inneren führten Stufen ins Souterrain für die Mitarbeiter, wo wir aufhörten, so zu tun als ob. Hier hatten die Türen normale Schlüssel und normale Schlösser – nichts, was mit einer elektronischen Karte geöffnet werden musste. Die Wände des Flurs wurden schon seit Jahren durch Kratzspuren von Möbeln und Materiallieferungen verunstaltet.

Beim Vorbeigehen hörte ich aus Georgias Wohnung Musik dudeln. Sie ließ das Radio immer laufen, wenn sie zu Hause war, selbst wenn sie schlief, wie zur Bestätigung, dass sie da war. Als hätte sie zu oft Corys Erzählungen gelauscht und selbst begonnen, an die Gerüchte zu glauben, dass sich jederzeit eine unbekannte Gefahr aus dem Wald nähern könnte.

Mein Apartment lag gleich hinter dem von Georgia. Ich schloss die Tür auf und sperrte hinter mir zu. Die Musik verstummte. Die Wände im unteren Stockwerk waren dick, um Struktur und Halt zu geben, und der Lärm wurde nicht so weit getragen wie oben in der Halle und auf den Fluren. Georgia und ich bewohnten jeweils ein Schlafzimmer mit Küchenzeile und Badezimmer. Die beiden spiegelbildlich angelegten Apartments schlossen sich an einen kleinen gemeinsamen Wohnbereich an.

Ohne Licht zu machen, ließ ich meinen Schlüsselbund auf die laminierte Oberfläche der Küchenanrichte fallen, stieg aus meinen feuchten Schuhen, schälte meine Socken von den Füßen. Ich zog die Klammern aus meiner Hochsteckfrisur, während ich den Raum durchquerte, fuhr mit den Fingern durch die dunkelbraunen Strähnen und spürte, wie sie sich langsam lösten.

Das Passage Inn war in einen Hang gebaut, daher hatten wir von unseren Zimmern in der unteren Etage trotzdem Bergblick. Ich persönlich fand, dass dies die beste Aussicht war, weil man gleichermaßen nah und fern sehen konnte – die Grashalme direkt auf der anderen Seite der Fensterscheiben, ein vorbeilaufendes Tier, Blätter, die über die Fensterbank taumelten, und zugleich die Berge in der Ferne, die angesichts der geduckten Perspektive noch massiver erschienen.

Meine Wohnzimmervorhänge hielt ich in der Regel geschlossen, da die Gäste manchmal auch draußen vor unseren Apartments das Gelände erkundeten. Aber die Sicht aus meinem Schlafzimmer war frei. Die Fenster lagen so hoch oben, dass sie den Charakter von Oberlichtern hatten, und gingen zu einem darunter liegenden felsigen Aussichtspunkt hinaus, der von außen schwer zu erreichen war.

Nach meinem Einzug war ich manchmal mitten in der Nacht aufgewacht und hatte angestrengt gelauscht, was mich aufgeschreckt hatte, bevor mir klar wurde, dass es die Stille selbst gewesen sein musste. Jeden Morgen war ich durch die Perspektive desorientiert aufgewacht und hatte mir einen Moment Zeit nehmen müssen, um mich daran zu erinnern, wo ich war.

Die Leute schienen damals zu glauben, dass sich dieser Ort sofort in mir festsetzen würde und dass er mir als Celestes Nichte gewissermaßen in den Knochen steckte, auch wenn wir nicht blutsverwandt waren. Aber es war allmählich geschehen, auf eine Art, die mich selbst überraschte. Zehn Jahre später bot er mir den vertrauten Komfort eines Zuhauses: Er war privat und perfekt und meins.

Ich tastete mich im Dunkeln vorwärts, zog meinen Schlafanzug aus der Schublade unter meinem Bett, putzte mir die Zähne im Schein des Nachtlichts im Badezimmer und schlüpfte unter die vertrauten Laken.

Dann waren da nur noch ich und der Regen. Ich fühlte mit zwei Fingern am Hals meinen Puls. Zählte meine Atemzüge, ein und aus, ein und aus. Starrte nach oben, aus den Schlafzimmerfenstern, auf das Wasser, das über die Scheibe lief, und den Nachthimmel dahinter. Der Anblick war gewohnt, wenn er auch ständig wechselte.

Eine subtile Verschiebung im Muster der Regentropfen auf den Scheiben. Etwas in dem Chaos, das mir sagte, dass das Unwetter vorbei war, obwohl es nach wie vor klang, als würde es regnen. Etwas, das man erst mit der Zeit erkannte. Die Tropfen fielen weiterhin von den Bäumen um uns herum und würden dies noch Stunden später in einem verzögerten Echo tun, wie das Licht eines sterbenden Sterns.

Beim Blick in die Nacht dort oben fühlte sich das Universum unglaublich lebendig an – nicht wie etwas Vergangenes, das vielleicht schon nicht mehr existierte. Manchmal fühlte sich alles an diesem Ort an, als würden wir um Dinge kreisen, die bereits geschehen waren. Die Fotos in der großen Halle, die vermissten Menschen, die Geschichten, die Cory im Last Stop erzählte. Als würde man stets hinterherrennen – Jahre oder Lichtjahre. Wenn man endlich erkannte, was man sah, war es bereits zu spät. Es war schon vergangen.

Kapitel 3

In den Sommermonaten musste man sich keinen Wecker stellen – die Sonne ging auf, bevor die Arbeit begann, und ohnehin hatte ich bis zum Nachmittag keine offiziellen Aufgaben. Die Scheiben über meinem Bett waren leicht beschlagen, und ich spürte die morgendliche Kälte, als ich die Füße auf den Boden stellte.

Vor dem Fenster stürzte eine Kaskade aus Kieselsteinen den Felsvorsprung herunter – ein oder zwei Eichhörnchen, die vom Dach gesprungen waren, nahm ich an. Sie waren kaum abzuschrecken, sprangen von Baum zu Dach und nagten mit unerbittlicher, zielstrebiger Konzentration an den Dachrinnen. Egal wie oft wir das Problem behoben, egal mit welchem Aufwand wir versuchten, sie zu stoppen, das verräterische Kratzen kehrte jedes Mal innerhalb von Wochen zurück.

Das Telefon in meiner Wohnung hatte die ganze Nacht nicht geklingelt, also nahm ich an, dass alle gut durch das Unwetter gekommen waren. Keine Stromausfälle, undichte Stellen oder Anfragen nach der Nummer eines Late-Night-Lieferservices, damit man nicht selbst in den Regen hinausmusste.

Eine gute Nacht. Eine ruhige Nacht.

Aus dem Augenwinkel sah ich mich selbst im Wandspiegel des Schlafzimmers, die dunklen Haare, die mir über die Schultern fielen, und ein Tattoo auf Höhe meines Schlüsselbeins, das ich mir als Teenager hatte stechen lassen, was ich inzwischen sehr bereute. Drei winzige Vögel, die in die Luft aufstiegen. Damals hatte ich mir so meine Zukunft vorgestellt. Meine Mutter witzelte gern, dass ich immer einen Fuß in der Türöffnung gehabt habe, um jederzeit losgehen zu können.

Auch wenn meine Schicht erst später begann, machte ich mich für den Tag fertig, band meine Haare zu einem tiefen Knoten im Nacken und zog meine Arbeitskleidung an – schwarze Hose, dunkelblaues Poloshirt mit dem Baumlogo in der oberen linken Ecke. Als Hotelmanagerin musste ich eine ständig wachsende Liste von Aufgaben im Auge behalten, die von der Koordinierung von Reparaturen bis zur Überprüfung des Geländes reichte, und es war für die Gäste weniger beunruhigend, wenn die Person, die plötzlich durch eine bisher unbemerkte Tür trat, eine Uniform trug. Der einzige Unterschied zu meiner Arbeitskleidung bestand im Moment in der Wahl meiner Schuhe – Sneakers, um mich möglichst unauffällig fortzubewegen.

Aus Georgias Zimmer drangen keine Geräusche. Sie drehte wohl gerade ihre morgendliche Joggingrunde oder war bereits oben und bereitete das einfache Frühstück vor, das die Gäste von der Lobby mit zu den Sitzgelegenheiten an den Fenstern nahmen, die im gesamten Hotel verstreut waren, oder aber, was wahrscheinlicher war, zu den Bistrotischen auf der hinteren Terrasse, wo sie ihren Kaffee trinken und dabei zusehen konnten, wie sich der Himmel über dem Bergrücken verfärbte.

Ich nahm den Mitarbeiterausgang am Ende des Flurs, der farblich passend gestrichen und daher von der Rückseite des Gebäudes kaum sichtbar war. Wie der Zugang zum Mitarbeitertrakt vom Obergeschoss aus war er nur mit einer Schlüsselmarke zu öffnen und vor allem dafür gedacht, dass Celeste und das Servicepersonal schnellen Zugang zu den Schränken hatten, in denen wir Vorräte, Gartenmöbel, alte Akten und frische Bettwäsche aufbewahrten. Aber es war auch der von Georgia und mir am häufigsten benutzte Eingang – eine private Tür zu unserem kleinen Zuhause.

Als ich in der hintersten Ecke unseres Grundstücks nach draußen trat, unter der Terrasse, die sich über die Hauptebene hinaus erstreckte, konnte ich bereits hören, wie über mir Stühle gerückt wurden. Hinter der Treppe, die zur Terrasse hinaufführte, stand eine Reihe von Bäumen, die das ehemalige Kutschenhaus verbargen, wo Celeste wohnte.

In der Ferne hob sich der Nebel von den Bergen wie Rauch. Noch immer hingen stellenweise dunkelgraue Wolkenfetzen an den Bäumen und dämpften alles. Es war meine liebste Art von Morgen, schwermütig und schön zugleich.

Ich machte ein Foto, um es später in der Woche Sloane zu schicken, wenn ich wusste, dass sie sich wieder in Reichweite eines Handynetzes befand. Als Sloane befördert worden war, um das neue Rafting-Center ihrer Firma in Virginia zu eröffnen, zog sie mich an sich und flüsterte: »Verschwinde nicht.« Am Tag nach ihrer Abreise hatte ich ihr um drei Uhr nachmittags ein Foto aus dem Stadtzentrum geschickt – zur Eiscremestunde, wie Sloane sie nannte, weil viele Touristen um diese Zeit wie abgesprochen ihr Eis auf der Wiese in der Stadtmitte aßen. Ich hatte mir nur für das Bild eine Eiswaffel im Laden an der Ecke gekauft und das Foto mit dem Wort Lebenszeichen betitelt. Am Abend desselben Tages hatte ich ein Foto als Antwort bekommen: Sloane, müde, mit langem welligem Haar und unbeeindrucktem Gesichtsausdruck, wie sie vor einem Raum voller Umzugskartons stand, in der Hand eine Flasche Bier.

Wir schickten uns weiterhin mindestens einmal pro Woche Lebenszeichen-Fotos. So blieben wir zwischen hektischen Arbeitstagen und unterschiedlichen Terminplänen in Kontakt. In den letzten Wochen hatten mich Fotos mit folgenden Motiven erreicht: ein im Matsch feststeckendes Ruder, ein Haufen Rettungswesten auf der offenen Ladefläche eines Trucks und gekreuzte Beine auf einem Holzdeck mit dreckigen Sneakern, die halb die untergehende Sonne verdeckten.

Ich schob mein Handy in die hintere Hosentasche und begann mit meiner morgendlichen Runde. Nach einem Jahrzehnt hätte ich mich mit geschlossenen Augen über das Grundstück bewegen können, ohne mich zu verlaufen. Erst die große Wiese mit der Schaukelbank, auf der häufig Gäste picknickten und manchmal eine Decke, eine leere Flasche oder Essen zurückließen (wobei Letzteres allerdings in der Regel bis zum nächsten Morgen verschwunden war). Dann der eingezäunte Bereich mit dem Whirlpool, wo jemand ein Handtuch mit unserem Logo auf der Backsteinterrasse vergessen hatte. Ich schüttelte es aus und warf es in den dafür vorgesehenen Wäschekorb.

Anschließend überprüfte ich, ob irgendwelche Tiere die Pflanzen in den Blumenbeeten beschädigt hatten, und sah nach, ob sich an der Wegbeleuchtung Kabel verheddert oder Pfosten gelöst hatten. Ich warf einen Blick hinüber zu den Hütten, aber nichts regte sich. Nur grünes Gras und Felsvorsprünge von hier bis zum Wald.

Ich erstarrte, als ein Rascheln zwischen den Bäumen zu hören war. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ein Bär auf der Lichtung auftauchte, angezogen von Neugier oder Nahrungsmitteln, die ein Gast irgendwo draußen zurückgelassen hatte. Aber diesmal war es nur ein Reh, das mich in höchster Alarmbereitschaft anstarrte. Ich trat einen einzigen Schritt auf das Tier zu, worauf es zurück in den Wald huschte.

Als ich mich umdrehte, registrierte ich eine Bewegung zwischen den Bäumen am Mitarbeiterparkplatz. In der Nähe des Kutschenhauses hockte eine Gestalt auf dem Boden.

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Vorsichtig schlich ich näher und versuchte, mich nicht bemerkbar zu machen. Erst als die Gestalt aufstand, erkannte ich Celeste.

Sie sah mich, hob eine Hand und wartete, bis ich bei ihr war. Die Celeste, die ich kannte, sah ganz anders aus als die Celeste auf den Fotos, die im Passage Inn hingen. Das windzerzauste braune Haar war inzwischen von etlichen grauen Strähnen durchzogen, die Hände mit den kurzen Fingernägeln waren schwielig und von der Effizienz ihres Alltags gezeichnet. Sie strahlte Beständigkeit und Ernsthaftigkeit aus.

»Guten Morgen, Celeste«, begrüßte ich sie, als ich das hintere Gartentor erreicht hatte.

Celeste war sogar noch ein wenig kleiner als ich. Das Haar fiel ihr bis zur Rückenmitte, und sie hatte ein breites Gesicht mit auffällig grünen Augen und einem leicht nach unten gezogenen Mund, der ihr einen gewissen Ernst verlieh. Zugleich war sie großzügig und fürsorglich, und sie konnte wild und hemmungslos lachen, wenn man sie im richtigen Moment überraschte. Die drei großen Lieben ihres Lebens waren das Passage Inn, ihr Mann Vincent und der Berg, und zwar in dieser Reihenfolge. Vincent war vor etwas mehr als zehn Jahren gestorben, zwölf Monate bevor ich hergekommen war, und deshalb war der Berg einen Platz nach oben gerückt. Morgens war Celeste meistens schon bei Sonnenaufgang auf dem Trail, als gäbe es dort jeden Tag etwas Neues zu entdecken.

An diesem Morgen trug sie keine Wanderschuhe, sondern eine kakifarbene Stoffhose, ein braunes T-Shirt und dunkle Turnschuhe, deren Spitzen sie gerade in den Schlamm bohrte.

»Jemand hat hier draußen eine Zigarette hingeworfen, kannst du dir das vorstellen?«, fragte sie mit ihrer charakteristischen rauen Stimme. »Sieh dich um.« Sie breitete die Arme aus. »Was glauben die denn, wie lange es dauert, bis hier alles niedergebrannt ist?«

Angesichts des Matsches und der Wasserpfützen war ich mir sicher, dass kein erhöhtes Waldbrandrisiko bestand, aber darum ging es nicht. Wahrscheinlich ärgerte sie sich viel mehr über die Tatsache, dass jemand so weit auf das Gelände vorgedrungen war, das sie als ihres betrachtete. Obwohl es nichts gab, was es als solches kennzeichnete.

»Wir könnten ein Schild aufstellen«, schlug ich nicht zum ersten Mal vor.

Celeste runzelte die Stirn. »Wir brauchen keine Schilder, sondern nur gesunden Menschenverstand.« Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf etwas hinter mir. »Erzähl mal von unserem mysteriösen neuen Gast.«

Ich lächelte verkniffen. Celeste war wahrscheinlich nur herausgekommen, um mich abzufangen. Ich ging in Gedanken durch, wer ihr von unserem neuen Gast erzählt haben könnte: Georgia, auch wenn ich davon ausging, dass sie es mir überlassen würde, Celeste darüber zu informieren, Cory, der sie direkt nach unserem Zusammentreffen angerufen haben könnte, oder jemand unten im Last Stop, der es von Cory erfahren hatte. An einem Ort wie diesem hatten Informationen die Angewohnheit, mit Hochgeschwindigkeit durch den Tunnel von Leuten zu rasen, die schon immer hier gelebt hatten.

»Er wohnt in Hütte vier«, antwortete ich.